Innsbrucker Zeitungsarchiv (IZA) 1928 veröffentlichte Walter Benjamin mit seiner „Technik des Kritikers in dreizehn Thesen“ eine prägnante Poetik der Literaturkritik. 2011 schloss die Kritikerin Daniela Strigl ihre Überschreibung dieser Thesen mit einer simplen Feststellung ab: „Der Kritiker kann auch eine Kritikerin sein.“ Dass es im 21. Jahrhundert noch immer notwendig ist, dies zu betonen, zielt in den Kern eines Problemfeldes, das bis heute nicht an Brisanz verloren hat: Literaturkritik wurde und wird noch immer dominant als „Männlichkeitsdiskurs“ geführt. Das Innsbrucker Zeitungsarchiv (IZA) am Institut für Germanistik nahm diesen Befund zum Anlass, in einer zweitägigen Konferenz mit internationalen Expert:innen Leben und Werk deutschsprachiger Literaturkritikerinnen in den Fokus zu rücken.
Der erste Konferenztag begann mit einem thematischen Vortrag von Johannes Spengler (Humboldt-Universität Berlin), der unter dem Titel „Weiblich, jung, lesesüchtig – Wiederkehr eines antiemanzipatorischen Klassikers“ den Bogen von der ‚Lesesesucht‘-Debatte des 18. Jahrhunderts zu den social-Media-Phänomenen der Gegenwart schlug und historische Geschlechter-Klischees mit aktuellen Inszenierungsstrategien von Bookstagramerinnen konfrontierte. Die weiteren Vorträge nahmen jeweils eine einzelne Kritikerin in den Blick: Veronika Schuchter (IZA) sprach über die österreichisch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger, deren besondere Rolle in der Literaturkritik des 20. und 21. Jahrhunderts betont wurde. Tim Preuß (Universität Münster) würdigte mit Annemarie Auer eine Literaturkritikerin in der DDR, während Marc Reichwein (Feuilletonredakteur bei „Die literarische Welt“) die österreichische Autorin Hilde Spiel in ihrer Rolle als kritische Kulturkorrespondentin porträtierte. Charlotte Coch (Universität Köln) sprach über die Position Ilse Schneider-Lengyels innerhalb der „Gruppe 47“. Einen besonderen Innsbruck-Bezug weist die 1924 von ihrem Ehemann ermordete Autorin Marie Holzer auf, deren Kritiken von Anna-Dorothea Ludewig (Universität Potsdam) beleuchtet wurden. Am Abend wurde das Konferenz-Programm durch eine Veranstaltung im Literaturhaus am Inn ergänzt, die sich dem Thema „Literaturkritik zwischen TikTok und ‚elitärem Getue‘“ widmete: Moderiert von Veronika Schuchter, debattierte die Influencerin und Literaturbloggerin Anne Sauer (Hamburg) mit dem Journalisten Marc Reichwein, der kurzfristig für Brigitte Schwens-Harrant (Feuilleton-Chefin der Wochenzeitung „Die Furche“) eingesprungen war, über aktuelle Tendenzen im literaturkritischen Feld.
Den zweiten Konferenztag eröffnete Veronika Jičinská (Universität Usti nad Labem) mit einem Vortrag über die Literaturkritikerin Hedda Sauer und ihre Rezensionen in der Prager Zeitschrift „Deutsche Arbeit“. Danach sprach Marius Reisener (Universität Bonn) über Lou Andreas Salomé und die Bedingungen und Möglichkeiten weiblichen Schreibens um 1900. Michael Pilz (IZA) beleuchtete am Beispiel der fiktiven Rezensentin Aurora Abendroth aus Ernst Raupachs Lustspiel „Kritik und Antikritik“ von 1825 die exemplarische Darstellung einer Kritikerin in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Die beiden abschließenden Vorträge führten schließlich in die Zeit der Romantik und der Aufklärung zurück: Daniela Henke (Universität Gießen) widmete sich der Literaturkritik Rahel Levin Varnhagens, die diese vor allem in ihren Briefen artikulierte, während Mareike Sophie Drünkler (Universität Oxford) die „inklusive Literaturkritik im Werk der ersten Journalistin“ Charlotte von Hezel am Beispiel ihres „Wochenblatts für’s schöne Geschlecht“ aus dem Jahr 1779 würdigte.
Die Ergebnisse der ertragreichen Konferenz werden in einem Tagungsband gesammelt werden, der 2024 in der „Germanistischen Reihe“ des Instituts für Germanistik in der Innsbruck University Press erscheint. Gefördert wurde die Veranstaltung vom Vizerektorat für Forschung, der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät, dem Forschungsschwerpunkt „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“ und dem International Relations Office der Universität Innsbruck, denen der herzliche Dank der Organisator:innen für die gewährte Unterstützung gilt.