- Leseraum
| Terrorismus: Wesensmerkmale, Entstehung, ReligionAutor: | Palaver Wolfgang |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | artikel |
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Abstrakt: | Der folgende Essay informiert über Wesensmerkmale und Entstehung des modernen Terrorismus. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem Verhältnis von Religion und Terrorismus gewidmet. |
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Publiziert in: | # Gekürzt zuerst erschienen in:
Wochenbericht der Bank Julius Bär Nr. 9 (7. März 2002)
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Datum: | 2002-03-29 |
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Inhalt1
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Wenn wir heute von Terrorismus sprechen, meinen wir damit ein relativ modernes Phänomen, das sich zuerst in der Zeit nach der Französischen Revolution in Europa ausbreitete. Anarchisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstanden ihre gewalttätigen Anschläge als eine "Propaganda der Tat" und definierten mit diesen Worten den bis heute gültigen Wesenskern des Terrorismus. Unter Terrorismus verstehen wir den aus dem Untergrund erfolgenden politisch oder religiös motivierten Einsatz schockierender Gewalt gegen eine politische Ordnung oder eine bestimmte Gruppe von Menschen. Als eine Strategie der Provokation zielt der Terrorismus einerseits auf Schrecken und Angst bei der Gruppe der Angegriffenen, während er gleichzeitig Sympathie und Unterstützung bei jener Gruppe von Menschen zu erzeugen versucht, die als „interessierter Dritter" der politischen Legitimation der Gewaltanwendung dient. Der Terrorismus unterscheidet sich damit von der bloß kriminellen Gewalt, indem es sich nicht nur um ein Verhältnis zwischen Täter und Opfer handelt, sondern eine dritte Partei ins Spiel kommt, für welche die Täter stellvertretend Gewalt einsetzen.
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In dieser Ausrichtung auf einen Dritten zeigt sich eine Gemeinsamkeit zwischen dem Guerillakrieg und dem Terrorismus. Während aber der Guerillakrieg unmittelbar durch Gewaltanwendung sein Ziel erreichen will und von der Unterstützung eines "interessierten Dritten" (etwa die eigene Volksgruppe oder fremde Unterstützungsmächte) profitiert, handelt es sich beim Terrorismus um eine vormundschaftliche Identifikation mit einer Gruppe von Menschen, deren Unterstützung erst durch die propagandistische Tat hervorgerufen werden soll. Während sich der Guerillakrieg auf einen "interessierten Dritten" ausrichtet, bezieht sich der Terrorismus auf einen "angeblich interessierten Dritten", wie der Politologe Herfried Münkler notierte. (1) Mittels der propagandistischen Tat soll aus diesem ein interessierter Dritter werden.
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Weil der Terrorismus erst durch seine Gewalttaten Verbündete aktiviert, ist er ganz wesentlich auf die Verstärkung durch Massenmedien angewiesen. Die Anschläge auf das Pentagon in Washington und die New Yorker Zwillingstürme des World Trade Centers am 11. September 2001 zielten nicht nur auf eine möglichst hohe Opferzahl, sondern kalkulierten bewusst mit der medialen Wirkung, welche die Zerstörung dieser beiden zentralen Symbole der politischen und ökonomischen Macht der USA auslösen würden. Damit zeigt sich schon ein erstes wesentliches Merkmal des modernen Terrorismus, der aufgrund seiner Abhängigkeit von Massenmedien demokratische Gesellschaften voraussetzt.
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Untersuchungen über terroristische Aktivitäten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben gezeigt, dass autoritäre Regime viel weniger von Terrorakten betroffen sind als Demokratien. (2) Weil die liberale Presse- und Meinungsfreiheit einen idealen Resonanzraum für terroristische Anschläge ermöglichen, bieten Demokratien ein äußerst günstigen Nährboden für den Terrorismus. Die Antwort auf dieses Problem darf aber nicht eine grundsätzliche Einschränkung der freien Medien sein, das liefe nämlich auf die Selbstabschaffung unserer modernen Welt hinaus. Der Terrorismus verlangt grundsätzlichere Antworten.
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Ein wichtiges Merkmal des heutigen Terrorismus ist sein asymmetrische Verhältnis gegenüber der bekämpften politischen Ordnung. Ähnlich wie der Guerillakrieg ist der Terrorismus eine Strategie der Unterlegenen und Schwachen. Im Unterschied zum klassischen Krieg stehen sich nicht zwei ebenbürtige Gegner symmetrisch gegenüber, wir haben es vielmehr mit einer Form von asymmetrischer Gewalt zu tun. Als Unterlegene müssen Partisanen und Terroristen mit Mitteln und Methoden agieren, die ihnen auch gegen militärisch weit überlegene Gegner Erfolgschancen einräumen. Doch auch in diesem Fall darf die grundlegende Gemeinsamkeit zwischen Guerillakrieg und Terrorismus nicht über die Unterschiede hinwegtäuschen. Der Partisanenkrieg ist im Wesentlichen eine defensive Strategie, die sich auf die Verteidigung des Heimatlandes gegen äußere Aggressoren beschränkt und den Vorteil der Unterstützung durch die Bevölkerung nützt. Ein bekanntes Beispiel für den modernen Guerillakrieg, mit dem diese Form des Krieges begann, ist der Kampf spanischer Partisanen gegen Napoleons Armeen am Beginn des 19. Jahrhunderts.
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Zwar ist auch der Terrorismus eine asymmetrische Strategie, aber er legt die defensiven Merkmale des Guerillakrieges ab, um sich durch ein offensives und aggressives Verhältnis zu seinen Feinden auszuzeichnen. Es geht nicht mehr darum, einen Status quo ante herbeizuführen, sondern um einen gezielten Angriff gegen einen übermächtigen, scheinbar alles beherrschenden Gegner, der grundsätzlich nur noch als Unterdrücker einer unterlegenen Gruppe wahrgenommen wird. Ein absoluter Feind muss beseitigt werden, um einer unterdrückten Gruppe das Leben zu ermöglichen. Der Terrorismus verlässt sich in seiner Strategie nicht auf die faktische Unterstützung durch ein unterdrücktes Volk, sondern möchte erst einen angeblich unterdrückten Dritten durch die Gewaltanschläge auf seine Lage aufmerksam machen und ihn dadurch politisch mobilisieren. Der fanatische Glaube einer extremistischen Gruppe an eine ausweglose Unterdrückungssituation genügt schon, um Terrorakte für legitim zu halten.
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Dass sich der Terrorismus als Gewalt der "Unterdrückten" legitimiert, deutet auf eine weitere wichtige Ursache für den gegenwärtigen Terrorismus hin, der ähnlich wie seine notwendige Bezugnahme auf eine mediale Verstärkung eine indirekte Abhängigkeit von den Grundlagen unserer modernen Welt erkennen lässt. Unsere moderne, auf Gleichheit und Menschenrechte zielende Welt erträgt immer weniger alle Formen politischer oder sozialer Diskriminierung. Im Wohlstand lebende Menschen reagieren zumindest mit schlechtem Gewissen, und Menschen im Elend erheben zunehmend mutiger ihre Stimme gegen Diskriminierungen. Das grundsätzliche Versprechen von Gleichheit und materiellem Wohlstand erzeugt eine gesellschaftliche Dynamik, die nicht mehr zu stoppen ist. Aus diesem Grund ist allen Stimmen recht zu geben, die auch angesichts der jüngsten Terroranschläge eine Überwindung der sozialen Ungleichheit in unserer Welt fordern. (3) Das Faktum, dass noch immer 1,3 Milliarden Menschen in absoluter Armut leben bedarf entwicklungs- und wirtschaftspolitischer Antworten.
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Aber: Es gibt keinen einlinigen Zusammenhang von materiellem Elend und terroristischer Aktivität. (4) Die Lage ist komplexer. Weder stammen die Terroristen selbst aus den ärmsten Regionen der Welt, noch gehören sie mehrheitlich armen Bevölkerungsschichten an. Der Terrorismus entspringt eher solchen Verhältnissen, in denen eine genügend große Nähe zum Leben im Westen schon kleine Differenzen im Lebensstandard in gefährliche Gewaltpotentiale verwandeln kann. Eine größere Gleichheit steigert gerade das Potential möglicher Frustrationen. In dieser Tatsache zeigt sich ein Grundproblem unserer modernen Welt, das sich weder rückgängig machen noch leicht lösen lässt. Wir leben in einer krisenhaften Welt, die zwar durch die zunehmende Auflösung hierarchischer und feudaler Lebensformen ein Mehr an Gleichheit bewirkt hat, gleichzeitig damit aber auch ein explosives Ansteigen von Rivalitäts- und Neidpotentialen mit sich bringt.(5) Auch hier spielen die Massenmedien eine entscheidende Rolle.
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Tagtäglich ist die Menschheit mit Bildern einer reichen Glitzerwelt konfrontiert, die schnell große Hoffnungen schüren, aber beim Ausbleiben ihrer Erfüllung zu blanker Aggression antreiben können. Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama prognostizierte vor zehn Jahren ein baldiges "Ende der Geschichte", das mit der weltweiten Ausbreitung von Demokratie und liberaler Marktwirtschaft einhergehen würde. (6) Eine demokratische und marktwirtschaftlich organisierte Welt garantiere allen Menschen jene gegenseitige Anerkennung, die von allen verlangt werde und daher den eigentlichen anthropologischen Antriebsmotor des historischen Fortschritts bilde. Der Terrorismus würde nach dieser optimistischen Prognose so wie alle anderen Formen der zwischenmenschlichen Gewalt langsam verschwinden und nur noch da und dort als Zeichen eines Rückzugsgefechtes wirksam werden.
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Dieser naive Blick in die Zukunft wurde sehr schnell von der Entwicklung widerlegt, weil er die grundsätzliche Problematik des menschlichen Begehrens nach Anerkennung übersieht. Der deutsche Essayist Hans Magnus Enzensberger hat dieses Problem viel tiefer als Fukuyama erfasst, als er vor einigen Jahren festhielt, dass unsere Welt der Gleichheit und Freiheit das Problem der Anerkennung nicht löst, sondern verschärft. (7) Das unersättliche Verlangen nach Anerkennung wird in einer Welt der Freiheit und Gleichheit noch mehr angestachelt. Es erzeugt deshalb ständig und in zunehmendem Maße Demütigungen und Frustrationen. Die Gewalt westlicher Amokläufer erklärt er dadurch genauso überzeugend wie den antiwestlichen Terror islamistischer Gruppen.(8)
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Das schwierigste Problem des heutigen Terrorismus ist aber sein Verhältnis zur Religion. Hier gelangen viele Experten an die Grenzen ihrer Kompetenz. Der Zusammenhang von Terror und Religion ist sowohl alt als auch von zunehmender Aktualität. (9) Bis zum 19. Jahrhundert bildete die Religion die einzige Rechtfertigung terroristischer Aktionen, und in unserer Gegenwart zeigt sich wiederum eine exponentielle Zunahme religiös-terroristischer Gruppen seit der iranischen Revolution im Jahre 1979. Doch selbst die säkularen Formen des Terrorismus, wie sie sich mit dem Anarchismus im 19. Jahrhundert herausbildeten, sind nicht wirklich frei von (pseudo-) religiösen Komponenten.(10) Der russische, in Bern begrabene Anarchist Bakunin lässt sich nur verstehen, wenn auch seine satanische Spiritualität mit bedacht wird. Ebenso wenig ist es Zufall, dass Netschajew im Gefolge Bakunins einen "Revolutionären Katechismus" schrieb, der den russischen Terrorismus im 19. Jahrhundert inspirierte. Dostojewskis beschreibt in den "Dämonen" präzise die pseudoreligiöse Seite des modernen Terrorismus. Gegenwärtige Terrorismusexperten, wie etwa Walter Laqueur, meinen, dass dieser Roman jene Formen des Terrorismus beschreibt, mit denen wir im 21. Jahrhundert konfrontiert sein werden. (11)
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Alle Formen des (pseudo-) religiösen Terrorismus sind besonders gefährlich und gewaltsam. Als Beispiel dafür genügt ein Blick auf die Terrorstatistik für das Jahr 1995. Während in diesem Jahr nur 25 Prozent aller international erfassten terroristischen Akte von religiös motivierten Gruppen begangen wurden, sind diese Gruppen für 58 Prozent der Opfer verantwortlich. (12) Die grundsätzliche Problematik des religiösen Terrorismus lässt sich anhand seines Verhältnisses zum "Dritten" erklären.(13) Zielt jeder Terrorismus mittels seiner propagandistisch eingesetzten Gewalt zumindest auf einen "angeblich interessierten Dritten", so reduziert sich die Bedeutung eines solchen realen Dritten beim religiösen Terrorismus erheblich, weil an die Stelle einer tatsächlich vorhandenen Gruppe von Menschen nun jenseitige Dritte, wie bereits verstorbene Menschen oder ein Blutopfer fordernder Gott, treten können. Auch die pseudoreligiöse Gewalt anarchistischer oder marxistischer Gruppen ist von einer ähnlichen Ausrichtung auf einen jenseitigen Dritten geprägt, wenn hier die Gewalt mit der Berufung auf kommende Generationen legitimiert wird. Wo nicht einmal mehr ein real existierender Dritter als Adressat terroristischer Gewalt vorhanden ist, drohen alle Grenzen zu verschwinden, die der Gewalt Einhalt gebieten könnten. Selbst die Auslöschung der ganzen Erde erscheint als gerechtfertigt, wenn nur noch die Zustimmung eines jenseitigen - von den eigenen Gewaltprojektionen bestimmten - Dritten gesucht wird.
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Wer undifferenziert an den Zusammenhang von Terrorismus und Religion herangeht, glaubt einfach der Religion als solcher alle Schuld in die Schuhe schieben zu können. An die Stelle der Religion solle die Aufklärung treten und damit könnte das Problem der terroristischen Gewalt rasch überwunden werden. Eine solche Position ist naiv, weil sie übersieht, dass der Mensch - auch wenn er an keinen Gott mehr glauben kann - von grundlegenden religiösen Sehnsüchten bestimmt bleibt; und sie ist falsch, weil sie einen viel zu groben Religionsbegriff verwendet, der die tiefere Problematik des religiös motivierten Terrorismus mehr verschleiert als aufklärt.
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Zuerst muss die ursprüngliche und kulturell tief verwurzelte Nähe von Religion und Gewalt verstanden werden. Der französisch-amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftler René Girard führt die archaischen Religionen auf einen kollektiven und unbewusst bleibenden Sündenbockmechanismus zurück, in dem Rivalitätskrisen in urtümlichen Gruppen dadurch überwunden wurden, dass ein blutrünstiger Mob ein Mitglied der Gruppe vertrieb oder tötete. (14) Weil dem getöteten Opfer sowohl die Verantwortung für die Krise als auch der Friede nach seiner Eliminierung zugeschrieben wurde, bewirkte der Sündenbockmechanismus die Entstehung urtümlicher Religionen, in deren Zentrum die vergöttlichten Sündenböcke mit ihrer gleichzeitigen Verkörperung von Fluch und Segen standen.
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Dieser archaische Zusammenhang von Religion und Gewalt darf aber nun nicht einlinig zur Erklärung des religiös motivierten Terrorismus von heute herangezogen werden. Es muss gerade umgekehrt festgehalten werden, dass die von rituellen Blutopfern geprägten alten heidnischen Religionen die zwischenmenschliche Gewalt so kanalisierten, dass Formen terroristischer Gewalt im modernen Sinne in diesen Kulturen gar nicht möglich gewesen wären. Der Preis für diesen heidnischen Frieden darf allerdings auch nicht verschwiegen werden. Die gegen die ursprünglichen Sündenböcke und die später an deren Stelle tretenden rituellen Opfer (Menschen und Tiere) angewandte Gewalt blieb von einem religiösen Schleier verhüllt. Die gewaltsame Kanalisierung der Gewalt erschien nur noch als natürlicher Bestandteil einer vom ewigen Werden und Vergehen geprägten Welt.
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Das Problem des Terrorismus ist erst durch den Einfluss der jüdisch-christlichen Offenbarung zu erklären. Der Terrorismus lässt sich als ein Parasit des biblischen Denkens verstehen. Eine solche These mag erstaunen, darf aber nicht vorschnell abgetan werden, nur weil sie unser eigenes Selbstverständnis in Frage stellen könnte. Während die archaischen Religionen sich mit dem Lynchmob identifizierten und das Schicksal der Sündenböcke verschleierten, brachte die jüdisch-christliche Offenbarung eine völlig neue Perspektive in die Welt. Auch sie erzählt immer wieder von kollektiven Zusammenrottungen gegen einzelne Menschen oder Gruppen, identifiziert sich aber nicht mit dem Mob, sondern mit dem verfolgtem Opfer. Die biblische Offenbarung verleiht den Sündenböcken erstmals eine wirkliche Stimme, mit der sie ihr gewaltsames Schicksal in die Welt schreien. Kennzeichnet den antiken Mythos eine relativ friedliche Harmonie, so bringt die Bibel ein bisher unbekanntes Maß an Gewalt zum Vorschein, weil es die heidnische Gewaltverschleierung aufdeckt.
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Die Klagepsalmen des Alten Testaments sind ein eindrückliches Beispiel für diese Perspektivenumkehr. (15) Viele dieser psalmen erzählen von einem verfolgten Opfer, das von einem mörderischen Kollektiv eingekreist ist und seine Verzweiflung in die Welt schreit: "Ich höre das Zischeln der Menge - Grauen ringsum. / Sie tun sich gegen mich zusammen; sie sinnen darauf, mir das Leben zu rauben." (psalm 31,14) In dieser Situation der totalen Bedrohung, rufen die verfolgten Opfer nach ihrem Gott und erhoffen Rache für die erlittene Gewalt: "Herr, lass mich nicht scheitern, denn ich rufe zu dir. Scheitern sollen die Frevler, verstummen und hinab fahren ins Reich der Toten." (psalm 31,18) In solchen Klagepsalmen erkennen wir erstmals jene auch für unsere moderne Welt typische Parteinahme für die Opfer der Verfolgung. Mit dieser biblischen Perspektivenumkehr sind alle heidnischen Religionen mit ihren Gewaltkanalisierungen unmöglich geworden.
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Doch die biblische Identifikation mit den Opfern deckt nicht nur das Schicksal der Sündenböcke auf, sie bringt auch neue Gefahren mit sich. Die biblische Parteinahme für die Sündenböcke hat jene Religionen ermöglicht, die Elias Canetti als "Klagereligionen" bezeichnete. (16) Mit diesem Begriff beschrieb er vor allem am Beispiel von Christentum und Islam, wie sich Menschen durch ihre Identifikation mit einem verfolgten Opfer nun selbst zur rächenden Gewalttat berufen fühlen. Als Klagende erscheint ihre Gewalt gerechtfertigt zu sein. Wir kennen Formen der Klagereligion aus der Zeit der Kreuzzüge, als sich Christen im Namen ihrer Solidarität mit dem Gekreuzigten an Juden und Muslimen rächten. (17) Im Islam finden sich bei den Schiiten die deutlichsten Beispiele für die Klagereligion.
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Mit diesem Begriff beschreibt Canetti indirekt aber auch den tieferen Kern des modernen Terrorismus. Terroristen legitimieren sich als Verteidiger der Schwachen und Verfolgten. Im Namen der Unterdrückten rufen sie zur Zerstörung und Gewalt auf. Für islamische, jüdische und christliche Terroristen genauso wie für die Aum-Sekte, die 1995 mit einem Nervengasanschlag in Tokios Metro bekannt wurde, ist es bezeichnend, dass sie sich alle als eingekreiste Verfolgte fühlen und ihre Terrorakte als Verteidigung gegen eine lebensbedrohende Übermacht verstehen. (18) Dies zeigt sich auch in den Interviews, in denen Usama bin Ladin den islamistischen Terrorismus rechtfertigte. Er sieht sich und seine Verbündeten als Verteidiger der Opfer der ganzen Welt. Neben unterdrückten Muslimen in Saudiarabien und verfolgten Palästinensern nennt er die 600.000 Kinder, die im Irak aufgrund der Sanktionen getötet worden seien, die - aufgrund angeblich fehlender militärischer Unterstützung - getöteten Muslime in Bosnien-Herzegowina sowie die japanischen Opfer der amerikanischen Atombombenabwürfe. Ganz im Sinne einer Klagereligion weist Usama bin Ladin Vorwürfe des Terrorismus von sich, um umgekehrt die Welt des Islams als "ein Opfer des internationalen Terrorismus" darzustellen.
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Wie tief das Problem der Klagereligion aber tatsächlich reicht, zeigt sich, wenn wir auch die Versuchung der westlichen Welt ansprechen, die uns seit dem 11. September 2001 begleitet. Die USA und der Westen sehen sich jetzt selbst zu recht als Opfer und das provoziert wiederum ein tiefes Verlangen nach Vergeltung. Doch dieser Versuchung darf nicht nachgegeben werden, weil sie nur noch mehr Muslime dazu drängen würde, auf die Waffe der Klagereligion zurückzugreifen. Ebenso hat sich die Situation in Palästina in diese Richtung hin verschärft. Israelis und Palästinenser reklamieren immer lauter ihren Opferstatus, um damit wieder neue Vergeltungsschläge zu legitimieren. (19)
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Das Problem der Klagereligion legt die Antwort nahe, dass der Terrorismus letztlich durch die jüdisch-christliche Offenbarung in die Welt gekommen sei. Canetti würde dem zwar widersprechen, indem er auch viele archaischen Religionen als Klagereligionen deutet. (20) Aber da irrt er. (21) Die Klagereligion ist tatsächlich eine Erscheinung, die mit der Bibel in die Welt gekommen ist. Alle drei abrahamitischen Religionen - Judentum, Christentum und der Islam - kennen diese Versuchung. Canetti irrt sich ausserdem, wenn er keinen biblischen Ausweg aus der Sackgasse der Klagereligion kennt. Die Klagereligion ist nicht wirklich identisch mit dem Zentrum des biblischen Denkens, sondern seine größte Versuchung und Perversion. Schon das Beispiel der Klagepsalmen weist eine deutliche Differenz zur reinen Klagereligion und noch mehr zum modernen Terrorismus auf. Die in diesen psalmen beschriebene Gewalt ist zuerst und vor allem die Gewalt des Mobs gegen das Opfer. Das Handeln des Sündenbocks beschränkt sich auf gewalttätige Worte, mit denen er nach der Rache Gottes schreit. Der Kläger in den psalmen hofft auf das gewaltsame Eingreifen Gottes und greift nicht selbst zur Waffe. Max Weber sprach im Zusammenhang mit dem antiken Judentum zu recht vom "Gottanheimstellen der Rache". (22) Der religiöse Terrorismus von heute zeigt sich im Gegensatz dazu als eine moderne Erscheinung, weil er mit seinem gewalttätigen Aktivismus verrät, dass er trotz aller religiösen Beteuerungen nicht wirklich an ein Handeln Gottes glaubt, sondern ähnlich wie jeder säkulare Terrorismus die Geschichte selbst in die Hände zu nehmen versucht.
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Um aber zum Kern des biblischen Denkens vorzudringen, muss das gewaltgeprägte Gottesbild der Klagepsalmen selbst hinterfragt werden. Dieses Gottesbild ist nicht das letzte Wort über den biblischen Gott. Die biblische Offenbarung drängt vielmehr auf eine radikale Absage an alle gewaltsamen Gottesbilder. Wesentlich vorbereitet im Alten Testament vollendet sich diese Linie des biblischen Denkens im Neuen Testament. In Jesus Christus verdichtet sich die biblische Parteinahme für alle unschuldig Verfolgten. Aber diese Solidarisierung mit den Unterdrückten legitimiert keine Rache oder Vergeltung. Jesu Vater verkörpert die Feindesliebe und die Absage an die Vergeltung. Darum vergab Jesus seinen Feinden, als er am Kreuz hing (Lk 23,34: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun") und bot auch seinen Jüngern, die ihn verlassen oder verraten hatten, den Frieden an, als er sie nach seiner Auferstehung wieder traf (Joh 20,19: "Friede sei mit euch!"). Die Verfolgermentalität der Klagereligion widerspricht dem christlichen Geist.
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Nirgendwo zeigt sich das schärfer als in der Apokalypse des Johannes, die alle gewalttätigen Themen des apokalyptischen Denkens im alten Orient aufgreift, um ihnen eine inhaltliche Wende zu geben, die nicht die vergeltende Gewalt verherrlicht, sondern die Unterdrückten auch durch ihr Martyrium hindurch zum Sieg führt, weil sie auf einen Gott vertrauen können, der nicht gewalttätig ist.(23) In der jüdischen Apokalyptik verdichtet sich die in den Klagepsalmen angesprochene Problematik. Die Schwachen und Unterdrückten, die keinen Ausweg in der Welt mehr sehen, flüchten sich in die Hoffnung auf einen gewalttätigen Gott, der die Welt zugrunde richten wird, um sie für die Gerechten neu zu erschaffen. Die Apokalypse des Neuen Testaments nimmt zwar alle diese Themen auf, kehrt aber ihre inhaltliche Ausrichtung völlig um, indem sie nicht die Gewalt legitimiert, sondern zu Geduld und Ausdauer auffordert, wofür ein gewaltfreier Gott die nötige Kraft verleiht: "Wer zur Gefangenschaft bestimmt ist, geht in die Gefangenschaft. Wer mit dem Schwert getötet werden soll, wird mit dem Schwert getötet. Hier muss sich die Standhaftigkeit und die Glaubenstreue der Heiligen bewähren." (Offb 13,10) Es ist dieser biblische Geist in seiner ganzen Entfaltung, der heute nötiger geworden ist als je zuvor.
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Wir leben in einer Welt, in der sich alle Menschen durch den Einfluss der biblischen Botschaft immer stärker dazu ermächtigt fühlen, jeder Form von Unterdrückung und Diskriminierung entgegenzutreten. Doch wo es nur bei einer Jagd auf den Opferstatus bleibt, um dadurch die eigenen Ansprüche und Aggressionen besser legitimieren zu können, droht uns die eigenhändig herbeigeführte Zerstörung der Welt. Wo das biblische Denken auf die verkürzte Form der Klagereligion beschränkt bleibt, droht uns ein bedrohlicher Krieg aller gegen alle. Das bezieht sich nicht nur auf gegenwärtige Formen des religiösen Terrorismus, der in dieser Beziehung die größte Gefahr für unsere Welt bedeutet, sondern zeigt sich in vielfacher Form auch überall in unserer westlichen Welt.
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Wir alle neigen dazu, jede leiseste Zurücksetzung aufzudecken, um lautstark Entschädigungen einklagen zu können. Mit dieser scheinbar harmlosen Variante einer Klagereligion nähren wir aber jenen Boden, auf dem der Terrorismus besonders gut gedeiht. Unsere erste Aufgabe darf es deshalb nicht sein, andere Kulturen über ihre klagereligiösen Versuchungen zu belehren, sondern selbst ein Beispiel dafür zu geben, wie die Ausrichtung auf die ganze biblische Botschaft uns nicht nur dazu befähigt, Unterdrückungen und Diskriminierungen aufzudecken, sondern uns auch den Weg der Gewaltfreiheit lehrt, damit dieser für das Schicksal der Schwachen sensibilisierte neue Blick auf die Welt nicht zu einem apokalyptischen Horrorszenario führt.
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- Yoder, John Howard: The Royal Priesthood: Essays Ecclesiological and Ecumenical. Edited with an Introduction by Michael G. Cartwright. Grand Rapids: William B. Eerdmans Publishing Company, 1994.
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Anmerkungen:
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1. Vgl. H. Münkler, Gewalt und Ordnung 142-175; ders., Asymmetrische Gewalt 10-12.
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2. Vgl. P. Waldmann, Terrorismus 126-132.
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3. Vgl. E.-O. Czempiel, Globalisierung.
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4. Vgl. D. Pipes, God; ders., Imame.
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5. Vgl. R. Girard, Celui 22-25; ders., Ce qui; W. Palaver, Gleichheit.
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6. F. Fukuyama, Ende.
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7. H. M. Enzensberger, Aussichten 47f.
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8. Vgl. H. M. Enzensberger, Wiederkehr.
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9. Vgl. B. Hoffman, Terrorismus 112-121; M. Juergensmeyer, Terror.
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10. Vgl. E. Voegelin, History VIII, 251-302.
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11. W. Laqueur, Bedrohung 132f.
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12. Vgl. B. Hoffman, Terrorismus 121.
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13. Vgl. H. Münkler, Asymmetrische Gewalt 11f.
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14. Vgl. R. Girard, Heilige.
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15. Vgl. R. Schwager, Sündenbock 100-117; R. Girard, Hiob 16f; ders., Violence in Biblical Narrative; ders., Satan 115-117; ders., Celui 89f, 113f.
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16. E. Canetti, Masse 171-194.
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17. Vgl. A. W. Bartlett, Cross Purposes 109.
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18. Vgl. B. Hoffman, Terrorismus 124-169; M. Juergensmeyer, Terror 12.
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19. Vgl. H. M. Broder, Irren 242f, 270.
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20. E. Canetti, Masse 168f.
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21. Vgl. M. Weber, Religionssoziologie III, 7, 158f, 250, 390f, 396; A. E. Jensen, Mythos 253; T. Scheffler, Königsmord 188.
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22. M. Weber, Religionssoziologie III, 277.
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23. Vgl. R. Schwager, Sündenbock 222-225; J. H. Yoder, Priesthood 152; J. Alison, Abel 124-127.
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