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Arbeit an der „Geistesarbeit“ – Universität Innsbruck

Arbeit an der „Geistesarbeit“

[14.05.2024] Unter dem Motto „…denn sie wissen nicht, was sie tun. Aspekte einer Praxeologie der Geisteswissenschaften“ lud der FSP „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“ am 10. April 2024 die beiden Literaturwissenschaftler Steffen Martus (Humboldt Universität Berlin) und Carlos Spoerhase (Ludwig-Maximilians-Universität München) zu einem Gespräch mit Alena Heinritz (Universität Innsbruck) und Thomas Wegmann (Universität Innsbruck) in die Claudiana in Innsbruck ein.

Dabei birgt der etwas ironisch anmutende Titel der Veranstaltung Tiefgründiges und diente als programmatischer Anstoß für das von Martus und Spoerhase kollaborativ verfasste Buch „Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften“ (2022 bei Suhrkamp erschienen). Hätten die Autoren, so geben sie in ihrem Nachwort an, anstelle eines wissenschaftlichen Buches eine Netflix „Dramedy des Geistes“ ähnlich wie The Chair von 2021 realisiert, wäre oben genanntes Motto geradezu obligatorische Ergänzung, da doch den meisten Geisteswissenschaftler:innen ihre eigenen Tätigkeiten die meiste Zeit nicht so ganz klar seien. Dies liegt aber nicht an der Unfähigkeit der Akteur:innen, sondern an den oft impliziten und ‚krummen‘ Praktiken innerhalb der Geisteswissenschaften selbst, die es einmal genauer in den Blick zu nehmen gilt. Denn, so geben die Autoren am Ende ihres Buches zu bedenken, wenn die Geisteswissenschaften einen zentralen Platz in der Gesellschaft behalten wollen, müssen sie sich erst einmal ihres eigenen Tuns bewusstwerden.

Für Silke Meyer (Universität Innsbruck), die als Moderatorin durch die Veranstaltung führt, ist es letztlich eine Kernaufgabe des FSP „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“, sich neben den intra- und transdisziplinären Vernetzungen der Geisteswissenschaften auch um die Wissenschaftskommunikation im Sinne eines Austausches mit der Gesellschaft (third mission) zu kümmern und vor diesem Hintergrund das Handlungsgefüge ‚Geistesarbeit‘ und Gesellschaft besser zu verstehen, um möglicherweise auch eine ‚Zukunftsschau der Geisteswissenschaften‘ zu erhalten.

Dass ihr Buch vornehmlich keine Zukunftsschau, sondern eher ein Rückblick in die Geisteswissenschaften der 1960er und 1970er Jahre ist, führen Martus und Spoerhase in einem kurzen Überblick vor. Denn im Zentrum des Buches stehen zwei Fallstudien geisteswissenschaftlichen Arbeitens der Literaturwissenschaftler Friedrich Sengle (1909–1994) und Peter Szondi (1929–1979). Das Spektrum der geisteswissenschaftlichen Arbeit wird vornehmlich an deren unterschiedlichen Forschungs- und Schreibprogrammen aufgezeigt. Während Sengle mit einer regelrechten ‚Lehrstuhlmaschinerie‘ mit mehreren Hilfskräften, Doktorand:innen und Assistent:innen mehrbändige Werke verfasste (wie Die Biedermeierzeit, 1971–1980), schrieb Szondi als Einzelforscher eher knappe, stilistisch anspruchsvolle Studien (wie Theorie des modernen Dramas, 1956) mit dem „philologischen Ethos“, stets in Austausch mit der scientific community zu stehen.

Mit der praxeologischen Untersuchung der Geisteswissenschaften des vergangenen Jahrhunderts zeigen Martus und Spoerhase wie sich unterschiedliche Tätigkeiten wie die Arbeit am Schreibtisch, die Kollaboration und Kooperation mit anderen, die Auseinandersetzung mit bestimmten materiellen und technischen Bedingungen oder auch die Form einer bestimmten wissenschaftlichen Sozialisation, die eine Teilhabe am szientifischen Diskurs ermöglicht, über lange Zeiträume etabliert haben und immer noch den Alltag der meisten Geisteswissenschaftler:innen von heute bestimmen. Damit nimmt das Buch auch Bezug auf aktuelle Diskurse und erlaubt Ausblicke auf künftige Entwicklungen. Mit der praxeologischen Perspektive wird allererst der Alltag geisteswissenschaftlicher Arbeit sichtbar und zeigt deren stabilisierenden und damit krisenresilienrenden Faktor, den man mitunter gegen bestimmte theoretische Krisendiskurse der Geisteswissenschaften und ihre Rechtfertigungsschleifen ob ihres Daseins in Anschlag bringen kann. Denn nach Martus und Spoerhase ereignen sich all die geisteswissenschaftlichen Praktiken nicht als singuläre Ereignisse, sondern sind Teil eines bestimmten Gefüges innerhalb einer community of practice und grundieren damit sekundäre (theoretische) Verstehensprozesse der Geisteswissenschaft in all ihrer Vielfalt allererst und dies schon seit geraumer Zeit.

Gegen diese Kontinuitätsthese geben Thomas Wegmann und Alena Heinritz jedoch zu bedenken, dass vor dem Hintergrund der Digitalisierung ganz neue Publikations- (open access), und mediale Kommunikationsformate (E-mail, Zoom) entstanden sind, die die papieraffine ‚Gutenberg Galaxie‘, der Sengle und Szondi noch verpflichtet waren, doch weitgehend veränderten und damit auch auf das geisteswissenschaftliche Praktiken-Gefüge einwirkten.  Dies sei, so geben Martus und Spoerhase zur Antwort, durchaus so und man könne noch nicht das gesamte Ausmaß des digitalen Wandels überblicken, um mit Sicherheit eine Veränderung bestimmter Handlungsweisen anzugeben. Gleichwohl müsse man überlegen, inwiefern sich bestimmte digitale Formate an ehemaligen etablierten epistemischen Formen orientieren (open access Formate am gedruckten Buch, E-mail am Brief) und ob hier der Wandel wirklich so tiefgreifend sei. Im Falle der E-mail (oder auch von Zoom) hätten sich zwar Formen von Abwesenheiten verstärkt, jedoch auch neue Möglichkeiten der Anwesenheit ergeben. Mit Hilfe der digitalen Kommunikation war es dem wissenschaftlichen Nachwuchs bspw. möglich, eigene Tagungen ohne institutionelle Lehrstuhl-Prozeduren zu organisieren und damit neue Teilhaben und Anwesenheiten zu generieren (ähnliches gilt auch für Zoom-Tagungen, die plötzlich eine ganz neue internationale Partizipation beförderten). Prinzipiell lässt sich aber auch hier eine fortgeführte implizite geisteswissenschaftliche Praktik ausmachen, die schon lange vor der Digitalisierung existierte, und zwar die prinzipielle Publizität aller wissenschaftlichen (oder Wissenschaft betreffenden) Texte. So geben Martus und Spoerhase zu bedenken, dass unter bestimmten Begriffen wie ‚Digitalisierung‘ nicht eindeutige Entwicklungen zu verzeichnen, sondern hier stets differenzierte Prozesse von Wandel und Abweichungen anzunehmen sind. Ähnliches gilt auch für die von Heinritz und Wegmann in die Diskussion eingebrachte Frage nach einer zunehmenden ‚Kapitalisierung der Universitäten‘, die die Betriebsförmigkeit, Anonymität und Formalisierung von Prozessen an der Universität verstärkt und damit bestimmte Textformen wie den Antrag oder das Gutachten befördert hätte. Auch hier plädieren die Autoren für eine gewisse Umsicht, nicht von eindeutigen Homogenisierungen auszugehen, sondern bestimmte Praktiken des Begutachtens und Antragschreibens eingängiger zu betrachten, um deren Vielfalt und Varietät zu erfassen.

Die Frage der Vielfalt interessiert das Publikum dann auch vor dem Hintergrund der Auswahl des eigenen Quellenmaterials der Autoren. Ob man nicht neben Sengle und Szondi auf weibliche oder migrantische Wissenschaftsnachlässe hätte zurückgreifen oder auch die Perspektive des ‚Ordinarius‘ durch andere akademische Statusgruppen erweitern können. Martus und Spoerhase sind sich dabei, mitunter auch durch die Rezeption unterschiedlicher Rezensionen,[i] der Einwände gegen ihre Ansätze bewusst und wollen die case studies eher als Modell verstehen, das aufgrund des breiten Spektrums der beiden exemplarisch untersuchten Geistesarbeiter viele Anschlussstellen für weitere Forschungsarbeiten bieten kann. Insgesamt impliziere, so geben es die beiden in ihrem Buch mit Verweis auf Luhmann an, die Universität als wissenschaftliches „Handlungssystem“, das stets auf eine „fluktierende[], rücksichtslose[], in sich abgestimmte[], widerspruchsreiche[] Umwelt“[ii] reagiere, die Generierung vielfältiger Methoden und Theorien für bestimmte Untersuchungsgegenstände, wodurch sich das System Wissen selbst immer wieder auszubalancieren wisse.

Insofern darf man sich schon auf die zahlreichen weiterführenden praxeologischen Studien zum Fächerverbund Geisteswissenschaften wünschen und möglicherweise fällt darunter auch, wie Silke Meyer mit einem Schmunzeln zum Abschluss bemerkt, die Untersuchung der Nachlässe Martus und Spoerhase.

 

[i] Désirée Schauz, Rezension zu: Martus, Steffen; Spoerhase, Carlos: Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften. Berlin 2022 , ISBN 978-3-518-29979-1, In: H-Soz-Kult, 10.02.2023, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-114991>.

[ii]   Niklas Luhmann: Die Grenzen der Verwaltung, Berlin 2021, S. 105. Von Martus und Spoerhase zitiert in: Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften. Berlin 2022, S. 20.

Biographische Notiz:

Sarah Maria Teresa Goeth ist seit April Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post-Doc) an der RWTH Aachen Lehrstuhl für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Wissensformen. Zuvor hatte sie Stellen an der Universität Innsbruck, Hamburg und Binghamton, war Mitglied im Graduiertenkolleg eikones (Basel) und übernahm Lehraufträge im Elitestudiengang Ethik der Textkulturen an den Universitäten Nürnberg-Erlangen und Augsburg. In ihrer Dissertation beschäftigte sich mit der Figur der Analogie an der Schnittstelle von Wissenschaft und Ästhetik und forscht derzeit in ihrem Habilitationsprojekt zum „Beobachteten Gemeinsinn“.

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