Zeng Shaoli 曾少立, alias Lizilizilizi 李子梨子栗子, *1964
Vier Bambuszweiggedichte nach Sun Guangxian 仿孫光憲竹枝四首
Übersetzung:
仿孫光憲竹枝四首 曾少立
一
核酸檢罷(清零)幸開房(躺平)。
明日營生(清零)謁甲方(躺平)。
綠碼來遲(清零)城欲曙(躺平),
長宵驚夢(清零)已三場(躺平)。
Vier Bambuszweiggedichte nach Sun Guangxian
1
Schon mal gemacht ein Säuretest (Null Covid!) die Zimmertür aufgeht (Schluss damit!)
Den andern Tag gehts ums Geschäft (Null Covid!) das im kalender steht (Schluss damit!)
Das Grünlicht auf sich warten lässt (Null Covid!) erwachen will die Stadt (Schluss damit!)
Die lange Nacht, traumlos gemacht (Null Covid!) ob man diesmal besteht. (Schluss damit!)
二
大白洶洶(清零)走迅雷(躺平)。
封樓控路(清零)捉人回(躺平)。
避逃十里(清零)頻看碼(躺平),
猶恐時空(清零)會伴隨(躺平)。
2
Große Weiße, brüllend-schäumend (Null Covid!), die wie Donnerrollen, (Schluss damit!)
Häuser schließend, Straßen sperrend (Null Covid!) Menschen fangen sollen (Schluss damit!)
Meilenweit davongerannt, starr’ (Null Covid!) pausenlos auf die App. (Schluss damit!)
Die Angst, daß durch die Zeit, den Raum (Null Covid!) sie dich verfolgen wollen (Schluss damit!)
三
頭燒骨痛(清零)閉居家(躺平)。
藥力無多(清零)睡尚佳(躺平)。
為有名醫(清零)能帶貨(躺平),
夜燈高照(清零)某蓮花(躺平)。
3
Die Stirn brennt heiß beim Gliederschmerz (Null Covid!) zuhause eingesperrt (Schluss damit!)
Heilmittel kaum zu haben sind (Null Covid!) bloß Schlaf hat sich bewährt (Schluss damit!)
Berühmten Ärzten sei der Dank (Null Covid!) Ware erhält man noch (Schluss damit!)
Beleuchtet nachts, hoch aufgehängt (Null Covid!) das Zeug ist kaum was wert. (Schluss damit!)
四
城市謀生(清零)摸滾爬(躺平)。
兩天一檢(清零)懼毫差(躺平)。
羊隨大溜(清零)終全劇(躺平),
不捉方艙(清零)謝國家(躺平)。
4
Die Metropole überlebt (Null Covid!) so wie sie tastend schleicht (Schluss damit!)
Alle zwei Tage einmal Test (Null Covid!) Angst, ob es wieder reicht (Schluss damit!)
Die Herde quert den Virenstrom (Null Covid!) das Stück ist ausgespielt (Schluss damit!)
Niemand wird nunmehr eingepfercht (Null Covid!) dank Staat und Polizei! (Schluss damit!)
Kommentar
Als konkrete Textvorlage, an der sich Lizi beim Verfassen seiner vier Stücke orientierte, gibt der Autor das folgende „Bambus-Lied“ (zhuzhi ci 竹枝詞) des Sun Guangxian (896 – 968) an:
門前春水(竹枝)白蘋花(女兒)。岸上無人(竹枝)小艇斜(女兒)。
商女經過(竹枝)江欲暮(女兒),散拋殘食(竹枝)飼神鴉(女兒)。
Vor den Toren Frühlingsfluten (Bambuszweig!) Seegras, weiß erblühend (Feine Maid!)
Niemand am Ufer, kleines Boot (Bambuszweig!) Sonne, untergehend (Feine Maid!)
Händlerinnen ziehn vorüber (Bambuszweig!) Strom zieht in den Abend (Feine Maid!)
Sie verfüttern Essensreste (Bambuszweig!) an die Geisterkrähen (Feine Maid!)
Wie läßt sich die Entscheidung Lizis für die ausgefallene traditionelle Versform, die er im Eigenkommentar durch die Angabe des Textes Sun Guangxians konkretisiert, deuten?
Auf einen ersten Blick hat Suns Text aus dem zehnten Jahrhundert keinen erkennbaren Bezug zu den Vierzeilern Lizis, die doch über den Titel vorab als Adaptationen dieser Verse bezeichnet sind. Nicht viel Zeit muss man sich allerdings für den zweiten Blick lassen, um schließlich der Verbindung auf die Spur zu kommen. Es handelt sich eben keinesfalls nur um eine spontan ansprechende Rhythmusfigur, die sich der Dichter in Nachahmung des alten Vorbildes angeeignet hat. Wie sich die Lyrik der Moderne und Gegenwart eher an individuellen bzw. an aktuellen Themen orientiert so hält sich die frühere Versdichtung überwiegend an konventionelle Themenbereiche, wie hier Sun an die Thematik der „Bambuszweig-Lieder“ 竹枝词 in der von Liu Yuxi im neunten Jahrhundert begründeten Tradition. Diese bot den Literatendichtern die Möglichkeit ihren Blick von der üblicherweise hohen Diskursebene auf Dinge bzw. auf Momentaufnahmen alltäglicher Art zu richten. Dabei durften in die scheinbar nebensächlichen Beobachtungen auch witzige Aperçus einfließen, die assoziative Gedankenflüge zwischen dem äußerlich objektiven Gegenstand und der den Autor mit seiner Leserschaft verbindenden Subjektivität ermöglichten. Sun hatte offensichtlich die klassische Themenvorlage eines abendlichen Stelldicheins gewählt und seine Verse verarbeiten sie auf ironische Weise, indem er, statt der am abendlichen Flussufer auftauchenden Schönen, nur ein paar „Händlerinnen“ vorbeiziehen lässt, die mit den Resten eines Picknicks die „Geisterkrähen“ füttern. Die mehrstimmige Anlage der Sprecher führt die tonangebende Solostimme durch das Rezitativ eines Chors, der sich möglicherweise im Sinne eines symbolischen Wechsels in männliche („Bambuszweig!“) und weibliche („Feine Maid!“) Stimmen aufteilte.
In dieser über mehrere Textebenen aufgebauten, hochgradigen Ironie fand Lizi offenbar eine Inspiration für seine Texte. Allerdings lässt er die klassischen Topoi außenvor und richtet seinen Blick nüchtern auf die andauernde Aktualität der um knapp zwei Jahre zurückliegenden traumatischen Pandemiezeit. Über die vier Stationen seiner Gedichtreihe konstruiert er ein für seinen Schreibweise charakteristisches, fiktives Geschehen, wobei die Ebenen der Haupt- und der Chorstimmen natürlich nicht die traditionell stimmungsgeladene, subjektive Erwartungshaltung (Stelldichein) konterkarieren, sondern ein (noch immer) aktuelles, etwa zwei Jahre zurückliegendes Trauma poetisch nachgestalten bzw. „verarbeiten“.
Der Tradition der Bambuslieder bleibt der Cyberlyriker insofern treu als er – wie allerdings auch in anderen klassischen Textformaten – den Alltag der Pandemiezeit ins Auge fasst und mittels der vierteiligen Serie mehrstimmig strukturierter Vierzeiler die pausenlose Intervention des Staates und der Parteimacht in diesen Alltag sowie die darin erkannte Anmaßung und Behördenwillkür parodiert. Zudem wird beim Leser, ähnlich wie in der klassischen Lyrik, eine persönliche Erfahrung des Kernerlebnisses, um das die Texte zirkulieren (also der Pandemiejahre zwischen Anfang 2020 und Ende 2023) vorausgesetzt. Das suggeriert bei Lizi charakteristischerweise die kollektive lyrische Subjektivität, die individuell Erfahrenes zum fiktiven Allgmeinplatz umgestaltet. So deutet etwa der zweite Doppelvers des dritten Stückes
Berühmten Ärzten sei der Dank (Null Covid!) Ware erhält man noch (Schluss damit!)
Beleuchtet nachts, hoch aufgehängt (Null Covid!) das Zeug ist kaum was wert. (Schluss damit!)
aus der Perspektive des sich an Isolation und ebenso schlecht verfügbare wie wirkungsschwache Medikamente des letzten Pandemiejahres Erinnernden unmittelbar auf den Prestigeverlust, den in der Öffentlichkeit zuvor angesehene Fachleute (etwa Zhong Nanshan) angesichts des katastrophalen Versagens der Politik zu Beginn wie gegen Ende der Pandemiephase erleiden mussten und der in der virtuellen (online) Literaturszene für sarkastische Kommentationen sorgte.
Um für jedes der vier Stücke eine Kontextualisierung im Rahmen des jeweiligen Allgemeinplatzes, den die Verse auszeichnen, zu erleichtern, gebe ich hier, nach Absprache mit dem Autor, die folgenden Informationen:
1. Restriktionen während der Pandemie sahen unter anderem vor, daß berufsbedingt Reisende bei der Einreise in eine andere Provinz/Stadt einen Test machen mussten, dessen amtliche Auswertung jedoch auf sich warten ließ. Beim Betreten des Hotels am Zielort musste ein weiterer Test gemacht werden, der jedoch nicht die volle behördliche Autorität hatte, sodaß Reisende, auch nachdem sie im Hotel „negativ“ getestet worden waren, oft bis zum kommenden Tag warten mussten, bevor ihnen über eine entsprechende Anwendung auf dem Mobiltelefon „grünes“ oder auch „rotes“ Licht für alle weiteren Vorhaben der Reise gegeben wurde.
2. „Große Weiße“ da bai 大白 wurden in Ganzkörperschutzanzüge gehüllte Ordnungskräfte genannt, die für Covid-Tests in der Öffentlichkeit, aber auch für polizeiliche Maßnahmen wie die Abriegelung von Wohngebäuden bzw. die Kontrolle von Ein- und Ausgängen sowie für die Einlieferung von Infizierten in die gefürchteten Isolierzentren zuständig waren.
3. Nach der plötzlichen Aufhebung der meisten pandemiebedingten Maßnahmen kam es im Dezember 2022 zu massenhaften Infektionen und einem sprunghaften Anstieg der Nachfrage nach entsprechenden Medikamenten, die auch in den Monaten zuvor, bedingt durch den Zusammenbruch der Liefersysteme aufgrund der Mobilitätseinschränkungen, schwer erhältlich gewesen waren. Der Mangel an Warenangebot und die mangelhafte Qualität der Ware selbst trugen u.a. zu der geschätzten Zahl von einer Million Todesopfern infolge der abrupten Wende in der Pandemiepolitik bei, die offensichtlich in erster Linie durch die Furcht der Verantwortlichen vor dem steigenden Protestpotential in der Bevölkerung herbeigeführt worden war.
4. Während die Stücke 1-3 ausgewählte Aspekte des Pandemieerlebnisses als unmittelbar erfahrenes kollektives Trauma zeichnen, scheint das letzte Stück aus einer rückblickenden Perspektive das Gesamtgeschehen zu verurteilen. Dabei fällt schnell ein Sarkasmus auf, der nur enthemmt genannt werden dürfte, verbliebe er nicht letztlich doch innerhalb des restriktiven Metrums der klassischen Form.