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Sandler Willibald: Mörderische Topologie
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Mörderische Topologie

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2020-02-20

Inhalt

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„Parasite“ hat Hollywood aufgemischt. Ein Feuerwerk an Preisen, dessen letzte Salve mit einem Oskarregen den südkoreanischen Film in die Kinos zurückgespült hat – mit überfüllten Sälen. Den muss man gesehen haben. Und wer ihn gesehen hat, wird das Gefühl nicht los, dass er mehr ist als eine „saulustige Unterhaltung“. Es ist Zeit für eine späte Analyse, Spoiler inklusive.

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Der Film selbst ist weniger Feuerwerk als ein Meisterwerk. Mit ruhigen Bildern, bis ins Detail perfektioniert, beschwingter klassischer Musik und einer streng komponierten Handlung, werden wir mühelos und kurzweilig im Fünfminutenrhythmus der Szenen durch eine Handlung geführt, die unsere Erwartungen immer wieder durchkreuzt. Wer ihn sieht, sieht eigentlich zwei Filme – eine Komödie, die schon für sich unterhaltsam genug wäre – und einen Thriller, der Hitchcock alle Ehre macht. Und doch beides eine Einheit: „Thriller-Komödie“.1 Die gefühlte, aber nicht leicht zu durchschauende Folgerichtigkeit, mit der der Thriller aus der Komödie folgt, beunruhigt.

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Komödie: Das Glück der Cleveren

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Der Film beginnt als vife Aufsteigerkomödie über eine Underclass-Familie, die sich dank der hinterhältigen Planungsgabe des Sohnes und des schauspielerischen Talents der Tochter ganz oben in einer superreichen, ahnungslosen Familie einnisten kann: als hauslehrer, Kunsttherapeutin, Fahrer und haushälterin. Dass dafür Angestellte gewissenlos hinausgekickt werden, ist allerdings ein unschöner Nebeneffekt. Als die nun nicht mehr so armen Kims in der makellosen Architektenvilla der verreisten Parks ein Gelage feiern, ahnt man, dass das nicht gut gehen kann.

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Es kommt, was kommen musste – mitten in der wilden Party tönt der Türsummer. Das markiert die Wende zum zweiten Teil. Aber es ist nicht die Familie, die vorzeitig zurückkehrt. Am Display der Sprechanlage erscheint das verwahrloste Gesicht der geschassten Ex-haushälterin. Sie hätte etwas im Keller vergessen. Ratlos schaut die Kim-Mutter zu ihrem Sohn. „Das gehört nicht zum Plan!“, ruft dieser verzweifelt. Mutter Kim öffnet.

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Thriller: Der Tod kommt aus dem Kellerloch

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Damit tun sich zwei Türen auf. Zum Vorschein kommt ein geheimer Keller, in dem die vorige haushälterin ihren Mann versteckt hält. Nicht einmal die Besitzer wissen um diesen Ort. Es ist ein Bunker, den der berühmte Architekt und Erstbesitzer des hauses angelegt hatte, als Zufluchtsort vor einem Angriff Nordkoreas oder vor Schuldeneintreibern. Da der Architekt dessen Existenz den Parks schamhaft verschwieg, wusste nur seine haushälterin darum. Noch bevor sie von den Parks übernommen wurde, nutzte sie den Bunker, um ihren unternehmerisch gescheiterten, von Schuldeneintreibern verfolgten Mann dort zu verstecken. Nun fleht sie die neue haushälterin um Unterstützung an: „Arme Leute müssen sich gegenseitig helfen!“ – „Wir sind nicht arm“, entgegnet diese und will die Polizei rufen. Doch da wendet sich das Blatt. Die alte haushälterin entdeckt den Betrug der Kims und erpresst sie mit einem geistesgegenwärtig aufgenommenen Handy-Video. Nun thront sie zusammen mit ihrem Mann im Wohnzimmer und dirigiert eine Strafaktion gegen die verängstigte Kim-Familie, ganz nach nordkoreanischem Vorbild, mit dem Finger am „Abzug“ ihres Handys, bereit, das Video an die Parks zu schicken. Wie eine Atombombe, meint ihr Mann beeindruckt. Die Ironie: Der Bunker, der zum Schutz vor Nordkorea gebaut wurde, verbirgt eine Bedrohung von nordkoreanischem Ausmaß. Aber noch richtet sich diese nicht gegen die reichen Besitzer. Dazu kommt es erst, nachdem die beiden Erpresser überwältigt und in den Bunker hinuntergeworfen werden. Die Frau stirbt am Kellersturz und ihr Mann wird zum Rächer. Ein Geburtstagsfest der Parks für deren kleinen Sohn wird zum blutigen Finale – nicht nur für die Kims, auch für die Parks. Im Chaos ergreift Vater Kim das Messer und ersticht – nicht den Attentäter, der bereits von Mutter Kim ausgeschaltet wurde – sondern Nathan Park, den Herrn des hauses. Aber warum?

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Geruch als soziale Grenzmarkierung

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Der mörderische Aggressionsausbruch von Vater Kim gegen Vater Park wurde vom Regisseur durch raffiniert gelegte Spuren vorbereitet. Folgen wir ihnen, so stoßen wir auf eine Kette untergründiger Symbole, deren erstes ziemlich offen daliegt: der Geruch. Nathan Park kann den Arme-Leute-Geruch von Vater Kim nicht ertragen. Der Geruch ist ein Klassenmerkmal. Er markiert eine Grenze, auf deren Einhaltung Nathan Park großen Wert legt. Sein Chauffeur achte die Grenze, sagt Nathan anerkennend zu seiner Frau, aber mit seinem Geruch würde er sie überschreiten. Es ist eine ontologische Grenze – nicht bloß von erlernbarem Verhaltens, sondern von unveränderlichem Sein. Dass Vater Park seinen Arme-Leute-Geruch mit Seife nicht wegbekommen kann, verweist auf ein tieferliegendes Merkmal. Es ist ein unauslöschliches Indiz für einen minderwertigen Seinsstatus, für sein Parasitentum. Diese Empfindlichkeit flammt immer wieder im Film auf. Etwa in seinem nur schlecht kaschierten Aggressionsausbruch gegen seine Frau, die sich seiner schämt. „Was? Ich bin eine Kakerlake?!“

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Schauen wir nun auf die Szene, mit der Nathan Park sich sein Todesurteil zuzieht. In Nahaufnahme beugt er sich über den sterbenden Attentäter, um den dringend benötigten Autoschlüssel unter ihm herauszuziehen. Ehrerbietig lächelt dessen blutiges Gesicht den hausherrn an und formt ein letztes Wort: „Respekt!“ – „Kennen wir uns?“, fragt Nathan Park irritiert. In diesem Moment fordert die intime Nähe ihren Tribut: Herr Park rümpft die Nase und wendet sich angewidert ab. Vater Kim ist Zeuge dieses Aufeinandertreffens. Darauf stürzt er sich mit dem Messer auf ihn. Der Grund oder zumindest Auslöser des Mordes lässt sich mit zwei Worten auf den Punkt bringen: kein Respekt.

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Geruch als Statusmerkmal. Begonnen mit der Stinkwanze, die Vater Kim angewidert wegspeckt, ist Geruch ein Schlüssel in der dramatischen Gesellschaftstopologie von „Parasite“. Geruch ist ein Statusmerkmal eigener Art, weil er sich nämlich nur aus nächster Nähe wahrnehmen lässt. Der Klassengegensatz zwischen unten und oben ist für sich noch nicht explosiv, solange sich zwischen beiden Orten endlose Treppen erstrecken. Damit er explodiert, müssen sich die Gegensätze ganz nahe kommen. Darum weiß die ostasiatische High Society. Deshalb hält sie ihren Reichtum verborgen und protzt nur voreinander. Von außen betrachtet ist die Parks-Villa unauffällig.

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Die unentbehrliche Grenzüberschreitung

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Dennoch darf die Grenze nicht undurchlässig sein. Denn die Reichen brauchen die Armen, erstens als Personal und zweitens – als „Parasiten“ ihrerseits – um vom Nachobendrängen der Kreativsten zu profitieren. Wie der Unternehmer Nathan Park, der erfolgreicher als andere deren Virtual-Reality-Technologien vermarktet, kapitalistischer sogar als die allseits kopierten Amerikaner: „Nathan Park hits Central Park“, titelt ein im haus aufgehängter Zeitungsartikel.

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Drittens ist die makellose Welt, in der sich die Reichen einrichten, steril. Es gibt ein koreanisches Wort, das aus den Schriftzeichen für Mund und Miteinander zusammengesetzt ist.2 Die Kims zelebrieren ihr Familie-Sein, indem sie immer wieder miteinander essen und trinken, selbst in dem reichen haus. Dort ist es die einzige gemeinsame Mahlzeit, die wir sehen, denn die Parks essen nie miteinander. Und es zeigt sich beim Sex von Herrn und Frau Park, zu dem es auf ziemlich ungeordnete Weise wohl nur deshalb kommt, weil ihr traumatisierter Sohn den verdrängten dunklen Seiten der Existenz Raum gibt und bei strömendem Regen im Garten in seinem Indianerzelt übernachten will. So bleiben die Eltern auf der Wohnzimmercouch mit Blick auf Garten und Zelt, während sich unter dem Wohnzimmertisch Vater, Sohn und Tochter der Kim-Familie verstecken und so unfreiwillige Zeugen der Szene werden. Der Sex der Parks findet seinen Höhepunkt erst durch begehrliche Phantasien von einem billigen Slip und von Drogen, die die beiden in einer früheren Szene ihrem vorigen Chaffeur andichteten: Schreck, Empörung und zugleich verdrängte Gier nach einem schmutzigen Jenseits zur makellos eingerichteten Welt.

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Der beschmutzte Glücksstein

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Aufstieg und Fall der Kims werden von einem eindrucksvollen Glücksstein begleitet, den Ki-woo, der Sohn der Familie als Geschenk von einem reichen Freund erhält. „Das ist so metaphorisch!“, ruft er aus, als er ihn mit der Erklärung erhält, er würde Familien materiellen Wohlstand bringen. Für Ki-woo wird er zur Kristallisation seines Begehrens nach einem erfolgreichen, durchsetzungsfähigen und luxuriösen Leben, frei von allem niedrigen Schmutz. Solcherart bewirkt der Stein eine Wandlung seines Charakters. Zweimal schickt ein Betrunkener sich an, vor ihrem Wohnungsfenster an die hauswand zu urinieren. Das erste Mal drückt sich Ki-woo vor einer Konfrontation, während der mit dem Glücksstein auftauchende reiche Freund den Delinquenten selbstbewusst verjagt. Das zweite Mal springt Ki-woo wütend mit dem Stein hinaus und muss von der Familie zurückgehalten werden, um nicht gewalttätig zu werden. Seine Schwester, die ihn das erstemal für seine Feigheit verachtete, filmt nun stolz die Szene.

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Als die Parks nach der Sexszene in ihrem Wohnzimmer eingeschlafen sind, gelingt den versteckten Kims die Flucht. Durch strömenden Regen und anschwellende Sturzbäche von Wasser laufen sie über endlose Treppen durch Seoul hinab bis zu ihrer Souterrain-Wohnung, die vollständig überflutet ist. Aus dem hoch stehenden Abwasser birgt Ki-woo den Stein und nimmt ihn mit sich. Nicht nur der Stein, auch dessen nunmehrige Beschmutzung ist metaphorisch. Ki-woo ist dem Ziel seines Begehrens – dem scheinbar makellosen Leben der Superreichen – zu nahe gekommen, als dass er dessen verdrängte dunkle Seite noch verkennen könnte. Und auch in seinem Leben beginnt diese sich auszubreiten. Im Bunker sind noch zwei Menschen, die ihren Aufstieg bedrohen könnten. Für dieses Problem empfiehlt sich der einst makellose Stein mit einer buchstäblich „lapidaren“ Lösung. Um seine Fehler gutzumachen, schmiedet Ki-woo einen tödlichen Plan: Mit dem Stein will er die beiden Menschen im Bunker erschlagen. Doch er bringt es nicht fertig. Es fehlt ihm die mörderische Energie dazu. Im Gegensatz zum Mann im Bunker, der doch harmlos wie ein Baby gewirkt hatte. Zweimal schmettert dieser den schweren Stein auf Ki-woos Kopf. Es ist ein Wunder, dass Ki-woo nach Wochen im Krankenhaus überlebt.

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Damit eignet dem Glücksstein eine geradezu satanische Ambivalenz im Sinne von René Girards mimetischer Begierdelogik:3 eine Erfolg erzeugende Freisetzung des Begehrens in der ersten Stufe, als Lösung für die Rivalitäten (mit der vertriebenen haushälterin und ihrem Mann), die sich daraus ergeben, mörderische Gewalt in der zweiten Stufe, die zum eigenen Untergang in der dritten Stufe führt. Gemäß der Logik des Neuen Testaments „wird jeder von seiner eigenen Begierde in Versuchung geführt, die ihn lockt und fängt. Wenn die Begierde dann schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt; ist die Sünde reif geworden, bringt sie den Tod hervor“ (Jak 1,14–15).

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Mörderisch, weil ohne Plan

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Kun-sae, der Ehemann der Ex-haushälterin und Ki-tek, der Vater der Kim-Familie: Ausgerechnet diese beiden eher schwachen, zum Teil gebrochenen Männer werden zu Mördern. Was gab ihnen jene mörderische Energie, die Ki-woo für seinen Plan fehlte? Beide Männer haben einiges gemeinsam: Sie hatten einmal einen Plan – der eine eröffnete eine Bäckerei, der andere einen Imbissladen – und waren damit spektakulär gescheitert. Nun sind sie planlos – im Gegensatz zum jungen Kim, der ständig einen Plan hat. Nach Geruch, Grenze und dem Glücksstein sind Plan und Planlosigkeit weitere symbolgeladene Schlüsselworte im Film. „Was ist dein Plan?“, fragt die Kim-Mutter ihren Mann sarkastisch am Filmbeginn, als kein WLAN mehr vorhanden ist. Und nach der katastrophalen Party in der Parks-Villa beruhigt Kim-Vater die Familie, er habe einen Plan. Auf die Nachfrage seines Sohnes erweist sich dieser Plan als dezidierter Plan, keinen Plan zu haben, selbst wenn das bedeuten würde, dass jemand zu einem Verbrecher wird. „Mord oder Landesverrat – was macht´s?“. Dieses planlose Aus-dem Bauch-Handeln ermöglichte schließlich seine Ermordung von Nathan Park im Affekt.

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Kun-sae hingegen regredierte durch vier Jahre Einsamkeit im Bunker zu einem auf seine Grundbedürfnisse reduzierten Baby: die gesteigerte Planlosigkeit eines Menschen,4 der sich damit zufrieden gibt, bis zum Lebensende im Bunker zu bleiben. Aber diese Asozialität ermöglicht es, dass seine Bitterkeit über das Sterben seiner Frau – und deren Hass auf die Kim-Mutter, die sie ihm einimpft – sich ungebremst entladen können. Es ist das Grauen eines blutgesichtigen und zugleich bis zum Lächeln entspannten Menschen, der sein mörderisches Werk zu Ende führt, ohne sich durch die anwesende High Society im Mindesten dabei stören zu lassen. Selbst die Reverenz des Sterbenden gegenüber dem hausherrn erfolgt ohne jedes schlechte Gewissen.

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Eine soziale Topologie des Grauens

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Neben „oben“ und „unten“ kennt die soziale Topologie von „Parasite“ einen fremdartigen „dritten Ort“. Mit Michel Foucault lässt er sich als Anders-Ort oder Heterotopie bestimmen;5 mit Lacan das reale Ding, das jeden symbolischen Rahmen auflöst. Slavoj Žižek hat den Bezug zu Hitchcock hergestellt, den der Parasite-Regisseur Bong Joon-ho ausdrücklich als sein Vorbild nennt: wie in „Psycho“ die Dusche, in der Norman Bates akribisch alle Spuren des Verbrechens beseitigt, oder der Sumpf hinter dem haus, in dem er die Autos der Opfer versenkt.6 In „Parasite“ wird es symbolisiert durch den geheimen Bunker, durch die unbeachteten oder unverstandenen Morsezeichen, die aus ihm gesendet werden, durch den Geist, der den Park-Sohn traumatisiert hatte, sowie durch die schwarzen Flecken am rechten unteren Rand der Bilder des Park-Sohnes, schließlich durch das ahnungslos zugelassene Parasitäre, das durch den Mann der ersten haushälterin, aber auch durch die eingedrungenen Kims selber repräsentiert wurde. Am Filmende wird die Kim-Tochter ihr Versprechen, als Kunsttherapeutin die verborgene „Black-Box“ in der Psyche des Park-Sohnes freizulegen, auf tragisch-ironische Weise einlösen: durch das Schicksal ihrer Ermordung.

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Der Bunker ist also das Symbol für einen verborgenen Ort, von dem her das Grauen in eine reiche, ahnungslose Gesellschaft hereinbricht. Diesen Ort würde es auch ohne Bunker geben. Schließlich agiert Kim-Vater ähnlich mörderisch, obwohl er nicht aus dem Bunker kommt. Dass er aber dort enden wird, ist folgerichtig. Die Natur dieses mörderischen Anders-Ortes, für den Bunker, hausgeist und „Parasiten“ nur Symbole sind, ist topologisch zu bestimmen: aus der Logik der Zueinanders der drei verschiedenen Orte, wie sie der Film beschreibt. Es gibt ein Oben und zwei „Unten“, wobei diese „Unten“ jeweils durch absteigende Treppen markiert sind. Für das eine „Unten“ steht die Wohnung der Kims, mit ihrer verkehrten Welt, in der das Klo wegen des Abwasserdrucks wie ein Thron oben positioniert ist, so dass alles darunter den Höhlen des Ungeziefers gleicht, die unterhalb des Abwasserlochs beginnen, wo keiner wissen will, was sich da verbirgt. Für das andere „Unten“ steht der verborgene Bunker, der dem „Oben“ viel näher steht und in seiner Ausstattung auch davon profitiert, aber gerade dadurch auch viel deutlicher als minderwertig markiert ist: nicht zuletzt durch eine völlige soziale Isolation. Ein Filmanalytiker hat in diesem „Unten“ eine Hölle gesehen, im Unterschied zum „Unten“ der Kim-Wohnung, die er als Fegefeuer bezeichnet:7 mit der zumindest theoretischen „Reinigungmöglichkeit“ eines sozialen Aufstiegs.

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Charakteristisch für das „Bunker-Unten“ ist seine Position in nächster Nähe zum Oben. Wer sich dort unten befindet, wird in seiner Identität ständig von oben her abgewertet. Von daher wird deutlich: Auch ohne Bunker findet sich Kim-Vater durch eine Reihe achtlos-abwertender Bemerkungen in diese Hölle versetzt. Die Ermordung von Nathan Park ist für ihn ein Befreiungsschlag.

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Ein übersehener Ausweg: Moral – Religion – Würde

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Was in dem Film auffällt, ist die beinahe restlose Abwesenheit von Moral und die vollständige Abwesenheit von Religion. Die einzigen Spuren von Moral finden sich ausgerechnet bei den beiden Männern, die zu Mördern werden. Die beiden sind die einzigen, die etwas von Dankbarkeit zeigen. Mittels Morsezeichen, die sich an eine Lampe im haus senden lassen, hat Kun-sae, der „Bunkergeist“, öfters einen Dank an Herrn Park gesendet, der davon allerdings nichts mitbekommen hat. Und Kim-Vater will zu Filmbeginn mit seiner Familie die Segnungen des wieder frei zugänglichen WLAN feiern. Beim Gelage bezeugt er Dankbarkeit für die Parks, von denen schon so viel Geld zu ihnen geflossen ist. Und er zeigt einen Hauch von schlechtem Gewissen, als er nachfragt, ob es dem aufgrund ihrer List gefeuerten früheren Chauffeur wohl gut gehen würde. Seine Tochter reagiert darauf wütend: Der Vater solle sich gefälligst um das Wohl seiner eigenen Familie kümmern.

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Diese Restbestände von Moralität könnten Nachwirkungen religiöser Traditionen sein, die den Eltern noch vertrauter sind als den Kindern. Allerdings fällt Religiosität bei allen Filmfiguren vollständig aus. Symptomatisch dafür ist ein Dialog, in dem Ki-woo seiner Mutter von Frau Park erzählt: „Das Geld ist gut, und vor allem: Sie ist eine Gläubige.“ – „Ist sie religiös?“, fragt Kim-Mutter zurück. Ki-woos Antwort: „Nein, sie ist bloß – leichtgläubig“.

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Dostojewskij hat festgestellt, dass ohne Gottsglauben die Moral Schiffbruch erleiden würde:

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„Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt“.8 Der Soziologe Hans Joas hat dem empirisch begründet entgegengehalten, dass nichtreligiöse Menschen durchaus auch hohen ethischen Ansprüchen genügen.9 Sozialtopologisch wäre zurückzufragen, ob das auch für den in „Parasite“ entworfenen dritten Ort gilt, der Menschen zu Mördern machen kann. Folgendes ist unter Umständen eine Frage unseres gesellschaftlichen Überlebens: Gibt es eine Kraft, die Menschen auch am Ort ihrer totalen Entwertung davor schützt, zu zerbrechen und/oder zu Mördern zu werden? Das gilt gewiss nicht für Religion als bloß moralische Institution. Allerdings hat authentische Religion das Potenzial, Menschen eine Würde zuzusagen, die topologisch invariant, also unabhängig von ihrer relativen Position zu anderen ist. Der Jakobusbrief gibt dazu einen Hinweis: „Der Bruder, der in niederem Stand lebt, rühme sich seiner hohen Würde, der Reiche aber seiner Niedrigkeit; denn er wird dahinschwinden wie die Blume im Gras.“ (Jak 1,9f)

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Ausblick: Morsezeichen aus dem Untergrund

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Auswege zu finden, gehört nicht zur Aufgabe dieses Films. Vielmehr zeigt er einen verborgenen Ort auf, an welchem viel Sprengstoff für eine dynamisierte Gesellschaft liegt. Darauf verweist ein weiteres Schlüsselsymbol im Film: die Morsezeichen. Sie gehen über die unabsichtlichen Indizien – etwa die „black boxes“ auf den Gemälden des Park-Sohnes – entschieden hinaus, denn es sind absichtliche Botschaften. Im Film sehen wir, wie Kun-sae, der „hausgeist“, Morsecodes über die Ganglampe sendet. Achtlos geht Nathan Park daran vorbei. Später folgt eine dramatischere Szene: Verzweifelt hämmert der gefesselte Kun-sae mit seinem Kopf auf die Schalter, um angesichts seiner sterbenden Frau ein Hilfesignal hinauszusenden. Er ist überzeugt: Der Park-Sohn ist bei den Pfadfindern, er müsste den Code verstehen. Und tatsächlich sehen wir den Buben im Indianerzelt beim Versuch, den Morecode zu entschlüsseln – allerdings erfolglos. Und am Ende des Films beobachtet der von seiner Kopfverletzung genesene Ki-woo mit einem Fernglas das inzwischen anderweitig verkaufte haus der Parks. Er sieht das Aufleuchten und Verlöschen einer Außenlampe und vermag so einen Brief von seinem im Bunker versteckten Vater zu entziffern. Am Ende fasst Ki-woo einen Plan: Er will so viel Geld verdienen, dass er das haus kaufen und den wegen Mordes gesuchten Vater befreien kann. Ob er eine Chance hat, den Plan zu verwirklichen, steht in den Sternen. Zumal er seinen Glücksstein, der ihn um ein Haar getötet hätte, in einen Bach zurückgelegt hat. Hat er damit sein Begehren nach oben begraben? Oder hat er es nur von den Verschmutzungen „gereinigt“, sodass er sich nun mit neugewonnener Naivität den Kristallisationen seines Begehrens hingeben kann? Auch das ist völlig offen.

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Was bleibt, sind die verstörenden Morsezeichen aus dem architektonischen Kunstwerk des Park-hauses. Es liegt nahe, darin ein Symbol für den ganzen Film zu sehen. Bleibt man an der Oberfläche, kann man den Film als einen „bitterbösen und saulustigen Klassenkampf“ genießen. Oder man hört die verstörenden Signale aus einem Raum, den es eigentlich – bitteschön! – nicht geben dürfte, obwohl wir ihn doch brauchen und ständig neu erzeugen. Werden wir sie ignorieren wie der ahnungslose Nathan Park, der hausgeister als Chance der Reifung versteht, sowie als Segen, der Reichtum bringt? Oder scheitern wir wie sein Sohn an der Entzifferung? Oder gelingt sie uns, wie Ki-woo, der Hauptfigur des Films? Und wenn ja, verfolgen wir weiter das Traumgespinst eines Orts, der frei von allen Schatten ist? Oder gelingt es uns, den geheimen Andersort in unser Leben und unsere Welt zu integrieren?

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Anmerkungen

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1 Vgl. Christoph Peterson, Parasite. Ein bitterböser und saulustiger Klassenkampf, online: http://www.filmstarts.de/kritiken/255238/kritik.html

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2 Hinweis des Regisseurs Bong Joon-ho, in: Alex Rose, Bong Joon-ho on the complex class conflict in Parasite, online: https://cultmtl.com/2019/10/bong-joon-ho-parasite-interview

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3 Vgl. René Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums. München/Wien 2002, v.a. 50–51.

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4 „KI-TEK: So what was your plan? You didn’t even have one, did you? — KUN-SAE (laughing): I like it here. It almost feels like I grew up here. This might as well be my official address. Kun-Sae rambles on incoherently, his eyes glazed and out of focus.“ (Bong Joon Ho/Han Jin Won, Parasite, Original Screenplay, online: https://www.highonfilms.com/wp-content/uploads/2020/01/parasite-script.pdf Szene 91.

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6 Vgl. Slavoj Žižek, Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen, Berlin 2000, 7–22.

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7 Vgl. Joshua Raymond Dzindzio, Parasite (2019) Movie Review and Explanation, online: https://www.youtube.com/watch?v=TopOPgw6vb4 – Position: 10:55.

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8 In den „Brüdern Karamasow“ lässt Dostojewskij den Staretz Sossima sagen: „Anders die Höheren. Sie wollen, der Wissenschaft folgend, eine gerechte Ordnung nur mit dem eigenen Verstand errichten, aber jetzt ohne Christus, wie früher, und sie haben schon verkündet, daß es kein Verbrechen, keine Sünde mehr gibt. Und sie haben auf ihre Weise auch recht: denn wenn du keinen Gott hast, wie soll es da ein Verbrechen geben?“ (F. M. Dostojewski, Die Brüder Karamasow. In der Neuübersetzung von Swetlana Geier, Frankfurt a. M. 32008, 508 (= VI. Buch, Kapitel III f).

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9 Vgl. Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. Freiburg 2012, 43–66.

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