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Goller Hans: Willensfreiheit - eine Illusion?
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Willensfreiheit - eine Illusion?

Autor:Goller Hans
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Stimmen der Zeit 221, September 2003, Heft 2.
Datum:2003-05-22

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

1
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Im Alltag glauben wir an die Macht des Willens. Wir unterscheiden zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Handlungen und machen Menschen für das, was sie tun, verantwortlich. Eine Handlung nennen wir frei, wenn sie von innen kommt und absichtlich erfolgt. Wir erleben, dass wir selbst bestimmen können, ob und wann wir handeln. Die Idee der Willensfreiheit ist auch eine selbstverständliche Grundlage unseres Zusammenlebens und unserer Rechtsordnung. Doch manches, was wir im Alltag als selbstverständlich annehmen, entlarvt die Wissenschaft als Illusion.

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Nikolaus Kopernikus entdeckte, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Charles Darwin machte uns auf unsere tierische Herkunft aufmerksam. Nach der "kosmologischen" und der "biologischen" Kränkung blieb uns Menschen zumindest der Trost, wenigstens Herr im eigenen haus zu sein. Doch dann bescherte uns Sigmund Freud die "psychologische" Kränkung, die uns empfindlicher traf als die beiden anderen. Denn nach Freud sind wir nicht einmal Herr im eigenen haus, sondern nur hausknechte der uns beherrschenden Triebe. Und jetzt steht uns, meint Hans Flohr, eine vierte Kränkung ins haus mit weit verheerenderen Folgen für unser überliefertes Selbstverständnis als alle bisherigen Demütigungen durch die Wissenschaft: Die reduktionistische Erklärung des Geistes.

3
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Ihr zufolge ist der Geist nichts anderes als das Gehirn. Für den Molekularbiologen Francis Crick sind wir nichts weiter als ein "Haufen Neuronen". Ist damit auch das Erleben der Freiheit bloß ein Abfallprodukt neuronaler Prozesse, ähnlich dem Klang einer Dampfpfeife, der auf die Funktionsweise der Dampfmaschine keinen Einfluss hat? Nach dem Bremer Gehirnforscher Gerhard Roth sind wir weder in dem, was wir wollen, noch in dem, was wir tun, frei. Denn neurobiologisch gesehen gebe es gar keine Willensfreiheit. Roth ist (wie Freud) davon überzeugt, dass weder Vernunft und Verstand noch das Ich unser Handeln bestimmen, sondern das Unbewusste. Unser Wollen, Denken und Handeln werde nämlich weitgehend von limbischen Gehirnstrukturen gesteuert, die grundsätzlich unbewusst arbeiten. Wir erleben uns zwar als Urheber unseres Handelns und hätten das Gefühl, wir hätten auch anders handeln können, aber das sei eine Illusion.

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Tatsächlich entdeckte der Neurobiologe Benjamin Libet, dass Versuchspersonen der Entschluss, die Hand zu heben, erst bewusst wird, nachdem ihr Gehirn bereits mit der Vorbereitung der Bewegung begonnen hat. Dem Willensentschluss geht ein Bereitschaftspotential von durchschnittlich 350 Millisekunden voraus. Das bewusste Wollen kann gar nicht die Ursache der neuronalen Aktivität sein, weil es erst nach dem Aufbau des Bereitschaftspotentials auftritt und niemals gleichzeitig mit diesem. Manche Autoren ziehen aus diesem Befund den Schluss: Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun. Für den Hirnforscher Michael Gazzaniga sind wir die letzten, die erfahren, was unser Gehirn vorhat. Doch nach Libet ist unser Wille nun doch nicht ganz so machtlos. Denn zwischen dem Bewusstwerden des Entschlusses und der Ausführung der Bewegung selbst liegen 200 Millisekunden, und in dieser Zeit kann der Wille intervenieren und entscheiden, ob er die Bewegung durchführt oder nicht. Der Wille vermag zwar nicht, die neuronale Aktivität zu initiieren, doch kann er die einmal in Gang gesetzte Aktivität stoppen. Der Wille ist demnach kein Initiator, sondern ein Zensor. Libet zeigt, dass das Bereitschaftspotential nicht immer zu einer Handlung führt, denn es kann auch in Abwesenheit jeglicher Handlung auftreten.

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Unser Erleben und Verhalten hängen von einem funktionierenden Gehirn ab. Insofern hat auch alles Argumentieren für und wider die Willensfreiheit letztlich seinen Ursprung in Gehirnvorgängen. Das trifft auch auf die Meinung zu, Willensfreiheit sei eine Illusion. Gehirnprozesse gehorchen physiologischen, physikalischen und chemischen Gesetzen und sind somit determiniert. Geist und Bewusstsein fügen sich in das Naturgeschehen ein. Ist unsere Erfahrung, frei entscheiden und handeln zu können, mit der Vorstellung vereinbar, dass wir als Entscheidende selbst Teil der Welt der Ursachen und Wirkungen sind?

6
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Nun, es geht, wie der Philosoph Peter Bieri in seinem Buch "Das Handwerk der Freiheit" betont, weder darum, die Freiheit des Willens gegen jede Bedingtheit zu verteidigen und zu zeigen, dass es sie gibt, noch darum, der umfassenden Bedingtheit tapfer ins Auge zu sehen und uns von der Illusion der Willensfreiheit zu verabschieden. Wir müssen vielmehr verstehen, wie sich Freiheit und Unfreiheit im Rahmen universeller Bedingtheit unterscheiden. Freiheit und Unfreiheit gibt es nur innerhalb vielfältiger Bedingtheit. Was wir wollen, hängt von den Angeboten der Welt, den äußeren Umständen, von unserem Charakter und unseren persönlichen Erfahrungen ab. Es ist ein fundamentaler Fehler, den Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit des Willens mit dem Unterschied zwischen Unbedingtheit und Bedingtheit in Verbindung zu bringen. Ein unbedingter Wille entspricht nicht unserem Freiheitserleben. Natürlich gibt es Willensfreiheit, so Bieri, man muss nur an der richtigen Stelle nach ihr suchen.

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Viele Neurowissenschaftler ignorieren, dass uns Denken, Fühlen und Wollen nur in der Erlebnisperspektive unmittelbar gegeben sind und dass auch Freiheitserlebnisse keine von außen beobachtbare Eigenschaft des Gehirns sind. In der reinen Beobachterperspektive einer naturwissenschaftlichen Beschreibung kommen sie überhaupt nicht vor. Die beiden Perspektiven lassen sich auch nicht aufeinander reduzieren, denn keine schließt die andere aus. Unser Wissen über das Gehirn ist unvollständig. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie das Erleben des freien Willens aus objektiv beschreibbaren Hirnprozessen hervorgeht. Angenommen, wir wüssten alles über das Gehirn eines Menschen, was es aus neurobiologischer Sicht zu wissen gibt: Wie viel wüssten wir damit über das Erleben der Freiheit dieses Menschen?

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