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Niewiadomski Jozef: Das Reich Gottes - zum Greifen nahe! In der gestressten Gegenwart
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Das Reich Gottes - zum Greifen nahe! In der gestressten Gegenwart
(Predigt (auch) zum Kirchweihsonntag in der Jesuitenkirche am 15. Oktober 2006 beim 11 Uhr Gottesdienst)

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:# Originalbeitrag für den Leseraum
Datum:2006-10-23

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

1
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"Unsere Tage zu zählen lehre uns", bat stellvertretend für uns alle der Kantor im heutigen Zwischengesang (Ps 90,12). Und so mancher mag sich da gefragt haben: "Brauche ich das noch zu lernen? Ich beherrsche doch die Kunst des Managements meiner begrenzten Zeit auf eine geradezu atemberaubende Art und Weise. Ich weiß, dass es ein Ende mit mir haben muss; deswegen lasse ich mich auch nicht lumpen." "Es gibt ein Leben vor dem Tod!" - selber blöd, wer die banale Binsenweisheit verkennt und auch das Kapital aus der Zeit, die ihm bleibt, nicht zu schlagen vermag. Die Zeiten, in denen die Pfaffen das Leben nach dem Tod ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt haben, die Zeiten, in denen die Menschen aus lauter Angst, ihr ewiges Leben zu verfehlen, das Glück hier auf Erden verpasst haben, weil sie bloß in die Kirche gerannt sind, gebetet und gefastet, gebeichtet, gewallfahrtet und weiß Gott was alles gemacht haben, diese Zeiten sind vorbei. Heute sind wir aufgeklärt und bodenständig. Wir wissen, dass es ein Ende mit uns haben wird und wir alle davon müssen..., aber gerade deswegen nützen wir die Zeit, die uns noch bleibt. Wie viel Zeit bleibt uns aber eigentlich noch? Wenig. Verdammt wenig!

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Liebe Schwestern und Brüder, landauf, land ab, 24 Stunden tagtäglich und dies 7 Tage die Woche findet in unserer Welt die ewige Anbetung statt: die Anbetung der Bilder und die Kontemplation der Vorstellung von der Knappheit. Der Glaube, dass unsere Zeit knapp bemessen sei, dass wir deswegen auch all das, was wir im Leben planen und tun, auf Trab bringen müssen, um der Knappheit der Zeit Rechnung zu tragen, dieser Glaube ist uns fast zur Selbstverständlichkeit geworden..., wie die Luft, die wir atmen. Heutzutage braucht uns niemand mehr zu ermuntern: "Carpe diem!" - ergreife die Chance des Tages! Wer weiß, ob sie noch ein zweites Mal kommt? Wir brauchen keine Ermunterung mehr. Mit einer Selbstverständlichkeit sondergleichen stürzen wir uns in den Alltag hinein, packen die am Straßenrand unseres Lebens liegenden Chancen beim Schopf ... und erstarren. Denn: die gelebte Gegenwart stürzt plötzlich in sich zusammen und das erwartete Glück - das Glück, das da zum Greifen nahe lag -, dieses Glück stellt sich sehr selten ein. Und warum?

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Seien wir ehrlich! Immer und immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich - der ich doch ein moderner Mensch sein will und die Gegenwart bewusst durchleben möchte, also "adabei sein will" -, dass ich von der panischen Angst befallen werde, ich versäume etwas aus dieser Gegenwart! Und zwar dann, wenn ich mich auf irgendetwas mehr einlasse als nötig, wenn ich mich binde, wenn ich mich verpflichte.., wenn ich länger dabei bleibe. "Adabeisein" als Lebensprogramm unserer Tage bringt die Zeitgenossen in Atemnot. Unsere Seitenblickegesellschaft, jene Gesellschaft, in der das Leben geradezu sprudelt, wo sich Menschen grenzenlos amüsieren, wo sie essen und trinken und lachen und flirten, diese Seitenblickegesellschaft steigert das Bewusstsein der Knappheit der Zeit ins Unerträgliche. Und warum? Weil sie mich ständig zu einem neidischen Seitenblick verführt und zum Vergleich mit anderen zwingt. Immer dann, wenn ich den Seitenblick wage, stürzt meine gelebte Gegenwart in sich zusammen. Weil das glückliche Leben ständig woanders ist ..., ständig bloß zum Greifen nahe. Niemals in meinen Händen. Und auf jeden Fall nicht dort, wo ich selber bin. Der moderne Mensch wird - und das ist auch sein Drama - den Verdacht nicht los, immer auf der falschen Party zu sein. Immer die kostbare Zeit zu verplempern mit Sachen, die ihn nicht weiterbringen. Während die anderen? Die haben den richtigen Riecher - sitzen deswegen auch nicht in der Kirche -, sind zur rechten Zeit am rechten Ort, kommen auch vorwärts. Während ich? ... Was soll ich also tun? Die Zeit ist knapp bemessen. Also vorwärts! Also weg mit dem, was mich an die gelebte Wirklichkeit allzu stark bindet. Weg selbst mit den geliebten Menschen, wenn sie im Wege stehen. Und alles, was man tut, was man tun muss und was man eigentlich auch tun möchte, all das wird so schnell wie möglich erledigt, hinter sich gelassen, um so schnell wie möglich auf die richtige Party zu kommen, die richtigen Leute kennenzulernen, endlich die richtigen Bindungen einzugehen ..., in der Gegenwart ankommen und wiederum die schreckliche Erfahrung machen, dass auch diese Gegenwart in sich zusammenstürzt. Dass das richtige Leben woanders sprudelt.

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"Unsere Tage zu zählen lehre uns, dass wir ein weises Herz bekommen", betete der Kantor. Was machen wir da falsch? Was macht unsere Welt falsch in diesem verflixten Teufelskreis der Knappheit? Warum bekommen wir nicht das weise Herz, sondern noch mehr Stress? Wir steigen das Tempo unseres Lebens, um mehr in der Gegenwart zu leben und um nichts zu verpassen in dem Leben, das uns noch bleibt, gerade aber deswegen verlieren wir diese Gegenwart ständig. Und selbst wenn wir außer Atem geraten, kommen wir unserem Ziel der glücklichen Gegenwart nicht einen Zentimeter näher. Im Gegenteil: Bald werden wir unsere Großmütter und Großväter um ihrer Lebensqualität willen beneiden und auch um ihrer Weisheit willen. Sie, von denen wir hochnäsig gedacht haben, sie hätten aus lauter Angst, das ewige Leben zu verpassen, die Gegenwart vergessen und das Leben vor dem Tod nicht gelebt.

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Liebe Schwestern und Brüder! Das Rahmenthema dieser Predigtreihe lautet: "Das Reich Gottes - zum Greifen nahe". Soll der inhaltliche Beitrag dieser Predigt lauten: unsere gestresste Zeit bleibe bloß in die Dynamik des Reiches Gottes eingebunden, das immer nur zum Greifen nahe, niemals aber in den Händen ist? Sind die Teufelskreise und das anbrechende Reich Gottes etwa identisch? Ein altes Sprichwort sagt, der Teufel habe die Eile erfunden. Und eine alte Weisheit sieht im Teufel den Meister der Zahlen und auch den Meister des Seitenblicks. Das hat schon Eva im Paradies erfahren, als die Schlange ihren Blick weg von all den Bäumen auf den einen Baum gelenkt hat. Was macht unsere Gegenwart falsch in ihrem Zeitmanagement - habe ich gefragt -, dass wir, jene Generation, die sich des Lebens vor dem Tod so bewusst bleibt wie kaum eine andere, dass wir dieses Leben zunehmend verlieren, weil uns die Gelassenheit abhanden kommt? Da gibt es nur eine klare Antwort, auch wenn sie mittelalterlich anmutet. Wer lehrt uns, unsere Tage zu zählen? Gott oder der Teufel? Auch der Teufel kann uns lehren: ‚Schau doch! Es wird ein Ende mit dir haben. Du musst also davon. Schau dich bloß um... Wie viel an Chancen lässt du ungenützt liegen. Schau auf deine Konkurrenten, auf die Rivalen, wie sie unterwegs sind! Und erst recht: Bedenke, was hast du nicht erlebt, was die anderen ständig erleben? Neid ist doch eine moderne Tugend. Und du willst doch modern sein. Oder?' Einmal in diesen Teufelskreis gekommen, den Teufelskreis des Bewusstseins der Begrenztheit unseres Lebens und der Übermacht des neidischen Seitenblicks, findet der Mensch nie mehr zur Ruhe. Unruhig wird sein Herz sein, bis es im Stress zusammenbricht. Weil das Glück immer bei den anderen zu Hause sein wird.

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"Herr, lehre doch mich, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss...", betet johannes Brahms in seinem "Deutschen Requiem", und dieses Gebet bringt die Logik des Reiches Gottes - jenes Reiches, das zum Greifen nahe ist und die Lebensqualität des Menschen auf Erden erhöht - geradezu auf den Punkt. Und zwar durch den Mittelsatz dieses Gebetes: "...und mein Leben ein Ziel hat..." Die Tage zu zählen und dabei den neidischen Blick auf andere zu richten, diese Logik ist tödlich! Sie ist aber allgegenwärtig. Sie hat mit der Logik des Reiches Gottes nichts am Hut. "Lehre doch mich, dass mein Leben ein Ziel hat!" Kein beliebiges Ziel. Ein Ziel, das nicht durch den neidischen Vergleich mit anderen definiert wird. Mehr noch: ein Ziel, das allen möglichen Konkurrenten genauso offen steht wie mir, ohne dass wir der teuflischen Versuchung erliegen, uns an den anderen zu messen. "Lehre doch mich!"

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Liebe Schwestern und Brüder! So altertümlich das Angebot auch anmuten mag, so notwendig ist es, damit wir uns in unserer Gegenwart nicht zu Tode stressen. Dieses Ziel kann nur Gott selber sein und sein Geschenk des wahren Lebens nach dem Tod. Ein Geschenk, das dir und mir zukommen kann, ohne dass wir uns durch den neidischen Blick messen müssen. In der Ausschaltung des neidischen Blicks liegt auch einer der Mehrwerte des Glaubens. Es ist ein Mehrwert, den der Glaube an das ewige Legen, das allen geschenkt wird, hat, vor allen teuflischen Wunschbildern der gestressten Zivilisation. Aus sich heraus kann diese höchstens zur Reinkarnation finden, damit auch zur Verewigung der gestressten Dynamik des Alltags in alle Ewigkeit. Nichts braucht unsere gestresste Welt so sehr wie diesen Glauben, damit sie wieder zur lebensfrohen Gelassenheit findet. Es gibt ein Leben nach dem Tod! Ein Leben, das nicht durch den teuflischen, neidischen Blick strukturiert wird, sondern durch die sich verschenkende Güte Gottes. Das ist unser Glaube und auch unser Gebet: Herr, lehre doch mich, dass mein Leben ein Ziel hat... Dieses Ziel! Und dann lehre mich auch, meine Tage zu zählen und zu entdecken, dass ich eine Menge an Zeit habe, mich deswegen auch ganz bewusst den Zeitverschwendungsstrategien widmen kann. Etwas am Sonntag. Sich den Luxus leisten, eine Stunde in der Kirche zu sitzen, obwohl mich das nicht vorwärts bringt im Lauf gegen die Konkurrenten. Lehre mich den Wert des zweckfreien Gotteslobs zu schätzen, den Wert des - für diese Welt - völlig überflüssigen Gottesdienstes zu achten!

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Eine Bemerkung am Rande zum Schluss: Vielleicht gibt es doch eine tiefere Gemeinsamkeit zwischen dem Thema dieser Predigt und den gregorianischen Gesängen zum Kirchweihfest: "Terribilis est locus iste..." - furchterregend ist dieser Ort, sang die Schola zu Beginn. Furchterregend für eine Zeit, die sich vom teuflischen Zeitmanagement beherrschen lässt, vom Bewusstsein der Knappheit und dem neidischen Blick. Furchterregend, weil hier in diesem Haus, beim zweckfreien Gotteslob zur Ruhe gekommen und zum Glauben, dass mein Leben ein Ziel hat, das teuflische Zeitmanagement in sich zusammenbricht wie eine Seifenblase und die göttliche Logik der Zeitverschwendung zum Vorschein kommt. Paradoxerweise müssten wir singen: Gott sei Dank, gibt es noch diese Orte, die furchterregenden Orte der Unterbrechung, die Orte der Wandlung, die Orte der Gelassenheit, die Orte des zweckfreien Gotteslobs.

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