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Niewiadomski Jozef: Das letzte Wort hat immer noch Gott.„Kanzelpredigt“ bei der Musikalischen Andacht in der Jesuitenkirche am 25. Juni 2020
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Das letzte Wort hat immer noch Gott.„Kanzelpredigt“ bei der Musikalischen Andacht in der Jesuitenkirche am 25. Juni 2020

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2020-06-30

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

1
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Der Text gibt die mündliche Fassung der von der Barockkanzel „im klassischen Stil“ gehaltenen Predigt wieder. Sie wurde – der Aufführungspraxis entsprechend – nach dem ersten Teil des Kirchenoratoriums „Dives Malus“ von Giacomo Carissimi gehalten. Das Oratorium schildert die Geschichte des „reichen Prassers“. Der Text des ersten Teiles besteht größtenteils aus Warnungen vor der Hölle, derjenige des zweiten Teils malt in aller Grausamkeit die höllischen Qualen des Mannes. Das Oratorium wurde unter der Leitung des Kirchenmusikers an der Jesuitenkirche Marian Polin von der Capella Claudiana aufgeführt.

2
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O MISER! O du Armer! Armer, namenloser Schlucker. Du Armer, der du angesichts deines bevorstehenden Todes jegliche Hoffnung verlieren musst, weil der Chorus, weil die Soprane und Tenöre dir die klare Rechnung präsentiert haben: „Iam satis edisti, satis bibisti, satis plausisti, satis lussisti, iam satis voluptatis haussisti“: Genug hast du gefressen und gesoffen, und auch genug gehurt und gefickt. Nun werden dir bloß Schlangen und Vipern, Pech und Schwefel kredenzt.

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O MISER! Du armer Schlucker, der du von den schrecklichen Höllenbildern geplagt wirst, von Gewissensbissen gepeinigt: gerade im Sterben gequält. Und warum dies? Weil du in dir selber gleichsam versponnen bleibst, einer geballten Faust nicht ganz unähnlich. Weil du nur noch um dich selber kreisen tust, so wie du es dein Leben lang getan hast, als du bloß deinen Reichtum sahst und deinen Magen. Dein Ego! Dein Ego über alles stelltest. Niemanden hast du mit Liebe, niemanden mit Barmherzigkeit angeschaut, hast alles verdrängt. Und nun? Nun kommt das alles hoch!

4
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NEIN! Der Prediger wird deine Ängste nicht verstärken. Vielmehr ruft dir der Prediger zu, setzt damit einen Kontrapunkt in den Cantus firmus der Hoffnungslosigkeit eines einsamen Egoisten. Der Prediger ruft dir zu: Mach doch die geballte Faust deiner Biographie auf! Nutze den allerletzten Augenblick, der dir noch übrig bleibt! Blick umher, öffne deinen Augen und erblicke...! Erblicke! Erblicke zumindest einmal in deinem Leben einen anderen Menschen! Erblicke den Menschen, den du dein Leben lang nicht beachtet hast: Schau deinen Lazarus an!

5
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SCHADE! Wirklich schade, du willst nicht. Vermutlich kannst du es auch nicht. Dein Egoismus ist dir zur zweiten Haut geworden. Deswegen kannst du dieses Diptychon, das Doppelbild, das da von Lukas, dem Evangelisten entworfen, von unzähligen Malern gemalt und von Maestro Carissimi vertont wurde, du kannst dieses Diptychon nicht sprengen. Weil du nicht willst, oder auch dich nicht öffnen kannst, bleibt dieses Diptychon so aussagekräftig. Weil seine Konturen durch deine Blindheit gezeichnet sind, durch dein Verschlossensein faustdick gemalt. In der oberen Tafel des Bildes: Du! Der namenlose Dives, der scheinbar so Reiche, der im Grunde doch ein armer Schlucker ist: ein Miser! Ein Miser, der trotz all seiner Gier, trotz all der Orgasmen bloß ein Fall für die Statistik bleibt und bleiben wird. Eben bloß ein Dives, einer unter vielen. Auf der unteren Tafel des Diptychons der Lazarus, der einzige Mensch aus den biblischen Gleichnissen, der einen Namen trägt: Lazarus – Gott hilft! Gott hilft selbst dann, wenn nur die Hunde das einzig greifbare Werkzeug des göttlichen Handelns zu sein scheinen. Der arme Lazarus, der in seiner Armut doch ein Dives: ein Reicher ist.

6
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Liebe Schwestern und Brüder, warum dieser doch pathetisch klingender Einstieg? Als ich darüber grübelte – so im Halbschlaf im Bett –, als ich darüber grübelte, wie ich denn diese Kanzelpredigt konzipieren soll – die ja in der Mitte des Oratoriums, bei dem Punkt tiefster Hoffnungslosigkeit zu halten ist –, als ich darüber grübelte, ob ich bloß bei der bewährten Strategie bleiben soll, die von den Predigern jahrhundertelang benutzt wurde – vor allem von denen, die mit dem erhobenen Zeigefinger predigten und die das Diptychon bloß spiegelbildlich umdrehten, der biblischen Spur scheinbar folgend, das untere Bild also nach oben schoben, das obere nach unten abstürzen ließen und mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, bloß die Grausamkeit der höllischen Strafen schilderten –, als ich also über die heutige Kanzelpredigt grübelte, da schlief ich ein. Ich schlief ein und träumte. Es träumte mir, dass Lukas selber, nein: nicht Lukas, unser Organist, sondern Lukas der Evangelist, sich mit mir auf ein Bier im Corona-Zeitalter getroffen hat.

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Lukas und ich plauderten da über die Predigt und der Lukas…, der überraschte mich mit einer scheinbar banalen Frage: „Jozef: ist es dir aufgefallen, dass Gott in meiner Erzählung eigentlich nicht vorkommt?“ Mir blieb der Mund offen. Denn daran habe ich noch nie gedacht. Und er setzte fort: „Ist es dir aufgefallen, dass ich diese Erzählung anfange ohne die übliche Einleitung: ‚Und Jesus erzählte ihnen ein Gleichnis‘? Wer erzählt also diese Geschichte?“ Ich schaute verdutzt drein. „Die Wahrheit ist“ – dozierte der Evangelist – „die Wahrheit ist, dass diese Geschichte von mir erdacht wurde. Sie bringt etwas Allgemeinmenschliches zum Ausdruck. Du findest in ihr die tiefsten Bedürfnisse des Menschen: das Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit, aber auch das alltägliche Ressentiment, das Bedürfnis nach Umkehrung der Verhältnisse angesichts himmelschreiender Ungerechtigkeit. Menschlich! Allzu menschlich ist diese Logik. Du findest sie in allen Religionen. Du findest sie bei den Agnostikern und Atheisten, bei allen, die bloß einen Schimmer von ethischer Sensibilität haben. Wenn du allerdings über Gott predigen möchtest, gerade in der Mitte des Oratoriums von Carissimi – wo es doch so viel an Realismus gibt, aber auch an Hoffnungslosigkeit –, wenn du also über Gott predigen möchtest, dann schau dir mein ganzes Evangeliums an und entdecke! Entdecke, wie Jesus dort über Gott redet: über Gott, der dem Verlorenen nachgeht. Über Gott, der den Abgestürzten auffängt. Über jenen Gott, zu dem Jesus betet, er möge vergeben, den allerschlimmsten Sündern vergeben. In ihrer Verblendung wissen sie ja nicht, was sie tun. ‚Heute wirst du noch mit mir im Paradies sein‘, sagte Jesus zum sterbenden, mitgekreuzigten Verbrecher. Weißt du Jozef: der Gottessohn selber durchbricht die geschlossene Logik meines Diptychons. Er sprengt es, weil er selber in die untere Tafel hinuntersteigt. Zum Lazarus zuerst und dann zu dem in der Hölle eingeschlossenen Mann. Zum Lazarus in den Gestalten all jener Menschen, die sich tagtäglich um Barmherzigkeit bemühen und auf die Augenhöhe all der Armen, Ausgegrenzten, Leidenden hinuntersteigen. Caritas tagtäglich leben!“ „Und zu den in die Hölle Abgestürzten?“, fragte ich. Lukas setzte fort: „Er stieg doch dorthin ab nach seinem Kreuzestod. Er stieg in die Hölle ab! Um all die Biographien, die dort bloß einer geballten Faust gleichen sollten – und dies in alle Ewigkeit –, um die in ihren Biographien gefangenen Menschen in seinem geöffneten Herzen zu beherbergen!“

8
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„Moment, Moment, Moment mal!“, die Worte des Evangelisten wurden in meinem Traum plötzlich unterbrochen. Da tauchte nämlich eine neue Person auf: Maestro Giacomo Carissimi höchstpersönlich. Der römische Kirchenmusiker tauchte in meinem Traum auf und er protestierte. So sagte er: „Solche Träume, wie du sie träumst, hat es in meiner Zeit nicht gegeben. Nicht einmal Jesuiten haben es gewagt, so zu träumen! Deswegen findet ihr bei mir nur einen halben Satz über Gott, und zwar über den beleidigten Gott. Und das Oratorium endet logischerweise mit den Worten vom ewigen Feuer!“ Verdutzt schaute Lukas den Meister der römischen Kirchenmusik an und lud ihn ein: er möge sich doch hinsetzen und mit ihm und dem Prediger des Abends ein Bier trinken. Die Corona-Lockerungen machen das möglich. Da taute der Maestro so richtig auf, wies gleich daraufhin, dass er auch ein Oratorium über die selige Jungfrau Maria geschrieben hat. Und dies nur deswegen, weil die Mutter der Barmherzigkeit in seiner Zeit selbst den Hoffnungslosesten einen Funken an Hoffnung vermitteln konnte. „Vielleicht hilft sie auch meinem armen Dives!“, schloss Carissimi ab.

9
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Und ich wachte auf, stellte gleich fest, dass der Hl. Geist die Inspiration parallel verteilte, hat mir doch unser Kirchenmusiker Marian mitgeteilt, er gedenke den Abend mit einem „Salve Regina“ zu beschließen, dem Gebet zur Mutter der Barmherzigkeit, der Mater misericordiae. Ja, liebe Schwestern und Brüder, man kann nicht über Gott predigen, ohne auf diese oder jene Weise zum Thema: Barmherzigkeit und der liebe Gott zu gelangen. Von diesem Gott, der in seinem Sohn ein Mensch unter Menschen geworden ist, der uns alle trägt und auffängt, wollen wir nach dem zweiten Teil des Oratoriums, also nach der Schilderung der höllischen Qualen und der Betonnung der Ewigkeit der Hölle, den Segen empfangen. Um uns im gläubigen Vertrauen zu stärken: DAS LETZTE WORT HAT IMMER NOCH GOTT und er ist barmherzig. Deswegen ist auch in aller Hoffnungslosigkeit die Hoffnung der lebensspendende Kontrapunkt.

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