Diabetes ist längst zu einer Krankheit von pandemischen Ausmaßen geworden: Im Jahr 2021 wurden laut WHO-Statistiken 537 Millionen Diabetiker:innen gezählt, Tendenz steigend. Diabetes rangiert bei den häufigsten Erkrankungen mit Todesursache weltweit auf Platz 9. Die zugrunde liegende biologie und die Ursachen sind grundsätzlich gut erforscht. Warum Frauen ein geringeres Diabetes-Risiko haben als Männer ist allerdings noch nicht ausreichend geklärt. Die Gründe dafür erläutert assoz. Prof. Dr. Petronel Tuluc vom Institut für Pharmazie, der mit seiner Arbeitsgruppe kürzlich spannende Neuigkeiten zu geschlechtsspezifischen Unterschieden bei Diabetes veröffentlichen konnte. „Historisch betrachtet wurde Diabetesforschung hauptsächlich an männlichen Mäusen durchgeführt. Das hat sich jetzt zum Glück geändert und schlägt sich auch in den Förderrichtlinien national und international nieder“, sagt der Wissenschaftler. Er hat sich in einer Studie an gesunden weiblichen und männlichen Mäusen einem sehr spezifischen Aspekt des Glukosestoffwechsels gewidmet: den elektrophysiologischen Eigenschaften von Beta-Zellen. Diese spezialisierten Zellen in der Bauchspeicheldrüse sind entscheidend für die Aufrechterhaltung eines normalen Blutzuckerspiegels, weil sie für die Produktion und das Freisetzen von Insulin zuständig sind. Insulin ist das einzige Hormon, das unseren Blutzuckerspiegel senken kann, indem es den Transport von Zucker aus dem Blut in die Zellen fördert. „Wir haben uns angesehen, was in weiblichen und männlichen Beta-Zellen bei einer Erhöhung der Glukose-Konzentration über 5 Millimol passiert“, erklärt Tuluc das Experiment, in dem er gemeinsam mit Noelia Jacobo-Piqueras auf zahlreiche erwähnenswerte Unterschiede in der Funktionsweise von Beta-Zellen gestoßen ist.
Kalium-Kanäle machen den Unterschied
In der jüngsten Veröffentlichung im Magazin „JCI Insight“ fokussieren sich die Erstautorin Noelia Jacobo-Piqueras und ihr Mentor Petronel Tuluc auf jene Differenzen, die sie in der Funktionsweise von Kalium-Kanälen (siehe Infobox) in Beta-Zellen beobachten konnten: Bei gleich hoher Glukosekonzentration tritt bei weiblichen Betazellen weniger Kalium aus als bei männlichen. „Diese reduzierten Kaliumströme führen zu einer höheren elektrischen Aktivität, was wiederum eine höhere Insulinproduktion und -freisetzung in weiblichen Beta-Zellen bewirkt“, beschreibt der Wissenschaftler verknappt. Die höhere elektrische Aktivität und elektrisches Potential in der Zellmembran verringert außerdem den Einstrom eines anderen Stoffes, nämlich Kalzium, in die Zellen, weshalb weibliche Beta-Zellen länger leben.
Dieser hochkomplexe Mechanismus und seine geschlechtsspezifischen Unterschiede könnte weitreichende Implikationen im Hinblick auf die Behandlung von Diabetes haben. Zwar mahnt Petronel Tuluc zur Vorsicht, weil es sich um Erkenntnisse aus dem Mausmodell handelt, die sich nicht ohne weiteres auf humane Zellen übertragen lassen. Dennoch – so vermutet er – eröffnen die noch bei Menschen zu überprüfenden Erkenntnisse neue Möglichkeiten. „Wenn wir Wege finden, den Kalium-Kanal zu modulieren, können sich innovative Behandlungsansätze ergeben“, meint Tuluc.
Kaliumkanäle
Spannungsabhängige Kaliumkanäle sind Proteine in der Zellmembran, die durch Änderungen im Membranpotential geöffnet werden, und so Kaliumionen ausströmen lassen. Sie sind für das Funktionieren von erregbaren Zellen relevant. Von besonderer Bedeutung für den geschlechts-spezifischen Zuckerstoffwechsel in Beta-Zellen sind laut Tulucs Untersuchungen spannungsabhängige Kaliumkanäle des KV2.1 Typs. Sie unterbrechen die elektrische Aktivität der Zelle. In männlichen Beta-Zellen dauert diese Unterbrechung länger, der Kanal ist mehr aktiv als bei weiblichen.
Ein sehr komplexes Puzzle
Tulucs Ziel ist es, in Folgestudien herauszufinden, wodurch der Kalium-Kanal im Detail reguliert wird. „Wir konnten den Mechanismus beobachten. Jetzt müssen wir einen Schritt zurückgehen und die Ursachen dafür klären. Dann können wir versuchen, die Daten bei Menschen zu reproduzieren“, verdeutlicht der Wissenschaftler. Dabei ist ihm durchaus bewusst, dass es sich dabei um ein herausforderndes Unterfangen handelt. „Sexualhormone funktionieren auf eine extrem komplexe Weise - man erkennt Unterschiede zwischen den Geschlechtern in vielen Zellfunktionen und Geweben, wie zum Beispiel den Kardiomyozyten im Herzen oder der glatten Muskulatur in den Gefäßen. Die Frage ist allerdings immer, wie relevant diese Unterschiede sind und wie wir dieses Wissen nutzen können, um bessere bzw. patientenorientierte Arzneitherapien zu entwickeln. Das wird nicht einfach sein, aber ich bin zuversichtlich, dass die Forschung mit dem derzeitigen Fortschritt diese Herausforderung schaffen kann“, ergänzt Petronel Tuluc, der mit seiner Arbeitsgruppe „Molekulare Endokrinologie“ den Blick ins Ungewisse wagt.
Zu den Personen
Petronel Tuluc studierte Biophysik an der Alexandru I. Cuza University of Iași (Rumänien). 2008 promovierte er an der Medizinischen Universität Innsbruck. Dann wechselte er an die Abteilung für Pharmakologie und Toxikologie der Uni Innsbruck, wo er sich 2018 habilitierte. Seit 2023 ist er der Koordinator des . Tuluc beschäftigt sich mit spannungsabhängigen Kalzium- und Kaliumkanälen und ihrer Bedeutung für die Hormonausschüttung von Zellen.
Noelia Jacobo-Piqueras studierte Pharmazie an der Universität von Alicante (Spanien). Sie hat im Rahmen des von FWF geförderten Exzellenz Doktoratsprogramm CaVX ihr Doktorat im Jahr 2024 an der Universität Innsbruck erworben.
Publikation: Molecular mechanism responsible for sex differences in electrical activity of mouse pancreatic β cells. Noelia Jacobo-Piqueras, Tamara Theiner, Stefanie M. Geisler, and Petronel Tuluc. JCI insight (2024). DOI: 10.1172/jci.insight.171609
Dieser Beitrag ist in der Juni-2024-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).