Ja darf denn jetzt jeder?
Ruedi Widmer sammelt Texte zur Kulturpublizistik. Von Veronika Schuchter
Ruedi Widmer [Hrsg.] Laienherrschaft. 18 Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien. Zürich: Diaphanes 2014. 320 Seiten. ISBN 9783037344521. Preis [A]: 24,95 €
Die Literaturkritik ist im Umbruch. Eigentlich war sie das ja schon immer und muss sie auch sein, doch so massiv wie in Zeiten von Digitalisierung und Social Media wurden die Auswirkungen nicht sichtbar. Heute kann jeder mehr oder weniger qualifiziert publizieren, die Grenzen zwischen Professionellen und Laien weichen zunehmend auf, das nennt sich Demokratisierung der Kritik. Da muss man sich natürlich fragen, ob man nicht selbst überflüssig geworden ist als Kritiker oder Kritikerin. Eine klare Antwort darauf liefert auch der von Ruedi Widmer bei Diaphanes herausgegebene Band nicht. Die Kritik ist indes auch nur ein Bereich, dem sich Laienherrschaft widmet. 18 Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien werden darin geboten, gemeinsamer Angelpunkt der Beiträge ist die Figur des Kulturpublizisten.
Nun äußern sich Medien ja nicht nur in kritischer Absicht zu den Künsten, weshalb der Rückgriff auf den Überbegriff des Kulturpublizisten Sinn macht, auch wenn er etwas vage ist – was sich wiederum als Auswirkung der durch technische Neuerungen forcierten Demokratisierung identifizieren lässt. Nicht ganz so klar ist, wie sich das alles unter der titelgebenden Laienherrschaft subsumieren lässt. Widmer spricht in seiner Einleitung „vom Zeitalter der Laienherrschaft in den Künsten […]: einem Regime, das nicht zuletzt auf dem Kontrollverlust etablierter Autoritäten und einer Mobilisierung von Medien und Menschen beruht; in welchem eine quantitativ gemessene, durch Medien stark mitgesteuerte Nachfrage strukturbildende Macht hat; in welchem aber auch qualitativ alles möglich ist“ (S. 10). Ob der Begriff bewusst provokant gewählt wurde, sei dahingestellt, unproblematisch ist er nicht. Er wirkt kulturpessimistisch und klingt, böse gesagt, ein wenig nach Herrschaft des Pöbels. Und überhaupt: Wie genau definiert sich diese ‚Laienherrschaft‘? Wer herrscht hier über wen? Haben die Laien (wer immer das genau sein soll, denn tatsächlich geht es in dem Buch ja um den Kulturpublizisten) die Fachleute von Thron gestoßen und herrschen jetzt über… ja worüber denn? Die Kunst? Die Medien? Der einst unterdrückte Konsument über die Gate-Keeper und professionellen Meinungsmacher? Es herrscht Erklärungsbedarf.
Die Liste der BeiträgerInnen kann sich jedenfalls sehen lassen; Laien herrschen hier im Übrigen nicht. Mit Nora Gomringer, Elisabeth Bronfen, Hans Ulrich Reck, Frank Schirrmacher, Hans Ulrich Gumbrecht und Jörg Schöller, um nur einige zu nennen, sind Persönlichkeiten aus allen Bereichen der Künste und des Sprechens über selbige versammelt. Ebenso bunt wie die Liste der BeiträgerInnen sind die Herangehensweisen und Textgattungen. Neben dem klassischen wissenschaftlichen Aufsatz gibt es Interviews, Essays und an Max Frischs berühmtes Vorbild angelegte Fragebögen, gerichtet jeweils an den zeitgenössischen Künstler, den zeitgenössischen Kulturkonsumenten und den zeitgenössischen Kulturpublizisten, womit die Trias benannt ist, die sich angeblich in Auflösung befindet. Illustriert wurde der Band von Yves Netzhammer. Die meist recht kurzen Beiträge, mal sehr persönlich, mal wissenschaftlich distanziert, machen die Lektüre kurzweilig und durchwegs unterhaltsam. Nicht nur die Fragebögen regen zur Reflexion an. Konsequenterweise ist Widmer nicht auf einfache Antworten aus und so lässt sich auch der Titel ironisch lesen. Ein bisschen schade ist es aber doch, dass die „Laien“ dann so gar nicht zu Wort kommen.
Tatsächlich viel Neues oder Überraschendes wird indes nicht geliefert. Frank Schirrmacher beklagt den Zustand der Kritik, von der er sich ein „leidenschaftliches Geschmacksurteil“ (S. 147) erwarte, was aber immer weniger zutreffe. Der klassische Verriss ist nur noch selten anzutreffen. In dieselbe Kerbe schlägt auch der Beitrag von Mercedes Bunz, ihrerseits Kulturwissenschaftlerin und Journalistin, die in ihrem Beitrag nach dem Einfluss der Digitalisierung auf das Wesen der Kritik fragt. Nach einem interessanten Abriss der Beschäftigung mit der Wechselwirkung zwischen Technik und Medien widmet sich Bunz der Kulturpublizistik im Zeitalter des Internets. Wie Schirrmacher konstatiert auch sie, dass die scharfe Kritik einer wohlwollenden Milde gewichen sei:
„Digitalisierung hat die Kritik grundlegend verändert. Ihr Ton ist freundlich und weich geworden, am Beispiel der Kulturpublizistik ist das deutlich zu sehen. Es scheint, dass der Typus des ‚bissigen Kritikers‘, ähnlich wie das analoge Medium ‚Kassettenrecorder‘, etwas aus der Mode gekommen ist“ (S. 265).
Sie schlussfolgert, dass der technisch ermöglichte und produzierte Informationsüberfluss dazu verleite, das Positive aus dem Strom herauszufiltern und das Schlechte in Vergessenheit geraten zu lassen. Schade ist, dass hier nicht zwischen unterschiedlichen Medien der Wertung unterschieden wird. Bezieht sie sich hier auf Kritik in Online-Medien, auf den Print-Bereich oder auf beides? Dem online dahinplätschernden, uferlosen Informations-Overload steht nämlich ein Platzmangel im Print entgegen, der zu anderen strategischen Entscheidungen zwingt, als das im Internet der Fall ist. Mit genau dieser Feststellung eröffnet wiederum Corina Caduff ihren Beitrag über „Kränkung und Anerkennung im digitalen Medienzeitalter am Beispiel der Literatur“. Laut Caduff „verschwinden traditionelle Diskursmuster der Kritik aus den Feuilletons“ (S. 192), die neue Währung heißt hingegen Aufmerksamkeit. Numerische Bewertungssysteme laufen der inhaltlichen Bewertung den Rang ab.
Alle Beiträge dienen auch der Selbstreflexion der BeiträgerInnen, so Widmer in seiner Einleitung. Das merkt man an Stefan Zweifels sehr persönlich gehaltenem Beitrag „Kusch, Kritiker Kusch!“, indem er sich an Peter von Matts Idealvorstellungen von der kritischen Auseinandersetzung mit Literatur abarbeitet und daran scheitert:
„Und da merkte ich, dass ich an der Spannung dieser Dialektik zerbreche, dass ich nicht die Geduld des Auslegens besitze, um wie von Matt einen Text so zu enträtseln, dass das Rätsel nicht einfach ‚gelöst‘ ist, sondern sich zu einem neuen Rätsel formiert, wie es uns seine großen Studien immer wieder vorführen. Ich rette mich dann in romantisches Raunen, weil ich nicht die Kunst beherrsche, mich vom Text zu distanzieren, sondern immer zu Identifikation neige" (S. 185).
Der Schweizer Ruedi Widmer ist prädestiniert für die Herausgabe dieses Bandes. Möchte man ein Fazit ziehen, so bietet es sich an, dieses an seiner Person festzumachen. Als Grafiker und Cartoonist (unter anderem für den Tagesanzeiger, die WOZ und den Landboten), Kolumnist und Satiriker (etwa für die Zeitschrift Titanic) und eben Herausgeber von Büchern wie dem an dieser Stelle besprochenen, bespielt er sowohl die etablierten, konventionellen als auch neuen Medienformate. Er ist Künstler, Konsument und Kulturpublizist in einem, was heute indes nichts Ungewöhnliches mehr ist (und wohl in Wahrheit auch nie war, da muss man nicht erst an Namen wie Lessing, Goethe oder Schiller denken). So vielseitig wie Widmer ist auch die Kulturpublizistik. So wenig wie es den Berufskritiker noch gibt, kann man es sich leisten, sich nur auf einen Kanal zu beschränken. Das stellt natürlich eine Verschiebung von Machtverhältnissen dar, die Vielfalt der Beiträge in diesem Band zeigt indes: So schlimm ist das nicht. Ein laienhafter Zugang zu den Künsten ersetzt den qualifizierten Kritiker nicht. Doch wenn das Establishment aufhört, sich vor den schreibwilligen Laien zu fürchten, kann man von diesem unverbrauchten Blick auch profitieren. Obwohl das Konzept des Bandes etwas diffus ist, erweist sich Widmer als emsiger und durchwegs origineller Sammler und liefert ein Buch, das man gerne öfter zur Hand nimmt.
Veronika Schuchter, 01.02.2016
Veronika.Schuchter@uibk.ac.at