- Leseraum
| "Ihr aber, für wen haltet ihr mich?" Das unterscheidend Christliche an Jesus von NazaretAutor: | Sandler Willibald |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | artikel |
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Abstrakt: | |
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Publiziert in: | # Originalbeitrag für den Leseraum |
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Datum: | 2007-07-16 |
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Inhalt1
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| Worin besteht das unterscheidend Christliche? Seit
den ersten Jahrhunderten – in der Auseinandersetzung mit der Gnosis – hat diese
Frage das Christentum umgetrieben. Im 20. Jahrhundert ist die Rede vom
unterscheidend Christlichen nochmals häufiger geworden. Orientierung suchend
fragt man danach;[2] in
Thesen und Kurzformeln des Glaubens versucht man es zu erfassen;[3] und mahnend appelliert man, das unterscheidend Christliche nicht
zu vergessen, es nicht zu verspielen und sich seiner wieder zu besinnen.[4] Diese Konjunktur ist begreiflich für eine Zeit, in der das
Christentum sich weniger denn je als Volksreligion begreifen konnte. Andere,
nichtchristliche und nachchristliche Weltanschauungen begannen die öffentlichen
Diskurse zu dominieren; und angesichts dieser Entwicklung nahmen die Bemühungen
von TheologInnen zu, das Wesentliche des Christentums den Menschen mit anderen
Vorstellungs- und Erwartungshorizonten schmackhaft zu machen. Das Bemühen um
Aktualität, Modernität und Relevanz hatte oft eine Angleichung des Christlichen
an die dominierenden Vorstellungen zur Folge, – ein Angleichung, die ihre
Kontinuität mit eigenen Traditionen sowie ihre spezifische Eigenart zu
verdecken drohte. Diese Problematik lässt sich als Dilemma zwischen Identität
und Relevanz beschreiben:[5] Wenn man versucht, das Christentum dem Zeitgeist anzupassen,
dann leidet seine Kontinuität, sein klares, von anderen unterscheidbares
Profil, kurz: seine Identität. Versucht man hingegen, in Traditionstreue diese
Identität zu wahren, so stellt man fest, dass diese Botschaft nicht verstanden
und für heutiges Leben als wenig hilfreich erfahren wird: es leidet die
Relevanz. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat eine Polarisierung
zugenommen zwischen kirchlichen Strömungen, die diesem Dilemma in
entgegengesetzte Richtung zu entkommen suchen. Liberal-Progressive setzen sich
für die heutige, gesellschaftliche Relevanz des Christentums ein und sind
bereit, dazu Traditions- und Identitätsbrüche zu riskieren. Konservative
betonen die Kontinuität mit Traditionen und nehmen dafür in Kauf, nur mehr von
einer Minderheit verstanden und akzeptiert zu werden. | 3
| Innerhalb dieser Polarisierungen droht die Rede vom
„unterscheidend Christlichen“ zum Schlachtruf der Konservativen zu werden: Es
geht darum, Profil zu zeigen, – und Mut zu Positionen, die vom Zeitgeist nicht
geschätzt werden.[6] Doch
worin besteht dieses Profil? Kann das unterscheidend Christliche durch
forcierte Ablehnung des anderen gewahrt, vielleicht gar erst gefunden werden?
Mut zum Profil ist gewiss wichtig, wenn dieses Profil bereits klar als das
Richtige erkannt ist, wenn man schon weiß, was das unterscheidend Christliche –
in bestimmten, oft unübersichtlichen gesellschaftlichen Problemlagen – ist.
Wenn Menschen dieses Profil nicht haben und vielleicht insgesamt unter einem
schleichenden Profilmangel und Identitätsverlust leiden, dann wird Mut zum
gefährlichen Stimulans, um ein Profil zu simulieren, – vor anderen und für sich
selbst: Wenn du ein Profil brauchst, dann wähl dir eines. Und sei mutig dabei,
denn wenn du Ablehnung erfährst, dann wird dir das helfen, dein Profil zu
stabilisieren. Streit macht Grenzen scharf. | 4
| Solch intolerante Grenzzieherei ist aber nicht nur
die Sache von Konservativen, die den Mut zum „unterscheidend Christlichen“
einklagen. Auch progressive Richtungen können sich profilieren, indem sie die
Grenzen zu den Rückständigen scharf machen. Dafür kann dann auch mal das
„unterscheidend Christliche“ herhalten. Man findet es in einem Geist der
Toleranz, den man den Traditionalisten abspricht. | 5
| Es ist die Eigenart von Polarisierungen, dass sie
auf das Grenznahe, Periphere fixieren: Praktiken wie Kommunionspendung an
wiederverheiratet Geschiedenen oder an Anderskonfessionellen, Laienpredigt und
Ministrantinnen können zu Schibboleths werden, deren Kontroversialität
unverzichtbar ist, um Zugehörigkeiten zu fixieren.[7] Angesichts dieser polarisierenden Zentrifugalität wird die Frage
nach dem unterscheidend Christlichen nun tatsächlich dringlich: Sie wird zur
Frage nach der einenden Mitte des Christlichen, nach jenem Kernbestand, ohne
welchen Christlich nicht mehr christlich ist. | 6
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| Unsere Frage führt uns also in die Mitte und den
Ursprung des Christlichen. „Das unterscheidend Christliche ist der Jesus
Christus selbst“, sagt ein ausgewiesen Liberaler, nämlich Hans Küng,[8] und beweist somit, dass die Rede vom unterscheidend Christlichen
nicht die Domäne der Konservativen ist. Aber welcher Christus? Lange
Kontroversen haben den Verdacht genährt, dass der Christus, den Hans Küng im
Sinn hat, nicht unbedingt identisch ist mit jenem, den Benedikt XVI. meint.
Wenn das unterscheidend Christliche Jesus Christus selbst ist, dann ergibt sich
daraus sofort die Frage nach dem unterscheidend Christlichen an Jesus
Christus. | 9
| Erste Adresse für eine solche Frage sind gewiss das
„große“ Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel – „Gott von Gott, Licht vom
Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit
dem Vater“ – und weitere zentrale Aussagen aus den großen, ökumenischen
Konzilien, – vor allem aus dem Konzil von Chalkedon (451): | 10
| „In der
Nachfolge der heiligen Väter also lehren wir alle übereinstimmend, unseren
Herrn Jesus Christus als ein und denselben Sohn zu bekennen: derselbe ist
vollkommen in der Gottheit und derselbe ist vollkommen in der Menschheit;
derselbe ist wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch aus vernunftbegabter Seele und
Leib; derselbe ist der Gottheit nach dem Vater wesensgleich und der Menschheit
nach uns wesensgleich, in allem uns gleich außer der Sünde; derselbe wurde
einerseits der Gottheit nach vor den Zeiten aus dem Vater gezeugt, andererseits
der Menschheit nach in den letzten Tagen unsertwegen und um unseres Heiles
willen aus Maria, der Jungfrau <und> Gottesgebärerin, geboren; ein und
derselbe ist Christus, der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen
unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird, wobei
nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr
die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und sich in einer
Person und einer Hypostase vereinigt; der einziggeborene Sohn, Gott, das Wort,
der Herr Jesus Christus, ist nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt,
sondern ist ein und derselbe, wie es früher die Propheten über ihn und Jesus
Christus selbst es uns gelehrt und das Bekenntnis der Väter es uns überliefert
hat.“[9]
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| Jesus Christus als Sohn Gottes, wahrer Gott und
wahrer Mensch. Diese Antwort auf die Frage, wer denn dieser Jesus von Nazaret
war, ist gewiss unterscheidend christlich. Sie ist unterscheidend
christlich in einem solchen Maße, dass einem Nichtchristen überhaupt nicht
nachvollziehbar sein dürfte, welchen Sinn denn dieses Bekenntnis hat. Wie soll
denn das gehen: Einer ist Gott und Mensch zugleich – „Gottmensch“, wie die
Theologie oft abkürzend gesagt hat – und dennoch wird ein grundlegender
Unterschied zwischen Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf behauptet? – Wenn
Christen und TheologInnen auf diese Irritationen antworten, werden sie nicht
darum herum kommen, auf ein weiteres unterscheidend christliches Bekenntnis zu
verweisen, nämlich die Trinität. Und auch dieses dürfte sich angesichts der
höchst subtilen Zuordnung von göttlicher Einheit und Dreiheit als unterscheidend
christlich im striktesten Sinn erweisen. | 12
| Derartige überscharfe Verortungen des
unterscheidend Christlichen dürfen uns nicht zufriedenstellen. Würde doch damit
das Christliche auch von der Vernunft geschieden. Zwar wäre ein Vernunftbeweis
des unterscheidend Christlichen nach christlichen Kriterien zu viel verlangt, –
das würde einen Rationalismus bedeuten, der sowohl das Willensmoment als auch
das Moment der Gnade zur Ermöglichung des Glaubens vernachlässigte.[10]
Aber ein Glauben gegen die Vernunft wäre auch nach christlichem (zumindest nach
christlich-katholischem) Selbstverständnis unzumutbar. Es würde als Fideismus
(der den Glauben nur als Willensleistung auch ohne Vernunft missversteht) oder
Quietismus (der den Glauben allein einer blind wirkenden Gnade zuschreibt, ohne
alle Eigentätigkeit des Menschen) klar zurückgewiesen. Zumindest das
katholische Christentum erhebt den Anspruch, dass ihre Glaubensoption
vernünftig aufweisbar ist im Sinne einer Nicht-Irrationalität, einer
Widerspruchsfreiheit und Denkmöglichkeit.[11] | 13
| Versuchte man einen solchen Nachweis in direkter
Auseinandersetzung mit seinen religionskritischen Bestreitungen zu führen, so
unterläge man leicht der schon eingangs genannten Versuchung, ins Periphere
abzudriften. Die Versuchung bestünde konkret darin, aus den Glaubensformeln ein
System zu machen, das logisch unanfechtbar aber zugleich steril wäre. Es wäre
abgeschnitten vom Nerv spezifisch-christlicher Lebenserfahrung. Die Mittel zur
rationalen Verantwortung des unterscheidend christlichen Christusbekenntnisses
müssen aus der Mitte des Christlichen, als dem zuerst und eigentlich
unterscheidend Christlichen gewonnen werden. Was aber ist die unterscheidend
christliche Mitte des unterscheidend-christlichen Christusbekenntnisses? | 14
| „Das unterscheidend Christliche ist der Jesus
Christus selbst“ – Das Bekenntnis führt uns zurück auf die Person Jesu Christi
selbst, auf die Geschichte die er gelebt hat. Für Menschen, die klare
Orientierung wünschen, erscheint das als irritierender „Rückschritt“. Formeln
haben den Vorteil – oder zumindest den Anschein – von großer Eindeutigkeit.
Geschichte aber ist uns nur zugänglich in einer Pluralität von Geschichten, die
sich nicht einfach auf einen Nenner bringen lassen. Gewiss, man kann
Geschichten verdichten, sodass mit wenigen Strichen das Ganze in Erinnerung
gerufen wird. Biblische und kirchliche Glaubensbekenntnisse können wir als
solche zunehmend verdichtete Geschichten begreifen.[12] Weiters können aus Kontroversen zwischen konkurrierenden
Geschichtsversionen Regeln entstehen, wie Geschichten adäquat erzählt und
zusammengefasst werden dürfen. Das Dogma, dass Jesus Christus Sohn Gottes und
„wahrer Gott und wahrer Mensch“ ist, kann im Sinne solcher Regeln verstanden
werden. Glaubensbekenntnisse und Dogmen sind in diesem Sinn abkünftig von den
Geschichten Jesu von Nazareth, auch wenn sie für diese normierend sind. Zum
Verständnis des „unterscheidend Christlichen an Jesus von Nazaret“ müssen wir
zu diesen bestimmenden Geschichten zurück. Wir finden sie im Neuen Testament, –
vielfältig und voller Spannungen. | 15
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| Bei allen Unsicherheiten und Meinungsverschiedenheiten
über authentische Worte und Taten Jesu ist immerhin die Umstrittenheit Jesu
unbestritten: Nicht nur in Worten, sondern durch die ganze Weise seines
Verhaltens erhob dieser Jesus von Nazaret den ungeheuren Anspruch einer
einmaligen Gottesnähe, der die Menschen in Befürworter und Gegner spaltete.
Letztere bezeichneten ihn als einen Gehilfen Satans, der seine Machttaten mit
Hilfe Beelzebuls ausübte.[13] Was seine Befürworter von ihm dachten, wird besonders deutlich
angesichts von Jesu Frage, die von allen drei Synoptikern überliefert ist:[14] „Für wen halten mich die Menschen?“ – johannes der Täufer,
Elija, oder ein anderer Prophet werden von den Jüngern genannt. Wir können
diese Auffassungen vergleichen mit heutigen Vorstellungen von Jesus als einem
besonderen Menschen. Darauf folgt nun die Frage Jesu: „Ihr aber, für wen haltet
ihr mich?“ – Petrus antwortet: „für den Messias, den Sohn des lebendigen
Gottes“. Nach Matthäus wird er in dieser Einschätzung von Jesus eindrucksvoll
bestätigt. Gemäß allen drei Synoptikern verbietet Jesus den Jüngern, diese
Einsicht anderen weiterzusagen. Den Grund dafür machen sie durch das
unmittelbar Folgende deutlich: Jesus kündigt sein kommendes Leiden an. Die
Bezeichnung Jesu als Messias wird nur dann recht verstanden, wenn man begreift,
dass das ein leidender Messias ist, – wie der leidende Gottesknecht bei Jesaja.
Nach allen drei Evangelisten kritisiert Petrus, der vorher durch sein
Messiasbekenntnis glänzte, Jesu Ankündigung, nach Jerusalem zu gehen um dort zu
leiden, und er wird daraufhin von Jesus schärfstens zurückgewiesen. Das zeigt,
dass Petrus selber sein Messiasbekenntnis noch nicht recht verstanden hat. Von
daher wird verständlich, dass Jesus seinen Jüngern vor der Kreuzeserfahrung
untersagte, von ihm als dem Messias zu sprechen. | 18
| Nach dem Zeugnis der Evangelien besteht das
unterscheidend Christliche also im Bekenntnis, dass Jesus der Messias, der Sohn
Gottes ist. Aber wie kann das recht verstanden und begründet werden? Für die
Gegner Jesu war ein solcher Anspruch so unakzeptabel, dass er sogar ein Grund
für die Todesstrafe sein konnte: „Wir steinigen dich nicht wegen eines guten
Werkes, sondern wegen Gotteslästerung; denn du bist nur ein Mensch und machst
dich selbst zu Gott“ (Joh 10,33).
Der Anspruch, wie Gott zu sein, konnte ja auch Inbegriff der Sünde sein. So bei
Adam und Eva, die der Verheißung der Schlange, sie würden wie Gott werden, auf
den Leim gingen. Oder beim König von Tyrus, wie es Ezechiel beschreibt: | 19
| „Menschensohn,
sag zum Fürsten von Tyrus: So spricht Gott, der Herr: Dein Herz war stolz, und
du sagtest: Ich bin ein Gott, einen Wohnsitz für Götter bewohne ich mitten im
Meer. Doch du bist nur ein Mensch und kein Gott, obwohl du im Herzen geglaubt
hast, daß du wie Gott bist. [...] Weil du im Herzen geglaubt hast, daß du wie
Gott bist, darum schicke ich Fremde gegen dich, tyrannische Völker. Sie zücken
das Schwert gegen all deine prächtige Weisheit, entweihen deinen strahlenden
Glanz. Man stößt dich hinab in das Grab; wie einer durchbohrt wird und stirbt,
so stirbst du mitten im Meer. Willst du dann angesichts deiner Mörder noch
sagen: Ich bin ein Gott? Du bist nur ein Mensch und kein Gott in der Hand
deiner Mörder.“ (Ez 28,3-9) | 20
| Selbst der Tod Jesu am Kreuz musste aus solcher
Perspektive wie der Fall aus sündiger Hybris erscheinen, – und nicht als
Bestätigung des leidenden Gottesknechtes. Wie konnte dann jener Anspruch Jesu,
den wir als das unterscheidend Christliche ausgemacht haben, als berechtigt
erkannt werden? Die Evangelien versuchen ihn von den Schriften des Alten
Testaments her zu begründen. Das Alte Testament dokumentiert eine wachsende Unterscheidung
des wahren Gottes, – von dieser her mussten für die jüdischen Zeitgenossen ihre
Erfahrungen mit Jesus im Sinne des von ihm erhobenen Anspruchs deutbar werden. | 21
| Somit müssen wir auf unserer Suche nach dem
unterscheidend Christlichen noch einen weiteren Schritt zurück gehen und die
Entwicklung der Unterscheidung des wahren Gottes im Alten Testament verfolgen. | 22
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| Zentral für den alttestamentlich-jüdischen Glauben
ist das erste Gebot: „Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und
dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin
ein eifersüchtiger Gott“ (Ex 20,5).
Indem das Gebot, dem eigenen Gott zu dienen, mit einer definitiven
Zurückweisung der Verehrung anderer Götter verbunden ist, ist es unterscheidend
in einem exklusiven Sinn. Jan Assmann hat hier von einer mosaischen
Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Gott gesprochen und darin ein
zentrales Movens für monotheistische Intoleranz und Gewalt gesehen.[15] Erinnern lässt sich in diesem Sinn an die Weisung, die Altäre
von Andersgläubigen niederzureißen,[16] an die angeordnete Vernichtungsweihe an ungläubigen Städten im
Zuge der Landnahme,[17] an die von Mose angeordnete Niedermetzelung der Verehrer des
goldenen Kalbs[18]
und an die von Elija angeordnete Abschlachtung der 450 Baalspropheten nach dem
Brandopfer auf dem Berg Karmel, das im Wettbewerb mit den vom König favorisierten
Baalsprophetenn den „wahren Gott“[19] erweisen sollte. Diese brutale Intoleranz richtete sich
allerdings nicht gegen andere Völker und Religionen, sondern gegen den Einbruch
und die Duldung anderer Kulte innerhalb der eigenen Religion.[20] Die ausschließliche Treue gegenüber dem als eifersüchtig
bezeichneten eigenen Gott war „unterscheidend israelisch“ im Sinne einer
fortlaufenden Selbstreinigung, nicht primär als profilierende Abgrenzung
gegenüber anderen. Andere Völker und Kulturen kamen zwar als Umwelt Israels von
Anfang an vor, nicht jedoch als theologische Subjekte. So konnte Israel in
seiner „Gründungsgeschichte“ des Exodus Gott als denjenigen loben, der die
Ägypter vernichtete. Dass Jahwe auch der Gott der Ägypter und damit auch für
ihr Wohl verantwortlich wäre, kam damals noch nicht in den Blick.[21] | 25
| Das änderte sich mit der Erfahrung des
Babylonischen Exils. Gegen den Eindruck, dass der Gott der Israeliten gegen die
Götter Babylons versagt hätte, boten nun die großen Propheten die Deutung an,
dass Jahwe nicht nur der Gott Israels, sondern auch Babylons und aller anderen
Völker wäre. Er wäre also nicht von Babylon besiegt worden, sondern hätte
vielmehr Babylon als Werkzeug verwendet um Israel für seine Bundesbrüche zu
strafen.[22] So
bewirkte das Babylonische Exil eine entscheidende Vertiefung und
Universalisierung des Gottesverständnisses.[23] Die biblischen Schöpfungsgeschichten sind davon geprägt.
Dadurch vertiefte sich nun auch die Unterscheidung im alttestamentlichen
Gottesverständnis: Die Kritik an anderen Religionen und Kulten blieb zwar
erhalten; ja sie verschärfte sich zum Spott gegen machtlose Götzenbilder, die
nichts als „Vogelscheuchen im Gurkenfeld“ wären.[24] Zugleich wuchs aber die Einsicht, dass auch im Namen des wahren
Gottes dieser Gott verfehlt und verraten werden konnte. Die Universalisierung
des Gottesglaubens versperrte grundlegender als bisher die Möglichkeit, das
Falsche und Böse den gottfeindlichen Anderen zuzuschreiben. Da alle Menschen
Geschöpfe Gottes sind, gibt es keinen „total Anderen“. Noch deutlicher als
bisher wurde die Unterscheidung des Alttestamentlich-Jüdischen zu einer
fundamentalen Selbstkritik. Nachdem ein guter Gott alle Geschöpfe ursprünglich
gut geschaffen hat, konnte das massiv erfahrbare Böse nur dadurch erklärt
werden, dass diese Geschöpfe aus sich selber heraus böse geworden waren. Die
Erzählung vom Sündenfall gibt eine diesbezügliche Antwort. Im Hinblick auf die
Unterscheidung eines wahren Gottesglaubens ist die biblische Urgeschichte
höchst subtil: Die Menschen sind geschaffen „wie Gott“, – als Gottes Bild und
Gleichnis. Und sie sind gefallen, weil sie „wie Gott“ sein wollten. So ist eine
Unterscheidung grundgelegt zwischen einem verdankten Wie-Gott-Sein, welches die
höchste Verheißung ist und einem eigenmächtigen Wie-Gott-Sein-Wollen, welches
die Wurzel aller Sünde darstellt. Letzteres wird als ein umfassender
Schuldzusammenhang begriffen, in den jeder Mensch verstrickt ist. In diesen
dunklen Hintergrund fügt das Alte Testament nun verschiedene Heilsinitiativen
Gottes ein, beschrieben als Taten der Befreiung und darauf aufbauende
Bundesschlüsse, die den Menschen – nicht nur als einzelne sondern in ihren
gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtungen – eine neue
Ausrichtung auf Gott ermöglichen sollten. Heilsmittler – wie die Patriarchen,
Mose und die Propheten – und Heilsinstitutionen – wie das Gesetz, sowie die
Sühn- und Opferriten – sollten helfen, den Bund mit Gott zu bewahren und, wo
Menschen von ihm abirrten, ihn zu erneuern. Aber bereits im Alten Testament
wuchs die Einsicht, dass all diese von Gott eingesetzten Vermittlungsformen
nicht ausreichten; sie konnten von einem böse gewordenen Herzen in
pervertierender Weise gebraucht werden.[25] So wuchs die Hoffnung auf eine grundsätzliche Vertiefung von
Gottes Heilsinitiative, – die Sehnsucht nach einem neuen Bund, der in das Herz
der Menschen geschrieben ist, sodass sie mit einem erneuerten Herzen diesen
Bund auch halten können.[26] | 26
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| Von hier aus lässt sich nun das unterscheidend
Christliche an Jesus von Nazaret neu in den Blick nehmen. Für die Menschen, die
Jesus begegneten, bestand das unterscheidend Christliche zunächst in einer
befreienden Erfahrung, die ihnen einen Zugang zum wahren Gott neu eröffnete.
Das geschah durch unerhörte Lehren – vom jetzt anbrechenden Gottesreich – und
ungesehene Taten dieses Mannes aus Nazaret, aber tiefer noch durch eine Weise
zu sein – gründend in einer uneinholbar tiefen Verbundenheit mit dem
göttlichen Vater – mit der Jesus den ihn Begegnenden die Verheißungen der
alttestamentlichen Schriften in brennender Aktualität aufleuchten ließ.[27] Das zeigt sich zunächst an Erfahrungen von Befreiung und
Entgrenzung: Fesseln fallen weg, die Menschen auf enge und heillose
Wirklichkeiten fixiert hielten. Körperliche Heilungen überwinden leibliche
Behinderungen, Dämonenaustreibungen befreien von psychischer Gebundenheit, und
Sündenvergebungen lösen die Fesseln einer Selbstabsperrung gegenüber dem Gott
des Lebens. | 29
| Solche Entfesselungen haben durchwegs auch eine
soziale Dimension: Indem Menschen und Menschengruppen als Kranke, Unreine und
Sünder festgeschrieben werden, können Gemeinschaften ihre Identität
stabilisieren. Diffuses Unheil wird zuschreibbar, und es wächst die
wirkmächtige Illusion, dass das derart zugeschriebene Unheil aus der
Gemeinschaft entfernt werden kann, indem man Menschen ausschließt.
Ausgrenzungen finden statt und die dadurch scharf gemachten Grenzen binden die
Zugehörigen von Gemeinschaften enger zusammen. Vom Alten Testament her besteht
die Identität des Gottesvolkes in einer gemeinsamen Ausrichtung auf den
erwählenden Gott und dadurch in einem Dienst allen Menschen gegenüber. Wo diese
positiv-ausgerichtete Identität durch Schuld und Versagen gelitten hat, kann
sie durch die Wirkungen des Sündenbockmechanismus ersatzweise gesichert werden:
Wir wissen wer wir sind, weil wir nicht so sind wie diese anderen. Wie
eine vom Ansatz her reine Ausrichtung auf Gott durch Ausschlusspraxis
pervertiert werden kann, hat sich für die Zeit Jesu an der Erneuerungsbewegung
der Pharisäer gezeigt. | 30
| Von daher kann nun das provokative Potential von
Jesu Wirken begriffen werden. Es ist wichtig zu sehen, dass es nicht einem
eigenen Verhalten Jesu abgesehen von seinem befreienden und heilenden
Tun entspringt, sondern aus der Mitte seiner Gott offenbarenden
menschenfreundlichen Praxis: Jesus heilt Kranke, Besessene und Sünder und führt
sie damit in die Mitte der Gemeinschaft zurück. In dem Maße als Gemeinschaft
sich durch Abgrenzung nach außen definiert, muss dieses Verhalten Jesu zu einer
Identitätskrise führen, gemäß dem Motto: Wer sind wir denn, wenn diese da auch
zu uns gehören sollen? Diese Krise konnte nur dadurch überwunden werden, dass
jedes Mitglied bereit war, den Balken im eigenen Auge anstelle des Splitters im
Auge der anderen wahrzunehmen.[28] Erforderlich war also eine radikalisierte Selbstkritik. Diese
war in einer nicht-destruktiven Weise möglich, weil Jesus den ihm Begegnenden
zugleich eine vertiefte und neue Orientierungsmitte eröffnete, – in einer
reinen Ausrichtung auf den wahren Gott. Die besondere Gnadenzeit (= Kairós[29]
) der Begegnung mit Gott durch Jesus Christus bedeutet, dass solche
Neuausrichtung (biblisch: Umkehr) möglich wird. Menschen gewinnen die Freiheit,
diese Neuausrichtung zu wählen, – oder aber sie abzulehnen. Im letzteren Fall
wird ihnen allerdings das gnädige Licht des lebendigen Gottes zu einem
richtenden Licht, das die Inadäquatheit ihrer Lebenswahl erbarmungslos
aufdeckt. Dieses Licht wird unerträglich, sodass derjenige, der es zum Leuchten
bringt, „ausgeschaltet“ werden muss. Von solchen Zusammenhängen her können wir
begreifen, dass durch Jesu Verhalten nicht nur Menschen geheilt und innerlich
verwandelt, sondern auch aufs Äußerste provoziert wurden. | 31
| Für unser Thema ist hier festzuhalten: Von den
Evangelien her erweist sich die Unterscheidung des Christlichen als eine
Angelegenheit, die nicht unterschiedslos jederzeit ansteht, sondern ihren
Kairós hat. Über weite Strecken leben Menschen fraglos entschieden dahin, – in
den Fahrwassern von früheren Entscheidungen (von ihnen selbst oder von anderen,
denen sie zugehören). Der Kairós der Begegnung mit Jesus eröffnet einen neuen,
noch ungekannten Blick auf Gott, – auf einen bedingungslos gebenden und
vergebenden Gott. Damit wird ein Gnadenmoment der Freiheit freigesetzt. Die so
zur Freiheit befreite Person kann die Bewegung auf Gott hin, die sie an sich
bereits im Ansatz wahrnimmt, ratifizieren und damit ein Ja zu Gott sagen, das
die Kraft hat, dem eigenen Leben eine neue Richtung zu geben. Umkehr ist nun
möglich, – und sie ist von Jesus geboten, weil sie möglich ist.[30] Dieser umkehrenden Neuausrichtung steht allerdings eine Kraft
der Beharrung entgegen, die Paulus als „alten Sauerteig“ (1 Kor 5,7f)
oder „alten Menschen“ (Eph 4,22)
bezeichnet. Beispiele von gescheiterter Umkehr in den Evangelien zeigen, dass
diese Beharrungskraft auch kollektiver Natur ist und als solche eine große
Macht hat.
Der ängstliche oder eitle Seitenblick auf die aufmerksam beobachtenden
Anderen hat manchen Samen des anbrechenden Gottesreichs bereits im Ansatz
erstickt.[31] | 32
| Jesu Wirken für das anbrechende Gottesreich wirft damit
ein massives Problem auf. Viele Menschen haben den Kairós der in ihnen neu
aufbrechenden Gotteswirklichkeit verpasst. Anstelle eines befreienden Ja ist so
ein höchst problematisches Nein entstanden, das die Situation gegenüber der
früheren relativen Unentschiedenheit radikal verschärft. In diesem Zusammenhang
wird es begreiflich, dass Jesus nicht nur vom Gottesreich, sondern erstmals
auch von der Hölle spricht. Durch eine vertiefte Selbsterschließung Gottes
rückt auch die Möglichkeit eines totalen und endgültigen Nein zu Gott in
greifbare Nähe. | 33
| In diesem Zusammenhang gewinnt der Kreuzestod Jesu
eine zentrale Bedeutung: Er ist zunächst die Konsequenz eines Verhaltens Jesu,
der die Menschen, die sich in einem Nein gegen Gott verstockten, nicht ihrem
selbstgewählten Gericht überlassen wollte, sondern sich um sie in der Haltung
einer kritischen Solidarität bemühte. Wenn Jesus die Schriftgelehrten nicht in
ihrer Ablehnung sich selber überließ, sondern sich in ihr Zentrum nach
Jerusalem begab, so ist das als ein Weg fortgesetzter Konfrontation zu
begreifen, der die Heilsmöglichkeit auch für die sich verstockenden Menschen
offenhalten sollte. Die Möglichkeit einer Umkehr durch vertiefte Begegnung mit
Gott vermittels Jesus Christus war nicht ausgeschlossen, wenn auch durch
vorausgehende Zurückweisungen zunehmend unwahrscheinlich. Wo die Menschen
hingegen auf ihrer Entscheidung gegen Gott beharrten, mussten sie mit den
inneren Konsequenzen dieser ihrer Wahl konfrontiert werden, – auch wenn diese
in Gewalt gegen den Offenbarer und Aufdecker bestand. Auf dem Weg nach
Jerusalem musste Jesus seine messianische Aufgabe, das Reich Gottes vollmächtig
anzusagen, im Modus des Leidens verwirklichen. Hätte er sich diesem Kreuzweg
versperrt, so wie es Petrus von ihm erwartete, dann wäre Jesu weiteres Bemühen
um das Gottesreich an Halbierung gescheitert: Zurückgeblieben wäre eine Sekte,
die ihre Identität der Absetzung von den etablierten Vertretern des Judentums
verdankte. | 34
| Auf dem skizzierten Weg ergibt sich für die Frage
nach dem unterscheidend Christlichen: Wenn das unterscheidend Christliche in
Jesu Gottesreichbotschaft besteht, dann gehört unter den Bedingungen einer
tiefen Sündenverstrickung der Menschen das Kreuz zur Gottesreichbotschaft als
dessen innere Konsequenz dazu. Der Messias muss ein gekreuzigter sein. | 35
| Bleibt er aber als Gekreuzigter noch Messias? Das
heißt: Wenn Jesus der Messias war und seine Gottesreichbotschaft eine reale
unüberbietbare Selbsteröffnung Gottes für die Menschen bedeutete, musste dann
seine Tötung nicht die endgültige Selbstüberlieferung an das ewige Gericht für
jene bedeuten, die seiner Tötung zustimmten, – und auch für jene, die infolge
von versäumten Kairoí eine Haltung vertraten, die sie auch zur Verwerfung des
Messias geführt hätten, wären sie nur damals dabei gewesen? Wenn das aber
tatsächlich der Fall war, hat sich dann die frohe Botschaft für eine Menge von
Menschen nicht als „Dys-angelion“, als Unheilsbotschaft erwiesen? Damit aber
wäre Jesu Frohbotschaft einer bedingungslosen Heilsinitiative Gottes durch die
von ihr bewirkte Konsequenz widerlegt worden, – also kann er nicht der Messias
gewesen sein. | 36
| Jesu Gottesreichbotschaft kann sich deshalb nur
dann als richtig erweisen, wenn sie eine Heilsmöglichkeit auch für jene
Menschen eröffnet, die den Kairós der radikalisierten Selbsteröffnung Gottes
durch Jesus Christus ausgeschlagen haben. Oder, um es differenzierter
auszudrücken: dass uns Menschen durch Jesus Christus nicht nur eine
Heilsmöglichkeit eröffnet ist, sofern wir den uns eröffneten Kairoí zustimmen,
sondern auch insofern, als wir hinter den Möglichkeiten einer solchen
Zustimmung zurückbleiben. – Genau dies ist nach christlichem Zeugnis über den
Weg von Kreuz und Auferstehung gesehen. Zum unterscheidend Christlichen gehört
somit, dass das Kreuz nicht nur unglückliche Folge der Gottesreichbotschaft
aufgrund der Sünde der Menschen ist, sondern – im Zusammenhang mit der
Auferstehung – zugleich ein Weg der Überwindung der verschärften Sünde, – ein
Weg der Erlösung. | 37
| Diese soteriologische Dimension des Kreuzes, das
mithin die tiefste Einlösung der Gottesreichbotschaft bedeutet, kann aus der
Erfahrung von Menschen mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen – vor allem vom
Apostel Paulus her – folgendermaßen skizzenhaft erschlossen werden: Menschen,
die ein bewusstes und frei gewolltes Nein zu Gott gesprochen haben – wie es für
die Situation eines versäumten Kairós charakteristisch ist – können nicht
einfach erneut in eine gleichartige Entscheidungssituation gestellt werden. Die
Entscheidung ist bereits gefallen und muss auch von Gott als solche respektiert
werden, wenn er den Menschen in seiner Freiheit ernst nimmt. Das ist das
ungeheure Gewicht eines versäumten Kairós. Damit der Mensch vor den
selbstzerstörerischen Konsequenzen eines solchen Nein zu Gott befreit wird,
besteht nur eine Möglichkeit: dass Gott sich ihm in einer gegenüber seiner
bisherigen Entscheidung vertieften Weise offenbart. Unter diesen Bedingungen
wird eine erneute Entscheidung möglich, im Sinne der Worte: „Ja wenn ich gewusst
hätte, dass Gott so ist...“. Durch Kreuz und Auferstehung hat Jesus den
Menschen eine solche neue und vertiefte Selbstoffenbarung Gottes erschlossen.
Worin diese besteht, hat an vielen Stellen Paulus ausgedrückt, jener Pharisäer,
der einst ein tief überzeugtes Nein gegen Jesus gelebt hatte und später eine
vollständige Wandlung erfuhr. Was er genau unter dem göttlichen Blitzstrahl,
der ihn traf, erfahren hatte, wissen wir nicht. Aber wir kennen den Nachhall
dieses Einschlags: er zieht sich durch sein gesamtes Schrifttum und kreist
unablässig um die erlösende Kraft des Kreuzestodes Christi. Die vertiefte
Selbstoffenbarung Gottes durch Jesus Christus beschreibt Paulus unter anderem
wie folgt: | 38
| „Was ergibt sich
nun, wenn wir das alles bedenken? Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Er
hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben –
wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?" (Röm 8,31-32)
| 39
| Paulus beschreibt das Bild eines Gottes, der sein
Eigenstes und Wertvollstes riskiert, um die Menschen von ihrem
selbstverschuldeten Unheil zu retten: ein Gott, der den Menschen nicht als
souveräner Richter oder souveräner Wohltäter von oben begegnet, sondern der
sich selber rückhaltlos einsetzt; Gott, dessen Wesen uns durch sein Ebenbild
Jesus Christus aufleuchtet, der „Gott gleich war, aber nicht daran festhielt,
wie Gott zu sein“, der sich erniedrigte und Gehorsam bis zum Tod am Kreuz
wurde.[32] Durch das Kreuz erscheint Gott somit den Menschen in einer aus
Liebe sich selbst entmächtigenden Gestalt. Damit ist den Menschen, die Gott in
der Gestalt des grundlos Gebend-Vergebenden zurückgewiesen haben, eine neue
vertiefte Einsicht in das Wesen Gottes eröffnet, – und damit ein neuer Kairós,
– eine neue Möglichkeit, zu Gott ja zu sagen. | 40
| Was aber, wenn auch dieser Kairós mit einem Nein
beantwortet wird? Wir wissen es nicht. Die Möglichkeit der Hölle ist durch
Gottes gekreuzigte Selbstoffenbarung nicht einfach ausgeschlossen. Das freie
Nein gegen Gott hat volles Gewicht, es kann nicht einfach suspendiert werden, –
nicht wegen Gottes Unnachsichtigkeit, sondern wegen der ernst genommenen Freiheit
des Menschen. Die einzige Möglichkeit besteht in einer nochmals vertieften
Selbsterschließung Gottes, die sich zugleich selbst riskiert, weil sie mit der
freigesetzten Freiheit für den Sünder zugleich ein weiteres, noch mächtigeres
und zerstörerischeres Nein ermöglicht. Wie die Dramen zwischen potenziertem
Nein des verstockten Sünders und je neu und vertiefter Selbsterschließung
Gottes ausgehen, wissen wir nicht. Aber was wir über Gott durch dessen
Selbsterschließung im Kreuz erfahren haben, ist Grund genug für die Hoffnung:
Wir dürfen Gott zutrauen, dass er jedes Nein letztlich durch seine
grenzenlose Liebe bis zu einem Ja einzuholen in der Lage ist.[33] | 41
| Wenn das unterscheidend Christliche somit in der
Begegnung mit Jesus Christus besteht, in dem Kairós, der dadurch ausgelöst
wird, – wie eröffnet sich diese Wirklichkeit für Christen, die Jesus nicht mehr
von Angesicht zu Angesicht begegnen können? Biblisch wird eine Antwort dazu
durch die Sendung des Heiligen Geistes beschrieben. Bevor der Auferstandene in
den Himmel aufsteigt – was bedeutet, dass er auch seinen Zeitgenossen in einer
Weise ungreifbar wird, die der Situation aller Menschen nach Christus gleicht –
vor dieser Himmelfahrt also sendet er den Heiligen Geist aus.[34] Der
Heilige Geist gilt als jene personale Macht, die den Menschen die Begegnung mit
Jesus Christus erschließt.[35] Von daher können wir sagen, dass das, was wir als Kairós aus
der unmittelbaren Begegnung mit Jesus beschrieben haben, sich in Momenten der
Gnadenerfahrung erschließt, – Erfahrungen, die auch alltäglich und wenig
spektakulär sein können, die sich aber in jedem Fall dadurch auszeichnen, dass
eine Situation der Freiheit Gott gegenüber – und damit auf ein neues, besseres
Leben hin – entsteht, die so vorher nicht gegeben war. Es entspricht dem
christlichen Glauben, dass solche Gnade universal, auch außerhalb eines
expliziten Christentums, am Wirken ist, – wobei Christen dieses Wirken in einen
Zusammenhang mit dem Heilswirken Christi bringen. Für Christen ist die Mitte,
von der her diese Erfahrung des Heiligen Geistes in ursprünglicher Kraft
verwandelt über Menschen und Gemeinschaften ausströmen kann, die Eucharistie; –
als jener Ort, wo die Begegnung mit dem Wort, dem Tun und dem Sein Jesu Christi
in Verbal-, Aktual- und Realpräsenz deutlich wird. Eucharistie ist somit jene
Mitte, von der her erfahrungsmäßig die Unterscheidung des Christlichen sich zu
erschließen vermag. | 42
| | 43
| | 44
| „Das unterscheidend Christliche ist der Jesus
Christus selbst“ – Diese Aussage haben wir von einer
neutestamentlich-christologischen Perspektive her als erfahrungsmäßige
Wirklichkeit erschlossen. Das unterscheidend Christliche für Christen besteht
demnach darin, dass sie ihr Leben um die Mitte Jesu Christi ausrichten, indem
sie sich – betend, feiernd, bezeugend und teilend – offen halten für die großen
und kleinen Kairoí, in denen sich ihnen der Gott Jesu Christi zuspricht. Von
dieser Mitte aus ist nun die Sinnhaftigkeit des unterscheidend christlichen
Christusbekenntnisses einzuholen: Jesus Christus ist nicht bloß ein besonderer
Mensch, auch nicht bloß Gott selber in einer – durch verschiedene Inkarnationen
in heiligen Menschen wiederholbaren – menschlichen Verkleidung, sondern „wahrer
Gott und wahrer Mensch“, in einer Person, unvermischt und ungetrennt. | 45
| Stellen Sie sich vor, Sie müssten dieses Bekenntnis
von Jesus Christus als dem Gottmenschen gegenüber einem Skeptiker verteidigen.
Dieser wird Ihnen vielleicht die Hirnrissigkeit Ihres kirchlichen Glaubens
folgendermaßen vorrechnen: Was ist nun Jesus Christus: Ist er Gott, dann kann
er kein Mensch sein. Ist er ein Mensch, dann kann er nicht Gott sein. Wenn Sie
das dennoch behaupten wollen, dann fällt der Unterschied zwischen Gott und Mensch
weg. Wie aber wollen Sie das in Einklang bringen mit der zentralen
jüdisch-christlichen Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf? | 46
| Die einzige logische Möglichkeit, auf einen solchen
Frontalangriff zu reagieren besteht darin, die Voraussetzungen dieser
Argumentation in Frage zu stellen. Diese gehen – unausgesprochen und
selbstverständlich – von Folgendem aus: Was ein Mensch ist, das wissen wir ja.
Und was Gott ist, das wissen wir auch, – zumindest mehr oder weniger. Ausgehend
von diesem selbstverständlich angenommenen und unhinterfragten Vorwissen
versuchen wir nun zu erklären, was ein Gott-Mensch ist. Unter diesen
Voraussetzungen kann das nur zu einem Nonsens führen. Unter diesen
Voraussetzungen ist etwas oder jemand, der zugleich Gott und Mensch ist,
undenkbar. Die Problematik in Form einer Skizze: | 47
| Mensch=√ & Gott= √ | 48
| .
↓ | 49
| Gott&Mensch = ?? | 50
| Skizze 1 | 51
| Das volle Christusbekenntnis kann nur erreicht
werden, wenn wir radikal den Ausgangspunkt ändern. Am Anfang darf nicht ein
fertiges Wissen von dem stehen, was Gott und was ein Mensch ist, sondern die
Erfahrung mit der Person Jesu Christi. In der Begegnung mit Jesus Christus geht
einem in ganz neuer Weise auf, wer oder was eigentlich Gott ist; und es geht
einem neu auf, was eigentlich ein Mensch ist. | 52
| Jesus Christus = √ | 53
| .
↓ | 54
| Mensch = √
& Gott = √ | 55
| Skizze 2 | 56
| Dieses neue Wissen vom innersten Wesen Gottes und
des Menschen wird uns von Jesus nicht nur äußerlich mitgeteilt, sondern durch
sein eigenes Tun und Sein erschlossen. Er sagt uns nicht nur, wie Gott
ist. Gottes Liebe, Seine Vergebungsbereitschaft, aber auch seine
Unverträglichkeit mit der Sünde gehen uns an Jesu eigenem Verhalten auf.
Dennoch erscheint uns Jesus auch nicht als Übermensch, der uns vielleicht noch
irgendwelche Auskünfte über das wahre Wesen des Menschen gibt, sondern wir
erfahren ihn als zutiefst menschlich. An seinem Leben geht uns auf, dass der
Mensch in seinem innersten Wesenskern an Gott grenzt, und dass die
kompromisslose Verwirklichung dieses göttlichen Kerns das Menschsein nicht behindert
oder gar auslöscht, sondern in seinen Möglichkeiten erst voll erschließt. Es
eröffnet sich eine Ahnung von dem beglückenden Zusammenhang, dass der Mensch
umso mehr Mensch ist, je enger er mit Gott verbunden ist. So erschließt sich
uns in der Person Jesu Christi zugleich das Wesen Gottes und das wahre Wesen
des Menschen. Wir können sagen, dass Jesus Christus ganz Mensch ist, und dass
wir auf Gott schauen, wenn wir auf Christus schauen. | 57
| Jesus Christus = √ | 58
| .
↓ | 59
| Mensch = √
& Gott = √ | 60
| .
↓ | 61
| Jesus Christus = Gott&Mensch √ | 62
| Skizze 3 | 63
| Diese Christozentrik entspricht ganz der
unterscheidend christlichen Ausrichtung, wie wir sie im vorausgehenden Kapitel
erschlossen haben. Paulus hat das hier Gemeinte deutlich ausgedrückt: | 64
| „Als ich zu euch
kam, Brüder, kam ich nicht, um glänzende Reden oder gelehrte Weisheit
vorzutragen, sondern um euch das Zeugnis Gottes zu verkündigen. Denn ich
hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und
zwar als den Gekreuzigten. Zudem kam ich in Schwäche und in Furcht,
zitternd und bebend zu euch. Meine Botschaft und Verkündigung war nicht
Überredung durch gewandte und kluge Worte, sondern war mit dem Erweis von Geist
und Kraft verbunden, damit sich euer Glaube nicht auf Menschenweisheit stützte,
sondern auf die Kraft Gottes.“ (1Kor 2,1-5) | 65
| Das ist kein Plädoyer für Nichtwissen im Sinne von
Ignoranz und Dummheit. Im Gegenteil! Paulus macht das im unmittelbar Folgenden
deutlich: | 66
| „Vielmehr
verkündigen wir das Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes, die Gott vor
allen Zeiten vorausbestimmt hat zu unserer Verherrlichung. Keiner der
Machthaber dieser Welt hat sie erkannt; denn hätten sie die Weisheit Gottes
erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt. Nein, wir
verkündigen, wie es in der Schrift heißt, was kein Auge gesehen und kein Ohr
gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott
denen bereitet hat, die ihn lieben. Denn uns hat es Gott enthüllt durch den
Geist. Der Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes." (1Kor
2,6-10) | 67
| Paulus wollte nichts wissen als Jesus Christus, und
zwar als den Gekreuzigten. Sein Verzicht auf „Überredung durch gewandte und
kluge Worte“ besagte, dass er nicht versuchen wollte, Jesus Christus von
anderen Ausgangspunkten her als plausibel abzuleiten. Das „unterscheidend
Christliche“ ist für ihn Jesus Christus selbst, als Maßstab, der nicht nochmals
gemessen werden darf, – nicht durch Kriterien von Klugheit oder eindrucksvoller
Zeichenhaftigkeit,[36]
auch nicht durch Kriterien einer vorweg definierten Humanität. Ausgehend von
vorgefassten Begriffen von Mensch und Gott muss das Bekenntnis zum Gottmenschen
als Torheit und Gotteslästerung erscheinen. Geht man aber von der Erfahrung
Jesu Christi als des Gottmenschen aus, – wie es im vorigen Kapitel skizziert
wurde –, so erschließt sich eine größere Weisheit, von der her das, was ist –
der Mensch, Gott und die Welt – vertieft verstanden werden kann. „Der Geist
ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes.“ | 68
| Das klingt ziemlich anmaßend und bedarf deshalb
wohl einer Klarstellung. In erster Näherung und aller Kürze kann gesagt werden,
dass die von der Begegnung mit Christus her erschlossene Weisheit in der
Wahrnehmung der „Tiefen Gottes“ im begegnenden Anderen besteht. Die
Gottebenbildlichkeit des Menschen, aber auch aller Schöpfung, offenbart sich
neu. Es wird nicht nur denkbar, sondern auch erfahrbar: Im Innersten seines
Selbstseins rührt der Mensch an das göttliche Geheimnis. Der „Welt“ ist dieses
Geheimnis verborgen; die Personalität und Würde des Menschen kann von ihr nur
verflacht wahrgenommen werden. Von Christus her – was heißt: von kairologischen
Gnadenerfahrungen her, deren Wesen sich uns von Christus her erschließt –
eröffnet sich die Fähigkeit einer staunenden und liebenden Erkenntnis, die sich
grundsätzlich auf alle Menschen, auf alles Geschaffene, auf einen selber und –
vermittelt durch all das – auf Gott zu richten vermag. Diese vertiefte
Erkenntnis ist nun gerade keine zugreifende, bemächtigende Erkenntnis. Im
Gegenteil: Das Wissen um die unverfügbare Geheimnishaftigkeit im innersten Kern
eines jeden Seienden führt zu einem Respekt, der dieses Geheimnis achtet. Es
ist somit zugleich Nichtwissen – im Verzicht auf enthüllend-wissende
Bemächtigung – und Wissen, insofern es dem Wesen des Seienden besser entspricht
als der respektlos-zugreifende Wissensanspruch: es ergibt sich ein wissendes
Nichtwissen (Nikolaus von Kues), – als Reflex einer negativen Theologie, die
doch fern ist von allem resignativen Verzicht auf Gotteserkenntnis.[37] | 69
| | 70
| | 71
| Die Frage nach dem unterscheidend Christlichen hat
uns auf eine Rundwanderung geführt: vom kirchlichen zum neutestamentlichen
Christusbekenntnis, weiter zum alttestamentlichem Gottesglauben und zurück ins
Neue Testament und zum kirchlichen Christusbekenntnis. Daraus hat sich eine
Beschreibung der Mitte des christlichen Glaubens ergeben: von Jesus Christus
mit seiner Gottesreichbotschaft, die durch das Kreuz nicht suspendiert, sondern
über Kreuz und Auferstehung eingelöst wurde, in einer Weise, dass wir Grund
haben zur Hoffnung für das Heil aller Menschen. Weiters zeigte sich uns, dass
die erfahrungsmäßige Grundlage für diese Mitte in „kairologischen“
Gnadenerfahrungen des Heiligen Geistes anzusetzen ist, – in Gnadenerfahrungen,
die nicht exklusiv auf den Bereich der Kirche reserviert sind. Das
unterscheidend Christliche ist Christus selbst, er ist die bestimmende Mitte
für Christen und für die Kirche. Diese Mitte ist den Christen und der Kirche
anvertraut, aber dennoch nicht zur eigenmächtigen Verfügung übergeben. Sie
müssen diese Mitte immer neu aufsuchen, sich immer neu von ihr bestimmen
lassen, und nur in dieser steten Selbstriskierung können und sollen sie die
kairologische Erfahrung der Begegnung mit Christus an alle Welt weitergeben,
sodass sie sich – in ursprünglicher und auch den bezeugenden Christen
unverfügbarer Weise – allen in einer vertieften Weise erschließt. | 72
| Was ergibt sich aus alldem für die heutige Rede vom
unterscheidend Christlichen? Zunächst eine scharfe Warnung: Die Rede vom
unterscheidend Christlichen legt das Missverständnis nahe, das Wesentliche des
Christentums liege gerade in dem, was es von anderen Religionen und
Weltanschauungen unterscheidet. Würde man dieser Spur folgen, so legte
man die Identität des Christentums durch Abgrenzung nach außen fest.[38] Genau das aber ist es, was Jesus mit seiner
Gottesreichbotschaft kritisiert und in eine Krise geführt hat. Wie wir sahen,
bedeutet Gottesreich eine gemeinschaftliche Identität, die sich ganz der
positiven Ausrichtung auf Gott verdankt. Kirche ist dieser Vision einer
positiv-bezogenen Identität auf Gott hin verpflichtet. Das Zweite Vatikanische
Konzil hat dem entsprochen, indem sie Kirche konsequent nicht durch Abgrenzung
nach außen, von ihren Grenzen her definierte, sondern durch eine Sendung, die
sie von Gott her für die gesamte Menschheit übernimmt.[39] Die Treue zu dieser Sendung wird in vielen Fällen zu einem
Verhalten von Christen führen, welches sich tatsächlich von dem Verhalten
anderer unterscheidet, und so wird sie tatsächlich auch Grenzen sichtbar
machen. Die Rede von Kirche als Kontrastgesellschaft[40]
erscheint in diesem Sinn als berechtigt. Aber durch minimale Verschiebungen,
die unter Umständen kaum wahrnehmbar sind, kann das Berechtigte pervertieren.
Es sind im Grunde dieselben Verschiebungen, die die Erneuerungsbewegung der
Pharisäer derart pervertiert hat, dass Jesus trotz vieler gemeinsamer Anliegen
zu deren schärfstem Kritiker wurde. Diese Gefährdungen betreffen auch die
Kirche. Ihre begründende Mitte, die in Jesus Christus und seiner Präsenz vor
allem im Sakrament der Eucharistie besteht, ist ein im Grunde verborgenes
Zentrum, das nicht für programmatische Profilbildungen verwertbar ist. Es
handelt sich um eine geschenkte Identität, die die Kirche – und das heißt: die
Menschen in ihr – demütig immer neu empfangen müssen. Damit ist eine
Unsicherheit und Angreifbarkeit verbunden – oft ein Erscheinen „in Schwäche und
in Furcht, zitternd und bebend“ – die allzuleicht durch „sicherere“ Substitute
ersetzt wird. Solche Substitution kann in zwei entgegengesetzte Richtungen
erfolgen: einerseits durch eine anpassende Übernahme von anderen, greifbareren
Identitäten: Christen wollen auch so sein wie die erfolgreichen anderen. Es
handelt sich hier um die bereits von den Propheten an Israel gegeißelten
Bemühungen, den glänzenden Götzen der Nachbarvölker zu folgen. Hier droht jener
Verlust der Unterscheidung des Christlichen, der von konservativen Christen
gebrandmarkt wird. – Aber die Substitution der von Christus unverfügbar
gewährten Glaubensidentität lockt noch von einer anderen Seite: indem man
gerade nicht so sein will wie die anderen und sich damit ein künstliches, durch
Grenzziehungen bestimmtes Profil zulegt: Identität durch Abgrenzung und durch
Ausgrenzung. Es ist die Tücke einer konservativen Programmatik für eine
Unterscheidung des Christlichen, dass sie allzuleicht in dieses
entgegengesetzte Extrem verfällt. Und ironischerweise ist gerade diese
Identitätsbildung durch Abgrenzung die bevorzugte Form, wie die heutige „Welt“
Identität bildet. Jeder – ob Einzelperson oder Gruppe – will heute anders sein
als die anderen, will sich eine profilierte Corporate Identity zulegen. Wenn
Kirche sich in forcierter Weise von anderen (Konfessionen, Religionen,
Weltanschauungen, „Welt“) absetzen will, ist sie nur auf den ersten Blick anders.
Einem näheren Hinblick entgeht nicht, dass sie dann genau dasselbe versucht wie
alle anderen. Demgemäß „boomen“ konservative und traditionalistische
Bewegungen, und auch von den Medien werden kirchliche Hardliner lieber
eingeladen. Polarisierende Tendenzen sind zwar unbequem, aber passen allemal
besser in eine postmoderne Welt. Einfacher ist es für die heutige medial
repräsentierte Welt, extremen Gruppierungen Nischen zuzuweisen, als mit einer
Kirche umzugehen, die Außenbezüge auf subtile – anscheinend schwammige – Weise
durch Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestimmt und damit versucht, sich
adäquaten Unterscheidungen vor einem universalen Horizont – d.h. unter
Wahrnehmung berechtigter Anliegen auch von den anderen – anzunähern. In einem
solchen Erwartungshorizont kann schon mal der Mut zur Nichtunterscheidung
gefragt werden, – der Mut zur Vorsicht, Zurückhaltung und eingestandenen
Unsicherheit, – indem man nicht dort beansprucht, die Wahrheit Jesu Christi zu haben,
wo sie sich einem noch nicht in kirchlichem Konsens erschlossen hat. | 73
| Als besonders schlimme Perversion des Christlichen
muss es auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen erscheinen, wenn Christen
ihre christlich-kirchliche Identität dadurch festmachen wollen, dass sie
beanspruchen Christus zu haben, während die anderen ihn nicht haben.
Damit würde Jesus Christus und der durch ihn erschlossene Gott zur habbaren und
handhabbaren Größe reduziert, was konkret heißt: mit einem Götzen verwechselt
und durch diesen ersetzt. Dort wo Christen meinen, Profil zeigen zu müssen,
indem sie von Christus reden, auch wo diese Rede nicht verstanden oder
missverstanden wird, droht diese Perversion. Es sind Erfahrungen von Gnade, die
uns Christus nahebringen, und die Weltgerichtsrede (Mt 25,31-46)
macht deutlich, dass solche Erfahrungen auch gemacht werden können, ohne dass
man weiß, dass hier Christus im Spiel war. Als Christen müssen wir solche
Erfahrungen unseren Gesprächspartnern aus anderen Religionen und
Weltanschauungen zugestehen. Und das heißt auch, dass wir nicht nur gerufen
sind, Christus zu bekennen und hinauszutragen, sondern auch zu hören und ihn
durch andere zu empfangen. Aus dem Glauben an die universale Heilsbedeutung
Jesu Christi folgt, dass es die Situation nicht gibt, in der wir nicht damit
rechnen müssen, Spuren Christi durch den jeweiligen Anderen zu empfangen. Das
Insistieren auf ein unterscheidend Christliches darf das niemals verdecken. | 74
| Im Blick auf das unterscheidend Christliche ergibt
sich also ein schwieriger Mittelweg: Als Christen sind wir berufen und
verpflichtet, aus der Mitte Jesu Christi zu leben, – dennoch dürfen wir diese
Mitte nicht einfach mit dem gleichsetzen, was wir als Jesus Christus zu
benennen gewohnt sind. Wir müssen bezeugen und zugleich ständig bereit sein,
uns durch die laufenden Erfahrungen verbessern und korrigieren zu lassen. | 75
| Von daher ergeben sich Kriterien für eine Kritik an
verschiedenen Formen, vom „unterscheidend Christlichen“ zu reden. Am Schluss
will ich eine solche kritische Auseinandersetzung an einem prominenten Beispiel
der Rede von unterscheidend Christlichem versuchen, und zwar vom damaligen
Kardinal Joseph Ratzinger im Interviewband „Zur Lage des Glaubens“: | 76
| „Auch hier
müssen wir zu einem neuen Mut zum Nonkonformismus gegenüber den Tendenzen der
Wohlstandsgesellschaft zurückfinden. Anstatt dem Zeitgeist zu folgen, müssten
gerade wir ihm von neuem mit evangelischem Ernst entgegentreten. Wir haben den
Sinn dafür verloren, dass die Christen nicht wie ‚jedermann‘ leben können. Die
törichte Ansicht, der zufolge es keine spezifische christliche Moral mehr geben
würde, ist nur ein Ausdruck dafür, dass ein Grundkonzept verlorengegangen ist.
Das ‚unterscheidend Christliche‘ gegenüber den Modellen der ‚Welt‘.“[41] | 77
| Ich glaube, unter dem Eindruck von kirchlichen
Polarisierungen kann eine solche Aussage nicht leicht sachlich und emotionsfrei
wahrgenommen werden.[42] Dennoch muss genau das – im Sinne einer Rückwendung von zentrifugalen
Polarisationskräften hin zur christlichen Mitte – zunächst versucht werden.
Sieht man einmal von jeder polarisierenden Inanspruchnahme solcher Sätze ab, so
ließe sich meiner Meinung nach feststellen: Christen, die versuchen, konsequent
aus der kairologischen Begegnung mit Jesus Christus zu leben, werden jedem
dieser Sätze einen tiefen Sinn abgewinnen und insofern aus ganzem Herzen
zustimmen können. In einer Gesellschaft, in der die Menschenwürde nicht mehr
genügend wahrgenommen wird, weil der Blick für die Wahrnehmung des göttlichen
Geheimnisses im Anderen getrübt ist, werden Christen aus ihrer Erfahrung der
unverrechenbaren Würde Anderer sich in ihrem Verhalten und den von ihnen
vertretenen Normen unvermeidlich von dieser Gesellschaft abheben. Die von ihnen
vertretene Moral wird sich dann als spezifisch christliche von anderen
Moralvorstellungen unterscheiden. Darüber hinaus werden sie aus ihrer
Christuserfahrung heraus auch immer wieder in die Nachfolge des warnenden
Christus gestellt werden. Und da sowohl Unterscheidung als auch Warnung zu
Diffamierung und materiellen Nachteilen führen kann, braucht es gewiss auch
einen Mut zum Nonkonformismus. | 78
| Aber die gleichen Sätze können von Menschen auch
losgelöst von diesem normierenden und unverfügbaren Christusbezug übernommen
werden. Er wird dann zu einer hohlen Programmatik, die geeignet ist, den Mangel
eines lebendig erfahrenen Bezugs zur christlichen Mitte durch forcierte
Profilbildung zu kaschieren. Was Gottes Wille für bestimmte, tief in
strukturelle Schuld verstrickte Gesellschaften bedeutet, muss oft erst mühsam
gefunden werden, – auch für entschiedene Christen liegt es nicht einfach
zutage. Hier besteht die Versuchung, diese schwer erträgliche Unsicherheit
durch vereinfachende Programmatiken zu kaschieren, wonach das Richtige gerade
das wäre, was dem Zeitgeist widerspricht.[43] | 79
| Was bedeutet der Appell zu Nonkonformismus
angesichts einer Gesellschaft, für die Konformismus ohnehin als unverzeihlicher
Fehler erscheint und jeder sich von anderen „unterscheiden“ will? Er beinhaltet
wohl auch die Bereitschaft, aus einem verantwortlichen Hören auf Gottes Wort
auf schnell zuhandene Profilierungsversuche zu verzichten; – er inkludiert wohl
auch die Bereitschaft, mit Paulus „allen alles zu werden“ (1 Kor 9,22),
auch wenn das aus einer Public-Relations-Perspektive als unklug erscheint. Ob
nun forcierter Widerstand oder Verzicht auf profilierende Differenzen, muss von
Christen in den wechselnden gesellschaftlichen Situationen immer neu
entschieden werden. Es muss je neu erspürt werden aus einem Leben aus der Mitte
Jesu Christi heraus. Daraus ergibt sich immer neu und im Konkreten oft
unterschiedlich die Unterscheidung des Christlichen. Und für schwierige Lagen
werden wir damit rechnen müssen, dass die verantwortete Wahrnehmung von Gottes
Willen für verschiedene Menschen innerhalb der Kirche unterschiedlich und vielleicht
sogar gegensätzlich ausfallen kann. Hier müssen dann Spannungen bis an die
Grenze des Dissenses von der Kirche ausgehalten werden; die Wahrheit muss
mühsam und kontroversiell gefunden werden. Wenn in solchen Zerreißproben
christliche Parteien für sich das unterscheidend Christliche beanspruchen,
während sie ihren Gegnern dessen Verlust oder Verrat vorwerfen, dann wird der
Sinn der Rede vom unterscheidend Christlichen grob verzerrt.[44] | 80
| | 81
| | 82
| Das unterscheidend Christliche ist Jesus Christus
selbst. Mit diesem Ansatz versuchte ich eine inhaltlich orientierte Bestimmung
des unterscheidend Christlichen, im Unterschied zu Tendenzen, dieses durch
forcierte Abhebung gegenüber anderem, als nichtchristlich Deklariertem zu
profilieren. Als zentral wurde näherhin die Erfahrung einer Begegnung
mit Jesus Christus erschlossen: als besondere Gnadenzeit – Kairós –, in welcher
die Freiheit zu einer vertieften Gottesbeziehung und von daher zu einem
verbesserten Leben freigesetzt wird. Für Zeitgenossen, die Jesus von Nazaret
begegneten, verband sich so die Möglichkeit einer Theozentrik – radikalisierte
Ausrichtung des Lebens auf Gott hin und von ihm her – mit einer Christozentrik,
insofern diese vertiefte Gottesbeziehung durch Jesus Christus erfahren wurde.
Für Menschen nach Christus, denen keine unmittelbare Begegnung mit dem
Menschgewordenen mehr möglich ist, eröffnen sich Kairoí einer Begegnung mit
Jesus Christus als Gnadenerfahrung durch die Gabe des Heiligen Geistes. Solche
Gnadenerfahrungen sind auch in unspektakulärer, alltäglicher Weise möglich und
lassen sich durch die erfahrbare Freisetzung einer Freiheit zum Besseren – in
Gottesbeziehung und in den zwischenmenschlichen und innerweltlichen Beziehungen
– erkennen. Grundsätzlich sind sie allen Menschen eröffnet. Die Kunst des
Christseins besteht darin, durch verfeinerte Wahrnehmung solcher Gnadenmomente
aus ihrer Kraft zu leben, so weit, bis tendenziell jede Situation als Kairós
einer Gnadenerfahrung wahrgenommen werden kann, indem Gott „in allen Dingen“
gefunden wird. Insofern für Christen Christusbegegnung durch den Heiligen Geist
vermittelt ist, – nicht selten in anonym christlicher Form –, kann hier von
einer Pneumatozentrik gesprochen werden, welche die oben genannte Theozentrik
und Christozentrik eröffnet. | 83
| Das unterscheidend Christliche besteht nun in der
praktisch-gelebten und theologisch-reflektierten Realisierung dieser
Christozentrik. Unterscheidend christlich ist, dass Christen von der durch den
Heiligen Geist vermittelten Christus- und Gotteserfahrung her leben und von
dort her zu einer vertieften Neubestimmung von allem, was ist, gelangen. Diese
Mitte droht dort verloren zu gehen, wo das unterscheidend Christliche in
Abhebung von sogenannt Nichtchristlichem zu profilieren versucht wird. | 84
| | 85
| | 86
| | 87
| | 88
| [1] Dieser Aufsatz wurde
gegenüber dem Vortrag auf den Innsbrucker Theologischen Sommertagen von Grund
auf neu konzipiert. Eine aktualisierte Fassung dieses Beitrags findet sich im
Internet unter der Adresse http://theol.uibk.ac.at/itl/703.html
| 89
| [2] Vgl. R. Guardini,
Unterscheidung des Christlichen. Gesammelte Studien 1923 - 1963. In drei
Bänden. Mainz 1963. Zur Bedeutung der Unterscheidung des Christlichen für
Romano Guardini vgl. K. Lehmann, Romano Guardinis Erbe für die Kirche der
Gegenwart, in: http://www.bistummainz.de/bm/dcms/sites/bistum/bistum/kardinal/texte/texte_1998/text
_141098.html | 90
| [3] Vgl. A. Stock, Kurzformeln
des Glaubens. Zur Unterscheidung des Christlichen bei Karl Rahner (Theologische
Meditationen 26), Zürich 1971. | 91
| [4] Vgl. H.U. von Balthasar, Cordula oder der Ernstfall, Einsiedeln
1987. Unterscheidung des Christlichen stellt ein Grundanliegen in der Theologie
Hans Urs von Balthasars dar. Vgl. in diesem Sinn H. Hoping, Der Kampf um die
"Gestalt des Katholischen" bei Hans Urs von Balthasar, in:
Internationale Katholische Zeitschrift (2001) 376-392. | 92
| [5] Zum Dilemma von Identität und Relevanz vgl. J. Moltmann, Der
gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher
Theologie. München 1972, 12-34. | 93
| [6] Mit Rückgriff auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns hat Thomas
Ruster die Notwendigkeit profilierender Abgrenzungen für die Theologie aus systematischen
Gründen eingefordert und damit vor allem Karl Rahner eine programmatische
Verwässerung des unterscheidend Christlichen vorgeworfen. Vgl. ders., Die
Einheit der Unterscheidung und das unterscheidend Christliche. Überlegungen zu
dem Mystiker, der der Christ der Zukunft sein soll, in: Karl Rahner. Kritische
Annäherungen. Hg. D. Berger, Siegburg 2004, 43-59; ders., Der verwechselbare
Gott Rahners oder: Die Einheit der Unterscheidung und das unterscheidend
Christliche, in: 100 Jahre Karl Rahner. Nach Rahner. Post et secundum. Hg. H.
Klaucke, Köln 2004, 63-71. Zur Kritik an diesem Ansatz vgl. Welcher Gott? Eine
Disputation mit Thomas Ruster: Hg. F. Senn, Luzern 2004, sowie kurz: W.
Guggenberger, Unterscheiden, nicht Trennen. Reaktion auf die Rahnertage 2004,
in http://theol.uibk.ac.at/itl/463.html. | 94
| [7] Damit spreche ich den exemplarisch genannten Problembereichen
keineswegs ab, ernstzunehmende Probleme zu sein. Die genannte Schwierigkeit
besteht darin, dass ohne Besinnung auf die Mitte des Glaubens solche Probleme
nicht lösbar sind. Sie dienen dann nur dazu, Polarisierungen zu verschärfen. | 95
| [8] Hans Küng, Christsein heute, in: Publik-Forum 18/2005, These
2. | 96
| [9] Denzinger-Hünermann, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und
kirchlichen Lehrentscheidungen, Nr. 302f. | 97
| [10] Dazu und zum Folgenden vgl. aus dem 1. Vatikanum:
Denzinger-Hünermann ebd., Nr. 3004-3020. | 98
| [11] Auch dieser Anspruch könnte als unterscheidend christlich
aufgewiesen werden, nicht als Abgrenzung gegen andere, sondern im Sinne einer
Klärung des christlichen Selbstverständnisses. | 99
| [12] Dazu und zum unmittelbar Folgenden vgl. D. Ritschl, Zur Logik der
Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken.
München 1988, v.a. 138-151. | 100
| [13] Vgl. Mk 3,22; Mt 12,24; Lk 11,15. | 101
| [14] Mk 8,27-33; Mt 16,13-23; Lk 9,18. | 102
| [15] Vgl. J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des
Monotheismus. München-Wien 2003. | 103
| [16] „Du hüte dich aber, mit den Bewohnern des Landes, in das du kommst,
einen Bund zu schließen; sie könnten dir sonst, wenn sie in deiner Mitte leben,
zu einer Falle werden. Ihre Altäre sollt ihr vielmehr niederreißen, ihre
Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen. Du darfst dich nicht vor einem
andern Gott niederwerfen. Denn Jahwe trägt den Namen «der Eifersüchtige»; ein
eifersüchtiger Gott ist er. Hüte dich, einen Bund mit den Bewohnern des Landes
zu schließen. Sonst werden sie dich einladen, wenn sie mit ihren Göttern
Unzucht treiben und ihren Göttern Schlachtopfer darbringen, und du wirst von
ihren Schlachtopfern essen. Du wirst von ihren Töchtern für deine Söhne Frauen
nehmen; sie werden mit ihren Göttern Unzucht treiben und auch deine Söhne zur
Unzucht mit ihren Göttern verführen. Du sollst dir keine Götter aus Metall
gießen“ (Ex 34,12-17). | 104
| [17] Vgl. u.v.a. Jos 6,15;
1Sam 15. | 105
| [18] Ex 32,26-28. | 106
| [19] 1 Kön 18,21.24.37. | 107
| [20] Auch die 450 Baalspropheten gehörten laut 1 Kön 18 zu Israel. Sie
waren dort von der Königsgattin Isebel eingesetzt worden. | 108
| [21] Das ändert sich später im Talmud, der die Exodusgeschichte mit
einem Zusatz erzählt. „Als nämlich die Engel Gottes erleben, wie machtvoll Gott
sein Volk aus der Gefangenschaft der Ägypter befreit, wollen sie triumphierend
dessen Lob anstimmen. Er aber verbietet ihnen das unter Tränen, weil er sieht,
dass er Israel nur so hat retten können, dass er die verfolgenden Ägypter, die doch
auch seine Geschöpfe sind, hat untergehen lassen.“ G. Neuhaus, Der
Absolutheitsanspruch des Christentums, in: Identität und Toleranz. Christliche
Spiritualität im interreligiösen Kontext. Hg. H. Schmiedinger, Innsbruck, Wien
2003, 115-150, hier: 127, mit Verweisen. | 109
| [22] Vgl. Jer 51,20-23. | 110
| [23] Vgl. dazu G. Neuhaus, ebd. 121-128. | 111
| [24] Vgl. Jer 10,5; Bar 6,69. | 112
| [25] Vgl. z.B. die prophetischen Kritik an den Opferpraktiken: Hos 6,6;
10,1-15; Ps 40,7; 51,18f. | 113
| [26] Jer
31,31-34; Ez 36,24-28. | 114
| [27] Vgl. Lk 4,21. | 115
| [28] Vgl. Mt 7,3-5. | 116
| [29] Kairós bedeutet Zeit nicht im chronologischen Sinn (griech.:
chrónos), sondern als besondere Gnadenzeit, die durch das Auftreten Jesu
freigesetzt wird und das anfanghafte Anbrechen des Gottesreichs markiert. Vgl.
das zentrale Summarium von Jesu Gottesreichbotschaft bei Markus: „Die Zeit
(=kairós) ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das
Evangelium!“ (Mk 1,15). Zum dringlichen Charakter dieses Kairós und der Gefahr, ihn zu
versäumen, vgl.: Mk 13,33-37. | 117
| [30] Vgl. Mk 1,15. var
WPComment2 = ' | 118
| evt. Verweis: Heilung von Gemeinschaft | 119
| [31] Vgl. W. Sandler, Kirche
als Sakrament des Heilsdramas Jesu Christi, in: Kirche als universales Zeichen.
In memoriam Raymund Schwager SJ (BMT 19). Hg. R. Siebenrock, W. Sandler,
Münster 2005, 101-139, hier: 115, 123. | 120
| [32] Vgl. Phil 2,6-8. | 121
| [33] In diesem Sinn überlegt H.U. von Balthasar: „Wer die vollkommene
Verlassenheit für sich wählen und damit seine Absolutheit Gott gegenüber
beweisen wollte, träfe vor sich auf die Gestalt eines, der absoluter verlassen
ist als er selbst. Man kann sich deshalb überlegen, ob es Gott nicht freisteht,
dem von ihm abgewendeten Sünder in der Ohnmachtsgestalt des gekreuzigten, von
Gott verlassenen Bruders zu begegnen, und zwar so, daß es dem Abgewendeten klar
wird: dieser (wie ich) von Gott Verlassene ist es um meinetwillen." H. U.
von Balthasar, Theodramatik, Band IV.: Das Endspiel, Einsiedeln 1983, 284. | 122
| [34] Vgl. Joh 20,22; Gal 3,14. | 123
| [35] 1Joh 4,2; 5,6. | 124
| [36] „
Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen
verkündigen Christus als den Gekreuzigten:" (1Kor 1,22f) | 125
| [37] Vgl. W. Sandler, Die offen zu haltende Mitte. Negative Theologie in
dramatischer Polyperspektivität. Siehe darin v.a. den Schlussabschnitt. Der
Aufsatz erscheint demnächst in einem Sammelband über „Negative Theologie heute“
in der Reihe Quaestiones Disputatae des Herderverlags. | 126
| [38] Vgl. W. Härle, Das unterscheidend Christliche aus protestantischer
Sicht, in: Una Sancta 56 (2001) 127-134, hier: 127f. | 127
| [39] Zentral für das Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen
Konzils ist die Bestimmung von Kirche als „in Christus gleichsam das Sakrament,
das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für
die Einheit der ganzen Menschheit“ (Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische
Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium", 1). Vgl. dazu W. Sandler,
Kirche als Sakrament des Heilsdramas Jesu Christi, s. Anm. 31. | 128
| [40] Vgl. G. Lohfink, Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Freiburg
i.Br.-Basel-Wien 1984, 181-212. | 129
| [41] J. Ratzinger, Zur Lage des Glaubens. München 1985, 117. | 130
| [42] Das gilt in nicht geringerem Maße für die Fortsetzung dieser
Stelle: „Der Christ muß sich heute mehr denn je darüber im klaren sein, einer
Minorität anzugehören und in Kontrast zu sein mit dem, was dem ‚Geist der
Welt‘, wie das Neue Testament ihn bezeichnet, als gut, selbstverständlich und
logisch erscheint. Zu den dringlichsten Aufgaben des Christen gehört die
Wiedererlangung der Fähigkeit zum Nonkonformismus, das heißt die Fähigkeit,
sich so manchen kulturellen Entwicklungen der Umwelt zu widersetzen; anders
gesagt: wir müssen heute die euphorische Sicht der frühen nachkonziliaren Ära
revidieren.“ (ebd. 117f). Auch zu diesem Text gilt für mich das im Folgenden
Ausgeführte. Dazu wäre das zu berücksichtigen, was ich oben zur Rede von
Kontrastgesellschaften ausgeführt habe. | 131
| [43] Selbst wenn Dinge am „Zeitgeist“ – und das heißt immer auch
konkret: an anderen Menschen – als falsch und verbesserungsbedürftig erkannt
werden, heißt das für Christen noch nicht automatisch, dass sie jetzt
das Falsche aufzeigen und eine Verbesserung einfordern sollen. Für christliche
Erfahrung geht dem Sollen eine Befähigung voraus, die oft erst durch einen
Kairós freigesetzt wird. Moralische Forderungen abgehoben von solchem Kairós
verkümmern zum Moralismus, der faktisch Unmögliches einfordert. – Solche
kairologische Ethik ist keine Reduzierung auf Situationsethik. Dass Gebote
allgemein gelten und deren Erfüllung auch zumutbar ist, ist zugestanden. Die
Kariologie bezieht sich vor allem auf verfahrene Situationen, in denen oft nur
ein kleineres Übel gewählt werden kann und eine wirkliche Verbesserung nicht in
Reichweite ist. Die zentrale Frage einer kairologischen Ethik ist, wie solche
heillose Situationen verändert werden können, – und angesichts der zunehmenden
Komplexität unserer Welt werden solche Fragen immer häufiger. Vgl. dazu auch W.
Sandler, Stadt auf dem Berg? Kirche in der Spannung von Vorbild-Auftrag,
Solidarisierung mit Sündern und eigener Schuld, in: Kirche: Zeichen des Heils -
Stein des Anstoßes (theologische trends 13). Hg. W. Sandler – A. Vonach,
Frankfurt am Main 2004, 97-133, im Internet: http://theol.uibk.ac.at/itl/496.html. | 132
| [44] Eine solche Zerreißprobe,
die keine einfachen Lösungen bietet, ist für die Kirche Deutschlands die
gesetzliche Regelung des Beratungsscheins für Schwangere, die eine Abtreibung
überlegen. Ein Aufsatz, der die Weiterführung der Beratung durch die
kirchennahe Organisation „Donum vitae“ schärfstens verurteilt, hat dazu das
obige Zitat von Ratzinger verwendet. Damit wird das Zitat in einer Weise
enggeführt und vereinnahmt, die es nicht verdient, obwohl es leider dazu
verleitet. Vgl. M. Spieker, Ein deutsches Drama. Warum Katholiken nicht bei
„Donum vitae“ mitarbeiten dürfen: Der Brief von Kardinal Levada hat eine lange
Vorgeschichte. In: Die Tagespost, 24. 3. 2007, im Internet: http://www.die-tagespost.de/Archiv/titel_a
nzeige.asp?ID=30711. Zur Problematik vom Beratungsschein vgl. meine Auseinandersetzung
aus dramatisch-theologischer Perspektive: | 133
| W. Sandler, Stadt auf dem Berg? (s. Anm. 43).
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