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Das Tier als Projektionsfläche des phantasmas. Die Rolle tierischer Darstellungen in der christlichen Weltdeutung des Mittelalters – Universität Innsbruck

Das Tier als Projektionsfläche des phantasmas.
Die Rolle tierischer Darstellungen in der christlichen Weltdeutung des Mittelalters

Tobias Sturm

 

Im mittelalterlichen Denken war das Tier weit mehr als ein Naturwesen. Besonders in der bildenden Kunst tritt die symbolische Dimension des Tieres deutlich hervor. Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, wie tierische Darstellungen innerhalb unterschiedlicher Medien als Ausdruck einer christlich geordneten Welt fungierten (Abb. 1 und 2). Sie verweisen einerseits auf moralisch-theologische Konzepte, andererseits inszenieren sie das kulturell „Andere“1 ­– das Bedrohliche, das Unbekannte, das Unkontrollierbare. In dieser Ambivalenz zeigt sich ihr phantasmatisches Potential: Als Mischwesen, Grenzfiguren oder isolierte Bestien verkörpern sie gesellschaftliche und religiöse Gedankenwelten.

Der Phantasmenbegriff, wie ihn etwa Lacan3 als Struktur zwischen Begehren und Symbolischem beschreibt, wird in der Kunstgeschichte zunehmend auf ikonografische Bildformen angewendet.4 Auch Tierdarstellungen können so nicht allein als Allegorien theologischer Inhalte, sondern zugleich als Spiegel kultureller Projektionen gedeutet werden. Dies zeigt sich paradigmatisch an der mittelalterlichen Bestiarientradition, die seit dem Physiologus5 Tiere als Zeichen einer göttlichen Ordnung systematisiert. Ihre Darstellung erfolgt in der illuminierten Buchmalerei nicht als Naturbeobachtung, sondern als Verdichtung symbolischer Bedeutungen – etwa wenn der Greif als Mischwesen von Adler und Löwe für die allumfassende Herrschaft Christi steht (Abb. 3 und 4).6

Der Transfer dieser Vorstellungen in den architektonischen Raum zeigt sich etwa im Figurenprogramm des Mainzer Doms. Dort fungieren Tierdarstellungen nicht nur als ikonografische Marker, sondern als Strukturgeber für ein visuelles Ordnungsmodell, das Gut und Böse im Spannungsfeld von Kampf und Kontrolle inszeniert. Am Kapitellfries der Südostvorhalle etwa dominieren Greifen, die Drachen bezwingen (Abb. 5) – eine eindrückliche Bildform für die siegreiche Macht des Göttlichen über das Dämonische.7 Der Drache erscheint nicht als unkontrollierbare Ungeheuer, sondern als gebändigtes Sinnbild des Bösen8 – sichtbargemacht, um die übergeordnete Ordnungskraft des Göttlichen zu bestätigen. Als phantasma markiert er das kulturell Bedrohliche in beherrschter Form und veranschaulicht damit das Prinzip der symbolischen Einhegung von Chaos durch Bildmacht.

Auch die Portalfigur des Greifs am südlichen Liebfrauenprotal (Abb. 6) lässt sich unter diesem Aspekt lesen. Er tritt ohne narrative Kontextualisierung aus der üblichen symbolischen Ordnung heraus. Seine ambivalente Erscheinung – macht ihn zu einer Projektionsfigur kultureller Unsicherheit, in der sich Spannung zwischen Macht, Bedrohung und Kontrolle bündeln.9

Tierdarstellungen im Mittelalter operieren somit in einer doppelten Funktion: Sie strukturieren theologische Ordnungen und formen zugleich kollektive Vorstellungsräume. In diesem Sinne erweist sich das Tier nicht nur als Symbol einer christlichen Welt, sondern als Medium der Imagination – als phantasmatische Figur zwischen Projektion, Emotion und göttlicher Ordnung.

 

[1] Seit dem Mittelalter verkörpern furchterregende Monster und dämonische Kreaturen das "Fremde" und "Andere", das zugleich Angst und Faszination weckt. Als Spiegel tiefster Ängste und Sehnsüchte erscheinen sie als kraftvolle Projektionen in Kunst und Mythos. Eine grundlegende Aufarbeitung findet sich im Ausstellungskatalog von Peggy Große / G. Ulrich Großmann / johannes Pommeranz (Hg.), Monster. Fantastische Bilderwelten zwischen Grauen und Komik, Ausstellungskatalog, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Nürnberg 2015.

[2] Christian Heck / Rémy Cordonnier, Bestiarium. Das Tier in mittelalterlichen Handschriften, Darmstadt 2020, 9-28.  Rudolf Wittkower, Marvels of the East. A Study in the History of Monsters, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 5 (1942), 159-197. Anette Pelizaeus, Greif, Löwe und Drache. Die Tierdarstellungen am Mainzer Dom - Provenienz und Nachfolge, in: Claudia Obermaier (Hg.), Tiere und Fabelwesen im Mittelalter, Berlin 2009, 181–205, bes. 182–183. 

[3] Jacques Lacan, Écrits, Paris 1966, 647-684.

[4] Grundlegend zur Fantasie in der Kunst, vgl. Hans Belting, Über Phantasie und Kunst, in: Venanz Schubert (Hg.), Gedächtnis und Phantasie, St. Ottilien 1997, 183–203.

[5] Der Physiologus bezeichnet eine vermutlich in Alexandria entstandene Textform des 2./3. Jahrhundert und stellt

ein frühchristliches Kompendium dar. Hervorzuheben ist, dass es sich beim Physiologus nicht um ein

spezifisches Einzelwerk handelt, sondern um eine Gattung, die erst später diesen Namen erhielt. Horst Schneider,

Einführung in den Physiologus, in: Zbyněk Kindschi Garský / Rainer Hirsch-Luipold (Hg.), Christus in Natura. Quellen, Hermeneutik und Rezeption des Physiologus, Berlin / Boston 2019, 5–12.

[6] Pelizaeus 2009 (wie Anm. 2), 186–187.

[7] Pelizaeus beschreibt den Kapitellfries des Südostvorhalle des Mainzer Doms, auf dem Greifen dargestellt sind, die in symmetrischer Anordnung Drachen überwinden. Diese Bildform sei Ausdruck einer symbolisch überhöhten Ordnungsvorstellung, in der das Böse nicht einfach verband, sondern als bezwungene Gegenmacht sichtbar gemacht wird. Ebd., 188–191.

[8] Franz Unterkircher, Tiere, Glaube, Aberglaube. Die schönsten Miniaturen aus dem Bestiarium, Graz 1986, 80.

[9] Pelizaeus 2009 (wie Anm. 2), 186–187.

Bibliografie

Hans Belting, Über Phantasie und Kunst, in: Venanz Schubert (Hg.), Gedächtnis und Phantasie, St. Ottilien 1997, 183–203.

Peggy Große / G. Ulrich Großmann / johannes Pommeranz (Hg.), Monster. Fantastische Bilderwelten zwischen Grauen und Komik, Ausstellungskatalog, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Nürnberg 2015.

Christian Heck / Rémy Cordonnier, Bestiarium. Das Tier in mittelalterlichen Handschriften, Darmstadt 2020.

Jacques Lacan, Écrits, Paris 1966.

Martina Neumeyer, Bestiaires — Überlieferung in neuer Aktualität, in: Gisela Febel / Georg Maag (Hg.), Bestiarien im Spannungsfeld zwischen Mittelalter und Moderne, Tübingen 1997, 15–28.

Anette Pelizaeus, Greif, Löwe und Drache. Die Tierdarstellungen am Mainzer Dom - Provenienz und Nachfolge, in: Claudia Obermaier (Hg.), Tiere und Fabelwesen im Mittelalter, Berlin 2009, 181–205.

Horst Schneider, Einführung in den Physiologus, in: Zbyněk Kindschi Garský / Rainer Hirsch-Luipold (Hg.), Christus in Natura. Quellen, Hermeneutik und Rezeption des Physiologus, Berlin / Boston 2019, 5–13.

Franz Unterkircher, Tiere, Glaube, Aberglaube. Die schönsten Miniaturen aus dem Bestiarium, Graz 1986.

Rudolf Wittkower, Marvels of the East. A Study in the History of Monsters, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 5 (1942), 159–197.
 

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