Als Paul Celan im Juli 1948 aus Bukarest kommend von Wien nach Paris übersiedelte, machte er auch in Innsbruck Halt. Davon zeugen nicht nur Erinnerungen und Briefe, sondern auch ein Fiche de prêt, eine Entlehnkarte der bibliothek des Institut Français d’Innsbruck.
Das Institut Français d’Innsbruck war als erstes französisches Kulturinstitut Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 in der Karl-Kapferer-Straße im Innsbrucker Stadtteil Saggen gegründet worden und gab dem kulturellen Leben der Stadt in dieser Zeit des versuchten Wiederaufbaus entscheidende Impulse. Das von dem französischen Germanisten und Kunsthistoriker Maurice Besset mit großem Enthusiasmus von 1947 bis 1958 geleitete Institut wurde schnell zum Treffpunkt für KünstlerInnen und Kulturinteressierte. Gemeinsam mit der Kunsthistorikerin, Übersetzerin und Schriftstellerin Lilly Sauter vermittelte Besset in Ausstellungen und Lesungen moderne französische Kunst und Literatur. Auch Sprachkurse und Vorträge, vor allem aber die umfangreichen Bestände an französischen Büchern führten zahlreiche Besucher in das Institut und machten es zum Centre d’attraction der französischen Kulturpolitik. Monatlich versorgte die Militärregierung das Institut mit Listen der neuesten Publikationen, aus denen der Leiter und seine MitarbeiterInnen Bücher auswählen und bestellen konnten. So entstand im Laufe der Jahre eine ansehnliche bibliothek, die einen breiten Querschnitt der französischen Literatur über die Jahrhunderte und auch aktuelle Werke der französischen Literatur bot. Innerhalb von zehn Jahren war die bibliothek bereits auf 12.000 Bände angewachsen, 1969 bezifferte die Tiroler Tageszeitung die Zahl der Bücher mit 18.000 (TT, 24. 5. 1969). Die zum Teil noch erhaltenen Fiches de prêt geben nicht nur Aufschluss über die Bestände, sondern auch über das Interesse an den Büchern und über die bibliotheksbenützerInnen.
Die damalige bibliothekarin Birgit Schowingen-Ficker, eine Tochter Ludwig von Fickers, erinnerte sich an einen besonderen Besuch im Jahr 1948: „Als Paul Celan auf der Reise von Wien nach Paris in die bibliothek eintrat – an jenem Vormittag kannte ich noch nicht seine Bedeutung als Dichter – wurde mir ein starkes Erlebnis zuteil: Freudig wurde mir bewußt, daß es die Welt noch gibt, die zu meiner Kindheit und Jugend, zu meinem Leben, gehörte, die der sensitiven feinen jüdischen Erscheinungen, die das geistige Leben in Österreich bereicherten. […] Am selben Abend noch las er Lilly v. Sauter, Frau Porten (einer Journalistin) und mir die ‚Todesfuge‘ vor.“ (unveröffentlichtes Manuskript, Kopie, Nachlass Birgit Schowingen-Ficker) Die Todesfuge wurde im selben Jahr 1948 in Celans erster Gedichtsammlung Der Sand aus den Urnen abgedruckt, die auf seinen Wunsch allerdings im Herbst 1948 wegen zahlreicher Druckfehler makuliert wurde. Nachdem Celan während seines Aufenthalts in Innsbruck auch Ludwig von Ficker persönlich kennengelernt und mit ihm gemeinsam Georg Trakls Grab in Mühlau besucht hatte, schickte er Ficker 1951 das Manuskript von Der Sand aus den Urnen (Sig. 041-063-009a), der allerdings von einer Veröffentlichung absah.
Bei dem von Celan entlehnten Buch handelte es sich um eine Ausgabe des Romans Au Château d’Argol des Surrealisten Julien Gracq. Auf der Entlehnkarte findet sich unter dem Namen des jüdischen Dichters Celan ein weiterer Name: jener des rechtskonservativen österreichischen Publizisten „Kühnelt Leddihn“.
Erik Maria Ritter von Kuehnelt-Leddihn (1909–1999) wurde in der Steiermark geboren, sein Taufpate war Fritz Herzmanovsky-Orlando. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und Theologie an der Universität in Wien sowie dem Studium der Politikwissenschaften und an der Universität in Budapest war er 1930/1931 als Korrespondent der Zeitung Hungarian daily in Russland tätig. 1931 erschien sein erster Roman Die Anderen, 1933 Jesuiten, Spießer, Bolschewiken, das besonders in Frankreich ein Erfolg wurde. 1933 kehrte er nach Österreich zurück und hielt sich vorwiegend in Tirol, in Nauders und im Ötztal, auf. Nach weiteren beruflichen Stationen als Lehrender in Budapest, Beaumont in England, Washington, Jersey City, New York und Philadelphia veröffentlichte er 1946 in den USA den utopischen Roman Moscow 1997. Darin stellt er den Nationalsozialismus als Bewegung der radikalen Linken und – nach Platon – als Folge der Demokratie dar. 1947 kehrte er endgültig nach Österreich zurück.
Kuehnelt-Leddihn sprach acht Sprachen fließend und war laut den Fiches de prêt auch fleißiger Besucher der bibliothek des Institut Français. Sein Name findet sich auf zahlreichen weiteren Entlehnkarten französischsprachiger Literatur quer durch die Jahrhunderte: christlich-katholischer Literatur von Léon Bloy, François Mauriac, Georges Bernanos oder Paul Claudel genauso wie ‚rechter‘ Literatur von Jules Romains oder Jacques Chardonne sowie den Romanen von Marcel Proust, Antoine de Saint-Exupéry oder dem Nobelpreisträger André Gide. Seine breitgefächerte Lektüre spiegelt sich auch in seiner politischen Haltung wider: Der Katholik Kuehnelt-Leddihn wandte sich gegen den Kapitalismus und den Nationalsozialismus genauso wie gegen den Kommunismus. Wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag verfasste er noch einen Artikel zum Tod von Ernst Jünger, den er zeitlebens als den größten Schriftstellers Deutschland betrachtete und dessen Werke auch der Autor der Entlehnkarte Julien Gracq geschätzt haben soll. Kuehnelt-Leddihns umfangreicher Nachlass befindet sich seit 2016 am Forschungsinstitut Brenner-Archiv.
Die bibliothek des Institut Français besteht heute nicht mehr. Zwar wurde sie noch von der Villa in der Karl-Kapferer-Straße 1960 in die neuen Räumlichkeiten am Rennweg übersiedelt, nach der Unterbringung des Instituts am Innrain 2005 wurde der nun 35.000 Bücher umfassende Bestand allerdings aus Platzmangel der Universitätsbibliothek Innsbruck übergeben. Wieviele Bücher der ursprünglichen Bestände aus den Jahren 1945 bis 1955 noch erhalten sind, lässt sich aufgrund fehlender Inventarlisten nicht sagen. Au Château d’Argol von Julien Gracq befindet sich in der Fakultätsbibliothek Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Innsbruck (Sig. F-5846), es trägt noch den bibliotheksstempel des Institut Français. Die Entlehnkarten, die sich in vielen Büchern der bibliothek fanden, wurden vor der Eingliederung in die Bestände der Universitätsbibliothek dem Forschungsinstitut Brenner-Archiv übergeben.
Das Institut selbst verschwand schließlich „still und leise“ im April 2015, wie Ivona Jelcic ein halbes Jahr später in der Tiroler Tageszeitung berichtete: aufgrund von „Sparmaßnahmen des französischen Staates“, erklärte Christophe De Winter, letzter Direktor des Institut Français d’Innsbruck, die Schließung des Instituts. Die „Einrichtung […], die erst kurz zuvor die Übersiedlung in die Claudiana als erfreuliches ‚Zusammenrücken‘ mit der Universität Innsbruck gefeiert hatte“, suchte man dort „kaum ein halbes Jahr später“ vergebens. „Nicht einmal auf die Rückgabe ausgeliehener Bücher war gewartet worden, einige Leihnehmer sollen im Sommer noch recht ratlos an den Türen des städtischen Kulturamts geklopft haben.“ (TT, 28.12.2015)
Literatur:
Sandra Unterweger, Roger Vorderegger, Verena Zankl (Hg.): Bonjour Autriche. Literatur und Kunst in Tirol und Vorarlberg 1945–1955. Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag 2010 (= Edition Brenner-Forum 5).
Johann Holzner, Christine Riccabona: Der Löwe von Lans. Erik Maria Ritter von Kuehnelt-Leddihn. In: Sieglinde Klettenhammer (Hg.): Kulturraum Tirol. Literatur – Sprache – Medien. Jubiläumsband „150 Jahre Germanistik in Innsbruck“. Innsbruck: IUP 2009, S. 121–135.
Walter Methlagl: Paul Celan in Mühlau. Gerald Stieg zum 60. Geburtstag. In: Walter Methlagl: Bodenproben. Kulturgeschichtliche Reflexionen. Hg. v. Forschungsinstitut Brenner-Archiv. Innsbruck: Haymon 2002, S. 169–177.
Timo Kölling: Notizen zu Julien Gracq. https://timokoelling.wordpress.com/herzlandschaft/notizen-zu-julien-gracq/.
Weiterführende Links:
Forschungsprojekt: „Der Einfluss der französischen Kulturpolitik 1945–1955 auf das literarische und kulturelle Leben in Vorarlberg und Tirol“ (Leiter: Ao. Univ.-Prof. Dr. Johann Holzner). https://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/projekte/frzkultpol/beschreibung.htmlErik Maria Kuehnelt-Leddihn. In: Literatur-Lexikon. Das Literaturlexikon für Nord, Ost & Süd. http://literaturtirol.at/lexikon/389