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Lumma Liborius: Lernen heißt vergessen. Ansprache zur feierlichen Sponsion und Promotion am Samstag, 21. November 2021
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Lernen heißt vergessen. Ansprache zur feierlichen Sponsion und Promotion am Samstag, 21. November 2021

Autor:Lumma Liborius
Veröffentlichung:
Kategoriefak
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2021-11-23

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Sehr geehrte Absolventinnen und Absolventen[1],
sehr geehrte Angehörige, Freundinnen und Freunde,
sehr geehrte Damen und Herren,

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ein guter Freund hat mir einmal einen Kernsatz aus seinem Sozialpädagogikstudium berichtet, der zunächst nach einem arg abgenützten Sprichwort klingt: „Lernen heißt vergessen.“

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Sie können diesen Satz in der unterschiedlichsten Literatur finden, meist mit eher spöttischem Unterton, so in der Art: Wenn man etwas lernt, vergisst man es doch wieder und muss dann von vorne beginnen.

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Meinem Freund, dem Sozialpädagogen, wurde dieser Satz aber in folgender Weise vermittelt: Wenn man etwas lernt, dann vergisst man, wie es vorher gewesen ist, als man es noch nicht gelernt hatte. Ein Paradebeispiel dafür ist das Lesen. Wenn Sie lesen gelernt haben, können Sie nicht mehr an Buchstaben vorbeigehen, ohne sie zu erkennen. Sie können nicht so tun, als ob Sie nicht lesen könnten. Gut, Sie können vielleicht schauspielern, aber in Ihrer eigenen Wahrnehmung können Sie das Verstehen nicht ausschalten: Sobald Sie Buchstaben sehen, erkennen Sie sie. Sie haben vergessen, wie es ist, nicht lesen zu können.

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Oder Rechnen. Wenn Sie rechnen gelernt haben, können Sie nicht mehr 2 + 2 sehen, ohne zu wissen, dass das 4 ergibt. Sie haben vergessen, wie es ist, nicht rechnen zu können.

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Wenn Menschen in meiner Umgebung Deutsch sprechen, kann ich sie nicht einfach ausblenden. Ich muss mithören, und – ich denke, Sie können das nachvollziehen – das ist manchmal sehr anstrengend. Ich habe vergessen, wie es ist, kein Deutsch zu verstehen.

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Sich in diejenigen zu versetzen, die das, was man selber kann, nicht können, ist eine riesige Herausforderung. Denn man selber kann es ja, und man kann nicht einfach so tun, als könnte man es nicht.

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Eine ähnliche Erfahrung haben gewiss auch Sie schon gemacht, liebe Absolventinnen und Absolventen, vielleicht schon mit der Bachelorarbeit, höchstwahrscheinlich mit der Masterarbeit und ganz gewiss mit der Doktorarbeit. Sie haben sich in etwas eingearbeitet, das am Ende niemand so gut kennt wie Sie. Für Sie ist es selbstverständlich geworden, aber alle anderen kennen es nicht. Dann ist aber kaum noch jemand da, mit dem Sie darüber reden können, und der Versuch, den Sinn und die Inhalte der eigenen Forschung der Familie oder dem Freundeskreis zu vermitteln, endet dann oft mit dem doch eher unbefriedigenden Satz: „Wir verstehen dich zwar nicht, aber wir sind stolz auf dich.“

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Mit Ihrem Studienabschluss, liebe Absolventinnen und Absolventen, geraten Sie in die Rolle von Wissenschaftskommunikatorinnen und Wissenschaftskommunikatoren. Sie verfügen über eine Expertise, die andere nicht haben; und Sie sind von lauter Menschen umgeben, die das, was für Sie selbstverständlich ist, nicht kennen – nicht kennen können und nicht kennen müssen.

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Dafür brauchen Sie Ausdauer, Sie brauchen viel Geduld, und Sie müssen immer wieder versuchen, sich eben doch in diejenigen zu versetzen, die das nicht kennen und nicht können, was für Sie selbstverständlich geworden ist.

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Sie werden übrigens auch das Umgekehrte erfahren: Menschen werden aufgrund Ihres akademischen Grades an Sie herantreten und Sie mit Fragen löchern. Sie werden Autorität genießen, andere werden sich an Ihnen orientieren und sich auf Sie berufen. Da gilt es dann, dazu zu stehen, dass Sie keineswegs alles wissen, dass auch Sie sich mal irren, und dass auch wir – Ihre Lehrerinnen und Lehrer an der Universität Innsbruck – uns mal geirrt haben können, als wir Sie in die Wissenschaften eingeführt haben.

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Liebe Absolventinnen und Absolventen unserer Universität! Ich gratuliere Ihnen zum erfolgreichen Abschluss Ihres Studiums. Sie haben Wissen und Kompetenzen erworben – genug, um vergessen zu haben, wie es vorher war, aber nicht genug, um frei von Grenzen und Ungewissheit zu sein. Bitte gehen Sie verantwortungsvoll mit dem um, was Sie von diesem Ort mitnehmen. Nehmen Sie das Gelöbnis ernst, dass Sie gleich sprechen werden und mit dem Sie sich darauf verpflichten, Ihre Rolle in der Gesellschaft verantwortungsbewusst wahrzunehmen; und hören Sie nicht auf zu lernen – und zu vergessen!

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Anmerkungen 

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[1] Die Ansprache wurde gehalten für Absolventinnen und Absolventen der Fakultät für Bildungswissenschaften, der Fakultät für LehrerInnenbildung, der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und der Philosophisch-Historischen Fakultät.

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