Literaturbeilage Herr Haas, ich habe lange hin und her überlegt, wo ich anfangen soll.
Wolf Haas Ja, ich auch.
Literaturbeilage Im Gegensatz zu Ihnen möchte ich nicht mit dem Ende beginnen, sondern –
Wolf Haas Mit dem Ende beginne ich streng genommen ja auch nicht. Sondern mit dem ersten Kuss.(Haas 2014, S. 5)
Mit dieser Konversation über Gesprächs- und Romananfänge beginnt das sich über mehrere Tage hinweg erstreckende Interview der als „Literaturbeilage“ bezeichneten Redakteurin einer deutschen Zeitung mit Wolf Haas, dem bekannten Autor zahl- und erfolgreicher Kriminalromane, anlässlich einer Buchneuerscheinung. Das Besondere daran: es hat in der Realität nie stattgefunden. Auch der im Rahmen des Interviews besprochene Roman und die vermeintlich wahre Begebenheit, auf der dieser beruht, sind frei erfunden. Das komplexe Erzählkonstrukt stammt aus der Feder des neben dem Namen noch einige weitere biographische Details mit dem Interviewten teilenden österreichischen Schriftstellers Wolf Haas und erschien 2006 als Buch mit dem Titel Das Wetter vor 15 Jahren mit dem Zusatz ‚Roman‘.
Es bildet damit ein geradezu paradigmatisches Beispiel für fingierte Epitexte, die im Zentrum meines Dissertationsprojektes stehen. Darin untersuche ich Texte deutschsprachiger Gegenwartsautor*innen, die vermeintlich faktuale Formate wie Interviews oder Gespräche für ihre Poetik produktiv machen und daraus eigenständige (auto)fiktionale Werke schaffen. Neben dem Wetter vor 15 Jahren eignen sich für die Analyse etwa Interviewromane wie Feridun Zaimoglus Kopf und Kragen. Kanak- Kultur-Kompendium (2001) und John von Düffels KL. Gespräch über die Unsterblichkeit (2015) sowie Clemens J. Setzʼ als eine Art analoger Turing-Test angelegter Interviewband Bot. Gespräch ohne Autor (2018). Diese Texte und medial davon abweichende Formen fingierter Epitexte reflektieren auf jeweils unterschiedliche Weise die Bedingungen, unter denen Werk und Autorschaft im literarischen Feld der Gegenwart hervorgebracht werden.
Den theoretischen Rahmen für die Untersuchung bildet dabei die Paratextualität, ergänzt um Aspekte der Autofiktion. Als Paratexte definierte der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette jenes „Beiwerk“, durch das „ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt.“ (Genette 2001, S. 10) Genette unterscheidet Paratexte weiters hinsichtlich ihrer materiellen Beziehung zum Haupttext in Peritexte und Epitexte. Erstere sind in direkter Umgebung des Haupttextes zu finden und medial daran gebunden, wie etwa Titel, Vorwörter, Kapitelüberschriften oder Angaben zum Genre. Epitexte, etwa Interviews und Gespräche in den Massenmedien, Tagebucheinträge oder private Briefe, stehen dagegen (zumindest ursprünglich) in materieller Entfernung zum Haupttext. Die verschiedenen Formen von Paratexten verbindet, dass sie entweder von dem/der Autor*in selbst stammen oder autorisiert wurden – also auktorial sind. Indem sie ihre Bezugstexte nach den Vorstellungen des Autors/ der Autorin rahmen, sorgen Paratexte dafür, dass Texte als solche und in weiterer Folge als Werke wahrgenommen werden können. Zugleich sind sie nicht als Schranke zwischen Text und Außenwelt zu verstehen, sondern vielmehr als „Schwellen“1 und Orte des Transfers. Sie dienen als Inszenierungsplattformen und kommunikative Schnittstellen, an denen Positionen im literarischen Feld und nicht zuletzt auch Fragen nach dem Verhältnis von Fakt und Fiktion verhandelt werden.
So sind Paratexte maßgeblich daran beteiligt, einen Text als fiktionales Werk auszuweisen. Zugleich können sie selbst zum Teil der Fiktion werden oder vollständig fingiert sein. Etwa in Form widersprüchlicher Gattungsbezeichnungen, irreführender Angaben zum/zur Autor*in in der Kurzvita oder als „Herausgeberfiktion“ (Wirth 2008) wie in Goethes berühmtem Roman Die Leiden des jungen Werthers. Gerade Peritexte werden mittlerweile selbstverständlich als Teil des Spiels zwischen Fakt und Fiktion wahrgenommen und entsprechend von der Forschung berücksichtigt. Bei Epitexten hingegen wird die Faktualität implizit vorausgesetzt. Autoreninterviews im Besonderen bilden einen wichtigen Bestandteil der Präsenzkultur im literarischen Feld, die auf die Herstellung von Nähe zum/zur Autor*in abzielt. Sie gehen dabei mit hohen Erwartungen an Authentizität und Faktualität einher. Fiktionalisierte Epitexte stellen diesen Faktualitätsanspruch produktiv infrage, indem sie die Mechanismen ihres Zustandekommens reflektieren.
Um das bisher wenig beachtete Verhältnis von Epitext und Fiktion und die damit verbundenen Potenziale zur Inszenierung und Fiktionalisierung von Autorschaft zu problematisieren, ergänze ich in meiner Dissertation den theoretischen Rahmen der Paratextualität um das Konzept der Autofiktion. Dieses geht auf den französischen Autor Serge Doubrovsky zurück und verweist auf eine Gattungshybride, bei der sich autobiographisches und fiktionales Erzählen überlagern. Typische Merkmale dafür sind etwa die Namensidentität von Romanfigur und Autor*in oder die Anreicherung einer Autobiographie mit erfundenen Passagen. Mein Dissertationsprojekt interessiert sich dabei speziell für solche Autofiktionen, in denen sich Autor*innen selbst – unter den Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen des literarischen Feldes – fiktionalisieren, wie etwa Thomas Glavinics Literaturbetriebssatire Das bin doch ich (2007). In dem uneindeutigen Verhältnis aus Fiktionalem und Faktualem analog zu Text und Paratext entstehen, so die Annahme, Zwischenräume, in denen sich Autorschaft konstituiert.
Mit Blick auf Wolf Haas’ Wetter vor 15 Jahren können zentrale Aspekte dieser Vorüberlegungen konkretisiert werden. Die Peritexte am Bucheinband, wie Titel, Autorname, Klappentext, insbesondere aber die Genrebezeichnung ‚Roman‘, lassen zunächst auf ein fiktionales Werk schließen. Ein Blick ins Buch bricht jedoch mit dieser Erwartungshaltung. So zeigt sich der Text nicht in der für die Gattung ‚Roman‘ üblichen Prosaform, sondern in einer für Interviews typischen Struktur aus Frage und Antwort. Die Rahmung als fiktionales Werk steht damit in Kontrast zur Form des Interviews, das als Epitext Faktualität suggeriert. Darüber hinaus ist der Text als Autofiktion angelegt, indem die interviewte Person den Namen und viele biographische Details mit dem am Buchcover ausgewiesenen realen Autor Wolf Haas teilt. Das Spannungsverhältnis zwischen Fakt und Fiktion setzt sich im Text auf verschiedenen Ebenen fort. Das Interview etwa bezieht sich in weiten Teilen auf einen Roman, der so aber nie erschienen ist. Er setzt sich vielmehr über das Gespräch zwischen Literaturbeilage und Autor – gewissermaßen vor den Augen der Leser*innen – zu einem kohärenten Narrativ zusammen, wodurch nicht zuletzt die Bedeutung von Epitexten für die Konstituierung eines Werks aufgezeigt und zugleich ironisiert wird. Der fiktive Roman wiederum literarisiert die vermeintlich wahre, in Wirklichkeit aber ebenso fiktive, Geschichte von Vittori Kowalski. Dieser war bei der Fernsehshow Wetten, dass...? mit der zugleich titelgebenden Wette angetreten, das Wetter der letzten 15 Jahre in einem österreichischen Urlaubsort auswendig aufsagen zu können. Der fiktive Wolf Haas, von den Hintergründen der kuriosen Wette angetan, nimmt Kontakt zu Kowalski auf und wird nicht zuletzt Augenzeuge eines Ereignisses, das später als dramatischer Höhepunkt der in Romanform fiktionalisierten Lebensgeschichte des Wettkönigs fungieren wird. Ein ‚Wolf Haas‘ findet sich folglich auf den verschiedenen Ebenen dieser verschachtelten Erzählstruktur wieder. Über die Situation des fingierten Interviews fiktionalisiert er sich gewissermaßen selbst und erschafft sich auf multiple Weise als Autor, Erzähler und Romanfigur.
Werke wie Wolf Haas’ Das Wetter vor 15 Jahren lassen sich dabei als Reaktion auf spezifische Tendenzen im literarischen Feld der Gegenwart verstehen, das sich durch ein steigendes Interesse an präsenten Autor*innen, deren ästhetischen wie poetologischen (Selbst-)Kommentaren auszeichnet. So nimmt der Stellenwert epitextueller Präsenzformate wie Interviews, -Homepages, Social-Media-Auftritte, Preisreden oder Teilnahmen an Podiumsdiskussionen seit einigen Jahren beständig zu, wodurch sie sich zugleich als ideale Plattformen für Werkpolitik, auktoriale Inszenierungsmaßnahmen und Selbstfiktionalisierung erweisen. Fiktionalisierte Epitexte reflektieren und dekonstruieren diese Mechanismen und Dynamiken im Rahmen einer Poetik, die zwischen Fakt und Fiktion oszilliert.
So endet Wolf Haas’ Das Wetter vor 15 Jahren auch nicht mit einem Punkt, sondern mitten im unvollständigen Satz:
Wolf Haas Schalt lieber aus, dann kann ich dir wirklich alles erzählen.
Literaturbeilage Na gut, aber erinnere mich auf jeden Fall daran, dass ich wieder einschalte, wenn wir dann über Frau Ba(Haas 2014, S. 221)
Nachdem die Gesprächspartner*innen vom förmlichen Sie zum vertrauten Du gewechselt haben, wird das Aufzeichnungsgerät abgeschaltet und das offizielle Interview beendet. Dieser Akt markiert zugleich einen potenziellen Neubeginn für eine Geschichte, die möglicherweise off the record fortgeschrieben wird – von und mit Wolf Haas.
Quellen
Birnstiel, Klaus: Interview, Präsenz, Paratext. Versuch einer vorläufigen Feldbestimmung. In: Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb. Hg. von Torsten Hoffmann und Gerhard Kaiser. Paderborn 2014, S. 63–80.
Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a.M. 2001.
Haas, Wolf: Das Wetter vor 15 Jahren. München 2014.
Pottbeckers, Jörg: Der Autor als Held. Autofiktionale Inszenierungsstrategien in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Würzburg 2017.
Schaffrick, Matthias: Das Interview als Roman. Das Wetter vor 15 Jahren von Wolf Haas. In: Echt Inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb. Hg. von Torsten Hoffmann und Gerhard Kaiser. Paderborn 2014, S. 417-429.
Wegmann, Thomas / Voß, Torsten / Reinhard, Nadja: Auktoriale Paratexte um 1800. Einleitung. In: Torsten Voß (Hg.): "Drumherum geschrieben?". Zur Funktion auktorialer Paratexte für die Inszenierung von Autorschaft um 1800. Hannover 2019, S. 7-33.
Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800, Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann. München 2008.
(Anna Obererlacher)
1 Genettes Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches ist im Original unter dem Titel Seuils erschienen, dem französischen Wort für Schwelle.
Zur Person
Anna Obererlacher studierte Germanistik in Innsbruck und Göteborg/Schweden. Ihren master erlangte sie mit einer Abschlussarbeit über Briefe als innovative Epitexte im Kontext von Schriftsteller-Philologen-Beziehungen um 1900. Seit 2020 ist sie Mitarbeiterin im bilateralen Forschungsprojekt „Formen und Funktionen auktorialer Epitexte im literarischen Feld der Gegenwart“, gefördert vom FWF und der DFG. Ihre Dissertation mit dem Arbeitstitel “Die Fiktionalisierung von Epitexten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur”, betreut von Univ.-Prof. Dr. Thomas Wegmann, entsteht im Rahmen des Arbeitspakets Fingierte Epitexte.