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Sandler Willibald: Christusverschüttung
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Christusverschüttung
(Geschichte einer Nicht-Begegnung)

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:Gottesentdeckungen. Hg. Chr. Kanzian, R. Siebenrock, Thaur: Thaur Druck- und Verlagshaus 1999, 144-171
Datum:2001-09-20

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

1
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In der Bahnhofshalle um 23 Uhr. Ein Buch unter den Arm geklemmt warte ich auf den Spätzug. Wankende, hinkende und torkelnde Gestalten, lallend, in abgetragenen, protestierenden Kleidern, bevölkern den Saal. Sie durchqueren ihn, stehen oder lehnen herum, einzeln oder in kleinen Gruppen.

2
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Darunter ein Mädchen, erschreckend jung und bemüht, alles Schöne aus ihrer Erscheinung zu verbannen. Ihr langer, schwarzer Mantel reicht bis zu den Schuhen und ist unten eingerissen. Dunkle Sonnenbrillen mit kleinen, kreisrunden, schwarz getönten Gläsern; in einem Nasenflügel steckt ein Ring; die Lippen grell rot geschminkt, ihr Gesicht eine stumpfe, traurige Maske. In der Hand eine Zigarette, wankt sie von einer Gruppe zur anderen, scheint keiner zuzugehören, wahrscheinlich schnorrend. Sie durchquert den Saal, geht auf zwei Wartende zu, spricht sie kurz an, macht kehrt; kommt nun auf mich zu, den Mantel vorne weit offen, die Beine nackt bis ganz oben, ein äußerst kurzer Rock, wenn überhaupt. So wankt sie in meine Richtung, wirft die Arme hilflos auseinander und lallt: "Hat keiner drei Schilling für mich?" Ohne diese Frage an jemand bestimmten zu richten und auf eine Antwort nicht achtend zieht sie schräg an mir vorbei.

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Wenig später betreten zwei Polizisten die Halle. Zunächst ziellos, nähern sie sich schließlich einem hinteren Winkel des Saales, wo am Boden ein Mann kauert, auch betrunken. Sie reden auf ihn ein, zerren ihn hoch, führen ihn ab. Widerstrebend ihrem Zwang folgend, torkelt er hinaus. - Das Mädchen ist inzwischen verschwunden. Erst jetzt fällt mir ein penetrantes, metallisches Klopfen auf, hinter mir, wo ein Bursche mit eingerissenen Jeans einen harten Gegenstand an ein Geländer klopft, wohl schon seit fünf Minuten.

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Am nächsten Tag im Auto, mitten im stockenden Stadtverkehr. Es ist kein richtiger Stau, sondern gerade so, daß man von einem Rot ins nächste rutscht. Kein Termin drängt, aber das Gefühl sinnlos vergeudeter Zeit macht mich unruhig. Gott in allen Dingen finden? Auch in diesem erzwungenen Alltags-Leerlauf? Meine Gedanken schweifen zurück zur gestrigen Bahnhofsszene. Es ist nicht das erste Mal, daß ich daran denke. Zu hause erzählte ich meiner Frau davon, und sie hat sich betroffen abgewandt. Warum läßt mich dieses Bild nicht los? - Gott in allen Menschen finden?

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Jesus Christus, du Gegenwart Gottes, wenn ich mir dich mit diesem Mädchen vorstelle, wirst du selbst mir fremd. Nicht, weil ich mir nicht denken könnte, daß du dich mit ihr solidarisierst. Sondern gerade, weil ich mir das vorstellen kann. Ich male mir aus, wie du auf sie zugegangen wärst. Vielleicht schenktest du ihr ein paar Münzen, ein tröstendes Wort, eine Berührung deiner Hände. Und sie? Sie würde dich vielleicht nicht einmal anspucken. Sie würde nach den Münzen grapschen und schräg an dir vorbeistolpern. Du kämst doch kaum an sie heran! Wie könntest du dich gar mit ihr identifizieren?

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"Was ihr für einen meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40).

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Und wenn du mir doch in ihr hättest begegnen wollen?

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"Wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?" (Mt 25,44).

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Du willst mir in ihrer Gestalt begegnen? Ich kann doch kaum einen Menschen in ihr sehen!

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Ich denke zurück an einen Mann wie mich, in der Bahnhofshalle mir gegenüber, nicht mit Buch, sondern mit Frau und Hund, auch auf den Spätzug wartend; und an seine Blicke, die dem Mädchen folgten, ebenso wie den anderen Gestalten. Neugierig, ein wenig amüsiert, verfolgte er sie mit seinen Augen. Als Unbeteiligter. Wie beim Fernsehen. Wie die Gaffer bei einem Unfall. Wie ich?

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Was macht Außenseiter so interessant? Was verführt mich dazu, immer neu hinzustarren, um mich voll Scham dann wieder abzuwenden? Diese Scham zielt nicht nur auf die entblößte, entwürdigte Andere, sondern auch auf etwas Verborgenes in mir selber, das mich gemacht hätte zu etwas wie sie, wenn ich ihm nur Raum gegeben hätte. Und von diesem unterdrückten anderen in mir gärt etwas herauf wie Neid. Sie hat sich getraut, alles auszuleben: das Bedürfnis nach maßloser Lust, das ich mir so oft versagt habe, um das kleine Glück groß werden zu lassen. Die Leitplanken von Konventionen und Kompromissen, die meinen Weg so sehr bestimmt haben, hat sie irgendwo durchbrochen; und damit Bereiche betreten - verbotenes Land - die mir wohl immer fremd bleiben werden. Geschieht es ihr nicht recht, daß sie den Genuß dieser verbotenen Früchte nun auch bezahlen muß? Was von dieser unheimlichen Unterströmung in mir heraufquillt, schmeckt nach schadenvergönnendem Haß.

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In unserer toleranten, alles sich einverleibenden Gesellschaft hat sie es fertiggebracht - wenigstens in diesen Bahnhofminuten für uns Gaffer - sich ganz außerhalb zu stellen und damit eine verborgene Grundmauer sichtbar zu machen, die unsere Gesellschaft säuberlich teilt in ein wohlgenormtes Innen und ein tabuisiertes Außen, um ihr so ein einigendes Fundament zu geben. Vielleicht ist das der Grund, warum unsere Blicke immer wieder zu ihr zurückirren, warum wir sie uneingestanden suchen, - in der Kolportage und in der Regenbogenpresse. Gerade in ihrer Erbärmlichkeit brauchen wir sie. Deshalb können wir ihr nicht helfen, und deshalb wollen wir es auch nicht.

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Ich spüre den Bann einer geheimen Solidarität, die mich verbindet - nicht mit ihr, sondern mit den anderen Gaffern gegen ein Außen, das nun hereinlugt in dieser Erscheinung mit langem Mantel, dunklen Sonnenbrillen und zu kurzem Rock. Das ist nicht eine "Solidarität für", sondern eine "Solidarität gegen", die mich anwidert und der ich mich dennoch nicht entziehen kann. Es ist eine Anti-Solidarität, die verhindert, daß ich mich herausschäle aus dieser Wand und ihr die Hand entgegenstrecke, meine Hand, wenn auch nur gefüllt mit ein paar Münzen. Hat nicht dieselbe Gegen-Solidarität schon damals eine gaffende Menge gegen den zerschundenen, kreuztragenden Jesus verbunden? Und macht sie nicht mich zu einem Teil dieser Menge?

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Vater vergib mir, denn auch ich weiß nicht, was ich tue!

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... und ich weiß nicht, was ich tun soll! Denn welche Alternative gäbe es? Ich schenkte ihr ein paar Münzen, aber was wäre damit geholfen? Ich reichte ihr meine Hand, aber würde sie sie nehmen? Ich versuchte, sie zu stützen, redete mit ihr aus einer ehrlichen Betroffenheit heraus, böte ihr vielleicht sogar an, sich bei mir zu hause auszuschlafen. Aber - wenn sie tatsächlich mitkäme - könnte ich die Konsequenzen tragen? Ihre Schmutzigkeit, ihre Unzuverlässigkeit, ihre Verachtung? Und wenn ich versagte, würde ich ihr nicht eine weitere Bestätigung geben, daß all unsere Zuwendung nur ihr Einverständnis erkaufen will, daß ihr Weg falsch war und unserer richtig?

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"Wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? Sonst könnte es geschehen, daß er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertigstellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten und sagen: Der da hat einen Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen" (Lk 14,28-30).

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Aber darum geht es noch nicht! Es geht nur um den ersten Schritt: daß ich aus echter Barmherzigkeit auf sie zugehe. Ob ich sie tröste oder anherrsche, ob ich ihr Hilfe anbiete oder Haltung abfordere, das ist dann nicht mehr die Frage. Das wird sich geben. Nur die Qualität des ersten Schrittes, so wenig, so einfach! - Und doch undurchführbar, solange noch diese begierliche, Neid und Haß weckende Unterströmung in mir da ist. So lange werde ich die Mitte nicht finden zwischen zurückweisender Aburteilung und anbiederndem Mitgefühl, werde ich nicht unterscheiden können zwischen ihren gerechten Anklagen und ihren Selbstbelügungen, werde ich es nicht fertigbringen, so mit ihr zu sein, daß sie sich mit mir gegen das in ihr wenden kann, das sie kaputtmacht, um ihrem Leben eine andere Richtung zu geben.

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Ich ahne, daß sie diese Untiefe in uns spürt. Vielleicht nennt sie sie Verlogenheit oder Kleinkariertheit und hat sie bekämpft in ihren Eltern oder Lehrern. Weil sie um diese Abgründe wissen könnte, - auch wenn sie dieses Wissen mißbrauchte, um sich selbst zu belügen - will ich nicht heraustreten aus der Anonymität der Gaffer. Damit nicht sie das in mir aufdeckt! Deshalb will ich mich nicht auf sie einlassen! Denn das würde mir mehr abfordern als Zeit und Geld. Es würde unbarmherzig alles Unreine und Verlogene aus meinen Abgründen hervorzerren.

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Das zu ahnen, in mir und in den anderen, muß ihrer Verachtung Kraft geben. Einer Verachtung, die sie noch in ihrer Prostitution uns entgegenschleudern kann. So dreht sie den Spieß um: In ihrer schamlosen Nacktheit hält sie uns einen Spiegel vor, will uns die Hüllen vom Leib reißen. Auf einmal ist sie es, die den Finger auf uns richtet, auf diese starrende Wand, und uns anflucht: "Die Schweine, die seid doch ihr!"

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Eine eiternde Wunde hat sie in mir aufgekratzt, in mir und in der Gesellschaft, der ich mich zugehörig fühle. Und doch darf ich ihr nicht recht geben in ihrer Anklage, die sie uns voll Haß entgegenschleudert: "Ihr seid doch die Schuldigen! Starrt mich nur an, ich bin euer Opfer!" - Würde ich diese Lüge akzeptieren, mit der sie ihre Blöße verdeckt und erträglich macht, dann wäre wieder Nichtbegegnung, nur eben mit umgekehrten Vorzeichen. Begegnung wäre nur möglich, wenn jeder die Blöße an sich selber demütig akzeptierte, sie weder verhüllte, noch schamlos anklagend vor sich hertrüge. Aber diese Mitte finde ich nicht aus eigener Kraft! - -

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Jesus, du hast die Kranken geheilt, wenn sie nur zu dir gekommen sind. Heile auch uns! - von dieser Krankheit, die sich in ihr zur sichtbaren und in mir zur unsichtbaren Erbärmlichkeit auswuchs, die uns gegeneinanderhetzt, sodaß wir einander nicht Mensch sein können, und die mich in Allianzen treibt, die mir zuwider sind.

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Jesus, du hast diese Abgründe aufgedeckt, bei den Insidern wie bei den Outsidern. Und beide Seiten haben dich verworfen, weil keine deine Wahrheit ertrug. So fanden sie alle gegen dich zusammen, die drinnen und die draußen, in einer heimlich-unheimlichen Allianz. Sie haben dich ausgestoßen, weil du ihnen nicht in billiger Weise Recht gabst gegeneinander; und weil du dich trotzdem nicht von ihnen absetztest, denn du wolltest niemanden aufgeben. So bist du zwischen alle Stühle geraten. Dein Kreuz steht genau dort, wo Grenzen errichtet sind zwischen Menschen drinnen und Unmenschen draußen. Wo die Mauern sich erheben zwischen Personen und Unpersonen, da liegst du verschüttet.

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Aber an diesem Ort können wir dich auch aufspüren. Und wer dich dort findet, muß keine Grenzen mehr errichten. Mit dir können "die drinnen" sich annehmen, ohne "die draußen" zu verachten, und "die draußen" einen Halt finden, ohne dazu den Protest gegen "die drinnen" zu brauchen. In dir kann Drinnen und Draußen zueinanderfinden. Und wo diese Begegnung gelingt, wird begreifbar, daß du nicht nur der Gekreuzigte bist, sondern der Auferstandene, - das Leben!

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Jesus Christus, heile sie - und heile mich! Ich will nicht nochmals die Chance verpassen, dir in einer scheinbar "ganz anderen" zu begegnen. Was dann daraus wird, - ein schlichtes Zeichen der Wertschätzung, das sie vielleicht doch erreicht, oder ein langer Kreuzweg gemeinsamen Ringens um eine neue Freiheit - das will nicht ich entscheiden. Laß uns nur bereit sein!

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