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Elternschaft und Machttabu – Universität Innsbruck
Zwei Personen hinter einem Rednerpult, hinter ihnen eine große Leinwand mit dem Namen der Tagung.

Begrüßung durch Maria Wolf und Paul Scheibelhofer.

Eltern­schaft und Macht­tabu

Machtfragen werden im Zusammenhang mit Erziehung und Bildung gerne ausgeblendet. Die Tagung „Elternschaft und Machttabu“ rückte diese Fragen ins Zentrum der Aufmerksamkeit und beleuchtete sie aus unterschiedlichen fachlichen Blickwinkeln.

Die Tagung „Elternschaft und Machttabu in Wissenschaft, Institutionen und Privatem“ wurde vom Forschungsbereich Kritische Geschlechterforschung des Instituts für Erziehungswissenschaft ausgerichtet und fand am 23. und 24. Mai 2024 an der Universität Innsbruck statt. Sie thematisierte und problematisierte in sechs wissenschaftlichen Fachvorträgen tabuisierte Machtfragen im Spannungsfeld von öffentlicher und privater Erziehung und Bildung. Ein besonderes Interesse galt dabei der geschlechterstereotypisierenden Anrufung, Adressierung und Bewertung von Eltern in Forschung und Theoriebildung sowie durch pädagogische Institutionen und Fachkräfte. Ziel der Tagung war es, Ursachen und Folgen machtvoller theoretischer wie praktischer Zugriffe auf Elternschaft zu diskutieren und zur Selbstreflexion der Erziehungswissenschaft und ihren Professionen beizutragen. Besonders erfreulich war die Tatsache, dass neben akademischem Fachpublikum auch zahlreiche Praktiker:innen aus pädagogischen Berufen an der Tagung teilnahmen und ihre Expertise in die Diskussionen, die auf die Fachvorträge folgten, einbrachten.

Désirée Waterstradt, interdisziplinäre Elternschaftsforscherin und Fellow der Norbert Elias Foundation sowie Mitglied der DGS-Sektion Soziologie der Kindheit, die in ihren Forschungsarbeiten auf Ursachen und Folgen des Wandels von Elternschaft fokussiert, hat in ihrem Vortrag Elternschaft und Machttabu unter Bezugnahme auf neuere anthropologische und evolutionspsychologische Erkenntnisse zuerst kurz erörtert, dass sich in der Geschichte der Menschheit die Nachwuchsfürsorge in kooperativen Netzwerken (Cooperative Breeding) durchgesetzt hat und das Überleben der Gattung Homo von der Kooperationsfähigkeit aller abhing. Waterstradt argumentiert, dass sich in diesem Kontext die hyperkooperativ-egalitären Psyche der Menschen herausgebildet (Psychogenese) hat, welche durch die fortschreitenden Veränderungen der Gesellschaft (Soziogenese) und den sich um patriarchale Zentralpositionen herausbildenden hierarchischen Gesellschaftsstrukturen zunehmend in Konflikt gerät. Dieser strukturelle Patriarchalismus wird im Laufe der Moderne zurückgedrängt, weil die neu entstehenden Nationalstaaten ihr Interesse am praktischen Nutzen von Kindern geltend machen. Damit einher geht eine Konkurrenz um das Kind, welche im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts über die neu entstehenden und stetig wachsenden Anspruchsgruppen auf das Kindeswohl in den Wissenschaften der Kindheit und ihren Professionen ausgetragen wird. Diese wiederum bringt jene westliche Kindzentrierung hervor, die heute zum Maßstab für die Bewertung von Elternschaft geworden ist.

Heidi Keller, eine international renommierte wissenschaftliche Expertin im Feld der Entwicklungspsychologie, Professorin i.R. der Universität Osnabrück und bis Oktober 2023  Direktorin von Nevet an der School of social Work der Hebrew University in Jerusalem, hat in ihrem Vortrag Von Macht und Mythen am Beispiel der Bindungstheorie die Machtansprüche von Grand Theories und deren Folgewirkungen problematisiert. Sie hat mit ihren kulturvergleichenden Forschungsarbeiten maßgeblich beigetragen zur Rekonstruktion kulturell unterschiedlicher Entwicklungspfade von Kindern in den ersten sechs Lebensjahren und zu Erkenntnissen, wie frühe Beziehungsnetzwerke kulturspezifisch entstehen und funktionieren. Sie merkt an, dass heute wissenschaftliche Theorien, welche für sich beanspruchen, allumfassende Erklärungen zur Verfügung zu stellen, insgesamt freilich zurückgegangen sind. Die Bindungstheorie aber, welche auf die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung in den ersten Lebensjahren fokussiert und die Ursachen des Verhaltens von Kindern kausal den Eltern zuschreibt sowie Eltern bewertet, sei eine jener Theorien, welche sich weiterhin als Großtheorie positioniere. Dementsprechend würden stets weitere neue Aspekte des Lebenslaufes mit den sogenannten „Bindungsqualitäten“ der frühen Eltern-Kind-Bindung in einen Zusammenhang gebracht. Keller kritisiert die im Feld bindungstheoretischer Forschung im Prozess der wissenschaftlichen Wissensproduktion eingesetzte epistemic violence, die in einer wissensgenerierenden Ignorierung all jener Untersuchungen resultiert, die nicht das selbe denken. Der so erzeugte Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Bindungstheorie sei falsch und trage dazu bei, dass eine kleine Gruppe der Weltbevölkerung, die westliche Mittelschicht, die empirisch betrachtet einen sogenannten „Ausreißer“ darstelle, zur normativen Grundlage für die Erklärung des „richtigen“ Umgangs mit Kindern der Weltbevölkerung gemacht werde. Doch die typischen Versuchspersonen in der psychologischen Forschung seien western, educated, industrialized, rich und democratic, kurz „weird“. Keller wirft vor diesem Hintergrund die Frage auf, was unter kindzentriert eigentlich verstanden wird und erörtert unterschiedliche Kulturen der Kindzentriertheit, der Beziehungen und des Kontaktes zwischen Kindern sowie zwischen Kindern und Eltern/Erwachsenen. Diese zeigen sich nicht nur weltweit, sondern lassen sich auch in der westlichen Welt selbst ausfindig machen, zumal auch hier die Lebenslagen, Lebenskontexte und Familienformen sehr verschieden sind. Sie argumentiert, dass angesichts der soziokulturellen Vielfalt der Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht haltbar ist, auf Basis dessen die Bindungstheorie ihr Modell der „bindungs- und bedürfnisorientierten kindzentrierten Erziehung“ westlicher Mittelschichtkulturen als Norm verbreitet und demgegenüber alle anderen Modelle abwertet. Keller gibt zu Bedenken, dass Erziehung damit zur Ersatzideologie gemacht werde, welche alle Eltern, in unserer westlichen Kultur in der Regel aber die Mütter, enorm unter Druck setzt. Daraus resultierende unerwünschte Konsequenzen zeigen sich heute auch in unterschiedlichen pädagogischen Handlungsfeldern wie etwa der Sozialpädagogik und der Frühpädagogik, in der Familienberatung und bei Sorgerechtsfragen. Die in diesen Zusammenhängen den professionellen Entscheidungen zugrunde gelegte Beurteilung und Bewertung der Bindungsqualität wird heute selbst aus Perspektive der aktuelleren Bindungsforschung in Frage gestellt. Und immer mehr bindungstheoretisch Forschende, so Keller, distanzieren sich von diesen Entwicklungen.

Lars Alberth, Professor für Theorien und Methoden der Kindheitsforschung am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik an der Leuphana Universität Lüneburg, der u.a. zu Gewalt und generationale Ordnung sowie zu Profession, Organisation und Wissen im Kinderschutz aus symbolisch-interaktionistischer Perspektive forscht, erörtert in seinem Vortrag Das Private im Fokus der Sozialarbeit zuerst, inwieweit die generationale Ordnung das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit strukturiert und dabei Rechte, Pflichten wie Ressourcen den Älteren und Jüngeren sowie Eltern und Kindern ungleich zuteilt. Vor diesem Hintergrund zeigt er auf, weshalb, wie und wozu die Institutionalisierung der modernen Kindheit zum Maßstab der Bewertung von Elternschaft wird. Dies wiederum veranschaulicht er anhand empirischer Untersuchungen zur Sozialarbeit im Kinderschutz und arbeitet dabei heraus, dass bei der Beurteilung von Elternschaft ein Wechsel von der generationalen Achse zur Geschlechterachse stattfindet und meist auf der Präsentationsebene der Hausfrauenarbeit argumentiert wird. Es wir also von der Geschlechterperformanz der Mütter hinsichtlich ihrer Haushaltführung auf das Kindeswohl geschlossen. Die Handlungssicherheit pädagogischer Fachkräfte resultiert damit meist aus einer Geschlechter-Bias, der mit einem Klassen-Bias gekoppelt ist. Letzterer steht in Zusammenhang bzw. steht für die Problematisierung der Lebensformen der Arbeiterklasse seit dem 19. Jahrhundert. Die Handlungssicherheit, die aus dieser Geschlechterbias resultiert, gilt es in der Ausbildung zu durchbrechen, auch um die „institutionelle Taubheit“ gegenüber den Hinweisen auf Gewalterfahrungen zu reduzieren, welche Kinder durchaus geben. In der Forschung mangelt es bislang an der Adressatinnen- und Nutzerinnenforschung die untersucht, wie sich Mütter, Väter oder Eltern von pädagogischen Fachkräften wahrgenommen sehen.

Kerstin Jergus, Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg, forscht zu Theorie und Geschichte der Pädagogik in Verbindung mit einer kulturwissenschaftlichen Analytik der Bildungsforschung, u.a. zu Elternschaft, Kindheit und pädagogische Beziehungen. Sie skizziert in ihrem Vortrag Zur Adressierung von Eltern im Namen der Bildung ihrer Kinder anfangs den soziohistorischen Kontext, in dem Elternschaft in unserer westlichen Gesellschaft und Kultur in den Fokus bildungsbezogener Governance gerät. Auch in diesem Fall ist es die generationale Ordnung, in welche Elternschaft und Kindheit als Teil der bürgerlichen Sozialbeziehungen der westeuropäischen Moderne eingefügt werden. Und weil die bürgerliche Gesellschaft Kinder braucht, welche durch Erziehung und Bildung zu autonomem und vertragsfähigem Individuellem Handeln befähigt werden müssen, wird Kindheit auf Basis der Freistellung der Kinder von der Lohnarbeit zum öffentlichen Gut. Das staatlich reglementierte Bildungswesen wird dazu als komplementäre Ergänzung der staatlich reglementierten Familie institutionalisiert und Elternschaft auf Basis der Freistellung der Mütter für unbezahlte Haus-, Familien- und Erziehungsarbeit zu einer tragenden Säule des modernen Wohlfahrtsstaates. Im zwanzigsten Jahrhundert erfahren beide Institutionen – Bildung und Familie – einen maßgeblichen Wandel. Auf Seiten der Elternschaft zeigt sich eine zunehmende Pluralisierung und eine idealisierende Romantisierung von Elternschaft, welche mit unterschiedlichen Projektionen aufgeladen wird. Auf Seiten der Bildung zeigen sich ein Delegitimierungsprozess pädagogischer Autorität, die Reproduktion sozialer Ungleichheit in und durch das Bildungswesen und die Aufwertung des lebenslangen Lernens. Das wiederum führt dazu, das vor- und nachschulische Bildungssettings ausgeweitet werden, dass Normen wie Standards öffentlicher Bildung den Anspruch an pädagogische Beziehungen überschreiten, dass die Frühpädagogik heute von einer Betreuungskindheit  zu einer Bildungskindheit übergeht und die Wissenschaften vom Kind die kindliche Handlungsfähigkeit zum Maßstab für all jene macht, wie Kindheit professionell und familiär gestalten. Eltern werden im Kontext dieses Wandels nun kaum mehr bezüglich Liebe, Wärme, Betreuung und Versorgung adressiert, sondern hinsichtlich ihrer Anstrengungen, für eine gelingende Bildungsbiographie ihres Kindes zu fördern. Die daraus hervorgehende primäre Leistungsorientierung führt nicht nur zu konkurrierenden Elternschaftspraktiken, sie verschärft auch die soziale Ungleichheit in und durch Bildung, weil ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen der Eltern heute noch entscheidender für die Zuweisung individueller Lebenschancen sind, als das bisher der Fall war. De-thematisiert werden bildungspolitische, bildungsinstitutionen- und bildungsprofessionenbezogene Optionen und die Normierung und Responsibilisierung von Eltern für den Bildungserfolg ihrer Kinder verstärkt die schicht- und migrationsbezogene Stigmatisierung von „bildungsfernen“ Haushalten.

Bernhard Binder-Hammer, Bevölkerungsökonom am Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der u.a. zu intergenerationellen Transfers durch Staat und Familien forscht, hat in seinem Vortrag Die Familie in Wirtschaft und Transfersystem: Eltern als zentrale Leistungsträger zuerst problematisiert, dass in Wirtschaftsdaten nicht alle Leistungen repräsentiert sind, auch nicht die Leistungen von Eltern. Diese wirtschaftliche Ignoranz der Leistungen in und von Privathaushalten hat heikle Folgen, u.a. was die Geschlechtergerechtigkeit und die Generationengerechtigkeit im Generationenvertrag anbelangt. Nationaler Transferkonten schließen diese Lücken auf Basis quantitativer Studien und so kann etwa am Beispiel Österreich gezeigt werden, dass der Transfer ökonomischer Ressourcen von Eltern zu Kindern in etwa dem Wert der staatlichen Transfers zur älteren Bevölkerung entspricht. Damit kann sowohl das Problem der mangelnden Generationengerechtigkeit deutlich gemacht werden, zumal die öffentlichen Investitionen in Kinder viel zu gering sind, um die hohen Ansprüche der älteren Generation langfristig zu rechtfertigen und zu finanzieren. Ebenso kann das Problem veranschaulicht werden, dass der Generationenvertrag über das Pensionssystem aufgehoben wird, da die Eltern, vornehmlich die Mütter auf Basis von Opportunitätskosten, den größten Teil der Investitionen in die nächste Generation und damit in zukünftige Beitragszahler leisten, zugleich aber selbst mit niedrigeren Pensionen bestraft werden. 

Miriam Gebhardt, außerplanmäßige Professorin Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz, die u.a. zu Geschlechtergeschichte, Sozialisations- und Familiengeschichte in Deutschland im 20. Jahrhundert forscht, thematisiert in ihrem Vortrag, Eltern zwischen Norm und Gefühl - wie sich frühkindliche Erziehung im 20. Jahrhundert entwickelt hat, das für lange Zeit prekäre Verhältnis zwischen ExpertInnen und Eltern auf der einen Seite und Eltern und Kindern auf der anderen Seite im Kontext der deutschen Geschichte im letzten Jahrhundert. Sie skizziert anhand namhafter Ratgeber wie etwa „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, welcher in den 30er Jahre erstmals publiziert und beispielsweise bis 1989 unter dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ wiederholt aufgelegt wird, wozu Mütter und Väter davor gewarnt werden, ihren Kindern mit zu viel Verständnis und Zärtlichkeit zu begegnen. Denn das für die deutsche Gesellschaft und Kultur dieser Jahrzehnte durchaus spezifische Konzept frühkindlicher Sozialisation zielt darauf, das angeblich wilde Wesen von Kindern zu zähmen, damit daraus kein „kindlicher Tyrann“ erwächst. Anhand von Tagbuchaufzeichnungen von Eltern veranschaulicht Gebhardt, welche Emotionsarbeit auf Seiten der Eltern notwendig war, sofern sie sich an diesen Normen orientieren, bzw. zu orientieren versuchten.

Die Tagung verfolgte das Ziel der kritischen Selbstreflexion sowohl wissenschaftlicher Zugänge als auch institutionell-pädagogischer Zugriffe auf Elternschaft. Die vielfältigen Perspektiven in den Fachvorträgen, das rege Interesse an der Tagung über Disziplin- und Professionsgrenzen hinweg, sowie die interessanten und inspirierenden Diskussionen während der Tagung sprechen dafür, dass dieses Ziel erreicht wurde.

 

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