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Niewiadomski Jozef: „Schwamm drüber!“: Predigt im Rahmen von der Aktion: „Kunst und Predigt“ zum 500. Geburtstag von Petrus Canisius
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„Schwamm drüber!“: Predigt im Rahmen von der Aktion: „Kunst und Predigt“ zum 500. Geburtstag von Petrus Canisius
(Gehalten am 20. Juni 2021 am Karl-Rahner-Platz vor der Jesuitenkirche, „inspiriert“ durch das „Überdimensionale Objekt“ von Michel Abdollahi)

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2021-06-25

Inhalt

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Soll der Prediger den Künstler beim Wort nehmen? Ich kann der Versuchung nicht widerstehen. Es ist die letzte Predigt in einer Reihe zum Thema: „Kunst und Predigt“  – einer Reihe, die im Grunde keine Reihe geworden ist, bin ich doch der einzige geblieben, der bei allen Predigten dabei war, was vermutlich auch darauf zurückzuführen ist, dass man von dieser Reihe in der Diözese kaum etwas wusste (nicht einmal die Kirchenzeitung erachtete es als notwendig, bei all den ausführlichen Beiträgen über die Kunst auch nur eine einzige Zeile zu bringen, dass es auch so etwas gäbe, wie Predigten in diesem Zusammenhang). Weil dies die letzte Predigt ist, weiche ich vom Schema der „Sonntagsschule“ ab und gestalte diese „Predigt“ in Form eines kleinen Dramas: mit dem etwas längeren (verstörenden) Prolog (in dem im Anschluss an die Ausstellung dieses „überdimensionalen Objektes“ hier kritische Überlegungen zu Selbstverständnis und Rolle der „modernen Kunst“ und der Zusammenhänge von Kunst und Religion erörtert werden), mit der darauf folgenden kurzen (eigentlichen) Predigt und einem noch kürzeren (paraliturgischen) Epilog.

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Prolog

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Ich nehme den Künstler beim Wort, fange deswegen an mit einer Reminiszenz zu seiner Person. Dies nicht zuletzt deswegen, weil dieses Kunstwerk – „Der Schwamm“ – wie kein  anderes aus der Ausstellung: „Gebt mir Bilder“ Kopfschütteln und Unverständnis provoziert hat. Und Ärger! Ärger bei vielen Gläubigen, die nicht verstanden haben, was dieses Ungetüm auf dem Karl-Rahner-Platz soll, Ärger beim Rektor und dem Messner der Kirche, die immer und immer wieder abgerissene Reste aufräumen mussten. Die meisten Menschen gingen ja sowieso achtlos am „Schwamm“ vorbei, haben sich nicht einmal einen Sekundenbruchteil gefragt, was das sei. Dass dies ein Kunstwerk wäre? Auf diese Idee kamen die Wenigsten. Als solches präsentierte es sich höchstens auf den gezielt fokussierten Fotos in den Medien. Also: „Schwamm drüber?“

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„Kein Markt ist so schwer zu durchschauen wie der Kunstmarkt. Und das gilt es auszunutzen“ – dachte sich 2015 der Künstler dieses Werkes Michel Abdollahi und präsentierte in seinem Online-Tutorial die wichtigsten Verkaufsregeln für moderne Kunst. „Verarscht er die Menschen, oder verarscht er sich selber“, habe ich mich gefragt, angesichts dessen, was dieser Conférencier, der Fernsehmoderator, der Slam-Poetrymeister, der politische Aktivist, gar der Berater der Stadtregierung in Hamburg: also das, was in den Medien als „prominenter Name“ gilt, was also der berühmte Abdollahi da in diesem Video von sich gibt. Der Satz, der mir die Schuhe ausgezogen hat und mich auch in eine „Antipredigt-Haltung“ für heute Nachmittag gebracht hat, ein Satz zum Thema „moderne Kunst“, lautet: „Wenn sie etwas verkaufen möchten, dann müssen sie die Menschen dazu bringen da drin etwas zu erkennen, auch wenn da rein gar nichts drin zu erkennen ist. Ganz objektiv betrachtet.“ Mein erster Gedanke war: der Mann ist doch in die Schule der Religionskritik gegangen und hat deren primitivsten Argumente zur Regel des Kunstmanagements gemacht. Was sagten denn die Religionskritiker der ersten Stunde: die Pfaffen hätten die Menschen dazu gebracht, dass sie dort etwas sehen, wo gar nichts zu sehen ist. Und sie kassieren nun ordentlich. Ihren Ratschlag, Herr Abdollahi,  muss man sich nämlich auf der Zunge zergehen lassen, weil es ein Ratschlag ist für all jene, die zwar „keine Ahnung haben“, aber mit der Kunst Geld machen wollen: „Wenn sie etwas verkaufen möchten, dann müssen sie die Menschen dazu bringen da drin etwas zu erkennen, auch wenn da rein gar nichts drin zu erkennen ist.“ Das haben sie selber schon ein paar Jahre praktiziert, als sie mit dem MicrosoftPaint-Programm bedeutungslose Bilder herstellten, dabei den Kunstmarkt persiflierten und mit dieser Kunst „reich werden wollten“.

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Handelten sie nach demselben Prinzip, als sie 2016 –  ein Jahr also nach dem satirisch verblüffenden Bekenntnis – ihr bisher einzig tradiertes Kunstwerk schufen: ein vier mal zwei Meter großen Küchenschwamm, das Ungetüm dann in der Hamburger Hafencity aufstellten und versuchten die Menschen dazu zu „bringen da drin etwas zu erkennen, auch wenn da rein gar nichts drin zu erkennen“ war, nämlich ein Symbol gegen Hass und Rassismus? Denn: so eine ihrer Zusatzregeln: „Suchen sie sich irgendeine Geschichte dazu!“ Und ihre Geschichte klang so: “ Der Schwamm sauge doch alles auf, warum nicht auch die „negativen Energien wie Hass, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz“?, sagten sie.  Handelten sie also nach dem von ihnen verkündeten – oder persiflierten – Prinzip? Diese Frage hat mich nicht losgelassen, seit dem Augenblick als ich ihr „Online-Tutorial“ gesehen habe. Die Rechnung ging diesmal auf jeden Fall auf: zumindest für Sie, für Michel Abdollahi, und dies deswegen, weil der Schwamm, von wem auch immer, angezündet wurde. Und medienwirksam in der Nacht gänzlich abgebrannt ist.  Der Schaden belief sich auf mehrere Hunderttausend Euro. Klar, dass die Polizei eine politisch motivierte Brandstiftung nicht ausschloss, auch wenn das bis heute (vier Jahre danach) nicht bestätigt wurde. Für Sie als Künstler ist die Sache jedenfalls klar. Und facebook sowie andere soziale Medien trugen das von der „kritischen Öffentlichkeit“ gewünschte Urteil über Rechtsradikale und Neonazis in die Welt hinaus. Ihr Schwamm bekam endgültig einen Symbolcharakter: als Kunstwerk gegen Hass und Rassismus. Und dies – so der Prediger heute, der den Künstler nur paraphrasiert - und dies, obwohl „in ihm selber gar nichts (von dem) zu erkennen ist“. Verrückte Welt!

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Immer wieder (mit entsprechenden Geldern) nachgebaut, begann das Kunstwerk seine Pilgerreise durch die deutschen Städte, die ja alle eine Besinnungsstunde in Sachen Rassismus nötig hätten: Augsburg und Stuttgart und noch einmal Hamburg. Der Ruf eilte dem Schwamm – dank einer intensiven Berichtserstattung – immer voraus; kein Wunder, dass der Schwamm immer wieder zerstört wurde. Mal von  Unbekannten, mal von  Kindern, die an der Sache bloß einen Spaß gefunden haben. Die politische Botschaft, die medial in die Welt hinausposaunt wurde, blieb jedenfalls die gleiche, wurde aber immer wieder von Ihnen modifiziert und in zahlreichen Talkshows verkündet: Der Schwamm werde zerstört, weil er ein Botschafter sei, der uns daran erinnert, „dass leere Parolen, Korruption und Hetze das Fundament einer Demokratie ins Wanken bringen“. Und die Rechten können so etwas nicht ertragen. Also vorwärts mit der Aktion. Cui bono? – wem nützt das? – wirft der lästige Prediger ein.  

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Denn: der unselige Prediger von heute Nachmittag kommt nicht los von dem Text aus dem Jahr 2015: „Wenn sie etwas verkaufen möchten, dann müssen sie die Menschen dazu bringen da drin etwas zu erkennen, auch wenn da rein gar nichts drin zu erkennen ist. Ganz objektiv betrachtet.“  Und was verkauft sich besser heutzutage – zumindest durch Schlagzeilen und bei den Stellen, die die moderne Kunst fördern – als Werke, die den Rassismus anprangern oder scheinbar anprangern? Übrigens: Für Innsbruck überließ der Künstler die Deutung dem Betrachter. Kein Wunder, dass der Schwamm in der Nacht von Freitag auf Samstag von Jugendlichen nach einer ordentlich durchzechten Nacht auseinandergenommen wurde; drei von denen haben sich prompt darin eine Schlafstelle gemacht und schliefen seelenruhig am Samstagmorgen bis etwa 8 Uhr früh. Zum Erstaunen oder Gaudium der Vorbeigehenden.

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Sehr geehrter Herr Abdollahi, ich kenne sie nicht und weiß deswegen auch nicht, wieviel an Alltagszynismus sie mit ihren Worten aufzeigen möchten, oder ob Sie gar mit einer subtilen Verachtung von Menschen spielen, Menschen, die auf der „falschen Seite“ stehen, oder „Menschen, die keine Ahnung haben“ (so sie selber im Wortlaut). Sie sind eine Medienikone ersten Ranges in Deutschland – dies nicht zuletzt deswegen, weil sie ein aufgeklärter Muslim sind, der gegen Intoleranz kämpft –; die paar Stunden Recherchen zu ihrer Person, die ich gemacht habe, machen es mir unmöglich, ihr Kunstwerk ernst zu nehmen und so zu deuten, wie sie es selber deuten. Der Bischof von Innsbruck, Urheber des Projektes: „Kunst und Predigt“, möge mir verzeihen, oder zu meinem Ärger sagen: „Schwamm drüber“. Oder aber an die Weisheit des bekannten Märchens von Hans Christian Andersen: „Des Kaisers neue Kleider“ denken: Der Kaiser ist nackt! Sie selber, Herr Abdollahi, ermutigten mich zu diesem Prolog für die heutige Predigt durch einen ihrer neuesten Sprüche (nur etwa ein halbes Jahr alt): „Wir haben verlernt zu widersprechen!“, sagten sie. Ja, wir haben verlernt zu widersprechen. Deswegen widerspreche ich: Was ich da sehe, ist Müll (teuer bezahlt und mit einem gewaltigen Klimaindex dazu; im Klartext: Müll einer Luxusgesellschaft, die sich an der richtigen Seite wähnt). Damit ist dieses Ungetüm bloß ein Zeichen einer Zivilisation, die –  trotz allem Gerede  von menschlicher Vernunft – nicht mehr weiß, was die Sache, was der Schmarren und was der Schwamm ist. Außer, sie deklariert es als Kunst: Ähnliches haben sie selber auch gesagt: „Ist das Kunst – oder kann das weg?“, lautete die Frage. Und ihre Antwort: „Auf gar keinen Fall weg! Das kann man noch zu Geld machen.“ Systemkritik der spätkapitalistischen Wirtschaft, oder Zynismus? Ich weiß es nicht.

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Ich widerspreche –  und das ist mir wichtiger – auch der Geschichte, die sie sich zu ihrem Schwamm ausgedacht haben und seither auch die Menschen dazu bringen, etwas in diesem Schwamm zu sehen. Nicht nur als Theologe weiß ich: Unser alltäglicher Hass wird weder durch Schwämme aufgesogen, noch durch Kunstwerke transformiert. Ganz gleich wie modern sich diese präsentieren. Und wieviel sie kosten. Solche Kunstwerke werden auch den inzwischen allgegenwärtigen Selbsthass der katholischen Eliten  nicht aufsaugen, auch nicht ihren Ärger und Hass auf die Kirche, die sie als Fußabstreifer benutzen: selbst oder gerade dann, wenn sie von ihr bezahlt werden. Solche Kunstwerke werden höchstens noch die Fronten verhärten: zwischen den sog. „Normalgläubigen“ und den sogenannten „Aufgeklärten und Kritischen“.

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Denn: Was Kunstwerke im besten Fall können, ist eine Konfrontation herbeizuführen. Gerade in einer Zeit, in der die Medien nur noch den Konfrontationsdiskurs kennen, mit dem Finger auf die vermeintlichen Hassprediger und die Missbrauchstäter zeigen, ohne in ihrer Selbstgerechtigkeit zu merken, dass sie selber inzwischen Meister dieser Gattungen geworden sind. Weil sie der Faszination des Negativen erliegen und nur noch den ausgestreckten Finger kennen: den Finger, der  auf Andere zeigt, um eigene Abgründe zu verbergen. Was sagte da einmal der Skandalautor Charles Baudelaire über seine Leser, die sich permanent bloß empörten und skandalisierten? „Hypocrite lecteur, mon semblambe, mon frère: Mein scheinheiliger Leser, mein Spiegelbild, mein Zwillingsbruder.“

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Ja, unsere Zivilisation ist verwundet und krank. Sie trieft nur so von Hass und Selbsthass. Was sie braucht ist nicht die scheinheilige Strategie, die vom Wechsel des  „Schwamm drüber“ und „Steinigt sie“ lebt. Sie braucht Wandlung. Sie braucht Transformation. Kann aber eine von der Religion losgelöste Kunst, eine Kunst, die den Bezug zur Transzendenz verloren hat, oder diesen Bezug zur Transzendenz durch den Bezug zum Kunstmarkt ersetzt hat, kann diese Kunst – so fragt sich der systematische Theologe – kann eine transzendenzverdrängende oder gar transzendenzvernichtende Kunst eine Wandlung anzeigen? Geschweige denn bewirken? Die Antwort auf diese Fragen deutet das Ungetüm an, das da vor uns allen liegt. Verwandlung braucht mehr als Schwämme, ganz gleich wie groß diese sein mögen, vom wem sie produziert wurden und wieviel sie kosten.

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Liebe Schwestern und Brüder, „Gebt mir Bilder“, bat Petrus Canisius seinen Provinzial in Rom. Bilder, die Geschichten erzählen sollten: Glaubensgeschichten! Geschichten von Gnade, gar von der menschgewordenen Gnade. Geschichten von der atemberaubenden Lebenslust und dem atemberaubenden Leid. Für die notwendigen Rahmen solcher Geschichten hat der Jesuit selber gesorgt: mit dem Rahmen der katholischen Lehre. Wie ich schon bei der Predigt am Friedhof von Hall angesichts des vollständig geleerten Rahmens des Genter Altares gesagt habe: Ohne einen ordnenden Rahmen sind Geschichten blind. Man kann den allerersten Satz des „Kleinen Katechismus“ von Canisius als einen kirchlich verbindlichen Rahmen betrachten, als Rahmen für die kirchlich gelebten und kirchlich tradierten Geschichten: „Wozu sind wir auf Erden? Um Gott zu erkennen, ihn zu lieben und ihm zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen.“

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Nun ist dieser Rahmen nach und nach in der europäischen Neuzeit zerbrochen. Die Französische Revolution heftete nicht nur die Parolen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf ihre Fahnen, sondern stürzte auch Gott vom Thron und inthronisierte die „Vernunft“ auf dem Altar der Kathedrale „Notre Dame“ in Paris: Als den verbindlichen Rahmen für alle modern sich verstehenden Geschichten. Nach und nach ist damit unserer Kultur und oft auch unseren Kirchen die Ewigkeit Gottes abhandengekommen. Dieses Leben ist uns allen zur letzten Gelegenheit geworden und diese Erde zum letzten Domizil des homo sapiens: des vernünftigen und aufgeklärten Menschen. Und wo sind wir heute? Ich denke an den Siebdruck: „Floß der Medusa“ in der Spitalskirche. Wir alle gleichen zunehmend den auf diesem „Floß“  driftenden Menschen, die nur noch Gefahren sehen und Ängste erleiden. Weil uns die Zukunft abhandenzukommen droht. Deswegen kennen wir nur noch – auch in der Kirche – Botschaften der Warnung und moralische Imperative, die uns zur Rettung von allem Möglichen, von Mensch und Tier und Pflanze, gar zur Rettung dieser Erde verpflichten. Damit verdrängen wir nicht nur unsere Ratlosigkeit und das Gefühl des Überfordertseins. Wir alle verdrängen die unbequemste aller modernen Fragen, wozu die Menschheit noch fähig sein wird, wenn es eng wird im Boot und nicht der moralische Imperativ unseren Alltag regeln wird, sondern die Logik: Rette sich, wer sich retten kann! Der Siebdruck: „Floß der Medusa“ verdichtet nur eine der humanitären Katastrophe unserer stolzen Neuzeit. Es erzählt von Menschen, die in der Krisensituation einander getötet und ihre Leichen gegessen haben. Um zu überleben! Überlebt haben ja diejenigen, die alle ethischen Grundsätze über Bord geworfen haben. Weil dieses Ereignis für unsere menschliche – sich autonom wähnende – Vernunft unerträglich ist, genauso unerträglich, wie die Konkretheit der Bilder der humanitären Katastrophen, Bilder, die deswegen nach und nach abstrakter, nichtssagender: sprich in ihrem Formalismus meisterhafter wurden. Weil all das unser Menschsein schlicht und einfach als „erlösungsbedürftig“ zeigt, müssen wir – Christen – uns fragen, ob wir angesichts der mit Händen greifbaren „Katastrophe der Ethik“ etwas anderes zu sagen haben, als bloß  das zu wiederholen, was als Mantra unserer Medienkultur uns ständig um die Ohren gehauen wird; einer Kultur, die im Grunde nur zwei Strategien angesichts derartigen Sackgasse kennt: die Schuldigen an den Pranger zu stellen, oder aber sich mit: „Schwamm drüber“ zu retten? Also zu verdrängen und zu vergessen.

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„Gebt mir Bilder“ verlangte Petrus Canisius, Bilder, die der Botschaft des Christentums zur Glaubwürdigkeit verhelfen. Heute, ein halbes Jahrtausend später, würde der emsige Jesuit, dieser Gigant der Verkündigung präzisieren: Schaut auf Bilder, erzählt Geschichten, in denen die christliche Botschaft, nicht bloß politisch korrekt auf Ethik, auf moralisierende Imperative reduziert bleibt, damit auch um ihren entscheidenden Glaubensimpuls kastriert wird, sondern erzählt Geschichten der Erlösung, Geschichten, in denen die Zukunft angesichts der „Katastrophe der Ethik“ nicht nur angezeigt, sondern in denen diese Katastrophe auch transformiert, also gewandelt wird. Damit die Zukunft dem Menschen zugesagt wird! Auch oder gerade jene Zukunft, die uns durch den Tod hindurch aufleuchtet, aufleuchtet selbst dann, wenn wir uns auf dem „Floß der Medusa“ befinden, oder aber auf der sprichwörtlichen „Schädelhöhe“.

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Lesung aus dem Evangelium nach Lukas:

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„Sie kamen zur Schädelhöhe; dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den einen rechts von ihm, den andern links. Jesus aber betete: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.  … Die Leute standen dabei und schauten zu; die führenden Männer des Volkes verlachten ihn …  Auch die Soldaten verspotteten ihn. … Einer der Verbrecher, die neben ihm hingen verhöhnte ihn … Der andere aber wies ihn zurecht und sagte: Nicht einmal du fürchtest Gott. … Uns geschieht recht, wir erhalten den Lohn  für unsere Taten; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Dann sagt er: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst. Jesus antwortete ihm: Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. … “

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Predigt:

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„Wisst ihr, was wir gut können? Menschen aufgeben. Mit dem Finger auf sie zeigen.  … Vergeben heißt nicht vergessen. Oder so zu tun, als wäre nichts passiert. Vergeben heißt lieben. Jemanden trotz seiner Schuld lieben. Egal, wessen er schuldig ist.“ Im polnischen Film: „Corpus Christi“ werden diese Worte  bei der Predigt an Frohleichnam gesagt und zwar von einem „falschen Priester“, einem jungen Mann, der aus der Besserungsanstalt entlassen, den Priester bloß spielt, und mit diesen Worten seine eigene Erfahrung zum Ausdruck bringt: die Erfahrung eines Außenseiters auf den die anderen mit dem Finger zeigen, die Erfahrung eines Menschen, der das Prädikat des Kriminellen, des Degenerierten nicht ablegen kann: Weil ihm die Vergebung nie zuteilwird. Weil man ihm ständig bloß mit Aufforderungen und hohen ethischen Imperativen begegnet, er selber aber auf Schritt und Tritt mit Ablehnung und Hass konfrontiert wird. Das merkt er gleich bei der ersten Busreise in Freiheit: „Bist doch nur eine Nisse, das spüre ich von Weitem“, sagt verächtlich ein Polizist im Bus zu ihm.

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In der Jesuitenkirche in Hall ist ein Kunstwerk mit dem Titel:  „Honte“  zu sehen. Das semantische Potenzial des französischen Begriffes umfasst Scham und Schande. Zu sehen ist ein Fohlen auf einem Podest, ein Fohlen, das seinen Kopf zwischen seinen Vorderläufen versteckt. Weil es sich zu schämen scheint. Und warum? Weil es den ausgestreckten Finger, den Finger, der immer auf den Sündenbock gerichtet bleibt und für die Abwertung und den permanenten Hass steht, weil es diese Strategie nicht erträgt und deswegen seinen Kopf versteckt, in Scham und Schande versiegt und auch im Selbsthass. Weil ihm die Vergebung nie zuteilwurde!  Die dort gehaltene Predigt der „Sonntagsschule“ kreiste um den kulturell und meist auch kirchlich verdrängten Begriff der Erbsünde. Als Geschöpft Gottes ist der Mensch zwar gut, hat auch eine unendliche Würde. Niemand wird aber in eine wertneutrale Umgebung hineingeboren. Wir alle bleiben vom ersten Augenblick unserer Existenz an in einen Teufelskreis verstrickt. Salopp gesagt, sitzen wir alle in der Scheiße. Wir leiden zwar daran, haben aber auch unseren gewaltigen Anteil an diesem Schlamassel. Und weil wir dies verdrängen, zeigen wir unaufhörlich mit unseren Finger auf die Stinker. Bloß um von unserem eigenen Gestank abzulenken. Die klassisch theologische Sprache drückte dies nobler aus: die erfahrbare Verstrickung in Schuld und Sünde führt die Menschen mit einer Selbstverständlichkeit sondergleichen dazu, andere zu denunzieren, sie zu beschuldigen, oder gar zu töten. Dafür steht auch der „verhöhnende Schächer“ am Golgota.  Dafür können aber auch jene Menschen auf dem „Floß der Medusa“ stehen, die in der Ausweglosigkeit ihrer Situation, das menschliche Gesicht verlieren. Ecce homines? Nein! Homo homini lupus (Wolf ist der Mensch dem anderen Menschen), sagten die Alten, weil sie sich keine Illusionen machten.

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„Ecce homo! Seht da… der Mensch“. Mit seinem ausgestreckten Finger präsentierte Pilatus das Opfer der hysterisch gewordenen Meute. Dieser Verweis auf das Menschsein provoziert aber kein Mitleid. Ganz im Gegenteil! Mit geschlossenen Augen steht dieses Opfer im Innsbrucker Dom. Das Kunstwerk deutet etwas an, was die Kunstwerke in Hall, in denen das Fohlen, aber auch eine Frau die Gesichter verbergen, was sie nicht andeuten. Jesus steht mit geschlossenen Augen, um der Versuchung widerstehen zu können, sich  nicht in eine bloße Anti-Haltung hineinzusteigern – wie dies halt vielfach in der kritischen modernen Kunst der Fall ist –, mit geschlossenen Augen steht er da, um der Versuchung zu widerstehen, andere zu denunzieren, gerade mit seinen angenagelten Händen und Finger auf die Stinker und die Sünder zu zeigen. Ihnen auf diese Weise mit derselben Münze ihr Tun heimzuzahlen. Und gerade so das menschliche Gesicht zu verlieren. Angesichts des gesichtslosen Mobs bloß zu einem Spiegelbild desselben zu mutieren! Die verschlossenen Augen Jesu deuten darauf hin, dass er von der Verstrickung in die Teufelskreise des Hasses frei ist, dass er sich in Gemeinschaft mit dem lieben Herrgott weiß; deswegen auch die einzigartige Würde seines Menschseins ausstrahlt, eine Würde, die vom aufrechten Gang zeugt: gerade auf seinem Kreuzweg. Denn: Was sich auf dem Kreuzweg und auf Golgota ereignet, stellt die einzig mögliche kreative Antwort dar: auf die Erkenntnis unseres Verstricktseins in die Teufelskreise des Hasses, auf die Erkenntnis unserer Erbsündhaftigkeit: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Es ist dies das Geschenk der Erlösung, Erlösung für die Menschheit, die in der Scheiße sitzt, deswegen im Grunde nur eines gut kennt. Wie sagte das der falsche Priester aus dem Film: „Corpus Christi“: „Wisst ihr, was wir gut können? Menschen aufgeben. Mit dem Finger auf sie zeigen.“ Und die erlösende Alternative? „Vergeben heißt nicht vergessen. Oder so zu tun, als wäre nichts passiert. Vergeben heißt lieben. Jemanden trotz seiner Schuld lieben. Egal, wessen er schuldig ist.“

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Liebe Schwestern und Brüder, Die Liebe des Gekreuzigten wischt ja die Sünde nicht weg, wie der Schwamm einen Fleck wegwischen würde: Es ist eine vergebende Liebe, eine Liebe, die den Menschen trotz seiner Schuld – oder gerade in seiner Schuld – liebt. Und so auch den Spruch: homo homini lupus, der Mensch sei bloß ein Wolf seinem Mitmenschen gegenüber, in Liebe als gefährliche Täuschung entlarvt. Und uns alle darauf sensibilisiert, dass wir nicht in das anklagende Mantra des Hasses, das die Hasser treffen soll, einstimmen dürfen, sondern: dass wir – Christen – selbst in den schlimmsten Situationen den Menschen in seiner Würde erblicken können.

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Bei dem Siebdruck: „Floß der Medusa“ fokussierte die Predigt am letzten Sonntag die Szene links vorne: Ein Greis hält dort mit einem Arm seinen toten Sohn. Der Dogmatiker assoziierte die Szene mit dem „Gnadenstuhl“, dem ikonographischen Motiv, in dem Gott Vater dem gläubigen Menschen seinen toten Sohn präsentiert. Nicht im Anklagegestus. Und schon gar nicht als Aufruf zur ethischen Ernsthaftigkeit angesichts der radikalen Katastrophe der Ethik. Der „göttliche Greis“ weiß es aus jahrtausendalter Erfahrung, dass der Mensch zwar die Katastrophe verhindern müsste, oder zumindest meistern sollte, er es aber nicht kann. Weil das Ausmaß an Bedrohung, das Ausmaß des Bösen die menschlichen Kräfte übersteigt. Und er weiß auch: Der Hoffnung beraubt, auf sich selber zurückgeworfen, kann der Mensch zum Ungeheuer mutieren. Und nicht einmal Gott wird ihn vor dem Absturz in den Abgrund bewahren können; dem Absturz, den der Mensch selber verschuldet, dem Absturz, der im Grunde nur so etwas wie ein Selbstgericht ist: Erleiden der Folgen der eigenen Untaten.

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Diese Szene übermalte ich durch das Bild, das ich aus meiner Kindheit kenne, ein Bild, das meisterhaft im Film von Krzysztof Zanussi: „Leben für Leben“ dargestellt ist. Wie die Menschen auf dem „Floß der Medusa“ sind in dieser Szene zehn Häftlinge in einem geschlossenen Hungerbunker dem Untergang geweiht. Einer von ihnen lehnt betend mit seinen Rücken an der Wand, dem Greis aus dem Siebdruck nicht ganz unähnlich. Auch er hält einen jungen Mann an der Hand, einen Mann, der verzweifelt sich an den betenden Maximlian Kolbe festklammert. Dieser Franziskanerpater ist in Auschwitz anstelle eines Familienvaters freiwillig in den Tod gegangen. Und hat so auch die Spirale des Hasses, der Anschuldigung, der Scham und Schande durch das Zeugnis seiner Liebe gebrochen. Dieser sich erlöst glaubende Mensch, Christ und Ordensmann zeigte auf radikalste Weise auch die christliche Antwort auf die Herausforderung des Hasses und des Rassismus. Er und tausende und abertausende mehr, die ähnliches Geschick erlitten haben, bezeugen, dass die Kraft der Gnade, die Kraft der Vergebung stärker ist als all die Fratzen des Bösen. „Wisst ihr, was wir gut können? Menschen aufgeben. Mit dem Finger auf sie zeigen.“ Und die christliche Alternative? „Vergeben heißt nicht vergessen. Oder so zu tun, als wäre nichts passiert. Vergeben heißt lieben. Jemanden trotz seiner Schuld lieben. Egal, wessen er schuldig ist.“  Dafür steht das Christentum in unserer modernen Welt. Dessen Evangelium macht nicht Lärm, nicht einmal den, den ein Wassertropfen, der auf einen Stein fällt, macht. Das Evangelium, dass von der Liebe trotz der Schuld spricht, „berührt die Seele mild, leicht und sanft wie ein Wassertropfen, der in einen Schwamm eindringt“ (Ignatius von Loyola).

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Epilog

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Wir wollen nun – zum Abschluss dieser Reihe, die keine Reihe geworden ist – in die Kirche gehen, zum Altar des Petrus Canisius. Und vor diesem Patron der Diözese für die Kirchen im deutschen Sprachraum bitten. Ihr gegenwärtiger Zustand gleicht in Vielem dem Zustand der Kirche in der damaligen Zeit. Und wir wollen um die Kraft des Glaubens und das Zeugnis der Hoffnung bitten, deswegen auch zu unserem himmlischen Vater beten: „Vater unser im Himmel….“; „Ehre sei dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist…“; „Heiliger Petrus Canisius – bitte für uns!“

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