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Vorwort – Universität Innsbruck

今古 JINGU - Vorwort

Dieser Blog versteht sich als Forum zum Lesen und für die Diskussion von Übersetzungen chinesischer lyrischer Texte in das Deutsche.


Hier kann das Übersetzen chinesischer Verstexte in einer Art vorgeschobener Werkstatt demonstriert, kommentiert und rezipiert werden, bevor noch das Eigeninteresse von Verlags- und Zeitschriftenredaktionen seine Prioritäten setzt. Die Gegenwart und die Geschichte des Übersetzens lyrischer Werke aus dem Chinesischen oder aus sinitischen Idiomen in das moderne Deutsch beansprucht vergleichsweise wenig öffentliche Aufmerksamkeit, die direkt Beteiligten werden, wenn überhaupt, dann in erster Linie als „Spezialisten“ verstanden, deren „Nische“ von rasant nachwachsenden kulturellen Stereotypen immerzu überwuchert wird. Hier können dagegen Texte und Methoden des Übersetzens Platz finden und sich langsam ihren Weg in eine Welt bahnen, die uns zwischen den Sprachen und ihren Wahrnehmungsweisen (in unserem Fall der deutschen und der sinitischen) erwartet.

Mit einem Anwachsen der hier zugänglichen Texte, dürfte sich allmählich auch eine zusätzliche Resource für den Literatur- und Sprachunterricht an Hochschulen und Schulen ergeben, auf die nach vermutlich wachsendem Bedarf zugegeriffen werden kann.

Es scheint mittlerweile an der Zeit, die historisch gut nachvollziehbare, aber zu oft als Antagonismus der Wesenszüge moderner und vormoderner Lyrik mißverstandene Kategorisierung von „neuer“ und „alter“ Dichtung aufzubrechen. Das Gegenwärtige jin 今 und das Alte gu 古sind keine Gegensätze, so unterschiedlich sie auch in Form und Absicht erscheinen mögen. Das ist auch deshalb nicht mehr von der Hand zu weisen, weil im sinophonen literarischen Feld der Gegenwart die einst revolutionär auftretende Moderne längst Tradition ist, während der damals vom Fortschrittsdiktat ausgegrenzte, zudem sich bewußt dagegen abgrenzende „alte Stil“ heute unkonventioneller gehandhabt wird und wandelbarer erscheint. Nicht zu Letzt ist auch die sinitische klassische Lyrik – also Lyrik, die durch das chinesische Schriftsystem lesbar und in einer sinitischen Sprache verfasst wird – in eine neue Phase der Rezeption eingetreten, die, neben dem gewissenhaften Umgang mit historischem Quellenmaterial wiederum Neubewertungen verlangt. Nirgendwo und durch kein anderes Medium ließe sich das überzeugender und zugleich selbstkritischer auf die Probe stellen als in der Übersetzung und durch das kritische Lesen und Gouttieren von Übersetzungen, die bereit sind, sich einer Neumischung von Tonarten zu stellen, die das 20te Jahrhundert meinte auseinanderhalten zu müssen. Wenn das Sprichwort zuo jian zi fu作繭自縛 analog auf die literarische Sprache und ihre Selbstreflektion zutrifft, dann ist Übersetzung wohl das beste Gegenmittel, um den Seidenspinner vor dem Verstrickungstod im eigenen Kokon zu bewahren.

Der für diesen Blog gewählte Titel Jingu 今古 spielt zunächst lediglich auf ein im Selbstverständnis und Weltbild chinesischsprachiger Literaturen – und hier insbesondere in lyrischen Kunstformen – offenbar nicht kleinzukriegendes, geschweige denn auszutilgendes Paradigma an. Der Dualismus „Gegenwart-Altertum“, den es zunächst zu suggerieren scheint, erweist sich letztendlich als Torbogen, den jede Gegenwart aufschlägt, um in den davorliegenden Zeiten sich selber lesbar zu machen. Die Spannung des Bogens wird somit zum Kraftfeld, in dem sich der Selbst bestimmende Übergang von Gegenwart zu Gegenwart immer wieder neu vollzieht. Dieser Übergang gilt auch für das Übersetzen. Auch die Übersetzung richtet sich aus ihrer Gegenwart an eine Vor-Zeit, oder an ein Zeitliches, Vor-Liegendes. Dieses ist Vor-Bild und zugleich unnachahmlich. Wenn Übersetzung gelingt, dann weil es ihr gelingt, sich in die eigene Zeit zu versetzen.

Das Lesen (und Schreiben) von Versen behauptet seine Beliebtheit und kulturelle Autorität in der chinesischsprachigen Welt bislang durch alle politischen, kulturellen und medialen Umbrüche moderner Epochen. Auch die sinitischen Literaturen Ostasiens finden an dem genau bemessenen, die eigenen Traditionen überlagernden oder sie aufbrechenden, mal streng gebundenen, mal freieren Lesespiel ästhetischen Genuss. Davon ist die Sprödigkeit westlicher Alltags- und Bildungssprachen weit entfernt. Umso mehr ist das gekonnte Übersetzen in das Deutsche (natürlich nicht weniger in andere westliche Sprachen) als literarisch-wissenschaftliches Feld innerhalb der Sinologie, aber auch für die lesende Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum von einer Bedeutung, die bislang – vereinzelte Sprengsel ausgenommen – weder hie noch dort hinreichend anerkannt wird.

Neben der (Re-) Publikation und Besprechung von Übersetzungen werden verlinkte Verzeichnisse der Autoren von Gedichten und von Übersetzungen entstehen, die allmählich Einblick geben in das Werden von Übersetzungsformen zwischen den hier relevanten Sprachen (als Sprache der Gedichte Chinesisch, andere sinitische Sprachen, klassisches Literarchinesisch und daran anlehnende Klassizismen, Deutsch als Zielsprache der Übersetzungen). Zudem werden neue und bereits erschienene, aber für aktuell befundene Übersetzungswerke rezensiert. Ein laufend aktualisierter kalender zu Veranstaltungen mit Bezug zum Übersetzen und öffentlichen Diskursen, die chinesischsprachige lyrische Dichtung im deutschsprachigen Raum thematisieren, könnte sich als nützlich erweisen, zumal nicht nur in der allgemeinen literarischen Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb der akademischen Sinologie an deutschen Universitäten Verskunst bekanntlich eher wenig Beachtung findet. Unter den drei Hauptkategorien „Taiwan/Übersee“, „Klassisches/Vormodernes“ und „VR China“ werden zudem kulturelle und historische Schwellen skizziert, die derzeit bei einer wissenschaftlichen Erforschung chinesischsprachiger Lyrik geltend bleiben.

Jingu ist nicht als „Online-Konkurrenz“ zu etablierten Druckformaten mit vergleichbarem Inhaltsprofil gedacht und will diese schon gar nicht „ersetzen“. Das Projekt stellt sich die Aufgabe, ein virtuelles Forum zu schaffen, durch das Übersetzer (Autoren), Forscher, Literaturkritiker, Publizisten und Verleger eher Gelegenheit zur Information hinsichtlich aktueller Entwicklungen finden. Den Übersetzungen und Gedichttexten kann jeweils ein Kommentar beigefügt werden. Dieser kann philologischer oder auch philosophisch-theoretischer Art sein, sollte sich aber an den Grundsatz der Bündigkeit halten.

Natürlich hängt der Erfolg des Projektes auch wesentlich von Beiträgen, Kritik und Geduld derer ab, die es anzusprechen hofft. Die organisatorische Leitung der redaktionellen Arbeit ist deshalb nicht von vorneherein festgelegt. Zunächst wurde sie am Institut für vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Innsbruck angesiedelt, bleibt aber mit Blick auf die künftige Entwicklung für den Beitritt weiterer Redaktionsmitglieder offen.

Frank Kraushaar, Innsbruck im Frühjahr 2024

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