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Palaver Wolfgang: Die Christliche Erlösungslehre und ihre Antwort auf Gewalt und Krieg
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Die Christliche Erlösungslehre und ihre Antwort auf Gewalt und Krieg

Autor:Palaver Wolfgang
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Vor dem Hintergrund unserer von Bürgerkriegen geprägten Welt wird die biblische Botschaft der Gewaltfreiheit im Kontrast zu den archaischen Religionen dargestellt. Am Beispiel des historischen Christentums zeigt sich die große Schwierigkeit, aus der Welt des Sündenbockmechanismus auszuziehen.
Publiziert in:actio catholica 40 (1996) Heft 3, 31–42.
Datum:2001-10-18

Inhalt

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[Anmerkung zum Titel: (1)]

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Der Fall der Berliner Mauer hat große Hoffnungen und Erwartungen geweckt. Nur wenige Jahre später ist bei vielen von uns aber Enttäuschung an die Stelle der großen Hoffnungen getreten. Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat diese Ernüchterung vor allem im Hinblick auf die Gegenwart der Gewalt in unserer Welt präzise auf den Punkt gebracht. (2) Nach Enzensberger steht die ganze momentane Welt im Zeichen des Bürgerkriegs und er nennt Mitte 1993 allein 40 solcher Bürgerkriege. Damit meint er nicht nur die Bürgerkriege in Bosnien, Georgien, Afghanistan oder Somalia, sondern denkt auch an die Kriege in den großen Metropolen unserer Erde wie Los Angeles, Paris, London oder Hamburg. Gewalt gegen Asylantenheime in Deutschland zählt er genauso dazu wie Gewalttaten islamischer Fundamentalisten. Systematisch interessant ist Enzensbergers Essay, weil er in den gegenwärtigen Bürgerkriegen nicht nur ein momentanes Phänomen unserer Zeit ausmacht, sondern im Bürgerkrieg die ursprüngliche und primäre Form menschlicher Konflikte überhaupt sieht. Es "scheint, als wäre der Bürgerkrieg nicht nur eine alte Gewohnheit, sonder die Primärform aller kollektiven Konflikte" (3). Nach Enzensberger ist es "wahrscheinlich nicht die Ausnahme, sondern die Regel, daß der Mensch vernichtet, was er haßt, und das ist gewöhnlich der Rivale auf dem eigenen Territorium. Zwischen Nächsten- und Fremdenhaß existiert ein unaufgeklärter Zusammenhang. Der verabscheute Andere ist ursprünglich wohl immer der Nachbar, und erst, wenn sich größere Gemeinwesen gebildet haben, wird der Fremde jenseits der Grenze zum Feind erklärt" (4).

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Ohne mich mit allen Thesen, die Enzensberger in diesem Essay vertritt, zu identifizieren, glaube ich, daß er in der Betonung der Priorität des Bürgerkriegs einen wichtigen Punkt zur Sprache bringt. Das Ende des Kalten Krieges mit seiner Drohung der totalen nuklearen Vernichtung der ganzen Erde hat nicht ein friedliches Paradies entstehen lassen, sondern brachte nur sehr deutlich zum Ausdruck, daß unter der Eisdecke des Kalten Krieges latent die Gefahr von Bürgerkriegen brodelte. Eine vorschnelle und oberflächliche Kritik hat Enzensbergers unangenehme Einsichten einfach beiseite zu schieben versucht, indem sie auf Parellelen zu rechten Denkern wie Carl Schmitt hinwies. Mit solchen billigen rechts-links-Zuordnungen läßt sich allerdings das von Enzensberger angesprochene Problem nicht aus der Welt schaffen. Die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags und Mitglieds der Grünen Antje Vollmer hat Enzensberger ausdrücklich gegen eine Kritik in Schutz genommen, die schmerzliche Wahrheiten nicht zur Kenntnis nehmen will. In ihrem Buch "Heißer Frieden" bestätigt sie Enzensbergers Analyse. Der Kalte Krieg wurde nach Vollmer von einem heißen Frieden abgelöst, der eine gefährliche Neigung zu neuen Bürgerkriegen mit sich brachte. Im Hinblick auf unsere Gegenwarrt spricht sie davon, daß die "Tendenz zum Bürgerkrieg das schwierigste aktuelle Problem ist, vor dem die UNO weltweit immer häufiger und mit anwachsender Ratlosigkeit steht". (5) Diese Einsicht in die gegenwärtige Bürgerkriegsgefahr läß sie aber auch die grundsätzliche Problematik des Bürgerkriegs erkennen: "Alle kulturellen, religiösen und zivilisatorischen Strategien, die Gewalt aus den Stämmen, Großfamilie, Völkern und Nationen zu verbannen, haben ... immer nur ein Ziel: das Entflammen des Bruderkriegs zu verhindern, bevor er alle infiziert hat."(6)

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Was Enzensberger und Vollmer für unsere Gegenwart feststellen und Thomas Hobbes mit seiner berühmt gewordenen Formel vom Naturzustand als des Krieges eines jeden gegen jeden am Beginn unserer Neuzeit auf den Punkt brachte, gilt ganz allgemein: Menschengruppen verhalten sich nicht spontan friedlich, sondern neigen sehr leicht dazu, in einem Krieg aller gegen alle übereinander herzufallen. In einer ersten These möchte ich nun zeigen, daß genau diese Erfahrung des latenten Bürgerkriegs im Hintergrund aller ursprünglichen archaischen bzw. primitiven Religionen steht.

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1. Archaische Religionen: Eindämmung der Gewalt durch Gewalt

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Eine Analyse mythischer Texte oder ritueller Praktiken zeigt, daß archaische Religionen zutiefst von der Erfahrung einer ursprünglichen Krise geprägt sind. Die Existenz der ganzen Gruppe ist durch interne Gewalt radikal bedroht. Auf die Lösung dieser Krisen müssen wir nun unsere Aufmerksamkeit richten. Sie steht im engsten Zusammenhang mit Religion. Archaische Religionen waren das erste und ursprünglichste Mittel um die Gewalt innerhalb von Menschengruppen einzudämmen. Archaische Religionen sind also zutiefst auf Frieden und Überwindung von Gewalt ausgerichtet.

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Ein genaueres Studium solcher mythischer Texte zeigt allerdings, daß der Preis dieser Gewaltüberwindung selbst Gewalt ist. Nach der Theorie des Kultur- und Literaturwissenschaftlers René Girard läßt sich zeigen, daß die ursprüngliche religiöse Form der Gewaltüberwindung der Sündenbockmechanismus ist. Die Krise des Kampfes aller gegen alle wird durch die kollektive Tötung oder Vertreibung eines Opfers gelöst. Dieser Sündenbockmechanismus ist aber kein bewußter Vorgang und der Lynchmob weiß nicht wirklich was er tut. Die Krise ist von totaler Besessenheit und der Auflösung aller kulturellen Unterscheidungen gekennzeichnet. Es herrscht das Chaos. Gerade in einem solchen Chaos kann es jederzeit zur plötzlichen Zusammenrottung aller gegen einen oder eine kommen. Der kleinste Schlag eines der Gegenspieler gegen einen seiner Rivalen kann zum Auslöser eines solchen Opferungsmechanismus werden. Sobald einige andere einen solchen Aggressionsakt nachahmen, kann es dazu führen, daß lawinenartig alle in diesen Konflikt hineingezogen werden.

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Interessant ist nun, wie diese kollektive Gewalt von den Verfolgern wahrgenommen wird. Der Sündenbock - das Opfer - erscheint natürlich als die Verkörperung des absolut Bösen. Er oder sie tragen ganz allein die Verantwortung für die gewalttätige Krise. Gleichzeitig wird aber auch die Krisenlösung - also der plötzliche Friede nach der Tötung des Opfers - dem Opfer selbst zugeschrieben. Weil sich die Gruppe am Höhepunkt der Krise - im Zustand einer kollektiven Besessenheit - nicht als selbst handelnd erlebt, sondern wie von außen getrieben wahrnimmt, wird auch die Krisenlösung nicht der eigenen Gewalttat, sondern dem Handeln des monströsen Opfers zugeschrieben. Der Sündenbock ist nicht nur die Verkörperung des Bösen, sondern gleichzeitig auch die Verkörperung des Guten. Das Opfer ist böse und gut zugleich und damit heilig. Die ursprünglichen Opfer werden vom Lynchmob als Götter wahrgenommen. Alle ursprünglichen Erfahrungen des Heiligen, des Sakralen sind durch die Tatsache von gut und böse zugleich gekennzeichnet. Als Beispiel sei nur das lateinische Wort für das Heilige "sacer" erwähnt, das gesegnet und verflucht zugleich bedeutet. Aus dem Sündenbockmechanismus entsteht die Religion. Die drei wesentlichen Momente jeder archaischen Religion (Mythos, Ritus, Tabu) lassen sich vom Sündenbockmechanismus her erklären. Mythen geben das Geschehen im Sündenbockmechanismus aus der Sicht der Verfolger wieder. Sie repräsentieren die Perspektive der Lyncher. Riten sind die kontrollierte und bewußte Wiederholung des Opfermechanismus. Der Gemeinschaft soll so wieder neue Kraft und neuer Zusammenhalt gegeben werden. Opfer gehören zu den meistverbreiteten Riten und sie dienen der Erhaltung des Friedens in der Gemeinschaft. Tabus bzw. Verbote sorgen dafür, daß es zu keiner neuerlichen Krise kommt. Die Verbrechen des Sündenbocks, dem allein die Verantwortung für die Krise zugeschoben wurde, gelten als absolut verboten.

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Als ein Beispiel für diese ursprüngliche mythische Krisenlösung soll hier der Ödipus-Mythos näher untersucht werden. (7) Sophokles Tragödie "König Ödipus" beginnt mit der Beschreibung einer Seuche, die die ganze Stadt Theben zu vernichten droht. Diese Seuche ist ein Symbol für jene Krise, die in sehr vielen mythischen Texten zu finden ist. Ein greiser Priester berichtet Ödipus von der Seuche:

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"Du weißt es selbst, wie diese Stadt erbebt
und aus dem Wogensturz der Todesnot
Ihr Haupt nicht mehr zum Licht erheben kann.
Sie stirbt dahin mit ihrer jungen Saat,
Mit ihrem Vieh, mit jedem Frauenschoß,
Der nicht gebären kann. Es sengt und brennt
Der Gott der Seuche. Allerschlimmster Feind
Macht Kadmos' Häuser menschenleer und füllt
Das dunkle Reich mit Klagen und Gestöhn." (8)

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Die Plage führt zur Suche nach dem Schuldigen. Ödipus, Kreon und Teiresias verfallen darin ganz der Rivalität. Jeder versucht jedem die Schuld für die Krise zuzuschieben. Die Lösung der Krise wird erreicht, indem Ödipus zum Schuldigen bestimmt wird. Als Vatermörder, Königsmörder und durch die inzestuöse Beziehung zu seiner Mutter Iokaste ist er für die Pest in Theben verantwortlich. Ödipus wird zum Sündenbock. Er selbst stimmt sogar seiner Verurteilung zu, läßt sich blenden und verläßt die Stadt:

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"So treibt mich augenblicks hinaus, versteckt
Mich irgendwo, erschlagt mich oder werft
Mich in das Meer, wo keiner mich erblickt." (9)

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Entsprechend dem von Girard rekonstruierten mythischen Schema kommt Ödipus nicht nur als Verkörperung des Bösen und Verursacher der Plage bei Sophokles in den Blick. Wie sich anhand der zweiten Ödipustragödie von Sophokles ("Ödipus auf Kolonos") zeigt, wird Ödipus nach der Vertreibung aus der Stadt plötzlich zu einem Heilbringer, um dessen zukünftigen Leichnam sich Theben und Kolonos streiten.

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Der Sündenbockmechanismus verwandelt also im Schleier der Religion die offene Gewalt der vorausgehenden Krise in die strukturelle Gewalt der Kultur. Die offene Gewalt wird zwar überwunden, aber sie verschwindet nicht aus dem Systen. Sie wird strukturell so kanalisiert, daß sie der Gemeinschaft intern nicht mehr gefährlich werden kann. Innerhalb der Gemeinschaft soll Frieden herrschen. Die Religion, also Mythen, Riten und Tabus, haben die Aufgabe, diese Kanalisierung der Gewalt vorzunehmen.

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Ein zweites Beispiel aus der griechischen Antike kann diese durch den Sündenbockmechanismus bewirkte Umwandlung der Gewalt im Zusammenhang mit der Entstehung der politischen Institutionen verdeutlichen. Aischylos beschreibt in den "Eumeniden", dem dritten Teil der "Orestie", wie mit der Entstehung der griechischen Polis sich die traditionelle Blutrache in staatliches Recht verwandelte. Aus den gewalttätigen Erinnyen, den Rachegöttinen, werden die sanften und segensreichen Eumeniden. Scheinbar ist dadurch alle Gewalttätigkeit aus der Stadt verschwunden. Aber das gilt nur für einen oberflächlichen Befund. Strukturell hat sich die individuelle Gewalt in die kollektive Gewalt gewandelt, die zwar im Inneren der Polis Frieden erzeugt, sich aber gegen äußere Feinde und innere Abweichlinge jederzeit entladen kann. Aischylos bringt das in den "Eumeniden" treffend zum Ausdruck. Der Chor der pazifierten Eumeniden beschreibt, wie nach dem Ende der Blutrache und der Etablierung des staatlichen Rechts sowohl die allumfassende Liebe als auch der einmütige, kollektive Haß den Bürgerkrieg überwinden helfen:

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"Aufruhr [stasis - Bürgerkrieg], unersättlich im Leid,
Tose nie durch diese Stadt!
Trinke nie der Boden das schwärzliche Blut
Der Bürger und fordere, zornberauscht,
Nie widermordende Sühne!
Mögen Wonne sie tauschen,
In allumfassender Liebe eins,
Hassen auch aus einem Geist!
Dies lindert unter den Sterblichen viel." (10)

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Dieser kollektive Haß gilt einerseits den Feinden vor den Toren der Stadt und andererseits den inneren Feinden, die ausgestoßen werden müssen, wenn sie die Gesetze der Polis mißachten.

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"Und siedle Ares [Gott d. Streits] nicht in ihrer Mitte an,
Daß einer sich im Jähzorn wider den andern kehrt.
[Der Brüder eines Stammes aufeinanderhetzt.]
Der Krieg entbrenne vor den Toren, daß in ihm
sich sättige die ungeheure Gier nach Ruhm." (11)
"So blühe auch der Menschen Same glücklich auf.
Doch wer unheiligen Sinnes ist, den stoße aus." (12)

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Die ursprüngliche religiöse Antwort auf Gewalt ist also die in Form des Sündenbockmechanismus erfolgte, dosierte Anwendung von Gewalt, die zum Aufbau einer Kultur führt, die selbst wiederum durch den gezielten und kontrollierten Einsatz von Gewalt gegen innere und vor allem gegen äußere Feinde die interne Gewalt zu bändigen versucht. Wie wir an diesem zweiten Beispiel gesehen haben, ist die dosierte Anwendung von Gewalt nicht nur typisch für die ursprünglich religiöse Form der Gewaltüberwindung, sondern sie hat sich auch in die politische Bewältigung von Gewalt übersetzt. Diese Form der Gewaltüberwindung dürfen wir nicht sofort verächtlich und moralisch von oben herab verurteilen. Sie war tatsächlich ein Mittel zur Gewaltüberwindung und hat zu einem relativen Frieden beigetragen. Und was die politische Lösung von Gewaltproblemen betrifft, so unterscheiden sich unsere heutigen Formen der Gewalteindämmung oft nur sehr unwesentlich von jenem Rezept, das uns in den "Eumeniden" gegeben wird.

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2. Die Botschaft der Bibel: Der gewaltfreie Ausweg aus der zwischenmenschlichen Gewalt

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Ist auch die Bibel von diesem ursprünglichen religiösen Muster der Gewaltüberwindung geprägt? Sind auch die biblischen Texte rein menschlichen Ursprungs, entspringen auch sie dem Sündenbockmechanismus? Bezüglich der Hebräischen Bibel (Altes Testament) muß sicher zuerst festgehalten werden, daß sie Texte enthält, die sich nicht grundsätzlich von mythischen Texten unterscheiden.

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Nehmen wir als Beispiel Num 16f.(13) Korach, Datan, Abiram und 250 führende Mitglieder der Gemeinde hatten sich gegen Mose und Aaron zusammengerottet. Sie warfen Mose und Aaron vor, sie würden die allgemeine Heiligkeit der Gemeinde ablehnen und sich selbst zuviel an Vorrang herausnehmen: "Ihr nehmt euch zu viel heraus. Alle sind heilig, die ganze Gemeinde, und der Herr ist mitten unter ihnen. Warum erhebt ihr euch über die Gemeinde des Herrn?" (Num 16,3) Mose gab denselben Vorwurf an die Aufständischen zurück: "Ihr nehmt euch zu viel heraus, ihr Leviten!" (Num 16,7) Wir haben es hier mit einer Rivalität um den Führungsanspruch unter den Israeliten zu tun. Die Situation war letztlich nicht entscheidbar. In einer Art Gottesgericht wurde dann die Entscheidung gefällt. Korach, Abiram, Datan und deren Anhang wurden von der Erde verschlungen, die 250 Männer, die für diese Gottesentscheidung in Räucherpfannen ein Weihrauchopfer dargebracht hatten, wurden vom Feuer Gottes vernichtet. Aus der Perspektive der Theorie Girards ist dieser gewalttätige Gott, nicht der wahre Gott, sondern eine reine Projektion der Menschen. Aus der Perspektive der Sieger (hier Mose und Aaron) erscheint die gewalttätige Konfliktlösung unter Menschen als gewalttätige Intervention Gottes. Diese Projektion der menschlichen Gewalt auf einen Gott ist typisch für mythische Texte. Wie im Falle des ursprünglichen Sündenbockmechanismus zeigt sich anhand dieses Textes auch, daß aus der kollektiven Tötung Sakralität ensteht. Die Räucherpfannen der 250 Männer sind nach der Tötung ihrer Besitzer heilig und sollen als Altarbleche verwendet werden: "Die Räucherpfannen der Männer, die wegen ihrer Sünde ums Leben gekommen sind, soll man zu Blech hämmern und damit den Altar überziehen; denn sie haben die Räucherpfannen vor den Herrn gebracht, und damit sind die Pfannen heilig geworden." ( Num 17,3)

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Ganz erreicht Num 16f allerdings nicht mehr die Geschlossenheit eines mythischen Textes. Am Rande schimmert sogar etwas von der Wahrheit durch. In Num 17,6 wird nämlich von der menschlichen Verantwortung für die Ausrottung von Korach und dessen Anhang gesprochen. Das Volk murrte und warf Mose und Aaron die Ermordung dieser Leute vor: "Am nächsten Tag murrte die ganze Gemeinde der Israeliten über Mose und Aaron; sie sagten: Ihr habt das Volk des Herrn getötet."

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Mit Texten wie Num 16f ist aber erst eine Seite der Hebräischen Bibel sichtbar geworden. Neben diesen Texten finden sich nämlich auch Texte, die sich radikal von den Mythen unterscheiden und die Perspektive der Opfer einnehmen. Der für den Sündenbockmechanismus typische, dosierte Einsatz von Gewalt wird zurückgewiesen. Die Bibel identifiziert sich mit den getöteten und verworfenen Opfern und deckt dadurch die strukturelle Gewalt aller im Sündenbockmechanismus wurzelnden Kulturen auf. Diese Parteinahme für das verfolgte Opfer zieht sich quer durch die ganze Bibel. Besonders hervorzuheben sind dabei die Klagepsalmen, Texte der Schriftpropheten und die Dialoge im Buch Ijob.

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Als Höhepunkt in der Hebräischen Bibel können die Gottesknechtlieder des Deuterojesaja angesehen werden (Jes 42,1-9; 49,1-6; 50,4-11; 52,13-53,12). Sie beschreiben das Schicksal des Gottesknechtes, der von den Menschen verachtet, geschlagen und ausgestoßen wurde. Sein Schicksal gleicht ganz dem eines Sündenbocks.

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"Er hatte keine schöne und edle Gestalt,
sodaß wir ihn anschauen mochten.
Er sah nicht so aus,
daß wir Gefallen fanden an ihm
Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden,
ein Mann voller Schmerzen,
mit Krankheit vertraut.
Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt,
war er verachtet; wir schätzten ihn nicht." (Jes 53,2f)
"Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft,
doch wen kümmerte sein Geschick?
Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten
und wegen der Verbrechen seines Volkes
zu Tode getroffen.
Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab,
bei den Verbrechern seine Ruhestätte." (Jes 53,8f)

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Die entscheidenden Passagen des Textes sind jene, die die Unschuld des Knechtes hervorheben und seine Partei einnehmen. Nach Jes 53,9 geschah all das eben Gesagte

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"obwohl er kein Unrecht getan hat
und kein trügerisches Wort in seinem Mund war."

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Auch die für die vom Menschen geschaffenen Religionen typische Ansicht, daß Menschen wie der leidende Gottesknecht von Gott gestraft seien, wird in diesem Text zurückgewiesen und der Sündenbockmechanismus aufgedeckt:

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"Wir meinten, er sei von Gott geschlagen,
von ihm getroffen und gebeugt.
Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen,
wegen unserer Sünden zermalmt." (Jes 53,4f)

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Nicht Gott ist also für das Schicksal des Gottesknechtes verantwortlich, sondern allein die Menschen.

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Mit dieser Ablehnung der Gewaltüberwindung mittels des Sündenbockmechanismus stellt sich natürlich die Frage nach der Gewaltüberwindung aus der Sicht der Bibel. Auch in dieser Hinsicht bieten die Leidensknechtlieder eine interessante Antwort. Es ist die aktive Gewaltfreiheit, die an die Stelle der Sündenbockkultur tritt:

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"Das geknickte Rohr zerbricht er nicht,
und den glimmenden Docht löscht er nicht aus;
ja, er bringt wirklich das Recht." (Jes 42,3)

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Im Gegensatz zu dem, in großer Nähe zu der mythischen, altorientalischen Königsideologie stehenden, psalm 2, der von einem zukünftigen König spricht, der die feindlichen Völker mit einer eisernen Keule zertrümmert (Ps 2,9: "Du wirst sie zerschlagen mit eiserner Keule, wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern"), ist die einzige Waffe des Leidensknechtes sein Wort:

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"Er machte meinen Mund zu einem scharfen Schwert,
er verbarg mich im Schatten seiner Hand." (Jes 49,2)
Sein Schwert, der Mund, zertrümmert keine Feinde, sondern liefert ihn gerade der Gewalt und den Schlägen der anderen aus.
"Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet.
Ich aber wehrte mich nicht
und wich nicht zurück.
Ich hielt meinen Rücken denen hin,
die mich schlugen,
und denen, die mir den Bart ausrissen,
meine Wangen.
Mein Gesicht verbarg ich nicht
vor Schmähungen und Speichel." (Jes 50,5f)

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Diese sich radikal von den mythischen Texten unterscheidende Textreihe setzt sich in der Griechischen Bibel (Neues Testament) fort. Einer der Höhepunkte ist dabei die Passionsgeschichte Jesu in den Evangelien. Wie in vielen Mythen wird die kollektive Gewalt gegen ein Opfer beschrieben. Aber im Unterschied zu den Mythen identifizieren sich die Evangelien radikal mit dem Sündenbock Jesu, dessen Unschuld hervorgehoben wird:

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"Ohne Grund haben sie mich gehaßt." (Joh 15,25; vgl. Ps 35,19)

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Die Evangelien erkennen also in Jesus einen zu Unrecht verfolgten Sündenbock. Das Wort "Sündenbock" wird zwar nicht direkt gebraucht, kommt aber im Ausdruck "Lamm Gottes" zur Sprache: "Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegträgt." (Joh 1,29; vgl. 1 Joh 3,5; Apg 8,32). Mit diesem Thema wird Jesu Schicksal mit dem Bild des geschlagenen Knechtes des Deuterojesaja gedeutet. In der Passionsgeschichte Jesu wird also genau jene Textreihe der Hebräischen Bibel fortgesetzt und bestätigt, die die Sicht der Opfer wiedergibt und den Sündenbockmechanismus offenlegt. Auch die Auferweckung Jesu zeigt, daß Gott ganz und endgültig auf der Seite seines von den Menschen getöteten unschuldigen Sohnes steht.

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Die Identifikation mit dem Opfer allein könnte aber noch durchaus zu Mißverständnissen führen und muß nicht wirklich einen radikalen Bruch mit allen Formen religiöser Gewaltverschleierung bedeuten. Elias Canetti hat in seinem Werk "Masse und Macht" auf das Phänomen der Klagereligionen hingewiesen. Klagereligionen bieten allen im Kollektiv gewalttätigen Menschen seelische Entlastung und Erlösung, indem diese sich durch die Identifikation mit einem unschuldigen Opfer selbst als Verfolgte erleben können. Als Verfolgte und Verbündete eines unschuldigen Opfers erscheint ihnen ihre eigene fortdauernde Verfolgung und Gewalttat als gerechtfertigt:

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"Als Verfolger haben die Menschen gelebt, und als Verfolger leben sie auf ihre Weise immer weiter. Sie suchen nach fremdem Fleische, und sie schneiden hinein, und sie nähren sich von der Qual der schwachen Geschöpfe. In ihrem Auge spiegelt sich das brechende Auge des Opfers, und der letzte Schrei, an dem sie sich ergötzen, gräbt sich unauslöschlich in ihre Seele. Vielleicht ahnen die meisten von ihnen nicht, daß sie mit ihrem Leibe auch das Dunkel in sich nähren. Aber Schuld und Angst in ihnen nehmen unaufhaltsam zu, und so sehnen sie sich ahnungslos nach Erlösung. So schließen sie sich einem an, der für sie stirbt, und in der Klage um ihn fühlen sie sich selber als Verfolgte. Was immer sie getan, wie immer sie gewütet haben, für diesen Augenblick stellen sie sich auf die Seite des Leides. Es ist ein plötzlicher und weittragender Wechsel der Parteien. Er befreit sie von der angesammelten Schuld des Tötens und der Angst, daß der Tod sie selber trifft. Was immer sie anderen angetan haben, das nimmt ein anderer nun auf sich, und, indem sie ihm treu und ohne Rückhalt anhängen, entgehen sie, so hoffen sie, der Rache. Es zeigt sich so, daß die Klagereligionen für den seelischen Haushalt der Menschen unentbehrlich sind, solange sie das Töten in Meuten nicht aufgeben können." (14)

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Für Canetti ist das Christentum die bedeutendste aller Klagereligionen. Historisch gesehen trifft es zu, daß im Christentum immer wieder das Phänomen der Klagereligion aufgetreten ist. Berühmtestes Beispiel dafür ist sicher der christliche Antisemitismus. Friedrich Heer hat beispielsweise Canettis Einsicht in das Phänomen der Klagereligion dazu verwendet, um die politische Religiosität Adolf Hitlers etwas präziser zu verstehen:

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"Verfolger bilden Meuten, indem sie sich selbst als Verfolgte erleben. Religiös-politische Klagemeuten werden im 19. und 20. Jahrhundert in unseren Räumen vor allem durch deutsche und christliche Massen infantiler, hilfloser Einzelner gebildet. Deutsche Klagemeuten fühlen sich von Slawen, Franzosen, Juden verfolgt - die sie selbst angreifen möchten. Christliche Klagemeuten fühlen sich von Freimaurern, Liberalen, Juden, Sozialisten verfolgt. Adolf Hitler vereinigt beide Klagemeuten." (15)

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Es ließe sich eine längere Liste an Beispielen für das Phänomen der Klagereligion erstellen. Die Identifikation mit der Opferposition kann zur Rechtfertigung neuer Gewalt herangezogen werden. Läßt sich aber auch das biblische Christentum als Klagereligion verstehen? Ein genaueres Hinsehen auf den Text der Schrift zeigt, daß die Versuchung der Klagereligion abgewiesen wird.

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Eine erste wichtige Stelle, die zeigt, daß Jesus trotz des Kreuzes nicht zur Rache aufrufen will, sondern auch noch am Kreuz hängend seinen Verfolgern verzeiht ist Lk 23,34 (vgl. Apg 3,17):

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"Jesus aber betete: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun."

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Hier kommt nicht nur die Güte Jesu zum Ausdruck, sondern auch seine tiefe Einsicht in den Sündenbockmechanismus, in dem die Verfolger wirklich in totaler Verblendung agieren.

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Noch deutlicher wird die Ablehnung aller Rache und das Verzeihen auch angesichts des Kreuzes in Jesu Osterbotschaft. Als der auferstandene Jesus seinen eigenen Jüngern, die sich im entscheidenden Moment selbst durch feige Flucht (Mk 14,50) oder durch Verrat (Petrus) indirekt auf die Seite der Gegner geschlagen hatten, wieder gegenübertritt, stellt er sie nicht für ihr Verhalten zur Rede, sondern sagt einfach:

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"Friede sei mit euch!" (Lk 24,36; vgl. Joh 20,19.26)

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Diese österliche Friedensbotschaft zeigt, daß Jesu Aufforderung zur Feindesliebe in der Bergpredigt sogar angesichts der totalen Negativität des Kreuzes radikale Gültigkeit besitzt. Gott verzeiht auch jenen Menschen, die die Botschaft der Bergpredigt nicht angenommen haben und am Tod seines Sohnes mitschuldig wurden. Formen der Klagereligion können sich nicht wirklich auf den Text der Schrift berufen.

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Die zentralen Texte der Schrift bedeuten also einerseits einen radikalen Bruch mit den archaischen Religionen, die ein Produkt des Sündenbockmechanismus sind und weisen uns andererseits einen Ausweg aus der zwischenmenschlichen Gewalt, der nicht in einer minimalen und dosierten Anwendung von Gewalt besteht, sondern uns zu Gewaltfreiheit und Feindesliebe aufruft. Die radikale Gewaltfreiheit Gottes, seine Feindesliebe und sein Verzeihen auch angesichts des Kreuzes sind den Menschen zum Vorbild gegeben:

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"Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er läßt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte." (Mt 5,44f)

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3. Die Geschichte des Christentums: Zwischen Sündenbockmechanismus und Gewaltfreiheit

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Das historische Christentum konnte den biblischen Impuls der Gewaltfreiheit nicht wirklich in der Welt zur Geltung bringen. Vielfach ist die Christenheit auf die Stufe der archaischen Religionen zurückgefallen. Der Kreuzestod Jesu wurde nicht mehr als radikale Aufdeckung des Sündenbockmechanismus verstanden, sondern mit den vielen Opfern der archaischen Religionen identifiziert. Diese Fehldeutung des Todes Jesu zeigt sich ansatzweise bereits im Hebräerbrief der Griechischen Bibel. Zwar betont der Hebräerbrief, daß der Tod Jesu das vollkommene und endgültige Opfer darstellt und verhindert dadurch einen Rückfall auf die Ebene der primitiven Opfertradition. Aber die tatsächliche Einzigartigkeit der Passionsgeschichte wird nicht wirklich deutlich. Eine Folge dieser Sicht war, daß in Gott wieder Gewalt hineinprojiziert wurde. Am stärksten zeigt sich das in der mittelalterlichen Theologie, die den Kreuzestod Jesu als ein von Gott gefordertes Opfer betrachtete. Dadurch, daß Gott selbst mit Gewalt in Verbindung gebracht wird, entlastet sich die Menschheit von der für alle gleichermaßen bestehenden Verantwortung für die Gewalt. Wenn aber nicht mehr die Verantwortlichkeit aller an der Gewalt unter den Menschen aufrechterhalten wird, dann kann man wieder nach Schuldigen suchen, um auf diese die Verantwortung abzuschieben. Deshalb gehört das Moment der Verfolgung anderer zu den Merkmalen dieses sakrifiziellen - also im Opferdenken wurzelnden - Christentums. Juden-, Ketzer-, Hexenverfolgungen, Kreuzzüge und Religionskriege waren die Folge dieser Fehldeutung der biblischen Schriften. In Form der Versuchung zur Klagereligion wurde diese Tendenz ja bereits angesprochen.

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Beispiel für ein solches sakrifizielles Christentum sind etwa die beiden - heute von katholischen Fundamentalisten hoch verehrten - katholischen Reaktionäre bzw. Gegenrevolutionäre Joseph de Maistre (1753-1821) und Juan Donoso Cortés (1809-1853). Das Opfer steht im Zentrum ihres Denkens. (16) Die Logik dieses Opferdenkens drückt sich konzentriert in den Worten des königlichen Staatsministers Graf Ferrand aus, einem Vertreter der theokratischen Restauration unter Ludwig XVIII., zu deren Theoretikern de Maistre zählte: "Ihr, die ihr für die Menschlichkeit kämpft, seid euch bewußt, daß etliche Tropfen Blut vergossen werden müssen, wenn nicht Ströme fließen sollen." (17) Für de Maistre ist die ganze Welt ein riesiger Opferaltar:

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"Die ganze Erde, die fortwährend mit Blut getränkt wird, ist nichts weiter als ein riesiger Altar, auf dem alles, was lebt, ohne Ziel, ohne Maß, ohne Unterlaß geopfert werden muß, bis zum Ende aller Dinge, bis zur Ausrottung des Bösen, bis zum Tod des Todes." (18)

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Auch der Krieg ist für beide aufs engste mit dem Opfergedanken verbunden. (19) Der Krieg ist der gewöhnliche Zustand der Menschheit, den man stets finden wird. Er dient letztlich der Läuterung und Sühne für die Laster der Völker. Aber er darf nicht nur als Übel angesehen werden. Er ist auch Quelle der Künste, der Wissenschaften und der großen menschlichen Unternehmungen. Ja, "das Blut ist der Dünger der Pflanze, die Genie heißt"(20). Wer den Krieg und damit die dadurch gewährleistete Aussühnung abschaffen will, riskiert das Ende der Welt überhaupt: "Die Gesellschaft ist in einem Dauerzustand des Krieges, weil es nicht einen einzigen Punkt im Raum gibt, nicht eine einzige Minute in der Zeit, wo die Gesellschaft nicht kämpfte gegen die Hindernisse, die sie immer vor sich hat. Ihre Vollendung ist nur darum unaufhörlich, weil ihre Aussühnung ununterbrochen ist. Unterdrück das Hindernis, den Widerstand, den Kampf, den Krieg endlich, - du hast unterdrückt die Aussühnung und mit ihr alle Kulturen. Das Leben schwindet aus dem All; das All wird nicht mehr sein als das Grab des Menschen."  (21) Ähnliches gilt bezüglich der Todesstrafe.(22) Wie der Krieg ist sie notwendig, hilft die interne Gewalt zu vermindern und darf nicht abgeschafft werden, wenn man verhindern will, daß die Erde sich in eine Hölle verwandelt, in der "selbst aus den harten Felsen Blut sprudeln wird". Zugespitzt zeigt sich das in de Maistres Verherrlichung des Henkers, der für ihn zur zentralen politischen Figur wird:

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"Alle Größe, alle Macht, alle Unterordnung beruht auf dem Scharfrichter; er ist der Schrecken und zugleich das Band aller menschlichen Zusammenkünfte. Nehmt diesen unbegreiflichen Bediensteten aus der Welt fort, und schon tritt an die Stelle der Ordnung das Chaos, die Throne versinken, und die Gesellschaft verschwindet."(23)

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Jene Stellen der Bibel - wie etwa Hebr 9,22 ("Ohne daß Blut vergossen wird, gibt es keine Vergebung") -, die durch ihre Ambivalenz den Unterschied zwischen biblischer Perspektive und archaischer Religiosität verwischen, nehmen in den Schriften von de Maistre und Donoso Cortés daher auch einen wichtigen Platz ein. (24) Wiederum dürfen wir aber bei aller Abscheu, die wir solchen Aussagen gegenüber empfinden, nicht vergessen, daß auch für de Maistre und Donoso Cortés es nicht um eine unmoralische Verherrlichung von Krieg und Todesstrafe geht. Wie die archaischen Religionen wollen sie durch den kontrollierten und gezielten Gewalteinsatz den kulturellen und politischen Frieden erhalten.

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Unsere Abscheu gegenüber solchen Texten zeigt allerdings, daß sich die biblische Botschaft doch - wenn auch sehr langsam - weiterverbreitet hat. Immer schwerer fällt es uns, die archaische Opferlogik politisch und gesellschaftlich zu rechtfertigen. Damit ist aber nicht gesagt, daß das Paradies auf Erden bereits in greifbare Nähe gerückt wäre. Im Gegenteil, vermutlich ist die enorme Zunahme an Gewalt im 20. Jahrhundert mit den beiden Weltkriegen, dem Holocaust und der nuklearen Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki ein indirektes Ergebnis der biblischen Botschaft. Die biblische Aufdeckung des Sündenbockmechanismus macht es für die Menschen immer schwieriger, auf die alten religiösen Praktiken der Gewalteindämmung zurückzugreifen. Ohne diese sakrifiziellen Hilfsmittel stehen sich die Menschen aber ungeschützt und von ihrer eigenen Gewalttätigkeit bedroht gegenüber. Die Aufdeckung des Sündenbockmechanismus garantiert noch nicht, daß es uns auch gelingt, die Botschaft der Gewaltfreiheit zu leben. Ohne gelebter Gewaltfreiheit besteht aber die Gefahr, daß die apokalyptischen Visionen der reaktionären Staatsphilosophen Wahrheit werden. Der biblische Geist macht langfristig eine Entscheidung zwischen einer gemeinsam gelebten Gewaltfreiheit und der möglichen kollektiven Selbstzerstörung immer dringlicher.

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Für uns Christen bedeutet diese Einsicht in die apokalyptische Dimension der Geschichte in erster Linie, in den eigenen Kirchen den gewaltfreien Geist der Bibel lebendig werden zu lassen. Vielleicht werden wir noch etwas warten müssen, bis wir im Bereich der Politik die Opferlogik der "Eumeniden" verabschieden können. Innerhalb der Kirchen wären aber gerade heute - nach dem doch weitgehend vollzogenen Abschied der Kirchen von aller direkten politischen Macht große Freiräume gegeben, um der ganzen Welt zu zeigen, wie ein Zusammenleben jenseits des Sündenbocklogik aussehen könnte. Damit dieser kurze Rückblick auf die Geschichte des Christentums nicht nur die negative Seite im Auge behält, möchte ich auch daran erinnern, daß es schon viele vorbildhafte Personen und Strömungen im Christentum gegeben hat, die gezeigt haben, daß die gelebte Gewaltfreiheit kein ortlose, völlig jenseitige Utopie bleiben muß. In der frühen Kirche, in den Waldensern, in Franz von Assisi, in den Friedenskirchen, in Dorothee Day, in Martin Luther King und vielen jetzt ungenannten und auch ganz unbekannten Christen wurde der biblische Geist der Gewaltfreiheit lebendige Wirklichkeit. Möge auch uns die Gnade zu teil werden, die uns hilft, in den Fußstapfen dieser Vorbilder einige kleine Schritte in Richtung einer gewaltfreieren Welt zu gehen.

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Anmerkungen:  

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 1. Vgl. Raymund Schwager, Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften. Thaur 31994; ders., Jesus im Heilsdrama: Entwurf einer biblischen Erlösungslehre. Innsbruck 1990; Dramatische Erlösungslehre. Ein Symposion. Hrsg. von J. Niewiadomski und W. Palaver. Innsbruck 1992; Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. Raymund Schwager zum 60. Geburtstag. Hrsg. von J. Niewiadomski und W. Palaver. Thaur 1995.

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2. Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt am Main 1993.

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3. Ebd. 9.

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4. Ebd. 11.

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5. Antje Vollmer, Heißer Frieden. Über Gewalt, Macht und das Geheimnis der Zivilisation. Köln 1995, 71.

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6. Ebd. 68.

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7. Vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt. Aus dem Französischen von E. Mainberger-Ruh. Zürich 1987, 104-133.

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8. Sophokles, König Oidipus. Übersetzt und Nachwort von E. Buschor. Stuttgart 1962, V. 22-30

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9. Ebd. V. 1410-1412.

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10. Aischylos, Die Eumeniden (Orestie III). Deutsch von E. Staiger. Mit einem Nachwort des Übersetzers. Stuttgart 1959, V. 977-987. Vgl. Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt am Main 31995, 144-246; René Girard, Hiob - ein Weg aus der Gewalt. Aus dem Französischen von E. Mainberger-Ruh. Zürich 1990, 185-193.

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11. Ebd., V. 862-65.

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12. Ebd., V. 909f.

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13. Vgl. Wolfgang Palaver, Politik und Religion bei Thomas Hobbes. Eine Kritik aus der Sicht der Theorie René Girards. Innsbruck 1991, 161-164.

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14. Elias Canetti, Masse und Macht. Frankfurt am Main 1981, 160f.

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15. Friedrich Heer, Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politische Religiosität. Frankfurt am Main 1989, 570.

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16. Joseph de Maistre, Abendstunden zu St. Petersburg oder Gespräche über das Walten der göttlichen Vorsicht in zeitlichen Dingen mit einem Anhang über das Opfer. Aus dem Französischen übersetzt von M. Lieber. 2 Bde. Frankfurt am Main 1824-25, II 139-190; II 333-424; Juan Donoso Cortés, Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus und andere Schriften aus den Jahren 1851 bis 1853. Hrsg., übersetzt und kommentiert von G. Maschke. Weinheim 1989, 188-204.

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17. Zit. nach Rainer Eisfeld, Joseph de Maistre und L.-G.-A. de Bonald. In: Pipers Handbuch der Politischen Ideen. Hrsg. v. I. Fetscher und H. Münkler. Bd. 4: Neuzeit: Von der Französischen Revolution bis zum europäischen Nationalismus. München 1986, 103-114, hier 103.

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18. J. de Maistre, Abendstunden II 33. Hier zit. nach Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte. Aus dem Englischen von R. Kaiser. Frankfurt am Main 1992, 147.

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19. J. de Maistre, Betrachtungen über Frankreich. Deutsch von F. v. Oppeln-Bronikowski. Hrsg. und mit einem Nachwort und einer Bibliographie versehen von G. Maschke. Wien 1991, 28-36; ders., Abendstunden II 31-47.410; Donsos Cortés, Essay 335f.

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20. J. de Maistre, Betrachtungen 33.

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21. Zit. nach Erich Przywara, Dionysisches und christliches Opfer. In: Stimmen der Zeit 129 (1935) 11-24, hier 19.

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22. Donoso, Essay 195-197.

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23. J. d. Maistre, Abendstunden I 40. Hier zit. nach I. Berlin 153.

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24. J. de Maistre, Abendstunden II 410; Donoso, Essay 194.

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