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Die Zeitung von gestern – und wie man findet, was drin steht

Über die Praxis, Zeitungsinhalte für die Literaturwissenschaft zugänglich zu machen. Ein Ausschnitt aus der Geschichte der germanistischen Pressedokumentation als Nachtrag zum 50jährigen Jubiläum des Innsbrucker Zeitungsarchivs (IZA) im Dezember 2010.

 

"Ich sehe ein paar emsige Männer Haufen von frischen Zeitungsnummern durchwühlen. Die Zigarre dampft, die Papierschere klirrt, die Brille brilliert hin und her. Jeder findet den Ort, wohin er zu sehen hat, fast blind […]."
Ferdinand Kürnberger (1876) 1

 

Zeitungsinhalt und Rezeptionsforschung

Seit der Etablierung der Rezeptionsforschung in den 1970er Jahren stehen Texte aus dem weiten Feld der Literaturkritik im Fokus des Interesses einer Literaturwissenschaft, die sich die „Untersuchung der Textkonkretisationen"2 durch reale Leser in Vergangenheit und Gegenwart zur Aufgabe gemacht hat. Zumal Rezensionen und andere Feuilleton-Beiträge zu den wenigen konkret fassbaren Rezeptionszeugnissen in Textform zählen, lässt sich mit Gotthard Wunberg festhalten:

"Dasjenige Medium, in dem sich die Rezeption am ehesten greifen läßt, ist die Literaturkritik. Sie stellt – als Text d. h. als fixierte Rezeption – den zunächst einzigen, weil einzig objektivierbaren Gegenstand der Rezeptionsanalyse dar."3

Einen der wichtigsten „medialen Orte“4 der Literaturkritik bildet bis heute neben Fernsehen, Hörfunk und elektronischen Medien noch immer die Tages- und Wochenpresse, womit sich für die Rezeptionsforschung von Anfang an die Frage nach der bibliographischen bzw. dokumentarischen Erschließung und Zugänglichmachung von Zeitungsinhalten stellte.


Zeitungsinhalt und germanistische Fachbibliographie

Die Möglichkeit einer bibliographischen Dokumentation von Presseerzeugnissen setzt zu allererst das Vorhandensein einer grundsätzlichen Wertschätzung der letzteren voraus – was ihre Sammlung und Bewahrung in bibliotheken und Archiven inkludiert. Doch bibliotheken und bibliothekare haben sich lange Zeit schwer getan mit dem Medium Zeitung: Zu tagesbezogen der Inhalt, zu sperrig das Format, zu säurehaltig das Papier, die Ausgaben oft nur schwer identifizierbar im zeitlich und geographisch gegliederten Wirrwarr ihrer Varianten – unter derlei schwerwiegenden Handicaps hat die Zeitung in der bibliothekarisch-bibliographischen Sammlungs- und Erschließungspraxis mitunter noch bis heute zu leiden. Dass die scheinbar so ephemere Zeitung (von der der Volksmund bekanntlich zu berichten weiß, dass nichts uninteressanter sei als diejenige des Vortags) gleichwohl über Inhalte verfügt, die für die Wissenschaft wie für interessierte Laien gleichermaßen über den Tag hinaus von Interesse sind – diese Erkenntnis hat Joseph Kürschner schon in den 80er Jahren des 19. Jahrhundert in die Forderung nach ihrer bibliographischen Erschließung gefasst, wenn er feststellen musste, dass ihm die großen zeitgenössischen Verlags- und Buchhandelsverzeichnisse von Kayser, Hinrichs oder Roussel bei der Suche nach konkreten Pressetexten nicht weiterhelfen würden:

"Und doch ist es nicht nur Ephemeridisches, was in den Spalten von Zeitungen und Zeitschriften wöchentlich, täglich, ja stündlich aus den Pressen hervorgeht, und auch wo es nur als ein Momentanes, Augenblickliches hervortritt, für die Beurteilung der Zeit ist es vielleicht doch wichtig. Was nützen uns da die Kayser, die Hinrichs, die Roussels etc.? –  nichts!" 5

Und auch Kürschners Zeitgenosse Theodor Rother hatte schon wenige Jahre zuvor mit Blick auf die bibliographische Praxis seines Säkulums konstatiert:

"Überall ist nur das abgeschlossene Buch registrirt, recensirt u. in übersichtlicher Weise klassifizirt. – Sehr schön, – aber wo finden wir Nachweise über die zum Theil kostbarsten Aufsätze, welche sich in den Revuen, Journalen etc. geradezu verkrümeln? Die Zeitschriften u. Zeitungen wimmeln von Aufsätzen, Neues u. immer Neues kommt zu Tage, jeder Gebildete muss wohl oder übel Akt davon nehmen, wie viel mehr der Forscher."6

Während die Geschichtswissenschaft die Zeitungen schon bald darauf als ernst zu nehmende Quellengattung entdeckte und demgemäß sowohl ihre bibliothekarische Sammlung wie ihre bibliographische Erschließung einzufordern begann, 7 dauerte es in der Germanistik bis in die späten 1960er Jahre, dass im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs und des Interesses an der Rezeption auch hier die Zeitungen und insbesondere das Feuilleton auf ein hinlängliches Forschungsinteresse stießen.

Die dokumentarische Erschließung von Zeitungsinhalten, die sich aus diesem Interesse ableiten ließ, war vorher bestenfalls verstreut im Rahmen subjektiver Personalbibliographien erfolgt, sofern es darum ging, die Veröffentlichungen eines bestimmten Autors nachzuweisen, die als Erst- oder Nachdrucke in Zeitungen erschienen waren. Mithin mochte es in der bibliographischen Praxis der germanistischen Fachinformation zwar seit jeher zur opinio communis gezählt haben, dass sich die „Erfassung von Erstdrucken [eines Autors, M.P.] aus Zeitungen […] von selbst“ versteht.8 – Die Notwendigkeit einer darüber hinausgehenden breiteren Erschließung von Presseinhalten aber konnte noch im Jahre 1960 von Hans Fromm weitgehend in Zweifel gezogen worden, wenn er in seinem Literaturbericht über den Stand der germanistischen Bibliographie die aus seiner Sicht mit einem klaren „Nein“ zu beantwortende Frage stellte,

"[…] ob für den Tag geschriebene und für den Tag berechnete Zeitungsartikel […] in ein Kompendium der Wissenschaft gehören und damit eine dem Wesen der Zeitung zuwiderlaufende Konservierung erfahren [sollen]."9

Ältere Versuche, Presseinhalte in monographischen Zeitungsbibliographien zu dokumentieren, wie es etwa Heinrich Hubert Houben 1904 im Rahmen seiner Deutschen Bibliographischen Repertorien für das Feuilleton der Vossischen Zeitung unternommen hatte, 10 waren nicht nur in ambitionierten Ansätzen stecken geblieben, sondern sogar – aller praktischen Nützlichkeit für bis heute fallweise bestehende Forschungsinteressen zum Trotz – oft genug als vorgeblich positivistische Monstren bestenfalls belächelt worden. Andere Verzeichnisse, wie etwa das für den Nachweis vor 1945 erschienener Presseartikel besonders ergiebige Echo der Zeitungen in der Zeitschrift Das literarische Echo, waren dagegen von Anfang an mehr als aktuelle Presseschauen für das zeitgenössische Lesepublikum und nicht als wissenschaftliche Nachschlagewerke für retrospektive Recherchen konzipiert gewesen, was infolge des daraus resultierenden Mangels an brauchbaren Registern ihre Benutzbarkeit für den heutigen Zugriff oft erheblich einschränkt.11 Obschon die Zeitungsauswertung des Literarischen Echos also „vor allem dem Tagesverkehr dienen“12 sollte, war sie für Houben zugleich

"[…] Beweis genug dafür, daß die periodischen Erscheinungen des Büchermarktes auch für die wissenschaftliche Forschung Faktoren geworden sind, die aus ökonomischen Gründen eine hervorragende Bedeutung gewonnen haben und diese voraussichtlich in Zukunft nur noch steigern werden."13

Dieser Einsicht folgend, veröffentlichte Houben im Jahr 1902 zusammen mit Gustav Karpeles seinen nicht in die Realität umgesetzten Entwurf zu einer Deutschen Bibliographie – einem Verzeichnis, das, ungeachtet seines denkbar allgemein gehaltenen Titels, eindeutig auf die Belange der philologischen Forschung ausgerichtet gewesen wäre und notabene ausschließlich als inhaltsanalytische Periodika-Bibliographie gedacht war, die u.a. die wichtigen Zeitungen des deutschsprachigen Raums und ihre Beilagen ausgewertet hätte. Die Deutsche Bibliographie sollte mithin die retrospektive Erschließung einzelner Zeitschriften und Almanache ergänzen, die die von Houben gegründete Deutsche Bibliographische Gesellschaft vor allem für die Zeit der Romantik und des Jungen Deutschland erarbeitete. Während Houbens Projekt seinerzeit von der germanistischen Fachwelt unter dem Paradigma eines positivistischen Quellenverständnisses durchaus mit Wohlwollen und Interesse begrüßt wurde14 – führende Fachvertreter wie Franz Muncker oder Oskar Walzel saßen sogar im Vorstand der Deutschen Bibliographischen Gesellschaft15 –, stieß es bezeichnenderweise von Seiten der bibliothekspraktiker auf weitgehende Ablehnung. Die von diesen um dieselbe Zeit geführte Diskussion über Nutzen und Nachteil einer bibliographischen Zeitungsinhaltserschließung spiegelt sich u. a. in den Beiträgen des Zentralblatts für bibliothekswesen wider, in denen die Skepsis deutlich überwiegt. So heißt es etwa in einem 1901 veröffentlichten Vortrag von Alfred Schulze:

"Wenn wir die uns erreichbare Eintagslitteratur in den bibliotheken aufheben, so ist, glaube ich, alles geschehen, was billiger Weise verlangt werden kann, und wenn andererseits die Bibliographen es nicht über sich gewinnen, diese Litteratur von der Verzeichnung auszuschließen, so werden sie bei der von Tag zu Tag anschwellenden litterarischen Produktion ihres Stoffes nicht Herr bleiben oder einen Kräfteaufwand nötig haben, der zu dem Werte ihrer Arbeit in keinem annehmbaren Verhältnisse steht."16

Schulze wiederholte damit Bedenken, wie sie schon ein knappes Vierteljahrhundert zuvor von einem frühen Doyen der bibliographischen Methodenreflexion – dem Dresdner bibliothekar Julius Petzholdt – als Antwort auf den eingangs zitierten Vorschlag Theodor Rothers für ein laufend publiziertes Journal-Inhalts-Verzeichnis vorgebracht worden waren.17

Unbeirrt von solchen Mahnungen vollzog der Leipziger Verleger Felix Dietrich im Oktober 1908 dennoch den entscheidenden Schritt zu einer fachlich nicht begrenzten Zeitungsinhaltsbibliographie. Sein Verzeichnis von Aufsätzen aus deutschen Zeitungen18 erschien als separate Beilage zur Bibliographie der deutschen Zeitschriftenliteratur und war ausschließlich dem Nachweis von Artikeln aus deutschsprachigen Tageszeitungen gewidmet.

Eine späte Fortsetzung fand Dietrichs Zeitungsinhaltsbibliographie, die mit dem Berichtsjahr 1944 ihr Erscheinen hatte einstellen müssen, erst wieder in den 1970er Jahren mit Willy Gorznys Zeitungs-Index, der nach hoffnungsvollen Ansätzen freilich spätestens ab Berichtsjahr 1991 nicht mehr kontinuierlich erschienen ist.19 Beide Verzeichnisse stellen zwar bis heute unverzichtbare Instrumente für die bibliographische Recherche nach älteren Zeitungsartikeln dar, können dem Suchenden aber aufgrund ihrer allgemeinbibliographischen Ausrichtung naturgemäß nur stark selektive Hinweise auf literaturwissenschaftlich relevantes Material offerieren. Gorznys Zeitungs-Index immerhin dürfte – das legt nicht zuletzt der Zeitpunkt seines Erscheinungsbeginns nahe – wohl auch auf die gewandelten Recherchebedürfnisse einer an Rezeptionsfragen und Zeitungsinhalten interessierten Literaturwissenschaft reagiert haben.

Tatsächlich vermochte der literaturwissenschaftliche Paradigmenwechsel der 1970er Jahre auch in der Fachbibliographie Hans Fromms programmatisch formuliertes Verdikt zu revidieren und den Zeitungsartikel endgültig in den Rang einer bibliographiewürdigen Literaturgattung zu erheben. Der im Jahr 1979 an der Universitätsbibliothek Tübingen initiierte Versuch, mit der Germanistischen Literaturdokumentation (GERDOK) erstmals eine periodische gattungsübergreifende Fachbibliographie unter starker Einbeziehung von Zeitungsartikeln zu schaffen, scheiterte allerdings an mangelnden Finanzmitteln und kam über ein einziges Probeverzeichnis nicht hinaus.20 Doch auch innerhalb der beiden großen periodisch erscheinenden germanistischen Bibliographien, der kurzlebigen Internationalen Germanistischen Bibliographie (IGB) und der Bibliographie zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft (BDSL) manifestierte sich zu Beginn der 1980er Jahre eine grundsätzliche Akzeptanz von Zeitungsinhalten als verzeichnungswürdiger Literaturkategorie.21 Indes musste auch die IGB nach nur drei Jahrgängen ihr Erscheinen einstellen, und in der BDSL ist die Berücksichtigung von Zeitungsinhalten nicht von Dauer geblieben: Seit Berichtsjahr 1994 sind in den jedem Band vorangestellten Listen der ausgewerteten Periodika keine Zeitungstitel mehr verzeichnet. Für das seit 1978 erscheinende Kritische Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG) zählt der Nachweis von Zeitungsartikeln dagegen bis heute zu den konstitutiven Elementen seines Inhalts.22

Zeitungsausschnittarchive vs. Zeitungsinhaltsbibliographien

Ein zentrales Problem ist freilich für alle genannten Verzeichnisse nicht von der Hand zu weisen: Eine möglichst breite und flächendeckende Zeitungsauswertung kann in herkömmlichen Bibliographien – selbst bei fachlicher Begrenzung – durch den ihnen inhärenten Zwang zur Auswahl nicht auf wirklich befriedigende Weise geleistet werden. Für einen in Theorie wie Praxis mit der germanistischen Informationsvermittlung vertrauten Literaturwissenschaftler wie Paul Raabe stand jedenfalls schon in den 1970er Jahren fest, dass die Fülle des Zeitungsinhalts nicht durch die indizierende bibliographische Einzelverzeichnung von Artikeln, sondern lediglich durch deren unmittelbare Sammlung in Zeitungsausschnittarchiven „für die Forschung zu retten“ sei.23

Dieser Auffassung trägt  u.a. die Erschließungspraxis des Deutschen Literaturarchivs in Marbach Rechnung. Das dort erarbeitete und realisierte Modell einer Bibliographischen Arbeitsstelle in germanistischen Fachbibliotheken und Literaturarchiven sieht eine differenzierte Inhaltsauswertung des literarischen Quellenmaterials vor, die nicht nur der qualitativen, sondern auch der quantitativen Heterogenität des zu Erfassenden gerecht zu werden versucht:

"Um der Masse der unselbständigen Literatur schon aus Gründen des Aufwandes Herr zu werden, liegen eine Integration und ein abgestufter Übergang auf den ersten Blick getrennter Erschließungs- und Dokumentationsformen nahe. […] Die laufende Katalogisierung würde ausgewählte Zeitschriften auswerten […]. Über Zeitschriften und Quellenwerke hinaus würde auch ephemeres Schriftgut erschlossen, namentlich Zeitungs-Feuilletons und Dokumente des literarischen Lebens. Die Ablage erfolgte ohne Einzelkatalogisierung."24

Tatsächlich darf die Zeitungsausschnittsammlung bis heute als die am weitesten verbreitete und im Grunde originäre Form der Zeitungsinhaltserschließung angesehen werden, die sich schon früh als eine praktikable Alternative zur bibliographischen Verzeichnung durchsetzen konnte. Als verhältnismäßig einfache und schnelle Erschließungsmethode vermag das unmittelbare Ausschneiden von Zeitungsartikeln sowohl der immensen Materialfülle als auch der denkbar großen Heterogenität des zu berücksichtigenden Quellenmaterials gerecht zu werden und damit die Basis für eine extensive wie intensive Auswertungsarbeit zu legen.

Schon der Historiker Martin Spahn, der im Jahr 1908 mit seinem Vortrag Die Presse als Quelle der neuesten Geschichte und ihre gegenwärtigen Benutzungsmöglichkeiten auf dem Internationalen Kongress für Historische Wissenschaften in Berlin einen wesentlichen Beitrag zur Sensibilisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften für den Quellenwert von Zeitungen bzw. – daraus abgeleitet – für die Notwendigkeit ihrer Sammlung und Erschließung geleistet hatte, hatte seinerzeit den Aufbau einer allgemeinen „Registratur von Zeitungsausschnitten“25  als die naheliegendste analytische Erschließungsform für ein geplantes Reichszeitungsmuseum in Erwägung gezogen. Der bibliothekar Erich Schulz plädierte parallel dazu für die Schaffung von landes- und ortskundlichen Ausschnittarchiven an den Stadt- und Regionalbibliotheken, da solche Sammlungen „für eine große öffentliche bibliothek unerlässlich“ seien.26

Folgt man Anke te Heesen in ihrer Darstellung über die Geschichte des Zeitungsausschnitts,27 so hatte sich zum Zeitpunkt dieser Äußerungen bereits eine regelrechte „Zeitungsausschnittindustrie“ herausgebildet, die bis heute in Gestalt kommerziell arbeitender Ausschnittbüros bzw. Pressemonitore Privatpersonen, Politiker, Wirtschaftsunternehmen und öffentliche Einrichtungen aller Art mit Zeitungsartikeln versorgt.28

Damit war auch für Forschungsstellen und bibliotheken von Anfang an die Option gegeben, externe Dienstleistungen für den kontinuierlichen Auf- und Ausbau eines Ausschnittarchivs in Anspruch nehmen zu können. Der wesentliche Vorzug des Zeitungsausschnitts gegenüber einer bibliographischen Erschließung von Zeitungsinhalten bestand jedoch auch für Erich Schulz in der Tatsache, dass eine arbeitsintensive Einzelkatalogisierung der Artikel entfallen konnte.29 Stattdessen manifestiert sich die analytische Erschließung in den Ausschnittarchiven – bibliothekarisch gesprochen – als eine Form der „direkten Bestandserschließung“: Die auf DIN-A-4-Bögen aufgeklebten oder lose in Mappen abgelegten Zeitungstexte werden selbst zu Bestandseinheiten, die über ein Ordnungssystem für den punktuellen Zugriff zur Verfügung stehen. Das konventionelle Ausschnittarchiv ist demgemäß die institutionalisierte Sammlung von Inhalten, nicht ein auf sie verweisendes Informationsmittel, und verkörpert die Dokumentation in ihrem ursprünglichen Wortsinn als „den tatsächlichen dokumentarischen Nachweis von Publikationen.“30 Aus Sicht des Nutzers entfällt damit ein zweiter Rechercheschritt, wie er nach einer Suche in Inhaltsbibliographien oder Registern notwendig wird, um auf dem Weg zum Originalartikel die unzerschnittenen Zeitungsbestände in den bibliotheken zu ermitteln. Allerdings ist das auf konventionellem Weg erfasste Ausschnittmaterial nur an seinem einmaligen Standort oder über Auftragsrecherchen zugänglich, wobei sich das weitgehende Fehlen von publizierten Sammlungskatalogen als nachteilig für die überörtliche Informationsermittlung auswirkt. Erst durch die Veröffentlichung der Ausschnitte ist die Option einer Volltextnutzung gegeben, die vom Ort der individuellen Sammlung unabhängig ist.

Vervielfältigte Ausschnitte: Von der Microform zur Datenbank

Die faksimilierende Vervielfältigung von Zeitungsausschnitten im Rahmen konventioneller Pressespiegel, wie sie schon recht bald von einigen Ausschnittsammlungen periodisch herausgegeben wurden, konnte als ein erster Schritt in diese Richtung gewertet werden.31 Er kann jedoch seinerseits nur eine eng begrenzte Auswahl aus den weitaus umfangreicheren Artikelbeständen liefern.

Erst nach der Erfindung des Mikrofilms konnte in den 1930er und 1940er Jahren ernsthaft über die Möglichkeit diskutiert werden, Zeitungsausschnittsammlungen vollständig zu publizieren und den Nutzern mehrerer bibliotheken gleichzeitig zugänglich zu machen. So findet sich etwa in einem Vortrag des deutschen Zeitungswissenschaftlers F. Franzmeyer aus dem Jahr 1942 die Vision eines Reichspressearchivs, dessen Errichtung sich auf die neuesten Errungenschaften der Reprographie stützen sollte:

"Die Photomikrographie ermöglicht den Aufbau eines Zeitungsausschnittarchivs, welches Millionen von Ausschnitten bequem und griffbereit einzuordnen vermag. Die fortlaufende Auswertung der gesamten Tagespresse, welche bisher so gut wie ganz fehlte, […] rückt aus dem Reich der Utopie in durchaus greifbare Formen hinein."32

Der weitere Verlauf des Zweiten Weltkriegs vereitelte zwar diese hochfliegenden Pläne, die Idee eines in Mikroform vervielfältigten Ausschnittarchivs wurde jedoch in jüngerer Zeit tatsächlich realisiert. 1995 verfichte z.B. der Verlag Klaus G. Saur u.a. zwei kleinere Sammlungen am Institut für Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin33 und am Archiv Bibliographia Judaica der Universität Frankfurt am Main,34  die sich thematisch auf deutsche und internationale Politik sowie auf die jüdische Kultur in Deutschland beziehen. In beiden Fällen handelte es sich um die Retrokonversion bereits abgeschlossener Ausschnittarchive, deren Bestände unter Aufrechterhaltung der ursprünglichen Ordnungsfolge gruppenweise zusammengefasst, plan abgefilmt und auf Diazofiches publiziert wurden. Für die Veröffentlichung einer laufend fortgeführten Sammlung, wie sie Franzmeyer vorgeschlagen hatte, erschien die Mikroverfilmung allerdings von Anfang an als zu aufwändig und unflexibel, als dass durch sie eine rasche und effiziente Informationsversorgung hätte sichergestellt werden können. Eine solche ist erst durch die elektronische Datenverarbeitung möglich geworden, die eine Überführung des analogen Zeitungsausschnitts in den digitalen Volltext erlaubt. In der Form einer laufend aktualisierten Volltextdatenbank, die über das Internet für die allgemeine Nutzung zur Verfügung steht, war die Transformation einer standortabhängigen Sammlung in ein überörtlich nutzbares Informationsmittel erstmals in adäquater Weise bewältigbar geworden.

Zu den wenigen öffentlich zugänglichen Ausschnittsammlungen, die bislang diesen Weg der Digitalisierung beschritten haben, zählt im Feld der literaturwissenschaftlichen Fachinformation das Innsbrucker Zeitungsarchiv zu deutsch- und fremdsprachigen Literatur (IZA), bei dem es sich – neben den konventionell in Papierform geführten Sammlungen im Deutschen Literaturarchiv Marbach und der inzwischen nicht mehr fortgeführten Autorendokumentation der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund – zugleich um eines der drei wichtigsten literaturwissenschaftlichen Zeitungsausschnittarchive im deutschsprachigen Raum handelt.

Michael Pilz, 27.03.2011

Michael.Pilz@uibk.ac.at

 

Anmerkungen:

[1] Ferdinand Kürnberger: Die Blumen des Zeitungsstils (1876). In: [Ders.]: Literarische Herzenssachen. Reflexionen und Kritiken. 2. Aufl. München: G. Müller, 1911. (Gesammelte Werke, Bd. 2), S. 10. – Kürnbergers Impression aus der Praxis der Presseauswertung darf heute in erster Linie als historisches Zeugnis für die Veränderungen  in diesem Metier gelesen werden – und dies in mehrfacher Hinsicht: So, wie das Klirren der Papierschere im Zeitalter der elektronischen Datenverarbeitung von den Geräuschen verdrängt worden ist, die die Arbeit an Scannern und PC-Tastaturen erzeugt, ist auch das Rauchen von Zigarren am Arbeitsplatz weitestgehend aus der Mode gekommen. Last not least versteht sich die Tatsache, dass heute nicht nur „emsige Männer“ Pressedokumentation betreiben, von selbst.

[2] Josef Jurt: Für eine Rezeptionssoziologie. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 1979, S. 214–231, hier: S. 217.

[3] Gotthard Wunberg: Modell einer Rezeptionsanalyse kritischer Texte (1975), zit. nach Jurt: Für eine Rezeptionssoziologie, a. a. O., S. 217.

[4] Hannelore Link: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme. Stuttgart: Kohlhammer, 1976. (Urban-Taschenbücher, 215), S. 92.

[5] Joseph Kürschner: Eine Anregung. In: Neuer Anzeiger für Bibliographie und bibliothekswissenschaft, 46 (1885), 1, S. 2–4, hier: S. 4.

[6] Theodor Rother: Plan eines Journal-Inhalts-Verzeichnisses. In: Neuer Anzeiger für Bibliographie und bibliothekswissenschaft, 42 (1881), 6, S. 202–206, hier: S. 203.

[7] Vgl. hierzu u. a. Hans Bohrmann: Martin Spahn revisited. Die Kritik der Zeitung als wissenschaftliche Quelle und der bibliothekarische Umgang mit der Tagespresse. Ein Rückblick auf 80 Jahre programmatische Diskussion und Benennung gegenwärtigen Handlungsbedarfs. In: Willi Höfig [Hrsg.]: Zeitungen sammeln. Berlin, 1988, S. 123–144.

[8] Hans Albrecht Koch: Personalbibliographien. In: Hans-Henrik Krummacher [Hrsg.]: Beiträge zur bibliographischen Lage in der germanistischen Literaturwissenschaft. Boppard, 1981, S. 155–169, hier: S. 166. – Tatsächlich bedurfte die Erfassung von Zeitungsinhalten in subjektiven Personalbibliographien keiner weiteren Legitimation, sofern die Texte selbst als „Literatur“ identifizierbar waren und damit dem Werk eines konkreten Dichters zugerechnet werden konnten: „Schon dieser Umstand, nicht erst das Interesse an den Zeugnissen und Belegen der Rezeption von Literatur, hat die Editoren und Personalbibliographen seit langen genötigt, nach Erstdrucken in dieser sonst den Historikern und Publizistikwissenschaftlern gern überlassenen Sphäre [der Zeitungen. M. P.] zu fahnden.“ (Reinhard Tgahrt: Zur bibliographischen Erschließung der deutschen Literatur von 1880–1945. In: Krummacher [Hrsg.]: Beiträge zur bibliographischen Lage, a. a. O., S. 121–154, hier: S. 148).

[9] Hans Fromm: Germanistische Bibliographie seit 1945. Theorie und Kritik. Stuttgart: Metzler, 1960, S. 12.

[10] Vgl.: Heinrich Hubert Houben [Hrsg.]: Die Sonntagsbeilage der Vossischen Zeitung, 1858–1903. Berlin: Behr, 1904. (Bibliographisches Repertorium, 2). Im Anhang erschließt diese Bibliographie die Monatsbeilage der Vossischen Zeitung, die nur kurzzeitig für 9 Monate des Jahres 1751 erschienen und von Lessing redigiert worden war.

[11] Vgl. Echo der Zeitungen. In: Das literarische Echo, 1 (1898/99), 1 – 44 (1941/42), 6; damit Ersch. eingest.

[12] H. H. Houben; Gustav Karpeles: Entwurf zu einer Deutschen Bibliographie. Leipzig: Andrä, 1902, S. 3.

[13] Ebd.

[14] Vgl. ebd. die Stellungnahmen wichtiger Forscher und Hochschullehrer, die sich für das Projekt aussprechen.

[15] Vgl. hierzu u. a.: Hans-Dieter Holzhausen: Finderglück ist Sucherlohn. Zum Gedenken an Heinrich Hubert Houben (1875–1935). In: Philobiblon, 39 (1995), 3, S. 228–241.

[16] Alfred Schulze: Über eine Bibliographie der deutschen Zeitschriftenlitteratur vor dem Jahre 1896. In: Zentralblatt für bibliothekswesen, 18 (1901), S. 403–412, hier: S. 408. Vgl. auch das ebd., S. 388–402 veröffentlichte Korreferat von Ch. W. Berghöffer, laut dem eine Zeitschrifteninhaltsbibliographie „sowohl aus inneren Gründen als auch in Rücksicht auf die praktische Ausführbarkeit und das vorhandene Bedürfnis zunächst die politischen und Tagesblätter und ebenso die Rezensionen aussparen“ sollte (ebd., S. 392 f.).

[17] Vgl. Rother:  Plan eines Journal-Inhalts-Verzeichnisses, a. a. O., S. 205, wo Petzholdt über die laufende Registrierung des Zeitschriften- und Zeitungsinhalts schreibt: „Ich mag nicht bergen, dass ich die Herstellung eines solchen Inhalts-Verzeichnisses […] unter allen Umständen für, wenn nicht durchaus unausführbar, doch mit außerordentlich großen Schwierigkeiten verknüpft halten muss.“ Diese Schwierigkeiten bezögen sich vor allem auf die große Menge des auszuwertenden Schrifttums und dessen mangelhafte Nachweissituation an bibliotheken. Vgl. hierzu auch Burghard Burgemeister: Analytische Erschließung von Zeitschriften und monographischen Sammelwerken in bibliotheken. Geschichte und Prinzipien. Leipzig: Bibliograph. Inst., 1980.  (Zentralblatt für bibliothekswesen. Beiheft, 92), S. 49 ff.

[18] Zunächst u. d. T. Halbmonatliches Verzeichnis von Aufsätzen aus deutschen Zeitungen in sachlich-alphabetischer Ordnung. Leipzig: Dietrich. (Internationale Bibliographie der Zeitschriftenliteratur, Abteilung A, Beilage), 1 (1908/09) – 14 (1921/22); 15 (1928) – 31 (1944); damit Ersch. eingest.

[19] Vgl. Zeitungs-Index. Verzeichnis wichtiger Aufsätze aus deutschsprachigen Zeitungen. Hrsg. von Willi Gorzny. München : Verl. Dokumentation,  1 (1974) ff.  Mit Ausnahme von Berichtsjahr 1993 sind ab Februar 1992 keine vollständigen Jahrgangsfolgen mehr erschienen. Als letztes nachweisbares Heft konnte aus dem Jahrgang 2003 eine Dreimonatsausgabe für Jan.-März ermittelt werden.

[20] GERDOK sollte erstmals auf der Basis einer Datenbank produziert werden. Neben der Auswertung von rund 1.000 Fach- und Kulturzeitschriften und einer intensiven Berücksichtigung der Grauen Literatur war „als Novum die Erfassung von Beiträgen aus überregionalen Tages- und Wochenzeitungen geplant, und zwar sowohl von Rezensionen als auch von Berichten zum literarischen Leben.“ (V. Schweiger: Das Projekt „Germanistische Literaturdokumentation Gerdok“. In: Krummacher [Hrsg.]: Beiträge zur bibliographischen Lage, a. a. O., S. 43–58, hier: S. 50).

[21] So heißt es im Vorwort zu Bd. 1 (1980) der  IGB, S. XI: „Formal berücksichtigt die IGB außer den selbstverständlich registrierten Verlagsmonographien und Zeitschriftenaufsätzen möglichst umfassend auch […] wissenschaftliche Beiträge und Quellenveröffentlichungen in Zeitungen.“ Analog dazu stellte zwei Jahre später der Herausgeber der BDSL programmatisch fest: „Ein […] Grund für die Titelmenge des Bandes 1982 liegt darin, dass die Basis durch die Berücksichtigung von Zeitungen erweitert wurde. Hier erscheinen Aufsätze und Rezensionen, die für die Germanistik von gleicher Wichtigkeit sind wie diejenigen in den Fachzeitschriften. Ferner sind Beiträge zur Literaturkritik mehr als bisher berücksichtigt worden.“ (BDSL, Bd. XXII (1982), S. X.)

[22] Vgl. Heinz Ludwig Arnold [Hrsg.]: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: Text + Kritik, 1978 ff.

[23] Paul Raabe (1974) zit. nach Maria Kühn-Ludewig: Zeitungsinhaltserschließung und wissenschaftliche bibliotheken. Köln, bibliothekar-Lehrinst., Prüfungsarbeit, 1975, S. 68.

[24] Bernhard Fischer: Bibliographische Arbeitsstelle und Literaturarchiv am Beispiel des Sammlungs- und Erschließungskonzepts des Deutschen Literaturarchivs Marbach a. N. In: Christoph König; Siegfried Seifert [Hrsg.]: Literaturarchiv und Literaturforschung. München, 1996, S. 149–165, hier: S. 162 f. (Hervorhebungen M. P.)

[25] Martin Spahn: Über die systematische Sammlung der deutschen Zeitungen. In: Zentralblatt für bibliothekswesen, 27 (1910), 3, S. 93–106, hier: S. 99.

[26] [Erich Schulz]: Über das Sammeln von Zeitungen und Zeitungsausschnitten. In: Dortmundisches Magazin, 1 (1909), S. 20–21, hier: S. 20.

[27] Vgl. Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch-Verl., 2006.

[28] Vgl. ebd., S. 77 ff.

[29] Vgl. [Schulz]: Über das Sammeln von Zeitungen, a. a. O., S. 20: „Es wird bei dieser Art der Sammlung die Anlage eines besonderen Katalogs erspart.“

[30] Paul Raabe: Formen und Wandlungen der Bibliographie. In: H.-A. Koch; A. Krup-Ebert [Hrsg.]: Welt der Information. Stuttgart, 1990, S. 79–96, hier: S. 93.

[31] Vgl. Hermann Hart: Ausschnittbüros. In: Walter Heide [Hrsg.]: Handbuch der Zeitungswissenschaft. Leipzig, Bd. 1.1, Sp. 284–294, hier S. 288: „Die Auswertung des Ausschnittarchivs erfolgt auch in Form periodischer Lieferungen vervielfältigter Abdrucke von Z[ei]t[un]gs-Artikeln an die Bezieher.“ Ein modernes Beispiel bietet z. B. der alljährlich erscheinende Pressespiegel Österreichische Literatur der Zeitschrift Zirkular, die von der Dokumentationsstelle für Österreichische Literatur im Literaturhaus Wien herausgegeben wird. 

[32] F. Franzmeyer: Reichspressearchiv und Zeitungswissenschaft. Vortrag anlässlich der Dozententagung des DZV. In: Zeitungswissenschaft, 17 (1942), 6, S. 309–316, hier: S. 315.

[33] Vgl. Pressearchiv zur Geschichte Deutschlands sowie zur internationalen Politik von 1949–1960. Hrsg. vom Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin. Bearb. von Erdmute Horn-Sander. München: Saur, 1995. 

[34] Vgl. Dokumentation zur jüdischen Kultur in Deutschland 1840–1940. Die Zeitungsausschnittsammlung Steininger. Hrsg. vom Archiv Bibliographia Judaica. München: Saur, 1995 ff.