Peter Goller
Marx und Engels und die bürgerliche Geschichtsschreibung
In den Mitte der 1840er Jahre entstandenen, erst 1932 veröffentlichten Heften zur „Deutschen Ideologie“ finden sich materialistische Begriffe wie „Teilung der Arbeit“, „Entwicklung der Produktivkräfte“, „welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte sind, sondern Destruktionskräfte“.
Im Feuerbach-Abschnitt definieren Karl Marx und Friedrich Engels Ideologie als falsches Bewusstsein, als Reflex materieller (Klassen-) Verhältnisse: „Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewusstseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.“ (MEW 3, 26f., 69)[1]
Im an der Wende 1847/48 verfassten „Manifest der Kommunistischen Partei“ findet sich die bekannte Kurzformulierung des Historischen Materialismus zur Abfolge der Gesellschaftsformationen: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ (MEW 4, 461-466)
Karl Marx stellt die materialistische Geschichtsauffassung 1859 in der Einleitung „zur Kritik der politischen Ökonomie“ noch einmal als Arbeitsprogramm vor: „Die erste Arbeit, unternommen zur Lösung der Zweifel, die mich bestürmten, war eine kritische Revision der Hegelschen Rechtsphilosophie, eine Arbeit, wovon die Einleitung in den 1844 in Paris herausgegebenen ‚Deutsch-Französischen Jahrbüchern‘ erschien. Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ‚bürgerliche Gesellschaft‘ zusammenfasst, dass aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei. (…)
Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden:
- In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen.
- Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt.
- Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.
- Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. (…)
- In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, (…).“
(MEW 13, 8-10 [Zählung 1-5 eingefügt – P.G.])
In späten Briefen zur materialistischen Geschichtsauffassung[2] übte Engels Kritik an der schablonenhafte Anwendung dürftiger „vulgärsoziologischer“ Begriffe, so etwa der abstrakten Anwendung der „Kleinbürger-Kategorie“, wie sie in einer Ibsen-Deutung von Paul Ernst vorlag, an den er 1890 schreibt: „Sie fassen ganz Norwegen und alles, was dort geschieht, zusammen unter die eine Kategorie Spießbürgertum, und schieben dann diesem norwegischen Spießbürgertum unbedenklich Ihre Anschauung vom deutschen Spießbürgertum unter. Da stellen sich nun zwei Tatsachen quer in den Weg. (…) In Deutschland ist das Spießbürgertum Frucht einer gescheiterten Revolution einer unterbrochnen, zurückgedrängten Entwicklung, und hat seinen eigentümlichen, abnorm ausgebildeten Charakter der Feigheit, Borniertheit, Hülflosigkeit und Unfähigkeit zu jeder Initiative erhalten durch den 30jährigen Krieg und die ihm folgende Zeit.“ (MEW 37, 411f.)
Das Schlagwort „materialistisch“ darf nie das Studium der konkreten historischen Quellen ersetzen. Ein paar leichtfertig hingeworfene Verzeichnungen dürfen nie als Vorwand dienen, „Geschichte nicht zu studieren“: „Unsere Geschichtsauffassung aber ist vor allem eine Anleitung beim Studium, kein Hebel der Konstruktion à la Hegelianertum.“ Es ist – so Engels 1890 – ausreichend, wenn Gegner des „Histomat“ – wie Paul Barth - derartige Karikaturen zeichnen, um sie dann als „Phrasen“ abzuqualifizieren: „Und dann kann denn ein Barth kommen, und die Sache selbst anzugreifen, die in seiner Umgebung allerdings zur bloßen Phrase degradiert worden ist.“ (MEW 37, 436f.)[3]
Bei allem Vorrang der „ökonomischen Basis“ sind auch die „politischen Formen des Klassenkampfs (…), politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung“ entscheidend. Unübersehbar – so Engels im September 1890 – ist auch die geschichtliche Wirkung der „in den Köpfen der Menschen spukenden Tradition“. (MEW 37, 462-465)
Karl Marx‘ 1851/52 entstandener „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ gilt Engels wie Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850“ (1850) – hinzuzuzählen ist auch Engels‘ eigene Artikelserie „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“ (1851/52) – als exemplarischer Anwendungsfall materialistischer Geschichtsbetrachtung. In dieser Analyse der Revolutionsbewegung von 1848 hat Marx die „Rückwirkung der politischen usw. Reflexe“, die Fraktionskonflikte innerhalb der herrschenden Kreise beschrieben. Dort ist „die besondre Rolle“, welche „die politischen Kämpfe und Ereignisse spielen, natürlich innerhalb ihrer allgemeinen Abhängigkeit von ökonomischen Bedingungen“ dargestellt: „Oder das ‚Kapital‘, den Abschnitt z.B. über den Arbeitstag, wo die Gesetzgebung, die doch ein politischer Akt ist, so einschneidend wirkt. Oder den Abschnitt über die Geschichte der Bourgeoisie (24. Kapitel). Oder, warum kämpfen wir denn um die politische Diktatur des Proletariats, wenn die politische Macht ökonomisch ohnmächtig ist? Die Gewalt (d.h. die Staatsmacht) ist auch eine ökonomische Potenz!“ (MEW 37, 493)
Die Hinweise auf eine Wechselwirkung von ökonomischer Basis und ideologischem Überbau dienten nicht der Immunisierung einer Theorie. Marx und Engels haben dies wiederholt konkretisiert. So betont Marx die unablässig wiederkehrende erdrückende Last der ideologischen Traditionen und Täuschungen, so 1851/52 im „achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich Luther als Apostel Paulus, die Revolution von 1789-1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wusste nichts Besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1793-1795 zu parodieren.“ (MEW 8, 115)
Staatssphäre
Auch wenn Marx und Engels die Staatsillusionen Hegels, dessen Verklärung des „Staatswillens“ gegenüber den Mechanismen der „bürgerlichen Gesellschaft“ verwerfen, stoßen sie auf Phasen einer gegenüber den Klassen (scheinbar) verselbständigten Staatsmacht, auf das Phänomen des „Bonapartismus“, das in der Faschismusdiskussion des 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielen wird.
Insgesamt gilt aber: „In der modernen Geschichte wenigstens ist also bewiesen, dass alle politischen Kämpfe Klassenkämpfe, und alle Emanzipationskämpfe von Klassen, trotz ihrer notwendig politischen Form – (…) – sich ausschließlich um ökonomische Emanzipation drehen. Hier wenigstens ist also der Staat, die politische Ordnung, das Untergeordnete, die bürgerliche Gesellschaft, das Reich der ökonomischen Beziehungen, das entscheidende Element. Die althergebrachte Anschauung, der auch Hegel huldigt, sah im Staat das bestimmende, in der bürgerlichen Gesellschaft das durch ihn bestimmte Element. Der Schein entspricht dem.“ (MEW 21, 300)
In Summe ist der Staat repressiver „Klassenstaat“: „Die Gesellschaft schafft sich ein Organ zur Wahrung ihrer gemeinsamen Interessen gegenüber inneren und äußeren Angriffen. Dies Organ ist die Staatsgewalt. Kaum entstanden, verselbständigt sich dieses Organ gegenüber der Gesellschaft, und zwar um so mehr, je mehr es Organ einer bestimmten Klasse wird, die Herrschaft dieser Klasse direkt zur Geltung bringt.“ (MEW 21, 302)
Die passive, aber auch offensive Wirkung der Staatsmacht darf von den Historikern nicht übersehen werden, so Engels im Jänner 1894: „Der Staat z.B. wirkt ein durch Schutzzölle, Freihandel, gute oder schlechte Fiskalpolitik und sogar die aus der ökonomischen Elendslage Deutschlands von 1648 bis 1830 entspringende tödliche Ermattung und Impotenz des deutschen Spießbürgers, die sich äußerte zuerst im Pietismus, dann in Sentimentalität und kriechender Fürsten- und Adelsknechtschaft, war nicht ohne ökonomische Wirkung.“ (MEW 39, 205-207)
Rechtssphäre
Eigene Parteigänger wie Franz Mehring oder Karl Kautsky werden von Engels vor trivialen „Basis-Überbau“-Ableitungen gewarnt. Der Übergang zur bürgerlichen Produktionsweise kann sich im juristischen Überbau von Land zu Land völlig gegensätzlich widerspiegeln, als Rezeption des Römischen Rechts, des Rechts einer Sklavenhalterformation am Kontinent oder im Weg einer einfachen Uminterpretation feudaler Rechtsnormen in England: „Wird der Staat und das Staatsrecht durch die ökonomischen Verhältnisse bestimmt, so selbstverständlich auch das Privatrecht, das ja wesentlich nur die bestehenden, unter den gegebenen Umständen normalen ökonomischen Beziehungen zwischen den einzelnen sanktioniert. Die Form, in der dies geschieht, kann aber sehr verschieden sein. Man kann, wie in England im Einklang mit der ganzen nationalen Entwicklung geschah, die Formen des alten feudalen Rechts großenteils beibehalten und ihnen einen bürgerlichen Inhalt geben, ja, dem feudalen Namen direkt einen bürgerlichen Sinn unterschieben; man kann aber auch, wie im kontinentalen Westeuropa, das erste Weltrecht einer Waren produzierenden Gesellschaft, das römische, mit seiner unübertrefflich scharfen Ausarbeitung aller wesentlichen Rechtsbeziehungen einfacher Warenbesitzer (Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner, Vertrag, Obligation usw.) zugrunde legen.“ (MEW 21, 301)
Calvinistisch-protestantische Ethik
Das Christentum als Religion des „feudalen Katholizismus“ ist mit der „protestantischen Ketzerei zuerst in Südfrankreich bei den Albigensern, zur Zeit der höchsten Blüte der dortigen Städte“ konfrontiert, eine Bewegung, von der sich ein radikal revolutionär chiliastischer Flügel abspaltet: „Und wie das Bürgertum von Anfang an einen Anhang von besitzlosen, keinem anerkannten Stand angehörigen städtische Plebejern, Tagelöhnern und Dienstleuten aller Art erzeugte, Vorläufern des späteren Proletariats, so teilt sich auch die Ketzerei schon früh in eine bürgerlich-gemäßigte und eine plebejisch-revolutionäre, auch von den bürgerlichen Ketzern verabscheute.“
Die Bauernaufstände des frühen 16. Jahrhundert interpretieren Marx und Engels als einen schlussendlich verratenen Begleitchor zu Luthers Reformation. Bald wurde der objektiv materielle Kern der „frühbürgerlichen Revolution“ deutlich: „Die Unvertilgbarkeit der protestantischen Ketzerei entsprach der Unbesiegbarkeit des aufkommenden Bürgertums.“
Die im Calvinismus sichtbare werdende protestantische Ethik dient Marx und Engels als ein zentrales Belegstück für die Rückwirkung des Überbaus auf die ökonomische Entwicklung, als ein Kausalelement in der Beschleunigung der (früh-) kapitalistischen Rationalisierung: „Mit echt französischer Schärfe stellte [Calvin] den bürgerlichen Charakter der Reformation in den Vordergrund, republikanisierte und demokratisierte die Kirche. Während die lutherische Reformation in Deutschland versumpfte und Deutschland zugrunde richtete, diente die calvinistische den Republikanern in Genf, in Holland, in Schottland als Fahne, machte Holland von Spanien und vom deutschen Reiche frei und lieferte das ideologische Kostüm zum zweiten Akt der bürgerlichen Revolution, der in England vor sich ging. Hier bewährte sich der Calvinismus als die echte religiöse Verkleidung der Interessen des damaligen Bürgertums (…).“ (MEW 21, 304f.)
Im „Kapital I“ spricht Marx 1867 andeutungsweise vom „protestantischen ‚Geist‘“: „Der Protestantismus spielt schon durch seine Verwandlung fast aller traditioneller Feiertage in Werktage eine wichtige Rolle in der Genesis des Kapitals.“ (MEW 23, 292, 749) Manches erinnert an Max Webers Konstrukt von formaler Rationalität entspringend aus (innerweltlich) protestantischer Askese („Prädestination“, calvinistische Gnadenlehre), an Max Webers „protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904/05).
Die geschichtlichen „Ungleichzeitigkeiten“ zeigen sich für Engels nicht zuletzt in Philosophie und Kunst. In der Philosophie spielt das ökonomisch rückständige Deutschland seit dem 18. Jahrhundert die erste Rolle, sichtbar an Denkern wie Leibniz, Kant, Hegel oder Fichte, am Deutschen Idealismus. So notiert Engels im Oktober 1890 in einem der „Histomat-Briefe“, dass ökonomisch rückständige Länder in der Philosophie oder in der Literatur oft vorangehen: „Und daher kommt es, dass ökonomisch zurückgebliebene Länder in der Philosophie doch die erste Violine spielen können: Frankreich im 18. Jahrhundert gegenüber England, auf dessen Philosophie die Franzosen fußten, später Deutschland gegenüber beiden.“ (MEW 37, 493)
„Ungleichzeitigkeit“. Sphäre der Ästhetik
In den 1857/58 konzipierten „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ hat Marx das „unegale“ Verhältnis im Fortschritt der materiellen Produktion zu jenem im künstlerischen oder juristischen Überbau analysiert: „Überhaupt der Begriff des Fortschritts nicht in der gewöhnlichen Abstraktion zu fassen. (…) Der eigentlich schwierige Punkt, hier zu erörtern, ist aber der, wie die Produktionsverhältnisse als Rechtsverhältnisse in ungleiche Entwicklung treten. Also z.B. das Verhältnis des römischen Privatrechts (…) zur modernen Produktion.“
Für die Literatur gilt es Marx als erwiesen, dass „bestimmte Blütezeiten derselben keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft, also auch der materiellen Grundlage“ stehen: „Z.B. die Griechen verglichen mit den modernen oder auch Shakespeare. Von gewissen Formen der Kunst, z.B. dem Epos, sogar anerkannt, dass sie, in ihrer Weltepoche machenden, klassischen Gestalt nie produziert werden können, sobald die Kunstproduktion als solche eintritt; also dass innerhalb des Berings der Kunst selbst gewisse bedeutende Gestaltungen derselben nur auf einer unentwickelten Stufe der Kunstentwicklung möglich sind.“
Angesichts des unwiederbringlich versunkenen Zeitalters des [homerischen] Epos stellt sich die Schwierigkeit, warum die klassische griechische Literatur unter den Bedingungen einer arbeitsteilig warenproduzierenden bürgerlichen Gesellschaft so großen Gefallen findet und immer noch „ewigen Reiz“ ausübt: „Nehmen wir z.B. das Verhältnis der griechischen Kunst und dann Shakespeares zur Gegenwart. Bekannt, dass die griechische Mythologie nicht nur das Arsenal der griechischen Kunst, sondern ihr Boden. Ist die Anschauung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der griechischen Phantasie und daher der griechischen [Mythologie] zugrunde liegt, möglich mit Selfactors [automatischen Spinnmaschinen] und Eisenbahnen und Lokomotiven und elektrischen Telegraphen? Wo bleibt Vulkan gegen Roberts et Co., Jupiter gegen den Blitzableiter und Hermes gegen den Crédit mobilier?“
Oder wie Marx 1857 weiter variiert: „Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die ‚Iliade‘ mit der Druckerpresse oder gar Druckmaschine? Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Pressbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie. Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin zu verstehen, dass griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, dass sie für uns noch Kunstgenuss gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.“ (MEW 13, 640-642 = MEW 42, 44f.)
G.B. Vico „verum et factum convertuntur”
Marx und Engels griffen in ihrer Kritik eines abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus, der den geschichtlichen Prozess ausschließt“ auch auf das anticartesianische „verum et factum convertuntur“-Prinzip des neapolitanischen Geschichtsphilosophen Giambattista Vico (1668-1744) und dessen „Scienza nuova“ zurück, der sagt, dass „die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, dass wir die eine gemacht, und die andre nicht gemacht haben“: „Selbst alle Religionsgeschichte, die von dieser materiellen Basis abstrahiert, ist – unkritisch. Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jeweiligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu finden. Die letztre ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode.“ - so Marx 1867 in einer Anmerkung von „Kapital I“. (MEW 23, 393)
Schon 1862 hatte Marx Lassalle in Kommentierung von dessen „System der erworbenen Rechte“ die Lektüre von Vicos „neuer Wissenschaft“ empfohlen. Bei Vico findet sich „die philosophische Auffassung des Geistes des römischen Rechts im Gegensatz zu den Rechtsphilistern“: „Vico enthält dem Keim nach Wolf (Homer), Niebuhr (‚Römische Königsgeschichte‘), die Grundlagen der vergleichenden Sprachforschung (wenn auch phantastisch) und noch viel Schock Genialität in sich.“
Und Marx zitiert eine Vico-Stelle von der alten Jurisprudenz als einer poetischen, „da sie die Tatsachen als wahr voraussetzte, die es nicht waren, und da sie ablehnte, die Tatsachen als wahr anzuerkennen, die es tatsächlich waren, da sie die Lebenden als Tote ansah und die Toten als Lebende in ihren Erbschaften“: „Das alte römische Recht war ein ernstes Poem und die alte Jurisprudenz eine strenge Poesie, in der die ersten Bestrebungen der rechtlichen Metaphysik verborgen sind.“ (MEW 30, 622f.)
Im März 1890 dankt Friedrich Engels Antonio Labriola, dem federführenden italienischen marxistischen Theoretiker, für die Zusendung von Schriften „del Socialismo‘ und über „Geschichtsphilosophie“. Labriola hatte an der Universität Neapel auch Vorlesungen über Vico abgehalten: „Es ist dies ein Thema, wofür Marx und ich von jeher uns besonders interessierten; ein neuer Beitrag aus dem Vaterland Vicos und von einem Gelehrten, der auch in unsern deutschen Philosophen bewandert ist, hat auf meine vollste Aufmerksamkeit Anspruch. Ich bin so frei, Ihnen dagegen meine kleine Schrift über Feuerbach zuzusenden.“ (MEW 37, 370)
Ludwig Feuerbachs (unhistorischer) Materialismus
Marx‘ und Engels‘ Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbachs Materialismus-Auffassung fällt dementsprechend widersprüchlich aus. Feuerbachs Religionskritik („Das Wesen des Christentums“) hat die linkshegelianische Intelligenz 1841 euphorisiert: „Wir waren alle momentan Feuerbachianer.“
Aber Feuerbachs Hegel-Kritik hat auch den fortschrittlichen Hegel verschüttet. Denn Feuerbach löscht in seiner Abrechnung mit dem Idealismus auch Hegels großartige historische Dialektik, vor allem deren „revolutionäre Seite“, aus. „Und hier frappiert uns wieder die erstaunliche Armut Feuerbachs verglichen mit Hegel. Dessen Ethik oder Lehre von der Sittlichkeit ist die Rechtsphilosophie und umfasst: 1. das abstrakte Recht, 2. die Moralität, 3. die Sittlichkeit, unter welcher wieder zusammengefasst sind: die Familie, die bürgerliche Gesellschaft, der Staat. So idealistisch die Form, so realistisch ist hier der Inhalt. Das ganze Gebiet des Rechts, der Ökonomie, der Politik ist neben der Moral hier mit einbegriffen. Bei Feuerbach grade umgekehrt. Er ist der Form nach realistisch, er geht vom Menschen aus; aber von der Welt, worin dieser Mensch lebt, ist absolut nicht die Rede, und so bleibt dieser Mensch stets derselbe abstrakte Mensch, der in der Religionsphilosophie das Wort führte. Dieser Mensch (…) lebt daher auch nicht in einer wirklichen, geschichtlich entstandenen und geschichtlich bestimmten Welt; er verkehrt zwar mit andern Menschen, aber jeder andere ist ebenso abstrakt wie er selbst.“ (MEW 21, 286)
Mit Geschichte kann Feuerbach vom Standpunkt einer naturalistischen Anthropologie wenig anfangen, bringt sie auf „Liebesduselei“ herab. Folglich kommt Feuerbachs „alter Materialismus“ über eine flach „pragmatische“ Geschichtsbetrachtung nicht hinaus: „Seine Geschichtsauffassung, soweit er überhaupt eine hat, ist daher auch wesentlich pragmatisch, beurteilt alles nach den Motiven der Handlung, teilt die geschichtlich handelnden Menschen in edle und unedle und findet dann in der Regel, dass die edlen die Geprellten und die unedlen die Sieger sind, woraus dann folgt für den alten Materialismus, dass beim Geschichtsstudium nicht viel Erbauliches herauskommt, und für uns, dass auf dem geschichtlichen Gebiet der alte Materialismus sich selbst untreu wird, weil er die dort wirksamen ideellen Triebkräfte als letzte Ursachen hinnimmt, statt zu untersuchen, was denn hinter ihnen steht, was die Triebkräfte dieser Triebkräfte sind.“
Feuerbach kann nach Engels folglich seine brillanten geschichtsmaterialistischen Zwischensätze nicht verwerten, wie: „In einem Palast denkt man anders als in einer Hütte.“ „Wo du vor Hunger, vor Elend keinen Stoff im Leib hast, da hast du auch in deinem Kopfe, in deinem Sinne und Herzen keinen Stoff zur Moral“. Feuerbach verbleibt trotz aller materialistischen Ansätze „oben Idealist“ und begründet folglich eine „schwülstige Liebesreligion und eine magere, ohnmächtige Moral“.
Dies ist eben eine Folge davon, dass Feuerbachs Hegel-Kritik zu kurz greift, indem er auch Hegels dialektische Methode verwirft, so Engels 1886 im „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“: „Bei Hegel ist das Böse die Form, worin die Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung sich darstellt. (…) Aber die historische Rolle des moralisch Bösen zu untersuchen, fällt Feuerbach nicht ein. Die Geschichte ist ihm überhaupt ein ungemütliches, unheimliches Feld.“ Feuerbach flüchtet in einen „Glückseligkeitstrieb“ als „Grundlage aller Moral“, „immer wieder Liebe“, immer wieder Feuerbachs „allgemeiner Versöhnungsdusel“. „Aber die Liebe! – Ja die Liebe ist überall und immer der Zaubergott, der bei Feuerbach über alle Schwierigkeiten des praktischen Lebens hinweghelfen soll – und das in einer Gesellschaft, die in Klassen mit diametral entgegengesetzten Interessen gespalten ist. Damit ist denn der letzte Rest ihres revolutionären Charakters aus der Philosophie verschwunden, und es bleibt nur die alte Leier: Liebet euch untereinander, fallt euch in die Arme ohne Unterschiede des Geschlechts und des Standes – allgemeiner Versöhnungsdusel!“ Folglich war es für Engels kein Zufall, dass Feuerbach nach der Revolution 1848 aus der politischen Öffentlichkeit verschwindet, den „Rückzug in die Einsamkeit“ antritt. (MEW 21, 287-291)
In den 1860er Jahren übertrugen Marx und Engels die Kritik an Feuerbach, also an einem im Schein der Naturwissenschaften auftretenden „Vulgärmaterialismus“ auf Friedrich Albert Lange, in letzten Lebensjahren ab 1870 Professor für „induktive Philosophie“ in Zürich und reformistischer Sympathisant der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, also auf einen Neukantianer – an Kants theoretischer Kritik der reinen Vernunft anknüpfend, gleichzeitig dessen praktische Philosophie verwerfend. Langes „Arbeiterfrage“ (1865) und seine „Geschichte des Materialismus“ (1866) taten Marx und Engels als „konfus, Malthusianer, mit Darwin versetzt“ ab. (MEW 31, 97)
Langes Materialismus leidet wie jener von Feuerbach an der Ignoranz gegenüber der „Hegelschen Methode“, daran dass er zu jenen Ideologen zählt, die Hegel als „toten Hund“ ignorieren. Im März 1865 antwortet Engels Friedrich Albert Lange in direktem Schreiben. Es gibt keine „ewigen“ historischen oder ökonomischen Naturgesetze: „Für uns sind die sogenannten ‚ökonomischen Gesetze‘ keine ewigen Naturgesetze, sondern historische, entstehende und verschwindende Gesetze, (…). Für uns ist daher auch keins dieser Gesetze, soweit es rein bürgerliche Gesetze ausdrückt, älter als die moderne bürgerliche Gesellschaft, diejenigen, die mehr oder weniger für alle bisherige Geschichte Gültigkeit hatten, drücken eben nur solche Verhältnisse aus, die allen auf Klassenherrschaft und Klassenausbeutung beruhenden Gesellschaftszuständen gemeinsam sind. Zu den ersteren gehört das sog. Ricardosche Gesetz, das weder für die Leibeigenschaft noch die antike Sklaverei Gültigkeit hat; zu den letzteren dasjenige, was an der sog. Malthusschen Theorie Haltbares ist.“ (MEW 31, 466)
Nach Marx hat der ethische Sozialist Lange von der „Kritik der politischen Ökonomie“ wenig verstanden, so im Juni 1870 gegenüber Ludwig Kugelmann: „Die ganze Geschichte ist [bei Lange] unter ein einziges großes Naturgesetz zu subsumieren. Dies Naturgesetz ist die Phrase (der Darwinsche Ausdruck wird in dieser Anwendung bloße Phrase) ‚struggle for life‘, ‚Kampf ums Dasein‘, und der Inhalt dieser Phrase ist das Malthussche Bevölkerungs- oder rather Überbevölkerungsgesetz. Statt also den ‚struggle for life‘, wie er sich geschichtlich in verschiednen bestimmten Gesellschaftsformen darstellt, zu analysieren, hat man nichts zu tun, als jeden konkreten Kampf in die Phrase ‚struggle for life‘ und diese Phrase in die Malthussche ‚Bevölkerungsphantasie‘ umzusetzen.“ (MEW 32, 685f.)
„Klassenkampf“ in der bürgerlich französischen Geschichtsschreibung
Neben Feuerbach und Hegel war für die Formierung des historischen Materialismus die französische bürgerliche Geschichtsschreibung von leitender Bedeutung. Unter diesen Historikern fanden sich spätere Feinde der Pariser Arbeiteraufstände von 1848 („Juniinsurrektion“) und hasserfüllte Gegner der Pariser Kommune von 1871. Diese haben den Klassenkampf als historisches Grundprinzip erkannt, so Engels 1894 im Rückblick: „Wenn Marx die materialistische Geschichtsauffassung entdeckte, so beweisen [Augustin] Thierry, [Francois] Mignet, [Francois] Guizot die sämtlichen englischen Geschichtsschreiber bis 1850, dass darauf angestrebt wurde, und die Entdeckung derselben Auffassung durch [Lewis Henry] Morgan beweist, dass die Zeit für sie reif war und sie eben entdeckt werden musste.“
Und Engels fügt an: „Das größte Hindernis zum richtigen Verständnis ist in Deutschland die unverantwortliche Vernachlässigung der Literatur der ökonomischen Geschichte. Es ist so schwer, nicht nur sich die auf der Schule eingepaukten Geschichtsvorstellungen abzugewöhnen, sondern noch mehr, das Material zusammenzutrommeln, das dazu nötig ist. Wer z.B. hat nur den alten G[ustav] von Gülich gelesen, der in seiner trocknen Materialsammlung doch soviel Stoff enthält zur Aufklärung unzähliger politischer Tatsachen!“ (MEW 39, 205-207)[4]
Mitte der 1880er Jahre hatte Engels im „Ludwig Feuerbach“ darauf aufmerksam gemacht, dass es weder Marx noch er selbst waren, die eine Priorität auf die Erkenntnis des Prinzips von Geschichte als einer Geschichte von Klassenkämpfen beanspruchen: „Seit der Durchführung der großen Industrie, also mindestens seit dem europäischen Frieden von 1815, war es keinem Menschen in England ein Geheimnis mehr, dass dort der ganze politische Kampf sich drehte um die Herrschaftsansprüche zweier Klassen, der grundbesitzenden Aristokratie (landed aristocracy) und der Bourgeoisie (middle class). In Frankreich kam mit der Rückkehr der Bourbonen dieselbe Tatsache zum Bewusstsein; die Geschichtsschreiber der Restaurationszeit von Thierry bis Guizot, Mignet und [Adolphe] Thiers sprechen sie überall aus als den Schlüssel zum Verständnis der französischen Geschichte seit dem Mittelalter. Und seit 1830 wurde als dritter Kämpfer um die Herrschaft in beiden Ländern die Arbeiterklasse, das Proletariat, anerkannt.“ (MEW 21, 298)
Karl Marx hatte drei Jahrzehnte zuvor in einem Brief an Joseph Weydemeyer am 5. Mai 1852 – also Mitten in der revolutionären Depression nach 1848 – gegen das grobianisch „blutdürstige und sich humanistisch aufspreizende Gebelfer“ radikaldemokratischer und bloß moralisierend auf den politischen Willen abstellender rebellischer „Anarchisten“ polemisiert. Diese haben in ihrer theoriefeindlich auf die direkt putschistische Gewaltaktion abstellenden Haltung selbst die Realität von Klassenkämpfen geleugnet und dabei jede materialistische Geschichtsanalyse als Ausgeburt von Luftschlösser bauenden hegelianisierenden „Stubenhockern“ denunziert. Diese sollten nach Marx die klassische Nationalökonomie - namentlich Ricardo – lesen. Die Vertreter dieser auf den subjektiven revolutionären Willen abstellenden (Schein-) Radikalen „sollten z.B. die historischen Werke von Thierry, Guizot, John Wade[5] etc. studieren, um sich über die vergangene ‚Geschichte der Klassen‘ aufzuklären. Sie sollten sich mit den Anfangsgründen der politischen Ökonomie bekannt machen, eh‘ sie die Kritik der politischen Ökonomie kritisieren wollen. Es genügt z.B. Ricardos großes Werk aufzuschlagen, um auf der ersten Seite die Worte zu finden, womit er die Vorrede eröffnet: ‚Das Produkt der Erde, alles, was von der Oberfläche gewonnen wird durch die vereinte Anwendung von Arbeit, Maschinerie und Kapital, verteilt sich zwischen drei Klassen des Gemeinwesens, nämlich dem Eigentümer des Grund und Bodens, dem Besitzer des Kapitals, das zu seiner Kultur erheischt ist, und den Arbeitern, durch deren Industrie das Land kultiviert wird.‘“
Und dann folgt das Eingeständnis und das über die Vorgenannten Hinausgehende: „Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.“ (MEW 28, 504-508)
Die Übereinstimmung mit der französischen Geschichtsschreibung war also eine begrenzte, so wie dies Marx im Juli 1854 anspricht: „Ein Buch, das mich sehr interessiert hat, ist Thierry ‚Histoire de la formation et du progrés du Tiers État‘. 1853. Sonderbar, wie dieser Herr, le père des ‚Klassenkampfes‘ in der französischen Geschichtsschreibung, sich in der Vorrede über die ‚Neuen‘ erzürnt, die nun auch einen Antagonism zwischen Bourgeoisie und Proletariat sehn und Spuren dieses Gegensatzes selbst schon in der Geschichte des tiers-état bis 1789 entdecken wollen. Er gibt sich viele Mühe zu beweisen, dass der tiers-état alle Stände, die nicht noblesse und clergé, umschließt und die Bourgeoisie ihre Rolle spielt als Repräsentant aller dieser andern Elemente. (…) Hätte Herr Thierry unsre Sachen gelesen, so wüsste er, dass der entschiedne Gegensatz der Bourgeoisie gegen den peuple natürlich erst anfängt, sobald sie aufhört, als tiers-état dem clergé und der noblesse gegenüberzustehn.“ (MEW 28, 381f.)
Im Vorfeld von 1848 war Marx und Engels auch die demokratisch fortschrittliche Revolutionsgeschichtsschreibung von Jules Michelet und jene Louis Blancs aufgefallen. Auch wenn es grundlegende Differenzen zu Blancs idealistischen, nur im Ansatz den Klassenkampf aufgreifenden Geschichtskategorien von „Autorität, Individualität, Brüderlichkeit“ gab, studierten sie dessen Geschichte der französischen Revolution. So schreibt Engels im März 1847 an Marx: „Hast Du L. Blancs ‚Revolution‘ [‚Histoire de la révolution francaise‘ (1847ff.)] gesehen? Ein tolles Gemisch richtiger Einsichten und grenzenloser Verrücktheiten. (…) Aber der L.B[lanc] hat eine ganz gute Nase und ist auf gar keiner üblen Spur, trotz allem Wahnsinn. Er bringt’s aber doch nicht weiter, als er jetzt schon ist, ‚ein Zauber bleit ihn nieder‘, die Ideologie.“ (MEW 27, 80f.)
Unter Bezug auf Jules Michelets „Histoire de la révolution francaise“ (1847) berichtet Engels Mitte Jänner 1848: „Bei [Georg] Herwegh war ich auch gestern. (…) Er sagte mir, dass der 2. Band von L. Blanc ganz verdunkelt werde durch den enormen Sukzeß von Michelets 2. Band. Ich habe beide noch nicht gelesen, weil ich wegen Geldmangel mich nicht im Lesekabinett abonnieren konnte. Übrigens ist der Micheletsche Sukzeß nur durch seine Suspension und seine Bürgerlichkeit zu erklären.“ (MEW 27, 110) Trotz Blancs sozialdemokratischen Reformillusionen – „Recht auf Arbeit“, „Nationalwerkstätten, gescheiterte staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme in der 1848er Revolution – wollten ihn Marx und Engels als Bündnispartner des „Bundes der Kommunisten“ gewinnen.[6]
Anwendung des Histomat in der Marx-Engels Nachfolge: Karl Kautsky, Franz Mehring
Mit Anerkennung, aber auch mit grundlegender Kritik verfolgte Friedrich Engels in seinem letzten Lebensjahrzehnt die Anwendung materialistischer Geschichtsprinzipien durch Schüler und Anhänger, allen voran durch Karl Kautsky und Franz Mehring. Im Februar 1889 schreibt Engels an Kautsky, dieser soll seinen in der „Neuen Zeit“ (7. Jg.) veröffentlichten Artikel zu „die Klassengegensätze von 1789. Zur hundertjährigen Gedenkfeier der großen Revolution“ mit besseren Literaturbelegen überarbeiten, denn „die vom Philister vergötterten Taine und Tocqueville reichen da nicht hin“. (MEW 37, 154)
Kautsky zog Alexis Tocquevilles „L’Ancien Régime et la Révolution“ (1856) heran. Tocqueville, der eine aus religiösen Wurzeln (u.a. aus dem Puritanismus der amerikanischen Pilgrim Fathers) gespeisten Honoratiorenliberalismus in Abgrenzung von einer als Schreckgespenst gezeichneten „Massendemokratie“ propagierte, warnte als militanter Gegner des in der Revolution von 1848 sichtbar werdenden Sozialismus – proletarische Pariser Juniinsurrektion – vor der „gleichmacherischen Tyrannei“ der Mehrheit.
Dem jungen Karl Marx war 1843/44 bei der Betrachtung des „Verhältnisses der politischen Emanzipation zur Religion“ Tocquevilles „De la démocratie en Amérique“ (1836) aufgefallen: „Dennoch ist Nordamerika vorzugsweise das Land der Religiösität, wie Beaumont, Tocqueville und der Engländer Hamilton aus einem Munde versichern. Die nordamerikanischen Staaten gelten uns indes nur als Beispiel. Die Frage ist: Wie verhält sich die vollendete politische Emanzipation zur Religion? Finden wir selbst im Lande der vollendeten politischen Emanzipation nicht nur die Existenz, sondern die lebensfrische, die lebenskräftige Existenz der Religion, so ist der Beweis geführt, dass das Dasein der Religion der Vollendung des Staats nicht widerspricht.“ (MEW 1, 352)
Hippolyte Taines „Les origines de la France contemporaine“ (1876-1885) lehnte Engels wegen dessen reaktionärer Kritik der Revolution von 1789 als dem vermeintlichen Ursprung jener gesellschaftlichen Übel, die zur französischen Niederlage 1870/71 und besonders zur Pariser Kommune geführt hätten, ab. Der abstrakte (Rousseausche) contrat social-Gedanke habe im Niedergang Frankreichs, in egalitärem Sozialismus, in der Despotie der Massen geendet. Das Volk der großen französischen Revolution galt Taine nicht als Held, sondern als Bestie.
Der junge Kautsky war 1875 als Student der Wiener Universität (u.a. bei den Historikern Max Büdinger oder Ottokar Lorenz) einem sozialistischen Arbeiterverein beigetreten, damals mehr geprägt von Darwin- und Malthus-Studium, von Friedrich Albert Lange und wohl auch kurz von Eugen Dühring als von der klassischen Politischen Ökonomie (Ricardo) und von Marx‘ „Kapital“. Prägungen, die Kautsky auch nach der Hinwendung zur „Kritik der politischen Ökonomie“ latent begleiteten.[7]
Kurz vor seinem Tod übt Friedrich Engels im Mai 1895 Kritik an Kautskys Methodik. Die historische Klassenanalyse gehört verfeinert: „Von Deinem Buch [‚Von Plato bis zu den Wiedertäufern‘, in: Die Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen‘, 1895] kann ich sagen, dass es sich bessert, je weiter man darin kommt. Plato und das Urchristentum sind noch zu ungenügend nach dem ursprünglichen Plan behandelt. Die mittelalterlichen Sekten schon viel besser, und zwar crescendo: am besten die Taboriten, Münzer, die Wiedertäufer. Sehr viele wichtige ökonomische Reduktionen der politischen Ereignisse, daneben aber Gemeinplätzliches, wo eine Lücke im Studium vorlag. Ich habe aus dem Buch sehr viel gelernt; für meine Neubearbeitung des ‚Bauernkriegs‘ ist es eine unentbehrliche Vorarbeit.
Die Hauptfehler scheinen mir zwei: 1. Sehr mangelhafte Untersuchung der Entwicklung und Rolle der ganz außerhalb der feudalen Gliederung stehenden, deklassierten, fast pariamäßig gestellten Elemente, die unvermeidlich mit jeder Stadtbildung aufkommen mussten und die unterste, rechtlose Schicht jeder Stadtbevölkerung im Mittelalter bilden, los von Markgenossenschaft, feudaler Abhängigkeit und Zunftverband. Das ist schwer, aber es ist die Hauptbasis, denn allmählich, mit Auflösung der Feudalbande, wird dies das Vorproletariat, das 1789 in den Pariser Faubourgs die Revolution machte, absorbiert alle Auswürflinge der feudalen und zünftigen Gesellschaft. Du sprichst von Proletariern, der Ausdruck schielt, und ziehst die Weber hinein, deren Wichtigkeit Du ganz richtig schilderst – aber erst seitdem es deklassierte, nichtzünftige Weberknechte gab, und nur soweit es deren gab, kannst Du diese zu Deinem ‚Proletariat‘ rechnen. Hier ist noch viel nachzuholen.
- Hast Du die Weltmarktstellung – soweit davon die Rede sein kann, die internationale ökonomische Stellung Deutschlands Ende des XV. Jahrhunderts nicht voll erfasst. Diese Stellung erklärt allein, weshalb die bürgerlich-plebejische Bewegung in religiöser Form, die in England, den Niederlanden, Böhmen erlag, im 16. Jahrhundert in Deutschland einen gewissen Erfolg haben konnte. Den Erfolg ihrer religiösen Verkleidung, während der Erfolg des bürgerlichen Inhalts dem folgenden Jahrhundert und den Ländern der inzwischen entstandnen neuen Weltmarktrichtung vorbehalten blieb: Holland und England. Das ist ein langes Thema, das ich beim ‚Bauernkrieg‘ in extenso darzustellen hoffe – wär‘ ich erst dabei.“ (MEW 39, 482f.)
Ein Ernst Bloch attackiert Kautsky wegen dessen „ökonomistischen“ Geschichtsfatalismus, gegen welchen Bloch das Erbe des chiliastisch eschatologischen und utopisch-revolutionären Sozialismus hochhält. Schon 1921 hat Bloch einleitend in seinem „Thomas Münzer als Theologie der Revolution“ gegen Kautskys „vulgärmaterialistische“ Reformations-Interpretation angeschrieben, wie er sie in Kautskys „Vorläufern des Sozialismus“ aus den 1890er Jahren vorzufinden glaubte. Wenn auch Kautskys Ansatz einer historisch materialistischen Betrachtung und seine „revolutionäre Wertbeziehung in Auslese und Gruppierung des Materials“ zu würdigen ist, so „vermag Kautskys Aufklärertum und religiöse Ahnungslosigkeit die ‚Pröbchen apokalyptischer Mystik’, wie er zu sagen pflegt, erst recht nicht zu akzeptieren“.
Ähnlich protestiert Bloch vierzig Jahre später – 1963 – in seiner „Tübinger Einleitung“ gegen eine denunzierend „falsche Entzauberung“ der Metaphysik: „Zu diesem billigen Mephisto gehört auch, (…), Kautskys folgender Satz: ‚So ist denn die Reformation nichts anderes als der ideologische Ausdruck tiefgehender Veränderungen auf dem damaligen europäischen Wollmarkt.‘“ Kautskys physiologisch, biologistisch drapierter Vulgärmaterialismus, sein „Ökonomismus und Soziologismus“ knüpft nach Bloch fälschlicher Weise nicht an die Marx’sche Warenkategorie, sondern an ein „subalternes“ Basis/Überbau-Modell an.
Engels hatte Karl Kautsky im Februar 1892 aufgefordert, er soll eine Luther-Interpretation auf materialistischer Geschichtsgrundlage jenseits der protestantischen und katholischen Geschichtsapologetik verfassen. Für die katholische Seite nennt Engels den „ultramontanen“ Zentrumspolitiker Johannes Janssen mit seiner voluminösen „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters“ (seit 1876 in Abwehr auch des Bismarckschen „Kulturkampfs“ erschienen): „Es ist mir dieser Tage eingefallen, dass eine Darstellung Luthers aus seinen Taten und Schriften eine sehr nötige Arbeit wäre. Erstens wäre eine Richtigstellung sowohl der protestantischen Legenden wie der bornierten katholischen Bekämpfung derselben durch Janssen (der ja jetzt so floriert in Deutschland) entschieden zeitgemäß und der Nachweis, von unserm Standpunkt, wie sehr die Reformation eine bürgerliche Bewegung, direkt notwendig. Dann aber speziell die Parallele zwischen dem Luther vor Karlstadt und den Wiedertäufern und dem Bauernkrieg, und dem Luther nachher einerseits und den Bourgeois vor 1848 und nach diesem Jahr andrerseits sehr wichtig und der Nachweis im einzelnen, wie dieser Umschwung bei Luther sich allmählich vollzog. Da wäre noch was zu leisten und ohne viel übermäßige Studien, und Du bist durch den ‚Thomas Morus‘ [‚Thomas More und seine Utopie‘, 1888] grade dafür präpariert.“ (MEW 38, 260)[8]
Die Kritik an Kautsky, am „Renegaten Kautsky“, kann aber nicht übersehen lassen, dass Kautsky mit seinen Bänden zur Geschichte der „Vorläufer des Sozialismus“, mit seiner gemeinverständlichen Darstellung von Marx‘ „Kapital“ („Karl Marx‘ ökonomische Lehren“, 1. von vielen Auflagen 1887), „Die Vorläufer des neueren Sozialismus“ (1895), „Die Agrarfrage“ (1899) oder der „Weg zur Macht“ (1909) Schlüsselbeiträge zur sozialistischen Theorie geliefert hat.
Der späte Kautsky endet aber dann 1927 in der Tat als ein Geschichtsinterpret jenseits der Marx’schen „Kritik der politischen Ökonomie“. In der von Karl Korsch als „Buchkoloss“ qualifizierten „materialistischen Geschichtsauffassung“ wird Marx’ Theorie auf eine – so Korsch spöttisch – pseudobiologistisch „naive Entwickelungsmetaphysik“ herab gebrochen.[9]
Im Juli 1893 dankte Friedrich Engels Franz Mehring für die Zusendung der „Lessing-Legende“ und warnte ihn vor zu geradlinigen soziologischen „Basis-Überbau“-Ableitungen, so wenn Mehring die unterschiedliche Reaktion von Goethe und Schiller aus deren unterschiedlicher familiärer Herkunft ableitete, weshalb etwa die plebejisch revolutionären Züge beim jungen Schiller ungleich stärker hervortreten würden. Mehring wurde vorgeworfen, künstlerische Phänomene zu unvermittelt aus der materiell gesellschaftlichen Basis herzuleiten, einen zu geringen Blick für die geschichtlichen Ungleichzeitigkeiten, „für das unegale Verhältnis der Entwicklung der materiellen Produktion z.B. zur künstlerischen“, für die formale Autonomie literarischer Werke zu haben.
Engels möchte Mehring von einer „ordinären undialektischen Vorstellung von Ursache und Wirkung“ abbringen: „Die Ideologie ist ein Prozess, der zwar mit Bewusstsein vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewusstsein. (…) Damit zusammen hängt auch die blödsinnige Vorstellung der Ideologen: Weil wir den verschiednen ideologischen Sphären, die in der Geschichte eine Rolle spielen, eine selbständige historische Entwicklung absprechen, sprächen wir ihnen auch jede historische Wirksamkeit ab.“ (MEW 39, 96-98)
Georg Lukács hat 1933 auf den Umstand verwiesen, dass Franz Mehring auch nach seinem Übergang an die Seite der antiimperialistischen Linken, an die Seite des Spartakusbundes um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die historisch methodologischen Prinzipien aus seiner frühen Zeit als bürgerlich demokratischer Publizist beibehalten hat, dass er ein „Lassalleaner“ geblieben ist, der das Erbe des fortschrittlichen Idealismus aus der Epoche der Revolutionen von 1789 und 1848 für die Arbeiterbewegung zu retten versucht, der weiterhin von den Bewertungskriterien der bürgerlich „ausgewogenen“ „ehrenrettenden“, „Gerechtigkeit widerfahren lassenden“, individuell psychologisierenden Geschichtsbetrachtung beeinflusst blieb, der die Hegelsche Dialektik nur oberflächlich rezipierte, und der in Fragen der literarischen Wertung an Kants „Kritik der Urteilskraft“, der zweckfreien ästhetischen „Interesselosigkeit“ festhielt, was Mehring zur Idealisierung Schillers geführt habe, während Marx und Engels um 1860 Lassalle aufgefordert hatten, dieser möge sich viel weniger an Schiller als an Shakespeare orientieren.[10]
Franz Mehring, der mit seiner „Lessing-Legende“, mit seiner großen „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“, mit seinen Beiträgen zur Marx-Engels-Forschung, mündend am Ende seines Lebens 1918/19 in einer klassisch gewordenen Marx-Biographie, bis heute unverzichtbare Bücher zur Geschichte des Sozialismus geliefert hat, verglich 1893 in seinem im Anhang zur „Lessing-Legende“ veröffentlichten Aufsatz „über den historischen Materialismus“ das Verhalten der „bürgerlichen Welt“ zur materialistischen Geschichtsauffassung mit jenem „vor einem Menschenalter“ gegenüber dem Darwinismus. Die bürgerliche Gelehrtenwelt „schmäht“ den Marxismus, „ohne ihn zu verstehen“. Mehring verwies 1893 auf die jahrzehntelange Ignoranz, die das Flaggschiff der „bürgerlichen Geschichtszunft“, die 1859 gegründete „Historische Zeitschrift“, entwickelt hatte. Als 1892 in der „Historischen Zeitschrift“ (68. Jg., 450-453) in einer Rezension von Ernst Bernheims „Lehrbuch der historischen Methode“ erwähnt worden war, „dass Arbeiten wie Morgans Urgesellschaft und Bachofens Mutterrecht schon vernehmlich an die Pforten der Wissenschaft klopfen“, da bemühte sich der Herausgeber der „Historischen Zeitschrift“ Max Lehmann postwendend um Distanzierung: „’Wir bedauern, dass hier und da ein Fachgenosse auf dies Klopfen hört: wir lassen namentlich Herrn Morgan draußen. Mag er die Herren Engels und Bebel mit der Portion angeblichen Wissens versorgen, dessen sie zur Begründung ihrer Phantasien nicht glauben entrathen zu können.’ Das ist, soviel wir sehen, die einzige Erwähnung des historischen Materialismus in den mehr als siebzig Bänden der ‚Historischen Zeitschrift’, des Hauptorgans der bürgerlichen Geschichtswissenschaft.“ Mehring erkannte schon 1893, dass zwar die marxistische Theorie vom akademischen Katheder weiterhin ausgeschlossen blieb, dass aber mit Karl Lamprecht zumindest ein innerhalb der universitären Zunft stehender Kollege das Klopfen naturalistisch evolutionistischer Tendenzen vernommen hat. In den anlaufenden „Lamprecht-Streit“ hinein hat Mehring 1893 den ersten und zweiten Band von Karl Lamprechts „Deutscher Geschichte“ wohlwollend besprochen, orientiert am Gesetzesbegriff der Naturwissenschaften, an organisch romantischen Entwicklungsideen, an der historischen Schule der Nationalökonomie und in Analogie zu „Morgans Forschungen“ habe Lamprecht die Geschichte von der „germanischen Urzeit“ bis in die Periode des Feudalismus auch sozial- und kulturgeschichtlich dargestellt, „obwohl Lamprecht der materialistischen Geschichtsauffassung noch fern steht“.[11]
Historiker als Lohnschreiber der Bourgeoisie
Bürgerliche Geschichtsschreiber sind nicht nur wichtiger Anknüpfungs- und Orientierungspunkt für Marx und Engels. Sie geraten auch doppelt in deren Visier. Sie können nur zu oft nicht mit literarischen Vorbildern, namentlich etwa den Vertretern des bürgerlichen Realismus mithalten. Sie sind auch dem Verdacht der Bestechlichkeit, der Käuflichkeit, dem Vorwurf des Opportunismus ausgesetzt, resultierend aus ihrer Klassenstellung als Zulieferer und Produzenten der „herrschenden Ideen einer Zeit“, die stets „die Ideen der herrschenden Klasse“ sind, wie es im 1848 im Manifest“ heißt, oder die, wie Bertolt Brecht später in seinem „Tui-Roman“ unter Kritik der bürgerlichen Intellektuellen formuliert, sich als bezahlte „Kopflanger“ und Lakaien des Kapitals verwenden lassen. Brecht hat dabei folgende „Manifest“-Stelle im Sinn: „Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“ (MEW 4, 465, 480)
Engels knüpft vier Jahrzehnte später 1887/88 in seinem Artikel „über die Rolle der Gewalt in der Geschichte“ hier an, wenn er die Historiker geringschätzig als Diener der Bourgeoisie abqualifiziert: „Und wie die Bourgeois sangen, so pfiffen die Professoren. Was in Berlin die Hegelianer philosophisch konstruierten, dass Preußen an die Spitze Deutschlands zu treten berufen sei, das demonstrierten in Heidelberg Schüler Schlossers historisch, namentlich Häusser und Gervinus.“ (MEW 21, 422)
Friedrich Christoph Schlosser, der in der Tradition der Aufklärungshistorie und – ganz entgegen Leopold Rankes Tendenz zur Verteidigung des ancien régime – im Sinn eines frühliberalen Konstitutionalismus, Kants bürgerlicher Fortschrittsmoralität folgend, lehrte, stand bei Marx und Engels durchaus in Ansehen. Sie benützen dessen „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts und des neunzehnten bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs“ (1836-1848), dessen vielbändige „Weltgeschichte für das deutsche Volk“.
Engels‘ Urteil über Georg Gottfried Gervinus, einen der gemaßregelten „Göttinger Sieben“, einen gemäßigten Vormärzliberalen mag überraschend sein. Gervinus soll früh Preußens Hegemonie im Prozess der deutschen Nationaleinigung anerkannt haben. Der in den 1850er Jahren disziplinarisch verfolgte Gervinus, 1871 im Moment der „Reichseinigung“ verstorben, galt als „toter Hund“, als anachronistischer „1848er“. Nur der Heidelberger Historiker Ludwig Häusser war ein scharfer Vertreter der kleindeutsch borussischen Richtung, gleich einem Heinrich Sybel.[12]
Marx hat 1870 in seinen Fragmenten zur Geschichte Irlands das Bild von den bürgerlichen „Geschichtsfälschern“ am Beispiel der „chauvinistischen Versuche englischer bürgerlicher Historiker (…), die alten Iren als ein rückständiges Volk darzustellen“ und die englische Kolonialpolitik in Irland zu beschönigen, variiert. Marx meinte Thomas Macaulay und Goldwin Smith: „Die Bourgeoisie macht alles zu einer Ware, also auch die Geschichtsschreibung. Es gehört zu ihrem Wesen, zu ihren Existenzbedingungen, alle Waren zu verfälschen: sie verfälschte die Geschichtsschreibung. Und diejenige Geschichtsschreibung wird am besten bezahlt, die im Sinn der Bourgeoisie am besten verfälscht ist.“ (MEW 16, 499)
Cervantes, Balzac usw. besser als alle „berufsmäßigen Historiker“
Für die Analysen zur verkrüppelnden Wirkung der Arbeitsteilung, zur „industriellen Pathologie“, zum „Fetischcharakter der Ware“ oder zum absoluten und relativen Mehrwert zieht Marx schon in den frühen „ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ die Tradition der Weltliteratur heran. Mit Zitaten aus Goethes „Faust“ und Shakespeares „Timon von Athen“ beschreibt er 1844 das Geld als universellen „Kuppler“, als „allgemeine Hure“, als militanten „Gleichmacher“. Für Shakespeare ist das Geld „die sichtbare Gottheit, die Verwandlung aller menschlichen und natürlichen Eigenschaften in ihr Gegenteil“, die Verbrüderung der „Unmöglichkeiten“: „Es verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Hass, den Hass in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn.“ (MEW Ergänzungsband I, 565f.)
Mit Blick auf die „verkehrende Macht des Geldes“, mit Verweis auf Sophokles‘ „Antigone“ oder Shakespeares „Timon‘ spricht Marx dann 1867 im „Kapital“ von dieser „Alchemie“, der „nicht einmal Heiligenknochen und noch viel weniger minder grobe res sacrosanctae, extra commercium hominum“ widerstehen: „Wie im Geld aller qualitative Unterschied der Waren ausgelöscht ist, löscht es seinerseits als radikaler Leveller alle Unterschiede aus. Das Geld ist aber selbst Ware, ein äußerlich Ding, das Privateigentum eines jeden werden kann.“ (MEW 23, 145-147)
Von Shakespeare, Cervantes, Diderot oder Goethe ausgehend zeichneten Marx und Engels eine Linie zum bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhundert. Mit Miguel Cervantes‘ „Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quijote von La Mancha“ zogen Marx und Engels schon 1845 in der „Deutschen Ideologie“ gegen Max Stirners „Einzigen“ ins Feld. Für eine geplante Arbeit zum gescheiterten Übergang des kolonialistischen spanischen Weltimperiums in die kapitalistische Moderne liest er „Don Quijote“, - Marx im 2. September 1854 Marx an Engels: „Meine principal study ist jetzt Spain. (…) Die Geschichte ist nicht ohne Verwicklung. Schwieriger ist’s, der Entwicklung auf die Sprünge zu kommen. Jedenfalls hatte ich rechtzeitig mit ‚Don Quixote‘ begonnen.“ (MEW 28, 389)
Den bürgerlichen politischen Ökonomen fehlt es an Verständnis für vorkapitalistische Produktionsformen, die sie abhandeln wie „die Kirchenväter vorchristliche Religionen“. Es fehlt ihnen an wirklichem Verständnis der Differenz von „Sklavenarbeit“ und „Lohnarbeit“, so Marx 1867 im Abschnitt über den „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“: Allein „schon Don Quixote [hat] den Irrtum gebüßt, dass er die fahrende Ritterschaft mit allen ökonomischen Formen der Gesellschaft gleich verträglich wähnte.“ (MEW 23, 96)
Es sprach für Cervantes‘ Realismus, wenn Marx glaubte in einem Werk der wahnhaften Welt der erledigten Ritterromane Aufklärung über die spanische Geschichte zu finden. Ähnliches gilt für die Sozialsatire von Jonathan Swift oder für Marx‘ Kritik an den aus Daniel Defoe hergeleiteten „Robinsonaden“ der politischen Ökonomie des 18. Jahrhunderts.
Im April 1869 sendet Marx ein Exemplar von Denis Diderots „Rameaus Neffe“ an Engels mit dem „old Hegel“ entlehnten Hinweis auf die sich darin „aussprechende Zerrissenheit des [bürgerlichen Citoyen-] Bewusstseins“ als dem „Hohngelächter über das Dasein sowie über die Verwirrung des Ganzen und über sich selbst“, mit Hinweis auf das in „ungebildeter Gedankenlosigkeit“ endende „ehrliche Bewusstsein“, - Marx weiter Hegel zitierend: „Der Inhalt der Rede des Geistes von und über sich selbst ist also die Verkehrung aller Begriffe und Realitäten, der allgemeine Betrug seiner selbst und der Andern, und die Schamlosigkeit, diesen Betrug zu sagen, ist eben darum die größte Wahrheit … Dem ruhigen Bewusstsein, das ehrlicherweise die Melodie des Guten und Wahren in die Gleichheit der Töne, d.h. in Eine Note setzt, erscheint diese Rede als ‚eine Faselei von Weisheit und Tollheit‘ etc.“ (MEW 32, 303)
Marx findet im Realismus der englischen „gegenwärtigen glänzenden Schule der Romanschriftsteller“ viel „mehr politische und soziale Wahrheit enthüllt“, als bei allen historischen Publizisten zusammen. Unter einigen anderen hat ein Charles Dickens „jede Schicht der Bourgeoisie beschrieben, vom ‚allervornehmsten‘ Rentier und Inhaber von Staatspapieren (…) bis zum kleinen Ladenbesitzer und Advokatengehilfen. Und wie haben Dickens, Thackeray, Fräulein Bronte und Frau Gaskell sie gezeichnet. Voller Anmaßung, Heuchelei, kleinlicher Tyrannei und Ignoranz“. Im „Kapital“ lässt Marx 1867 den „berühmten Gurgelschneider“ Bill Sikes aus Dickens‘ „Oliver Twist“ auftreten, um die ausbeuterisch „kapitalistische Anwendung der Maschinerie“ zu verdeutlichen. (MEW 10, 648 und MEW 23, 465f.)[13]
Im „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ verweist Engels 1884 auf Walter Scott, der in seinen historischen Romanen den „Untergang der Gentilordnung“ in Schottland schildert: „In Walter Scotts Romanen sehn wir diesen hochschottischen Clan lebendig vor uns.“ Scotts Darstellung erinnert an Lewis Henry Morgan. (MEW 21, 130)
Georg Lukács lobt Scott, der gegen seinen eigenen „bornierten Konservativismus“ historischer Realist ist. Der „ehrliche Tory“ Scott beschönigt nie das Elend und die „unendliche Misere des Volkes“, die von der kapitalistischen Entwicklung Englands hervorgerufen werden.[14]
In den Entwürfen zum dritten Band des „Kapital “ wiederholt Marx an Hand von Honoré de Balzacs „Bauern“-Roman die Einschätzung, wonach die bürgerlichen Realisten mehr gesellschaftliche Wahrheit bieten als alle akademische Gelehrsamkeit. Das Unglück der in die kapitalistische Warenwirtschaft gerissenen kleinen, teils Frondienste, teils ruinöse Zinsdienste leistenden Parzellenbauern und der landproletarischen Massen wird von Balzac bis in das letzte Detail beschrieben: „In seinem letzten Roman, den ‚Paysans‘, stellt Balzac, überhaupt ausgezeichnet durch tiefe Auffassung der realen Verhältnisse, treffend dar, wie der kleine Bauer, um das Wohlwollen seines Wucherers zu bewahren, diesem allerlei Arbeiten umsonst leistet und ihm damit nichts zu schenken glaubt, weil seine eigne Arbeit ihm selbst keine bare Auslage kostet. Der Wucherer seinerseits schlägt so zwei Fliegen mit einer Klappe. Er erspart bare Auslage von Arbeitslohn und verstrickt den Bauer, den die Entziehung der Arbeit vom eignen Feld fortschreitend ruiniert, tiefer und tiefer in das Fangnetz der Wucherspinne.“ (MEW 25, 49 und MEW 23, 615)
Friedrich Engels spricht 1888 von Balzac als einem „weit größeren Meister des Realismus“ – „alle Zolas passés, présents et à venir“ überragend: Der monarchistisch gesinnte Adelige Balzac „gibt uns in ‚La Comédie humaine‘ eine wunderbar realistische Geschichte der französischen ‚Gesellschaft‘, indem er in der Art einer Chronik fast Jahr für Jahr von 1816 bis 1848 die fortschreitenden Einbrüche der aufsteigenden Bourgeoisie in die Gesellschaft der Adligen schildert, die sich nach 1815 rekonstituierte und, soweit sie es vermochte, den Standard der vieille politesse francaise wieder herstellte. Er schildert, wie die letzten Überreste dieser für ihn musterhaften Gesellschaft allmählich dem Eindringen des vulgären, reichen Emporkömmlings nachgaben oder von ihm zersetzt wurden“.
Wie Marx sieht Engels im reaktionären Legitimisten und royalistischen Adelsfreund Balzac den präzisen Anatomen der bürgerlichen Gesellschaft. Er zieht Balzacs literarische Bilder vielen historischen, sozialwissenschaftlichen und nationalökonomischen Studien vor, denn Balzac bietet „eine vollständige Geschichte der französischen Gesellschaft, aus der ich, sogar in den ökonomischen Einzelheiten (zum Beispiel die Neuverteilung des beweglichen und unbeweglichen Eigentums nach der Revolution) mehr gelernt habe als von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen. Gewiss, Balzac war politisch ein Legitimist, sein großes Werk ist ein ständiges Klagelied über den unaufhaltsamen Verfall der guten Gesellschaft; alle seine Sympathien gehören der Klasse, die zum Untergang verurteilt ist. Aber trotz alledem ist seine Satire niemals schärfer, seine Ironie niemals bitterer, als dann, wenn er eben die Männer und Frauen in Bewegung setzt, mit denen er zutiefst sympathisiert, - die Adligen. Und die einzigen Leute, von denen er immer mit unverhohlener Bewunderung spricht, sind seine schärfsten politischen Gegner, die republikanischen Helden vom Cloitre Saint Méry, die Männer, die zu dieser Zeit (1830 bis 1836) in der Tat die Vertreter der Volksmassen waren.“
Größe und Triumph von Balzacs Realismus bestehen für Engels 1888 darin, dass er gegen die eigenen Klasseninteressen anzuschreiben vermag: „Dass Balzac so gezwungen war, gegen seine eigenen Klassensympathien und politischen Vorurteile zu handeln, dass er die Notwendigkeit des Untergangs seiner geliebten Adligen sah und sie als Menschen schilderte, die kein besseres Schicksal verdienen; und dass er die wirklichen Menschen der Zukunft dort sah, wo sie damals allein zu finden waren, - das betrachte ich als einen der größten Triumphe des Realismus und als einen der großartigsten Züge des alten Balzac.“ (MEW 37, 43f.)
Ende 1883 wiederholt Engels gegenüber Paul Lafargue seine Balzac-Beobachtungen: „Übrigens habe ich, während ich [krank] zu Bett lag, kaum etwas anderes als Balzac gelesen und den alten Prachtkerl von Herzen genossen. Dort ist die Geschichte Frankreichs 1815 bis 1848 viel besser als bei all den [Achille] Vaulabelles, [Jean Baptiste] Capefigues, Louis Blancs und tutti quanti. Und welche Kühnheit! Welch revolutionäre Dialektik in seiner poesievollen Gerechtigkeit!“ (MEW 36, 75)
Im Jänner 1892 ruft Engels Ludwig Kugelmann zur Balzac-Lektüre auf: „Die französische Bauerngeschichte ist cum grano salis zu nehmen. Parzellen-Bebauung war in Frankreich wie Deutschland und Osteuropa Regel, Großkultur mit Fronarbeit relative Ausnahme, was die Flächengröße betrifft. Durch die Revolution wurde der Bauer allmählich Eigentümer seiner Parzelle, nachdem er oft noch eine Zeitlang wenigstens nominell Pächter gewesen war (die Pacht aber meist nicht zahlte). Was aus den Nationalgütern wurde (von denen Napoleon und Restauration viel an den Adel zurückgab, andres nach 1826 aus der Emigranten-Milliarde vom Adel aufgekauft wurde), und wie der Kleinbauernbesitz bis 1830 auf seine höchste Entwicklung kam, darüber [Georges] Avenels ‚Lundis Révolutionnaires‘ und Balzacs Roman ‚Le Paysans‘. Taine ist nicht viel wert.“ (MEW 37, 132)
Hegel statt Savigny, Ranke
In welchem Umfang die jungen Marx und Engels – jeder noch für sich – die Literatur konstitutionell frühliberaler Historiker und Verfassungstheoretiker wie jene von
Friedrich Christoph Schlosser („Weltgeschichte“, 1817-1824), von Georg Gottfried Gervinus („Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen“, 1835-1842), von Friedrich Christoph Dahlmann (etwa das Handbuch „Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt“, 1835) oder von Karl Rotteck (seit 1812 erscheinende „Weltgeschichte“) studiert haben, ist offen.
Von begrenztem Wert war für Marx und Engels Mitte der 1840er Jahre auch Lorenz Steins „Beitrag zur Zeitgeschichte“ französischer sozialistischer Strömungen, über die Schule von St. Simon, über Charles Fourier, Pierre-Joseph Proudhon oder über Louis Blanc, 1842 in erster Auflage unter dem Titel „Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich“ erschienen. Der von Hegels Rechts- und Staatsphilosophie geprägte Stein, der den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit erkennend dessen revolutionäre Überwindung fürchtete, vertrat die Idee eines Sozialstaats, eines „sozialen Königtums“ (einer „socialen Demokratie“). Stein trat für einen staatlich vermittelten sozialharmonischen Ausgleich jenseits des Klassenkampfs ein. Stein galt Marx und Engels als ein „Kompilator“, der eine Vorlage für einen in „allgemeiner Menschenliebe“ endenden, sentimental humanistischen „wahren Sozialismus“ lieferte.
Gustav Mayer überschreibt in den 1930er Jahren ein Kapitel seiner Engels-Biographie mit „Hegel statt Ranke“. Er hätte auch „Hegel statt Savigny“ hinzufügen können. Der linkshegelianisch radikaldemokratische junge Karl Marx widersprach 1842 dem der feudalen Junkerklasse verpflichteten romantischen Geschichtsdenken (Friedrich Carl Savigny, Gustav Hugo), das in seinem deklarierten Anspruch auf Theorielosigkeit einen Rückschritt hinter die bürgerliche Gesellschaftsentwicklung, hinter die Aufklärung darstellt: „Die historisch-romantische Schule war ein Rückschlag gegen die bürgerlich-klassische Nationalökonomie“ (Smith, Ricardo), auch wenn diese „die Produktionsweise der bürgerlichen Klassen für die allein naturgemäße und die Wirtschaftsformen dieser Klassen für ewige Naturgesetze erklärt“ hatte. In der Sicht der historischen Rechtsschule führt die bürgerliche Politische Ökonomie aber zur Gefährdung eben dieser Ordnung. Franz Mehring verweist auf den Umstand, dass die historische Romantik im Interesse des Junkertums die „Abhängigkeitsverhältnisse von Grundherren und Hörigen“ patriarchalisch verklärt hat. Trotz ihres bürgerlichen Klassencharakters stehen ein Adam Smith, David Ricardo weit über dem Rechtshistorismus, so Mehring 1893: „Der theoretische Kampf zwischen bürgerlicher Nationalökonomie und historischer Romantik war die ideologische Widerspiegelung des Klassenkampfs zwischen Bourgeoisie und Junkertum.“[15]
Marx erklärt 1842 in seiner Abrechnung mit dem „philosophischen Manifest der historischen Rechtsschule“: „Ist daher Kants Philosophie mit Recht als die deutsche Theorie der französischen Revolution zu betrachten“, auch wenn sich Kants praktische Vernunft „bei dem bloßen ‚guten Willen‘“ beruhigt und Kant deren Verwirklichung angesichts der „Ohnmacht, Gedrücktheit und Misere der deutschen Bürger … ins Jenseits“ verlegt, so sind Savigny und Hugo reaktionäre Vertreter einer deutschen Theorie des ancien régime. Ende 1843 spricht Marx in der Einleitung „zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ von der rechtshistorischen Richtung als einer Schule, die „jeden Schrei des Leibeigenen gegen die Knute für rebellisch erklärt, sobald die Knute eine bejahrte, eine angestammte, eine historische Knute ist“. (MEW 1, 80f., 380)
Selbst der von Marx und Engels hoch geschätzte Jakob Grimm ist nicht frei von den Tendenzen dieser rückwärtsgewandten Rechtsschule, so Marx 1868: „Die erste Reaktion gegen die französische Revolution und das damit verbundene Aufklärertum war natürlich alles mittelaltrig, romantisch zu sehn, und selbst Leute wie Grimm sind nicht frei davon.“ (MEW 32, 51)
Friedrich Engels erprobte seine frühe – noch vorsozialistische – Romantik-Kritik 1842 an Hand von „Schelling und die Offenbarung“, an Hand von Schellings „mythologischen und theosophischen Phantastereien“, an Hand von dessen spätem gegen Hegel gerichteten restaurativen Versuch, „die Versöhnung von Glauben und Wissen, von Philosophie und Offenbarung zustande zu bringen“, an Hand von Schellings Bemühen, die Vernunft als „schlechthin impotent“ abzutun, also am „Versuch, Autoritätsglauben, Gefühlsmystik, gnostische Phantasterei in die freie Wissenschaft des Denkens hineinzuschmuggeln“. (MEW Ergänzungsband II, 178f.)
Ambivalent stand Friedrich Engels ab 1843 Thomas Carlyles in die Vergangenheit weisender Kapitalismus- und Kulturkritik gegenüber. Er zeichnete Carlyles „Past and Present“ als Werk eines romantischen Antikapitalisten. Carlyle markiert offen die Verkommenheit einer „faulenzenden, grundbesitzenden Aristokratie“, vor allem aber die Korruption einer liberalen laissez faire-Bourgeoisie, die mit ihrer rücksichtslosen Ausbeutung die pauperisierte Arbeiterschaft in die Hände des revolutionären Chartismus treibt und damit die von Carlyle gefürchtete plebejische „rote Republik“ befördert. Engels übersah nicht Carlyles Rede von „wahrer Aristokratie“ und seine religiöse Verklärung der mittelalterlichen Feudalherrschaft: „Thomas Carlyle hat das Verdienst, literarisch gegen die Bourgeoisie aufgetreten zu sein, (…). Aber in allen diesen Schriften hängt die Kritik der Gegenwart eng zusammen mit einer seltsam unhistorischen Apotheose des Mittelalters.“ (MEW 1, 537f., MEW 7, 264f.)
Ranke als „Kammerdiener der Geschichte“
1843/44 zieht Marx zur Kritik des „Geldmenschentums“ und der „Welt des Eigennutzes“ Leopold Rankes „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“ (1839) heran. Marx zitiert Thomas Münzer nach Ranke: „In diesem Sinn erklärt es Thomas Münzer für unerträglich, ‚dass alle Kreatur zum Eigenthum gemacht worden sei, die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden – auch die Kreatur müsse frei werden.‘“ (MEW 1, 375)
Insgesamt wird Ranke aber als ein Historiker des „ancien régime“, abgetan, heißt wohl, dass Ranke kaum einen Blick für die weltgeschichtliche Bedeutung heroischer Gestalten hat. Marx spricht im September 1864 so von Ranke: „Das, was das tanzende Wurzelmännchen Ranke für Geist hielt“, das waren „die spielende Anekdotenkrämerei und die Rückführung aller großen Ereignisse auf Kleinigkeiten und Lausereien“. Auch Ranke war ein „geborner ‚Kammerdiener‘ der ‚Geschichte‘.“ (MEW 30, 452f.)
Marx variiert hiermit ein Motiv aus Hegels „Phänomenologie des Geistes“ und aus dessen „Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte“: „Diese Psychologen hängen sich dann vornehmlich auch an die Betrachtung von den Partikularitäten der großen historischen Figuren, welche ihnen als Privatpersonen zukommen. Der Mensch muss essen und trinken, steht in Beziehung zu Freunden und Bekannten, hat Empfindungen und Aufwallungen des Augenblicks. Für einen Kammerdiener gibt es keine Helden, ist ein bekanntes Sprichwort; ich habe hinzugesetzt – und Goethe hat es zehn Jahre später wiederholt -, nicht aber darum, weil dieser kein Held, sondern weil jener der Kammerdiener ist. Dieser zieht dem Helden die Stiefel aus, hilft ihm zu Bette, weiß, dass er lieber Champagner trinkt usf. – Die geschichtlichen Personen, von solchen psychologischen Kammerdienern in der Geschichtsschreibung bedient, kommen schlecht weg; sie werden von diesen ihren Kammerdienern nivelliert, auf gleiche Linie oder vielmehr ein paar Stufen unter die Moralität solcher feinen Menschenkenner gestellt.“[16]
Engels und die historische Bibelkritik
Für das Geschichtsbild des aus einem Milieu pietistischer Frömmelei stammenden Friedrich Engels, der den Weg über „die Evangelienkritik des Hegelianers David Friedrich Strauß [‚Das Leben Jesu, kritisch betrachtet‘, 1835/36] zu Hegel und von diesem über Feuerbach zum philosophischen Materialismus“ gefunden hat, war die sowohl an katholischen als auch evangelischen Theologiefakultäten einsetzende Bibelkritik von Interesse.
Engels verweist 1894 auf die Ansätze zu einer historisch kritischen Bibelwissenschaft freisinniger Theologen, auch wenn sie sich limitiert in den Grenzen der Dogmatik und Orthodoxie bewegen, so die Vertreter der Tübinger Schule um Ferdinand Christian Baur und August Friedrich Gfrörer. Die Tübinger üben wider Willen Bibelkritik, um die Orthodoxie doch noch im rationalistischen Weg zu retten: „Die deutsche Bibelkritik, bis jetzt die einzige wissenschaftliche Grundlage unsrer Kenntnis des Urchristentums, ist in doppelter Richtung verlaufen. Die eine Richtung ist die der Tübinger Schule, zu der im weitern Sinn auch D.F. Strauß zu rechnen ist. Sie geht in der kritischen Untersuchung so weit, wie eine theologische Schule gehen kann. Sie gibt zu, dass die vier Evangelien keine Berichte von Augenzeugen, sondern spätere Überarbeitungen verlorner Schriften und dass von den dem Apostel Paulus zugeschriebenen Büchern höchstens vier echt sind usw. Sie streicht alle Wunder und alle Widersprüche als unzulässig aus der Geschichtserzählung aus; von dem übrigen aber sucht sie ‚zu retten, was noch zu retten ist‘, und dabei kommt dann ihr Charakter als der einer Schule von Theologen sehr zum Vorschein. (…) Jedenfalls aber kann alles, was die Tübinger Schule im Neuen Testament als ungeschichtlich oder untergeschoben verwirft, als endgültig für die Wissenschaft beseitigt gelten.“ (MEW 22, 455)
Eine weitere Richtung wird von Bruno Bauer vertreten, der von Friedrich Engels trotz der in der „Heiligen Familie oder Kritik der kritischen Kritik“ erfolgten polemischen Abrechnung mit dem „Selbstbewusstsein“ von „Sankt Bruno“ eine Entstehungsgeschichte des Christentums geboten hat, die auch „uns Sozialisten interessiert“, wie Engels 1882 einen Nachruf auf den mittlerweile „verschollenen“ Bruno Bauer einleitet.
Später meint Engels 1894: Bruno Bauers „großes Verdienst besteht nicht nur in der rücksichtslosen Kritik der Evangelien und apostolischen Briefe, sondern auch darin, dass er zum erstenmal Ernst gemacht hat mit der Untersuchung nicht nur der jüdischen und griechisch-alexandrinischen, sondern auch der rein griechischen und griechisch-römischen Elemente, die dem Christentum erst die Laufbahn zur Weltreligion eröffnet haben.“
Bruno Bauer zeigt das Christentum als eine die Massen ergreifende soziale Macht, die Verelendung der römischen Massen, der Sklaven ansprechend, wenngleich „an der materiellen Erlösung verzweifelnd, eine geistige Erlösung als Ersatz“, nur „einen Trost im Bewusstsein“ anbietend. Er „hat den Grund des Beweises gelegt, dass das Christentum nicht von außen, von Judäa in die römisch-griechische Welt importiert und ihr aufgenötigt worden, sondern dass es, wenigstens in seiner Weltreligionsgestalt, das eigenste Produkt dieser Welt ist.“[17]
Heinrich Leo gegen die „Hegelingen“
Der junge Friedrich Engels setzte sich um 1840 mit dem christlich-legitimistischen, strikt gegenrevolutionären Historiker Heinrich Leo auseinander. Er ironisierte in einem Spottgesang Leos („Leus“) mehrbändiges seit 1835 in Halle erscheinendes „Lehrbuch der Universalgeschichte“:
„Die erste Reihe [der Frommen] führt der grimmig stolze Leu;
Er schreitet kühn daher und schwinget sonder Scheu
Fünf Bände Weltgeschicht‘ in seinen frommen Fäusten;
Sonst ist er waffenlos; der Glaube muß ihm leisten
Was aller Übermut und Selbstvertrau’n nicht kann.“ (MEW-Ergänzungsband II, 310)
Engels sah sich durch Leos Angriff auf Hegel, auf die Vernunft, auf die Revolution provoziert. 1838 hat Leo in einer Streitschrift „Die Hegelingen. Actenstücke und Belege zu der s.g. Denunciation der ewigen Wahrheit“ die Religionsphilosophie Hegels und seiner Schüler angegriffen. Die Vorwürfe lauteten, dass die „Hegelingen“ (wie Arnold Ruge) jeden Gott leugnen, „der zugleich eine Person ist … Diese Partei lehrt den Atheismus ganz offen.“ Ferner würde behauptet, „dass das Evangelium eine Mythologie sei“. Es werde eine Religion „des alleinigen Diesseits“ proklamiert. Von der Hegelschen Schule könnte eine gefährliche „Umwälzung der Kirchen- und Staatsformen“ ausgehen.
Im März 1856 wird Marx auffallen, dass Heinrich Leo indirekt geradezu Friedrich Engels‘ „Bauernkrieg“ mit seinen Hypothesen zur „frühbürgerlichen Revolution“ widerspricht: „Vater Leo hat vor dem Könige eine Vorlesung über Münzer gehalten (abgedruckt zum Teil in der ‚Neuen Preußischen‘). Man möchte sagen, dass sie direkt gegen Deinen Aufsatz in der ‚Revue der Neuen Rheinischen Zeitung‘ gerichtet ist. Die Reformation muss natürlich von dem Vorwurf befreit werden, die Mutter der Revolution zu sein. Münzer war ein ‚Schwarmgeist‘, der sagte: ‚intelligo ut credam‘. Luther sagte: ‚credo ut intelligam‘.“ (MEW 29, 24f.)
Thomas Münzer ist nach Leos theologischer Erklärung mit seinem überheblich, maßlosen „intelligo ut credam“ ins Unglück gestürzt, ein ordnungsfeindliches Prinzip, das erst in der Französischen Revolution zur Bedrohung geworden sei.
Kurz: Von katholischer Seite werde der deutschen Reformation polemisch verfälschend vorgeworfen, sie „sey nicht bloß selbst ein revolutionärer Vorgang gewesen, sondern auch die Wurzel aller späteren revolutionären Bewegungen, welche das Leben der Europäischen Völker erschüttert haben.“
Die am Rande der Reformation sichtbar werdenden revolutionären Strömungen sind aber nach Leo an Martin Luther gescheitert. Luther – so Leo weiter – habe sich nach anfänglichem Schwanken „doch noch rechtzeitig vor dem Gefangenwerden in diesen revolutionären Bestrebungen gehütet“, während Thomas Münzers Entwicklung schwere sittliche Gebrechlichkeit, Anzeichen einer gefährlichen Hybris, ein sich überhebendes subjektives „fluctuirendes“ Suchen nach Gott, den er sich „erst aus eigener Erkenntniß“ zurechtlegen will („sich seinen Gott gewissermaßen rationell bereiten“) zeige. Münzers „Schwindel“, seine „sittliche Seekrankheit“ habe ihn zum sozialen Umsturzversuch geführt, während Luther im „festen Glauben“ geruht hat: „Bei Luther hieß es: credo ut intelligam – mein Glaube steht fest und der wird mir Klarheit über die Welt geben – bei Münzer hieß es alle Zeit, auch wenn er mit Luther gleichen Weg zu gehen schien: intelligo ut credam, ich forsche, um einen Glauben zu finden.“[18]
Sybel, Treitschke: Die borussischen „Sozialistentöter“
Die beiden antidemokratisch borussisch chauvinistischen Leithistoriker Heinrich Sybel und Heinrich Treitschke geraten eigentlich nur als Verfasser antisozialistischer Broschüren, damit als ahnungslose reaktionäre Agitatoren, als ideologische Wegbereiter des Bismarckschen Sozialistenverbots, als „Sozialistentöter“ ins Blickfeld von Marx und Engels.
Engels spricht 1882 im Vorwort zur deutschen Ausgabe zur „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ vom „Geheimrat Heinrich von Sybel und anderen Treitschkes, beherrscht von dem unwiderstehlichen Drang, ihre grauenhafte Unkenntnis und ihren daraus begreiflichen kolossalen Missverstand des Sozialismus immer aufs neue schwarz auf weiß zum besten zu geben“. (MEW 19, 187 und MEW 33, 553)
Der Sozialismus gilt Sybel 1872 als Bedrohung von Kultur und Zivilisation. Professoral übt er Kritik an der Marxschen Mehrwerttheorie. Sie lasse den „wirklichen Schöpfer“ des (Mehr-) Werts als Ausbeuter und „müßigen Schmarotzer“ dastehen: „Der wesentliche Punkt bleibt aber unter allen Umständen: der Fabrikherr, der Capitalist ist der Schöpfer aller entstehenden Werthe. Seine Lohnarbeiter haben damit nichts zu thun.“ Und Sybel die Arbeitermassen verachtend: „Der Knabe, der die Abfälle der Baumwolle entfernt, was weiß er von dem Zusammenhange von Zweck und Mittel der Production. (…) Die Marx’sche Theorie von der Aneignung unbezahlter Arbeit, von der diebischen Anschwellung des Capitals hat nichts auf sich, ist in jeder Hinsicht unbegründet.“
Marx trage im „Kapital“ aus den englischen Fabrikinspektoren-Reports, aus den Berichten der „Children’s employment commission“ lange Schilderungen vom Wohnungs-Elend, Kinder-, Arbeitselend vor und tue dies – so Sybel – mit einer „grimmigen Genugthuung“, demonstriert dies doch die Verkommenheit der bürgerlichen Gesellschaft. In Wirklichkeit – so behauptet Sybel – würden diese Mängel laufend „ohne Communismus auf dem Boden des Privateigenthums und der capitalistische Production“ durch soziale Reformen behoben.[19]
1912 hat ein Georg Below den Theoretikern des historischen Materialismus gleichsam rückwirkend Heinrich Sybel nahegelegt. Nach Below hätten Marx und Engels in Heinrich Sybels „Entstehung des deutschen Königtums“ (1844) die These finden können, „dass die Germanen bei ihrem Eintritt in die Geschichte Gemeineigentum am Ackerland gehabt hatten.“[20]
Noch militanter hetzt Heinrich Treitschke unter dem Eindruck der geschlagenen Pariser Kommune und im Vorfeld des Sozialistenverbots von 1878. Von antidemokratischen Ressentiments ausgehend spricht Treitschke von natürlicher Ungleichheit, vom Recht des Stärkeren: „Erst unter diesem Gesichtspunkte wird der ganze Wahnsinn der communistischen Lehren offenbar; sie vernichten einfach die Persönlichkeit.“ Treitschke spricht von der Notwendigkeit, „harte, schmutzige, halbthierische Arbeiten“ zu verrichten, wenn dies für die „Erhaltung der errungenen Gesittung“ der „Culturvölker“ erforderlich sei: „Die Millionen müssen ackern und schmieden und hobeln, damit einige Tausende forschen, malen und regieren können. Umsonst versucht der Socialismus durch leeres Wuthgeschrei diese herbe Erkenntniß aus der Welt zu schaffen.“ Auch unter einer „demokratischen Staatsverfassung“ muss nach Treitschke „die bürgerliche Gesellschaft“ eine „Aristokratie“ sein: „Die Socialdemokratie bekennt schon durch ihren Namen, daß sie den Unsinn will. (…) Die Lehre von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zerreißt mit plumper Faust die vielgegliederte Einheit der Gesellschaft.“
Treitschke begrüßt es, dass der radikale englische Chartismus erloschen ist, in einen zaudernden gewerkschaftlichen Fabianismus übergangen ist, während das Unglück Frankreichs darin bestünde, aus fehlgeleiteter Revolutionssympathie in der Barbarei der „Juni-Insurrektion“ 1848 und in jener der Kommune 1871 geendet zu haben. Hinter einer aktuellen deutschen Streikflut sieht Treitschke den „Rabulisten“ Marx stehen, der „jede Tollheit eines heimathlosen Radicalismus“ schürt. Selbst den „Kathedersozialismus“ mancher Universitätsprofessoren sieht Treitschke mitverantwortlich.[21]
In fachlicher Hinsicht spielen Sybel und Treitschke für Marx und Engels keine Rolle. Sie gelten ihnen als Historiker der Geschichte diplomatischer Winkelzüge, von politischen Haupt- und Staatsaktionen. Im Februar 1870 macht Engels Marx darauf aufmerksam, dass es in der Frage der polnischen Teilungen einen „großem Krakeel zwischen den preußischen und östreichischen Historikern wegen dem Frieden von Basel“ gibt, „weil der Sybel behauptet hat, Preußen hätte ihn schließen müssen, weil es von Östreich in Polen verraten worden. Jetzt hat der Sybel wieder eine lange Geschichte darüber, aus den östreichischen Archiven, in seiner historischen Zeitschrift. Während jede Zeile nachweist, wie Russland sowohl Preußen wie Östreich aneinander und zugleich in den Krieg gegen Frankreich 1792 hetzt, beide exploitiert, prellt, beherrscht, merkt der dumme Sybel das gar nicht, sondern sucht in diesem ganzen Saukram von Prellerei, Vertragsbruch und Niederträchtigkeit, in dem sie alle gleich tief stecken, nur nach dem einen: nach Beweisen, dass Östreich doch noch schuftiger war als Preußen. Solche Ochsen sind noch nie dagewesen.“ (MEW 32, 446-449)
Marx erklärt Tage später, dass „Herr Siebel oder Sybel, wie der Kerl heißt“ ein billiger Apologet des „säuischen Verfahrens der Preußen“ sei, worauf Engels postwendend antwortet, dass Sybel zu belegen versucht, dass Preußens Verhalten in der polnischen Frage „durch irgendwelche vorhergegangene östreichische Verräterei berechtigt war“. Insgesamt stellt Engels aber auch Sybels Opponenten, die prohabsburgisch österreichischen Historiker Alfred Arneth, Direktor des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, und Alfred Vivenot auf das Niveau von gedankenlosen Aktenkompilatoren: „Die Großdeutschen und Östreicher, Arneth, Vivenot und Konsorten, behaupten nun wieder das Gegenteil; so dass die beiden Schulen Geschichtsklitterer jetzt sich, Russland gegenüber ebenso dumm verhalten, wie damals die beiden deutschen Mächte.“ (MEW 32, 452)[22]
„Militaria“: Clausewitz statt Sybel und die „Kleindeutschen“
Sybels Geschichte der französischen Revolutionszeit/-kriege war für Marx und Engels als eine vorwiegende Geschichte von „Haupt- und Staatsaktionen“, von diplomatischen Winkelzügen von geringem Interesse. Für die Militär-, aber auch Gesellschaftsgeschichte der Koalitionskriege ist ein Antoine Henri de Jomini oder ein Carl von Clausewitz ungleich wichtiger.
Friedrich Engels hat für seine Militär-Studien vor dem Hintergrund des Krimkrieges, des Krieges von Frankreich und Italien gegen Österreich 1859 (dazu die Broschüre „Po und Rhein“ 1860), des amerikanischen Bürgerkriegs oder des deutsch-französischen Kriegs 1870/71 Spezialquellen – von den Werken der Historiker und Militärschriftsteller des Altertums (Herodot, Xenophon, Sallust, Polybios, usw.) bis zu den Werken zeitgenössischer Autoren „geochst“. Für die antike Kriegsführung wurden Auszüge aus John Wilkinsons „Manners and Customs of the Ancient Egyptians“ (1837), aus Friedrich Wilhelm Rüstows „Heerwesen und Kriegsführung C. Julius Cäsars‘ (1855) angelegt. Engels studierte auch Rüstows „Geschichte der Infanterie“ (1857/58). An Rüstow, dem radikaldemokratischen Republikaner der 1848er Revolution, dem Befürworter der Volksbewaffnung, der in Preußen wegen seines Buchs „Der deutsche Militärstaat vor und während der Revolution“ verfolgt 1850 in die Schweiz flüchten musste, waren Marx und Engels sehr interessiert, auch wenn sie seiner Rolle als führender Offizier an der Seite Giuseppe Garibaldis im italienischen Unabhängigkeitskrieg von 1859/60 und seinen Projektmachereien an der Seite von Ferdinand Lassalle distanziert gegenüberstanden.[23]
Im Juni 1851 schreibt Engels an Joseph Weydemeyer, dass er „kriegsgeschichtliche Sachen für die neuere Zeit“ sucht, „die frühere ist mir mehr oder weniger gleichgültig, und dafür habe ich den alten Montecucc[o]li“: „Von deutschen Sachen hab‘ ich nichts, doch muss ich mir einiges besorgen; ich denke zunächst an Willisen und Clausewitz.“ (MEW 27, 554f.)
Mit ersterem sprach Engels die Schriften des gegenrevolutionären preußischen Generals Karl Wilhelm Willisen an. Marx‘ und Engels‘ Interesse an Willisens „Theorie des großen Kriegs“ erlosch aber rasch, da er, wie sie 1852 nebenbei anmerken, Militärtheorie nur nach abstrakten philosophischen Prinzipien, gleichsam „spekulativ“ pseudohegelianisch betrieb. (MEW 8, 321)
1853 zog Engels in einem Brief an Joseph Weydemeyer Antoine Henri Jomini, den Theoretiker und Historiker der (napoleonischen) Revolutionskriege, Clausewitz noch vor: „Die alten Kampagnen (i.e. seit 1792) hab‘ ich so ziemlich durchgeochst; die napoleonischen sind so einfach, dass wenig dabei zu verderben ist. Jomini ist au bout du compte doch der beste Darsteller davon, das Naturgenie Clausewitz will mir trotz mancher hübschen Sachen nicht recht zusagen.“ (MEW 28, 577)
Jomini wetterte gegen Clausewitz als einen nur scheinbar geistreichen Gegner konventioneller Kriegswissenschaft. Er behauptete den Vorrang des Militärischen vor dem Politischen, zumindest solange der Sieg noch nicht erreicht ist. Er konnte sich trotz einiger Distanz zum „trigonometrischen“ Bülow-Paradigma und trotz persönlichem Erlebnis der Revolutionskriege, eine Militärtheorie nur als Reduktion auf einige unumstößlich fixe allgemeine Grundsätze vorstellen und den Krieg ungeachtet aller Irrationalität und Emotionalität nur als eine „mathematisch mechanische Aufgabe“ auffassen, sodass sich seine Schriften oft wie Geometriehandbücher lesen. Auch wenn Engels 1860 in „Po und Rhein“, also in der Beschreibung des Kriegs in Oberitalien, noch einmal auf Jominis Konzept der (inneren, konzentrierten) Operationslinien bezog, nahm sein Interesse an Jomini stark ab. (MEW 13, 238)[24]
Stand Engels dem „Naturgenie“ Clausewitz anfangs noch skeptisch gegenüber, so ändert sich das ab Mitte der 1850er Jahre rasch, ehe der späte Engels vor dem Hintergrund des einsetzenden imperialistischen Wettrüstens, das nach Engels‘ Prognose zu einem Weltkrieg mit barbarischen Folgen führen wird, Clausewitz sogar als einen „Stern erster Größe“ bezeichnet.[25]
Im September 1857 schätzt Marx die gemeinsamen Militärstudien – konkret jene seit dem Sommer 1857 laufend für die „New American Cyclopaedia“ erstellten - als auf der Linie der materialistischen Geschichtsbetrachtung stehend ein. Marx betont, dass die Geschichte der Armee „anschaulicher als irgend etwas die Richtigkeit unserer Anschauung von dem Zusammenhang der Produktivkräfte und der sozialen Verhältnisse hervorhebt.“
Kriegstheorie, Militärgeschichte sind in Analogie zum Reproduktionsprozess des Kapital zu betreiben, die Entwicklung der Militärkräfte im Vergleich zu jener der materiellen Produktivkräfte (Arbeitsteilung, Aufkommen des Geldes, der Maschinerie). Marx, der unter einem auch auf Machiavellis „Geschichte von Florenz“ aufmerksam macht, wo nachzulesen ist, „wie die condottieri sich schlugen“ – berichtet dementsprechend im Herbst 1857 an Engels: „Überhaupt ist die army wichtig für die ökonomische Entwicklung. Z.B. Salär zuerst völlig in der Armee entwickelt bei den Alten. Ebenso bei den Römern das peculium castrense erste Rechtsform, worin das bewegliche Eigentum der Nichtfamilienväter anerkannt. Ebenso das Zunftwesen bei der Korporation der fabri. Ebenso hier erste Anwendung der Maschinerie im großen. Selbst der besondre Wert der Metalle und ihr use als Geld scheint ursprünglich – sobald Grimms Steinalter vorbei war – auf ihrer kriegerischen Bedeutung zu beruhn. Auch die Teilung der Arbeit innerhalb einer Branche zuerst in den Armeen ausgeführt. Die ganze Geschichte der bürgerlichen Gesellschaften ferner sehr schlagend darin resümiert.“ (MEW 29, 192f. und redaktioneller Kommentar in MEW 14, VI-IX und 705f.)
Friedrich Engels demonstriert laufend Zusammenhänge zwischen revolutionärer Bewegung und der Form der Kriegsführung, so 1877/78 im „Anti-Dühring“, neben anderen Beispielen die Massenheere der französischen Revolution, über die „Sprengung des Militarismus und mit ihr aller stehenden Armeen von innen heraus“: „Nur eine Revolution wie die französische, die den Bürger und namentlich den Bauer ökonomisch emanzipierte, konnte die Massenheere und zugleich die freien Bewegungsformen finden, an denen die alten steifen Linien zerschellten – die militärischen Abbilder des Absolutismus, den sie verfochten.“ (MEW 20, 159)[26]
Engels knüpfte in der Analyse des Zusammenhangs von Kriegsstrategie einerseits und Klassenstruktur bzw. Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte andererseits direkt an Carl Clausewitz an. Clausewitz hatte als Skeptiker („Anti-Bülow“) und scharfer Kritiker jeder scheinbaren Militärwissenschaft, die den Krieg auf wenige „liniengeometrische“ Formen, auf die Festlegung von Operationslinien, auf die Täuschung, wonach diese siegversprechenden Größen in einem rational wissenschaftlichen Sinn festlegbar, messbar sind, stützte, den Primat der politischen und bürgerlich gesellschaftlichen Verhältnisse proklamiert: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. So sehen wir also, dass der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln.“[27]
Die Entwicklung vom Kabinetts- zum Volkskrieg hat Clausewitz im sechsten Kapitel B des achten Buches „Vom Kriege“ – unter dem Titel „Der Krieg ist ein Instrument der Politik“ – so wie Jahrzehnte später Engels – als Folge der Revolutionsbewegung beschrieben: „Die ungeheuren Wirkungen der französischen Revolution nach außen sind aber offenbar viel weniger in neuen Mitteln und Ansichten ihrer Kriegsführung als in der ganz veränderten Staats- und Verwaltungskunst, in dem Charakter der Regierung, in dem Zustande des Volkes usw. zu suchen. Dass die anderen Regierungen alle diese Dinge unrichtig ansahen, dass sie mit gewöhnlichen Mitteln Kräften die Waage halten wollten, die neu und überwältigend waren: das alles sind Fehler der Politik. Hätte man nun diese Fehler von dem Standpunkte einer rein militärischen Auffassung des Krieges einsehen und verbessern können? Unmöglich.“[28]
Die sich rational instrumentell gebende Planung aus der Zeit der (friderizianischen) Kabinettskriege hatte sich im Zeitalter der die Gewalt eskalierenden existentiellen Kriege, der revolutionären Levée en masse überholt, als illusionär erwiesen. Engels bezieht sich auf Clausewitz‘ Auffassung vom Krieg als „Chamäleon“, auf die Ausführungen über die irrational moralischen Potenzen („Leidenschaften“) im Krieg, über die unvermeidlichen „Friktionen“, die Dialektik von Angriff und Verteidigung, über den Volkskrieg, den Klein-/Partisanenkrieg jenseits regulärer Armeen, über die asymmetrische Kriegsführung.
Im Jänner 1858 zieht Engels mit Clausewitz eine Analogie von Krieg und bürgerlichem Geschäftsleben: „Ich lese jetzt u.a. Clausewitz, ‚Vom Kriege‘. Sonderbare Art zu philosophieren, der Sache nach aber sehr gut. Auf die Frage, ob es Kriegskunst oder Kriegswissenschaft heißen müsse, lautet die Antwort, dass der Krieg am meisten dem Handel gleiche. Das Gefecht ist im Kriege, was die bare Zahlung im Handel ist, so selten sie in der Wirklichkeit vorzukommen braucht, so zielt doch alles darauf hin, und am Ende muss sie doch erfolgen und entscheidet.“ (MEW 29, 252)[29]
Für eine Studie über Gebhard Leberecht Blücher nahm sich Marx ebenfalls 1857/58 Clausewitz‘ „Vom Krieg“ vor: „Den Clausewitz habe ich bei Gelegenheit des Blücher etwas im allgemeinen durchstöbert. Der Kerl hat einen common sense, der an Witz grenzt.“ (MEW 29, 256, Blücher-Artikel in MEW 14, 170-186)
Im August 1859 beschreibt Marx in einem Artikel für den „New-York Daily Tribune“ die französischen Koalitionskriege in Italien mit Clausewitz: „In seinem Buch über den italienischen Feldzug von 1796 und 1797 bemerkt Clausewitz an einer Stelle, dass der Krieg im Grunde keine so theatralische Angelegenheit sei, wie manche Leute anzunehmen scheinen, und dass sich Siege und Niederlagen, mit dem Auge der Wissenschaft betrachtet, ganz anders darstellen als in den Köpfen der politischen Schwätzer.“ Mit Clausewitz erklärt Marx auch die österreichische Niederlage im Feldzug von 1799, „weil die Anlage seiner Schlachten, strategisch wie taktisch, nicht auf wirkliches Erringen des Sieges, sondern vielmehr auf Ausbeutung“ eines „phantastischen Sieges“ orientierte. (MEW 13, 440, 450)
In der ebenso wie „Po und Rhein“ anonym erschienenen Broschüre „Sayoyen, Nizza und der Rhein“ zitiert Engels – in richtiger Vorahnung übrigens, dass die belgische Neutralität ignoriert werden wird – Clausewitz, der sich mit Blick auf den Feldzug der koalierten Armeen im Jahr 1814 über die Theorie vom idealen, das feindliche Land beherrschenden Geländepunkt, vom „Schlüssel des Landes“ – lustig gemacht hat: „Der empfindlichste Angriff auf Frankreich wird immer der von Belgien aus sein; ist Belgien neutral, der vom deutschen linken Rheinufer und vom badischen Oberrhein aus. Jeder andere macht einen Umweg und ist schon exzentrisch, nicht direkt auf Paris gerichtet. Und wenn Clausewitz schon (‚Vom Kriege‘, VI. Buch, Kap. 23) sich darüber lustig macht, wie 1814 eine Armee von 200.000 Mann, statt gerades Weges nach Paris zu marschieren, sich am Narrenseil einer törichten Theorie auf dem Umwege über die Schweiz nach dem Plateau von Langres führen läßt, (…).“ (MEW 13, 601)
Mit Blick auf die Schlacht von Corinth im amerikanischen Bürgerkrieg benützt Engels im Frühjahr 1862 Clausewitz‘ Bild von der abbrennenden Schlacht: „Die Schlacht brennt, wie Clausewitz [in ‚Vom Kriege‘] sagt, wie nasses Pulver langsam ab, erschöpft beide Teile, und am Ende sind die positiv erkämpften Vorteile der siegenden Seite mehr moralischer als materieller Natur.“ (MEW 30, 231)[30]
Angesichts des permanenten – teils offenen, verdeckten – spanischen Bürgerkriegs, häufiger Militärrevolten vertiefte sich Marx 1854 in die Geschichte Spaniens, speziell auch jene des Guerillakrieges 1808 bis 1812. Für die „New-York Daily Tribune“ verfasste er die Reihe „revolutionäres Spanien“ über den Guerillakrieg, der von Seite der napoleonischen Truppen zwar mit brutal kriegsverbrecherischen Gegenrepressalien einer „verbrannten Erde“, aber doch hilflos geführt wurde. (MEW 10, 461-463) Für die Spanien-Arbeit benützte Marx unzählige Autoren im spanischen Original – wie José María de Toreno –, aber auch den Franzosen Francois René de Chateaubriand, wie seine Exzerpthefte der Jahre 1853 bis 1855 zeigen. Marx interessierte sich für die Grundzüge einer in Zeit und Raum asymmetrisch verdeckten Kriegsführung. Neben dem liberalen Aristokraten und Staatsmann Toreno („Historia del levantamiento, guerra y revolución de Espana“, 1835-1837) las Marx u.a. auch die Schriften des wendig opportunistischen Diplomaten, gegenrevolutionären Royalisten und Ideologen einer konservativen Romantik Chateaubriand. Marx merkt im Oktober 1854 über Chateaubriand („Congrès de Vérone. Guerre d’Espagne“, 1838) an, dass dieser ein „Schönschreiber“ ist, „der aufs widerlichste den vornehmen Skeptizismus und Voltairianismus des XVIII. Jahrhunderts mit dem vornehmen Sentimentalismus und Romantizismus des XIX. vereint“. (MEW 28, 404)[31]
1851 hat Engels in Briefen an Marx und Weydemeyer das Studium der Geschichte des spanischen Kriegs von 1808 bis 1812 nach dem Werk des englischen Generalleutnants William Napier empfohlen: „History of the War in the Peninsula and the South of France“, 6 Bände, 1828-1840, „das Beste bei weitem, was ich bis jetzt von Kriegsgeschichtsschreibung gesehn habe“. Bei „allen Marotten“ zeige Napier „enorm viel common sense“ und „einen sehr richtigen Blick in Beurteilung des militärischen und administrativen Genies Napoleons.“ (MEW 27, 203f., 554f.)
Marx selbst fertigte Notizen aus Robert Southey „History of the Peninsular war“ (3 Bände, 1823-1832) an, obwohl Engels vom „elenden Tory Southey“, der „eine Schimpf- und Rodomontiergeschichte des spanischen Kriegs geschrieben hat“, abgeraten hatte.
Engels und Marx beobachteten fortlaufend den Übergang regulär „honett bürgerlicher“ Kriege in Richtung gewaltsamer Insurrektionen als Partisanen-, Freischärlerkampf, so Ende 1870 den Widerstand der französischen Franktireurs, gegen den die deutschen Armeen mit „Niederbrennen der Dörfer, Erschießen der franctireurs, Bürgennehmen und ähnlichen Rekapitulationen aus dem Dreißigjährigen Krieg“ vorgingen.
Dabei ist die Partisanentaktik – so Marx in seinem Brief an Ludwig Kugelmann am 13. Dezember 1870 – eine preußische aus den Befreiungskriegen, aus einer Zeit größter nationaler Demütigung: „Es ist eine echt hohenzollernsche Idee, dass ein Volk ein Verbrechen begeht, wenn es sich fortfährt zu verteidigen, sobald sein stehendes Heer alle geworden ist. In der Tat war der preußische Volkskrieg gegen Napoleon I. dem braven Wilhelm III. ein wahrer Dorn im Auge, wie man sich überzeugen kann aus Prof. Pertz‘ Geschichte über Gneisenau, welcher letztrer in seiner Landsturmordnung den franctireurs-Krieg in ein System gebracht hatte. Es wurmte dem Friedrich Wilhelm III., dass das Volk sich auf eigne Faust und unabhängig von allerhöchster Ordre schlug.“ (MEW 33, 163)
Georg Heinrich Pertz, in der geschichtlichen Nachwirkung eigentlich als Leiter des großen Monumenta Germaniae Historica-Projekts (MGH) bekannt, hat Marx und Engels mit seinem „Leben des Feldmarschalls Grafen Neidhardt von Gneisenau“ (3 Bde., 1865ff.) beeindruckt. An Hand von Pertz‘ Biographie würdigte Engels im Dezember 1870 unter der Überschrift „Preußische Franktireurs“ Gneisenau: „Der Theoretiker des Freischärlertums, der große philosophische Franktireur, war kein anderer als Anton Neithardt von Gneisenau, der eine Zeitlang Feldmarschall im Dienste Seiner preußischen Majestät war. (…) Der Guerillakrieg in Spanien und die Erhebung der russischen Bauern an der Rückzugslinie der Franzosen von Moskau gaben ihm neue Beispiele, und 1813 konnte er seine Theorie in die Praxis umsetzen.“ – in der kurzlebigen preußischen Landsturmordnung von 1813, die nach wenigen Monaten aus Angst vor dem aufständischen Volk sistiert wurde. (MEW 17, 203-207)
In den Bibliotheken von Marx und Engels findet sich auch ein Exemplar von Johann Gustav Droysens „Das Leben des Feldmarschalls Grafen Yorck von Wartenburg“ (1854), also ein Werk des Zeithistorikers Droysen, während sich Droysen als Historiker des Hellenismus, Alexander des Großen, als idealistischer Theoretiker einer hermeneutisch vom „forschenden Verstehen“ geleiteten „Historik“ im Lesefeld von Marx und Engels nicht findet.
Morgan: „Ancient Society“, urgeschichtlicher Egalitarismus
Im Rahmen einer vorsichtigen Konzeption einer herrschaftsfrei egalitär, nicht klassengespaltenen Urgesellschaft, aufleuchtend als utopischer Punkt aus der geschichtlichen „Vorzeit“ für die Zukunft, haben Marx und Engels Lewis Henry Morgans „Ancient Society“ (London 1877) exzerpiert. Dies wird 1884 zum Hauptreferenzpunkt von Engels‘ „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“.[32]
Engels schreibt am 16. Februar 1884 an Karl Kautsky „Über die Urzustände der Gesellschaft existiert ein entscheidendes Buch, so entscheidend wie Darwin für die Biologie, es ist natürlich wieder von Marx entdeckt worden: Morgan, ‚Ancient Society‘, 1877. (…). Morgan hat die Marxsche materialistische Geschichtsanschauung in den durch seinen Gegenstand gebotenen Grenzen selbständig neu entdeckt und schließt für die heutige Gesellschaft mit direkt kommunistischen Postulaten ab.“ (MEW 36, 110f.)
Und wenige Tage später hält Engels fest, dass Morgans „Ancient Society, 1877“ die „Urzeit und ihren Kommunismus meisterhaft“ entschlüsselt hat: „Hat Marx‘ Geschichtstheorie naturwüchsig neu entdeckt und schließt mit kommunistischen Folgerungen für heute.“ (MEW 36, 124)[33]
Marx hat die Bedeutung von Morgans anthropologischer Arbeit für die materialistische Geschichtsauffassung erkannt, so Engels 1884: „Und wie ‚Das Kapital‘ von den zünftigen Ökonomen in Deutschland jahrelang ebenso eifrig ausgeschrieben wie hartnäckig totgeschwiegen wurde, ganz so wurde Morgans ‚Ancient Society‘ behandelt von den Wortführern der ‚prähistorischen‘ Wissenschaft in England.“ (MEW 21, 27)
Die Leistung von Morgans Ethnographie besteht für Engels darin, die einsetzende Klassenspaltung, die Weiterentwicklung zum Privateigentum an Produktionsmitteln interpretiert zu haben: „Je weniger die Arbeit noch entwickelt ist, je beschränkter die Menge ihrer Erzeugnisse, also auch der Reichtum der Gesellschaft, desto überwiegender erscheint die Gesellschaftsordnung beherrscht durch Geschlechtsbande. Unter dieser, auf Geschlechtsbande begründeten Gliederung der Gesellschaft entwickelt sich indes die Produktivität der Arbeit mehr und mehr; mit ihr Privateigentum und Austausch, Unterschiede des Reichtums, Verwertbarkeit fremder Arbeitskraft und damit die Grundlage von Klassengegensätzen. (…) Die alte, auf Geschlechtsverbänden beruhende Gesellschaft wird gesprengt im Zusammenstoß der neu entwickelten gesellschaftlichen Klassen; an ihre Stelle tritt eine neue Gesellschaft, zusammengefasst im Staat; dessen Untereinheiten nicht mehr Geschlechtsverbände, sondern Ortsverbände sind, eine Gesellschaft, in der die Familienordnung ganz von der Eigentumsordnung beherrscht wird und in der sich nun jene Klassengegensätze und Klassenkämpfe frei entfalten, aus denen der Inhalt aller bisherigen geschriebnen Geschichte besteht.“ (MEW 21, 28)
Engels beschreibt die Auflösung der Gentilorganisation, die etwa „in der griechischen Verfassung der Heldenzeit“ noch eine lebendige Kraft gewesen sei, die aber zunehmend durch ein „Vaterrecht mit Vererbung des Vermögens an die Kinder“ ausgehöhlt wurde. Dies begünstigte die inegale „Reichtumsanhäufung“. Das Ungleichheit befördernde Privateigentum kam immer mehr zum Tragen, was auf Überbauebene zur Bildung eines „erblichen Adels und Königtums“, zu kriegerischen „Räubereien führte: „Sklaverei, zunächst noch bloß von Kriegsgefangnen, aber schon die Aussicht eröffnend auf Versklavung der eignen Stammes- und selbst Gentilgenossen“.[34]
„Old Maurer“: Gemeineigentum, Markgenossenschaften
Seit den 1860er Jahren rezipieren Marx und Engels die Bücher des ehemaligen Münchner Rechtsgeschichteprofessors Georg Ludwig Maurer, so Marx an Engels am 14. März 1868:[35]
„Die Bücher des old Maurer (von 1854 und 1856 etc.) sind mit echt deutscher Gelehrsamkeit geschrieben, zugleich aber in der mehr heimlichen und lesbaren Weise, welche die Süddeutschen (Maurer ist aus Heidelberg, aber die Sache gilt noch mehr von Bayern und Tirolern, wie Fallmerayer,[36] Fraas[37] etc.) vor den Norddeutschen auszeichnet.
Auch old Grimm (‚Rechtsalterthümer‘ etc.) wird hier und da stark gedeckelt, d.h. re, non verbis. Außerdem habe ich die Sachen von Fraas etc. über Landwirtschaft angesehn. (…)
Aus Maurer habe ich ersehn, dass der Umschwung in den Ansichten über die Geschichte und Entwicklung des ‚germanischen‘ Eigentums etc. von den Dänen ausgeht, die überhaupt, scheint es, sich nach allen Ecken hin mit der Archäologie zu tun machen.“ (MEW 32, 42-44)
Und Marx Tage später am 25. März 1868 wieder an Engels schreibend: „Ad vocem Maurer: Seine Bücher sind außerordentlich bedeutend. Nicht nur die Urzeit, sondern die ganze spätere Entwicklung der freien Reichsstädte, der Immunität besitzenden Gutsbesitzer, der öffentlichen Gewalt, des Kampfs zwischen freiem Bauerntum und Leibeigenschaft erhält eine ganz neue Gestalt.“ Eine „Reaktion ist – und sie entspricht der sozialistischen Richtung (…) über das Mittelalter hinaus in die Urzeit jeden Volks zu sehn. Da sind sie dann überrascht, im Ältesten das Neuste zu finden, und sogar Egalitarians to a degree, wovor Proudhon schaudern würde. (…) Was würde old Hegel sagen, wenn er erführe jenseits, dass das Allgemeine im Deutschen und Nordischen nichts bedeutet als Gemeinland, und das Sundre, Besondre, nichts als das aus dem Gemeindeland ausgeschiedne Sondereigen? Da gehn denn doch verflucht die logischen Kategorien aus ‚unsrem Verkehr‘ hervor.“ (MEW 32, 51f.)
Immer wieder verweisen Marx und Engels ihre politischen Freunde, sie mögen Maurer studieren:[38]
- Georg Ludwig Maurer: Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfassung und der öffentlichen Gewalt, München 1854.
- Georg Ludwig Maurer: Geschichte der Markenverfassung in Deutschland, Erlangen 1856.
- Georg Ludwig Maurer: Geschichte der Fronhöfe, der Bauernhöfe und der Hofverfassung in Deutschland, 4 Bände, Erlangen 1862/63.
- Georg Ludwig Maurer: Geschichte der Dorfverfassung in Deutschland, 2 Bände, Erlangen 1865/66.[39]
Maurers später bekämpfte Theorie einer vorzeitlichen, auf Gemeineigentum beruhenden, also gleichsam „agrarkommunistischen“ Markgenossenschaft ging[40] auf Justus Möser („Osnabrückische Geschichte“, 1780), auf Karl Friedrich Eichhorn („Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte“, 4 Teile, 1818-1823) oder auf Jakob Grimm („Deutsche Rechtsalterthümer“, 1828)[41] zurück, allesamt Bücher, die sich in den Marx-Engels-Bibliotheken oder in deren Exzerpten finden.
In den Folgeauflagen zum 1847/48 entstandenen „Manifest der kommunistischen Partei“ fügt Engels 1888 bzw. 1890 – eine Geschichtsauffassung, die Klassenspaltung von Anfang an unterstellt, relativierend, also zu „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ – die Anmerkung an: „Das heißt, genau gesprochen, die schriftlich überlieferte Geschichte. 1847 war die Vorgeschichte der Gesellschaft, die gesellschaftliche Organisation, die aller niedergeschriebenen Geschichte vorausging, noch so gut wie unbekannt. Seitdem hat Haxthausen das Gemeineigentum am Boden in Russland entdeckt. Maurer hat es nachgewiesen als die gesellschaftliche Grundlage, wovon alle deutschen Stämme geschichtlich ausgingen, und allmählich fand man, dass Dorfgemeinden mit gemeinsamem Bodenbesitz die Urform der Gesellschaft waren von Indien bis Irland. Schließlich wurde die innere Organisation dieser urwüchsigen kommunistischen Gesellschaft in ihrer typischen Form bloßgelegt durch Morgans krönende Entdeckung der wahren Natur der Gens und ihrer Stellung im Stamm: Mit der Auflösung dieser ursprünglichen Gemeinwesen beginnt die Spaltung der Gesellschaft in besondre und schließlich entgegengesetzte Klassen.“ (MEW 4, 462)
Bachofen „Mutterrecht“
Parallel zu Maurer studiert Engels Johann Jakob Bachofen, der ihm als wahrer Pionier gilt, wenngleich er idealistisch voranschreitet. Etwas salopp schreibt Engels im Oktober 1884 an Karl Kautsky: „Lebt der alte Bachofen noch, und ist er noch in Basel? Ich möchte ihm ein Exemplar [des ‚Ursprung‘] dedizieren.“ (MEW 36, 199, 222)
Engels liest Bachofens „Mutterrecht“, dessen „Antiquarische Briefe vornehmlich zur Kenntnis der ältesten Verwandtschaftsbegriffe“. 1883 hat Engels notiert, dass „Bachofens Verhimmelung und Mystifizierung der Geschlechtsliebe“ hinterfragenswert ist. (MEW 35, 449)
Bachofen, der, obwohl aus der rechtshistorischen Schule herkommend, abseits des „quellenkritisch“ historistischen Paradigmas – also etwa im Gegensatz zu Mommsen – einen kulturgeschichtlich die Mythologie deutenden Weg nahm, hat nach Engels aber als Vordenker gewirkt: „Bis zum Anfang der sechziger Jahre kann von einer Geschichte der Familie nicht die Rede sein. Die historische Wissenschaft stand auf diesem Gebiet noch ganz unter dem Einflusse der fünf Bücher Mosis. Die darin ausführlicher als anderswo geschilderte patriarchalische Familienform wurde nicht nur ohne weiteres als die älteste angenommen, sondern auch – nach Abzug der Vielweiberei – mit der heutigen bürgerlichen Familie identifiziert, so dass eigentlich die Familie überhaupt keine geschichtliche Entwicklung durchgemacht hatte; höchstens gab man zu, dass in der Urzeit eine Periode geschlechtlicher Regellosigkeit bestanden haben könne. (…)
Die Geschichte der Familie datiert von 1861, vom Erscheinen von Bachofens ‚Mutterrecht‘. Hier stellt der Verfasser die folgenden Behauptungen auf 1. dass die Menschen im Anfang in schrankenlosem Geschlechtsverkehr gelebt, den er, mit einem schiefen Ausdruck, als Hetärismus bezeichnet; 2. dass ein solcher Verkehr jede sichere Vaterschaft ausschließt, dass daher die Abstammung nur in der weiblichen Linie – nach Mutterrecht – gerechnet werden konnte und dass dies ursprünglich bei allen Völkern des Altertums der Fall war; 3. dass infolge hiervon den Frauen, als den Müttern, den einzigen sicher bekannten Eltern der jüngeren Generation, ein hoher Grad von Achtung und Ansehn gezollt wurde, der sich nach Bachofens Vorstellung zu einer vollständigen Weiberherrschaft (Gynaikokratie) steigerte; 4. dass der Übergang zur Einzelehe, wo die Frau einem Mann ausschließlich gehörte, eine Verletzung eines uralten Religionsgebots in sich schloss (d.h. tatsächlich eine Verletzung des altherkömmlichen Anrechts der übrigen Männer auf dieselbe Frau), eine Verletzung, die gebüßt oder deren Duldung erkauft werden musste durch eine zeitlich beschränkte Preisgebung der Frau.“
Bachofens Auslegung der „altklassische Literatur“, die Darstellung der Entwicklung vom Mutter- zum Vaterrecht galt Engels als zukunftsweisend, auch wenn sie nicht materialistisch ist, zumal Bachofen von seiner idealistisch religiösen Deutung her die langsame Entwicklung von einer Natural-Gebrauchswirtschaft über die einsetzende Arbeitsteilung zu einer Geld-, Handels-, Warenwirtschaft nicht erklären kann: „Die Beweise für diese Sätze findet Bachofen in zahllosen, mit äußerstem Fleiß zusammengesuchten Stellen der altklassischen Literatur. Die Entwicklung vom ‚Hetärismus‘ zur Monogamie und vom Mutterrecht zum Vaterrecht vollzieht sich nach ihm, namentlich bei den Griechen, infolge einer Fortentwicklung der religiösen Vorstellungen, einer Einschiebung neuer Gottheiten, (…).
Es ist also nicht die Entwicklung der tatsächlichen Lebensbedingungen der Menschen, sondern der religiöse Widerschein dieser Lebensbedingungen in den Köpfen derselben Menschen der nach Bachofen die geschichtlichen Veränderungen in der gegenseitigen gesellschaftlichen Stellung von Mann und Weib bewirkt hat. Hiernach stellt Bachofen die ‚Oresteia‘ des Äschylos dar als die dramatische Schilderung des Kampfes zwischen dem untergehenden Mutterrecht und dem in der Heroenzeit aufkommenden und siegenden Vaterrecht. (…)
Diese neue, aber entschieden richtige Deutung der ‚Oresteia‘ ist eine der schönsten und besten Stellen im ganzen Buch, aber sie beweist gleichzeitig, dass Bachofen mindestens ebensosehr an die Erinnyen, Apollo und Athene glaubt, wie seinerzeit Äschylos; er glaubt eben, dass sie in der griechischen Heroenzeit das Wunder vollbrachten, das Mutterrecht zu stürzen durch das Vaterrecht. Dass eine solche Auffassung, wo die Religion als der entscheidende Hebel der Weltgeschichte gilt, schließlich auf reinen Mystizismus hinauslaufen muss, ist klar. Es ist daher eine saure und keineswegs immer lohnende Arbeit, sich durch den dicken Quartanten Bachofens durchzuarbeiten.“ Die Verdienste Bachofens sollen aber nicht geschmälert werden. (MEW 21, 474-476)[42]
Für den „Ursprung“ studiert Engels neben Morgan und Bachofen mit einiger Zustimmung auch die „History of Greece“ (1846-1855) des liberal demokratischen Historikers George Grote,[43] und die „Römische Geschichte“ sowohl jene von Barthold Georg Niebuhr (ab 1811) als auch jene von Theodor Mommsen (ab 1854). Marx‘ und Engels‘ Einschätzung von Theodor Mommsen schwankt seit den 1850er Jahren zwischen Bewunderung und einiger deutlicher Skepsis.
Niebuhr sei „der erste Geschichtsschreiber, der wenigstens eine annähende Vorstellung vom Wesen der Gens hatte“ und „das – aber auch seine ohne weiteres mit übertragenen Irrtümer – verdankt er seiner Bekanntschaft mit den dithmarsischen Geschlechtern.“ (MEW 21, 165)[44]
Weder Grote noch Mommsen sind in Engels‘ Sicht zu einem wirklichen Verständnis der Gentilverfassung, zu einer überzeugenden Erklärung des Zerfalls der Gentilorganisation in frührömischer Zeit Richtung Privateigentum, Königtum, aristokratischer Despotie gelangt. Mommsen kann nach Engels das Verhältnis von Endogamie und Exogamie, von „Ausheiratung“ (enuptio) nur unsicher erfassen, so Engels unter Bezug auf Mommsens „römische Forschungen“: „Mommsen behauptet also, die römischen Frauen, die einer Gens angehörten, hätten ursprünglich nur innerhalb ihrer Gens heiraten dürfen, die römische Gens sei also endogam gewesen, nicht exogam. Diese Ansicht, die aller Erfahrung bei andern Völkern widerspricht, gründet sich hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, auf eine einzige vielumstrittene Stelle des Livius, (…).“ (MEW 21, 120)
In der Auseinandersetzung mit dem in der Sozialdemokratie vorübergehend einflussreichen Berliner Privatdozenten Eugen Dühring warf Friedrich Engels diesem 1877/78 vor, dass er die „epochemachenden Schriften Maurers über die ursprüngliche deutsche Markverfassung“ nicht kennt, obwohl Maurers Werk eine maßgebliche Grundlage deutscher Rechtsgeschichte ist, das den „Nachweis der ursprünglichen Gemeinschaftlichkeit des Grundbesitzes bei allen europäischen und asiatischen Kulturvölkern“ erbracht hat und sich „mit der Darstellung seiner verschiedenen Daseins- und Auflösungsformen beschäftigt“. (MEW 20, 163)
Um die Transformation von (naturaler) Gebrauchs- in die Warenwirtschaft und die damit verbundene Auflösung des ursprünglichen Gemeineigentums zu verstehen, hätte Dühring neben Maurer auch die agrarhistorischen Abhandlungen des am Ende seiner Laufbahn wieder in Göttingen lehrenden Georg Hanssen studieren sollen. Marx hat Engels auf Hanssen aufmerksam gemacht und ihm am 11. Dezember 1876 „den Hanssen“ zugesandt (MEW 34, 28): „Hat die Waren produzierende Gesellschaft die den Waren, als solchen, inhärente Wertform weiterentwickelt zur Geldform, so brechen bereits verschiedne der im Wert noch verborgnen Keime an den Tag. Die nächste und wesentlichste Wirkung ist die Verallgemeinerung der Warenform. Auch den bisher für direkten Selbstverbrauch produzierten Gegenständen zwingt das Geld Warenform auf, reißt sie in den Austausch. Damit dringt die Warenform und das Geld ein in den innern Haushalt der zur Produktion unmittelbar vergesellschafteten Gemeinwesen, bricht ein Band nach dem andern und löst das Gemeinwesen auf in einen Haufen von Privatproduzenten. Das Geld setzt zuerst, wie in Indien zu sehn, an die Stelle der gemeinsamen Bodenbebauung die Einzelkultur; später löst es das noch in zeitweilig wiederholter Umteilung zutage tretende Ackerland auf durch endgültige Aufteilung (z.B.in den Gehöferschaften an der Mosel, beginnend auch in der russischen Gemeinde); endlich drängt es zur Verteilung des noch übrigen gemeinsamen Wald- und Weidebesitzes.“ (MEW 20, 289f.)
Engels hält unter Hinweis auf den erst in Kiel, dann in Leipzig, Göttingen und Berlin lehrenden, historisch ausgerichteten Agrarökonomen Georg Hanssen gegen Dühring weiter fest, dass nicht „Gewalt an sich“ als geschichtliche Kraft entscheidend und wirksam war. Unter Bezug auf Hanssens „Die Gehöferschaften (Erbgenossenschaften) im Regierungsbezirk Trier“ (Aus den Abhandlungen der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1863) merkt Engels an: „Der orientalische Despotismus und die wechselnde Herrschaft erobernder Nomadenvölker konnten diesen alten Gemeinwesen Jahrtausende hindurch nichts anhaben; die allmähliche Zerstörung ihrer naturwüchsigen Hausindustrie durch die Konkurrenz der Erzeugnisse der großen Industrie bringt sie mehr und mehr in Auflösung. Von Gewalt ist da ebensowenig die Rede, wie bei der noch jetzt stattfindenden Aufteilung des gemeinsamen Ackerbesitzes der ‚Gehöferschaften‘ an der Mosel und im Hochwald; die Bauern finden es eben in ihrem Interesse, dass das Privateigentum am Acker an Stelle des Gemeineigentums trete.“ (MEW 20, 150)[45]
1882 hat Engels – wie er Marx berichtet - wieder einmal alle Bücher von Maurer bereit liegen. Engels empfiehlt in einer zeitgleich erscheinenden Arbeit über „die Mark“ das Studium der Geschichte des (agrarischen) Gemeineigentums und seiner Auflösung in Richtung Individual-Eigentum, in Richtung der unterschiedlichsten Formen von Leibeigenschaft, Hörigkeit, Fronarbeit mit Blick auf die Bündnispolitik der Sozialdemokratie gegenüber der kleinen Bauernschaft, gegenüber der Landarbeiterschaft.
Am 23. September 1882 schreibt er deshalb an August Bebel, der in den Jahren des Bismarck’schen Sozialistenverbots wieder einmal vor einer Gefängnisstrafe steht, er möge – angesichts der gerade auch in Deutschland höchst widersprüchlichen Verhältnisse, ostelbisches Junkertum da oder der „freie“ Mittelbauer in Bayern anderseits, das kleine Parzellen- und Zwergbauerntum, die Keuschler, Häusler, die Lage der „Dorfarmut“, der Dienstboten – die Maurer-Bücher studieren, um in der Landagitation, in der notwendigen ländlichen Bündnispolitik bestehen zu können: „Als Anhang [zu ‚Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft] folgt eine lange Anmerkung über das alte deutsche Gemeineigentum am Boden. Wenn Du ins Loch gehst, würde ich Dir raten, Dir aus irgendeiner Bibliothek zu verschaffen:
G.L. v. Maurer: ‚Einleitung in die Geschichte der Marken-, Hof-, Dorf- und Städteverfassung in Deutschland‘
und derselbe: ‚Geschichte der Markenverfassung in Deutschland‘.
Es ist sehr nötig, dass jemand in Deutschland, der imstande ist, diese Sachen unbefangen und ohne ‚gebildete‘ mitgebrachte Vorurteile zu lesen, über diesen Punkt sich einigermaßen unterrichtet. Die obigen sind die Hauptschriften, und ihre Kenntnis würde Dir auch in allen Debatten über Grundeigentums- und Agrarfragen eine höchst solide Unterlage geben.“ (MEW 35, 369)
Es geht Engels um die für die fränkische Zeit angenommene Verwandlung des freien Bauern (Kleineigentum, Allodien) aus „einem freien Grundbesitzer in einen zinszahlenden und fronenden Hörigen oder gar Leibeigenen“. Er verweist auf die spätere im Weg des langen Übergangs von Natural- zu Geldwirtschaft verschärfte Ausbeutung im zeitlichen Umfeld der Bauernaufstände des 16. Jahrhunderts.
Unter den aktuellen Bedingungen eines die Kleinbauern einem Konzentrationsprozess zugunsten der Großagrarier aussetzenden kapitalistischen Weltmarktes, angesichts der endgültigen Auflösung der feudalen Untertanenhörigkeit und Leibeigenschaft seit den preußischen Reformjahren nach den Napoleonischen Kriegen und im Zug der Revolution von 1848, angesichts der mit hohen Ablösen verbundenen „Grundentlastung“, die zur extremen Hypothekarverschuldung des Kleinbauerntums führt, erinnert Engels an geschichtliche Formen des Gemeineigentums: „Und so sind wir denn endlich, dank drei französischen Revolutionen und einer deutschen, dahin gekommen, dass wir wieder freie Bauern haben. Aber wie sehr steht unser heutiger freier Bauer zurück gegen den freien Markgenossen der alten Zeit! Sein Hofgut ist meist weit kleiner, und die ungeteilte Mark ist bis auf wenige, sehr verkleinerte und verkommene Gemeindewaldungen dahin. Ohne Marknutzung aber kein Vieh für den Kleinbauern, ohne Vieh kein Dünger, ohne Dünger kein rationeller Ackerbau. Der Steuereinnehmer und der hinter ihm drohende Gerichtsvollzieher, die der heutige Bauer nur zu gut kennt, waren dem alten Markgenossen unbekannte Leute, ebenso wie der Hypotkekarwucherer, dessen Krallen ein Bauerngut nach dem andern verfällt.“
Angesichts eines weltweit kapitalistischen Agrarmarkts kann es – so Engels – kein illusionär verklärend romantisches Anknüpfen an die alte kollektiv gemeinwirtschaftliche „Markgenossenschaft“ mehr geben, aber eine neue Bauernbefreiung im Zeichen des sozialistischen Klassenkampfs. Wie kann das aus der sozialistischen Perspektive von 1882 geschehen? „Durch eine Wiedergeburt der Mark, aber nicht in ihrer alten, überlebten, sondern in einer verjüngten Gestalt; durch eine solche Erneuerung der Bodengemeinschaft, dass diese den kleinbäuerlichen Genossen nicht nur alle Vorteile des Großbetriebs und der Anwendung der landwirtschaftlichen Maschinerie zuwendet, sondern ihnen auch die Mittel bietet, neben dem Ackerbau Großindustrie mit Dampf- oder Wasserkraft zu betreiben, und zwar für Rechnung nicht von Kapitalisten, sondern für Rechnung der Genossenschaft.“ Die Bauernbefreiung kann nur im Bündnis mit der Arbeiterklasse erfolgen. Das Studium von Maurers Geschichtswerk ist bei allen Anachronismen, Überholtheiten nützlich![46]
Die Landagitation der deutschen Sozialdemokratie konnte – etwa im Unterschied zu jener der russischen Genossen – trotz aller Bemühungen nur wenige Erfolge erzielen, zudem litt sie an inneren Widersprüchen: Wer soll angesprochen werden, der vom großagrarischen Vieh- und Getreidemarkt überrollte Kleinbauer oder die Dienstboten, die Landproleten, wie sollen die Widersprüche am Land – Bauern gegen Knechte und Mägde – überbrückt werden?[47]
Sassulitsch, Haxthausen: russische Dorfgemeinde
Unter anderen Vorzeichen hat Karl Marx seit den späten 1870er Jahren die Geschichte der russischen Agrarverhältnisse studiert. Er hat unter anderem Maxim Kowalewskis „Gemeindelandbesitz, Gründe, Verlauf und Folgen seiner Auflösung“ (1879 in russischer Sprache) exzerpiert. Kowalewski, Professor des Staatsrechts und der vergleichenden Rechtsgeschichte in Moskau – von Marx als ein „scientific friend“ bezeichnet – hat diesem persönlich ein Exemplar überreicht.[48]
Auch in Kenntnis von August von Haxthausens Beschreibung der russischen „Umteilungsgemeinde“ (ohne privates Eigentumsrecht, nur mit Sondernutzungsrechten), des „Mir“ („obschtschina“), antwortete Marx am 8. März 1881 der russischen Revolutionärin Vera Sassulitsch, die im Streit zwischen (sozialrevolutionär, dorfkommunardisch orientierten) Narodniki/Volkstümlern und russischen Sozialisten (des entstehenden „Bundes der Befreiung der Arbeit“) Marx gebeten hatte, er möge Auskunft geben, ob die russische Dorfgemeinde unrettbar verloren in den Strudel und die Qualen der kapitalistischen (ursprünglichen) Akkumulation hineingerissen wird und so wie seinerzeit das parzellierte kleine englische Ackerbauertum expropriiert werden wird, wie Marx dies 1867 im 24. Kapitel von „Kapital I“ beschrieben hat. Vera Sassulitsch schrieb am 16. Februar 1881, dass die Frage für die russischen Genossen von großer Bedeutung ist, denn „in letzter Zeit hören wir oft sagen, dass die Dorfgemeinde eine archaische Form ist, die die Geschichte … zum Untergang verurteilt hat. Jene, die das predigen, nennen sich Ihre Schüler im wahrsten Sinn des Wortes: ‚Marxisten‘.“ (MEW 35, 494)
Marx, ein Gegner einer romantisch rückschrittlich slawophilen Verklärung der russischen Dorfgemeinde, antwortete, dass das Russland des späten 19. Jahrhundert entgegen der Narodniki-Haltung durchaus eine kapitalistische Entwicklungsperspektive hat. Er wies aber auch darauf hin, dass seine Einschätzung der ursprünglichen Akkumulation ausschließlich für die historische Formation der frühbürgerlichen Revolution im europäischen Westen des 15./16. Jahrhunderts gültig ist. Im Falle der Enteignung und massenhaften Vertreibung der kleinen englischen Ackerbauern hat es sich um „die Verwandlung einer Form des Privateigentums in eine andere Form des Privateigentums“ gehandelt. Im Fall der aktuellen Bedrohung der russischen Dorfgemeinde würde es sich aber um die Verwandlung von Gemeineigentum in Privateigentum handeln.
Marx zitiert in einem ersten Entwurf einer Antwort an V.I. Sassulitsch nach der französischen „Kapital“-Ausgabe: „Bei der Behandlung der Genesis der kapitalistischen Produktion habe ich gesagt, dass ihr ‚die radikale Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln zugrunde liegt‘ und: ‚die Grundlage dieser ganzen Entwicklung ist die Expropriation der Ackerbauern. Sie ist auf radikale Weise erst in England durchgeführt … Aber alle anderen Länder Westeuropas durchlaufen die gleiche Bewegung.‘
Ich habe also die ‚historische Unvermeidlichkeit‘ dieser Bewegung ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt und warum? Vergleichen Sie, bitte das Kapitel XXXII [d.i. das 24. Kapitel im deutschen Original von 1867], wo zu lesen ist:
‚Der Vernichtungsprozess, der die Verwandlung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte bewirkt, der das zwerghafte Eigentum vieler zum riesigen Eigentum einiger weniger macht, … diese qualvolle und furchtbare Expropriation des arbeitenden Volkes – das ist der Ursprung, das ist die Genesis des Kapitals … Das Privateigentum, das auf persönlicher Arbeit gegründet ist … wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, das auf der Ausbeutung der Arbeit andrer, der Lohnarbeit gegründet ist‘.“[49]
Karl Marx will Vera Sassulitsch indirekt auch zum Studium der Bücher von Georg Ludwig Maurer anregen, aber auch von Georg Hanssens Schrift über die „Gehöferschaften. Erbgenossenschaften im Regierungsbezirk Trier“ (1863), wenn er konzipiert: Es gibt einige Fälle von Gemeineigentum, das „alle Wechselfälle des Mittelalters überlebt und sich bis auf unsere Tage erhalten [hat], z.B. in meiner Heimat, der Gegend von Trier“, viele Fälle, in denen zwar das Ackerland Privateigentum geworden ist, „während Wälder, Weiden, Ödland etc. immer noch Gemeineigentum“ bleiben.
Ob die russische Dorfgemeinde in erneuerter Form überlebensfähig ist oder ob sich diese genossenschaftlichen Einrichtungen unter dem Druck staatlicher Steuerlast und bürgerlichen Kreditwuchers auflösen (müssen), hängt nach Marx davon ab, ob ihr eine (sozialistische) Revolution zur Hilfe kommen kann. Dieses Argument von Marx sollte Engels – wie vorhin angedeutet – ein Jahr später 1882 gegenüber der deutschen Arbeiterpartei wiederholen.
Marx argumentierte also vorsichtig, dass die russische Dorfgemeinde nicht aus irgendeiner historischen Notwendigkeit heraus ein quälendes Schicksal erleiden muss, wie dies im Fall der blutigen ursprünglichen englischen Kapitalakkumulation, der massenhaften Expropriation von Kleinbauern der Fall war. Ohne den Rückhalt einer sozialistischen Bewegung wird sich die russische Dorfgemeinde aber nicht aus dem Sog der Kapitalspekulation befreien, wird sie nicht überleben können.
Im Vorwort zur russischen „Manifest“-Übersetzung haben Marx und Engels im Jänner 1882 ihre Position zur Sassulitsch-Frage vor dem Hintergrund, dass die amerikanische Agrarwirtschaft, also die in den USA riesige konzentriert kapitalistische „Ackerbauproduktion“ ihre Konkurrenz, „das europäische Grundeigenthum – grosses wie kleines – in seinen Grundfesten erschüttert“, zusammengefasst: „Und nun Russland! (…) Das Kommunistische Manifest hatte [1847/48] zur Aufgabe, die unvermeidlich bevorstehende Auflösung des modernen bürgerlichen Eigenthums zu proklamiren. In Russland aber finden wir, gegenüber rasch aufblühendem kapitalistischen Schwindel und sich eben erst entwickelndem bürgerlichen Grundeigenthum, die grössere Hälfte des Bodens im Gemeinbesitz der Bauern. Es fragt sich nun: Kann die russische Obschtschina, eine wenn auch stark untergrabene Form des uralten Gemeinbesitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehn? Oder muss sie umgekehrt vorher denselben Auflösungsprozess durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens ausmacht? Die einzige Antwort hierauf, die heutzutage möglich ist, ist die: Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so dass beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigenthum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.“ (London 21. Jänner 1882 - MEGA I/25, 295; MEW 4, 575f.)[50]
Marx und Engels waren keine Verklärer der „Dorfgemeinschaft“. Sie hielten sie dort, wo sie sich der Entwicklung differenziert effizienter Produktionsverhältnisse entzog, sogar für historisch überlebt, anachronistisch, für ein Relikt eines „geschichtslosen“ „orientalischen Despotismus“, das nicht zufällig im 19. Jahrhundert dem ausbeuterischen britischen Kolonialimperialismus, der Expansion des kapitalistischen Weltmarkts erlegen ist, so Marx bei aller Verurteilung der von den Engländern verursachten Verelendung mit Blick auf das Konzept der „asiatischen Produktionsweise“, das von Marx und Engels auch nach der Lektüre der historischen Reiseberichte des französischen Arztes und Schriftstellers Francois Bernier (1625-1688) entwickelt wurde, so Engels am 6. Juni 1853: „Die Abwesenheit des Grundeigentums ist in der Tat der Schlüssel zum ganzen Orient. Darin liegt die politische und religiöse Geschichte. Aber woher kommt es, dass die Orientalen nicht zum Grundeigentum kommen, nicht einmal zum feudalen? (…) Die künstliche Bewässerung ist hier erste Bedingung des Ackerbaus, und diese ist Sache entweder der Kommunen, Provinzen oder der Zentralregierung. Die Regierung im Orient hatte immer auch nur drei Departements: Finanzen (Plünderung des Inlands), Krieg (Plünderung des Inlands und des Auslands) und travaux publics, Sorge für die Reproduktion.“ Von den Briten wurde der dritte Bereich, die öffentlichen Arbeiten, liquidiert, mit fatalen Folgen, dass etwa die Wasserleitungen „in Verfall“ kamen, sodass die „künstliche Fruchtbarmachung des Bodens“ sofort aufhörte und „jetzt ganze Striche wüst und öde sind, die früher brillant bebaut waren“: „Die Sachen vom alten Bernier sind wirklich sehr schön. Man freut sich ordentlich, einmal wieder etwas von einem alten nüchternen, klaren Franzosen zu lesen, der überall den Nagel auf den Kopf trifft (…).“
Marx hat einige Tage zuvor am 4. Juni 1853 vermerkt: „Bernier findet mit Recht die Grundform für sämtliche Erscheinungen des Orients – er spricht von Türkei, Persien, Hindostan – darin, dass kein Privatgrundeigentum existiert. Dies ist der wirkliche clef selbst zum orientalischen Himmel.“ (MEW 28, 250-261)
Hegels teils kulturelitär eurozentrische Einschätzungen der chinesischen und indischen Gesellschaft aufnehmend urteilt Marx 1853, indem er zweifelt, ob die indische Gesellschaft überhaupt „eine Geschichte“ hat. Angesichts der stagnierend wirkenden „Zersplitterung der Gesellschaft in unveränderliche feststehende und zusammenhanglose Atome“, angesichts der „dörflichen Isoliertheit“ zu keinem sozialen Fortschritt fähig, konnte Indien „dem Schicksal, erobert zu werden, nicht entgehen“: „Sosehr es nun auch dem menschlichen Empfinden widerstreben mag, Zeuge zu sein, wie Myriaden betriebsamer patriarchalischer und harmloser sozialer Organisationen zerrüttet und in ihre Einheiten aufgelöst werden, hineingeschleudert in ein Meer von Leiden; wie zu gleicher Zeit ihre einzelnen Mitglieder ihrer alten Kulturformen und ihrer ererbten Existenzmittel verlustig gehen, so dürfen wir doch darüber nicht vergessen, dass diese idyllischen Dorfgemeinschaften, so harmlos sie auch aussehen mögen, seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus gebildet haben, dass sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum unterwürfigen Sklaven traditioneller Regeln machten und ihn jeglicher Größe und geschichtlicher Energien beraubten.“ (MEW 9, 132)
Hegel hat in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ von China und Indien als statischen Systemen jenseits jeder freien Subjektivität gesprochen: „China und Indien liegen gleichsam noch außer der Weltgeschichte. (…) Die Einheit von Substantialität und subjektiver Freiheit ist so ohne Unterschied und Gegensatz beider Seiten, dass eben dadurch die Substanz nicht vermag, zur Reflexion in sich, zur Subjektivität zu gelangen. Das Substantielle, das als Sittliches erscheint, herrscht somit nicht als Gesinnung des Subjekts, sondern als Despotie des Oberhauptes.“[51]
Marx klagt aber 1853 ohne Zögern die „tiefe Heuchelei der bürgerlichen Zivilisation“, die „englische Bourgeoisie“ an, die ungeheure Produktivkräfte entfaltet und dabei die indischen Massen ins Elend stürzt: „Hat sie je einen Fortschritt zuwege gebracht, ohne Individuen wie ganze Völker durch Blut und Schmutz, durch Elend und Erniedrigung zu schleifen?“ (MEW 9, 224)[52]
Pertz, Roth, Sohm, Inama-Sternegg, Hüllmann: Periode des Feudalismus, fränkische Zeit, Benefizialwesen
Die Lage der germanischen Völker zum Zeitpunkt der „Römerkriege“ haben Marx und Engels nach den Chronisten, Annalisten, zeitgenössischen Geschichtsschreibern wie Plutarch, Cäsar, Tacitus, Sueton, Dio Cassius, Strabon oder Plinius beschrieben, im Original aber auch in den Übersetzungen im Umfeld des MGH-Projekts, maßgeblich veranlasst von Georg Heinrich Pertz, seit 1823 Direktor der Monumenta Germaniae Historica.
Engels schreibt am 22. November 1882 an Marx, dass er nun – ersteigert aus der Bibliothek eines bankrotten deutschen Eisenbahnspekulanten – „den Pertz“ sogar für die Privatbibliothek erworben hat, nämlich u.a. „Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, Bd. 1, hrg. von G.H. Pertz, J. Grimm u.a., Berlin 1849“: „Ich habe neulich second hand endlich die vollständigen ‚Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit‘ gebunden erhalten, und rate, aus wessen verklopften Bibliothek – Dr. Strousberg! Da habe ich denn eine Stelle in Plutarchs ‚Marius‘ gefunden, die, zu Cäsar und Tacitus gehalten, den ganzen Agrarzusammenhang klarmacht. Die Cimbern ‚seien ausgewandert, aber nicht wie mit einem Stoße, noch in ununterbrochenem Zuge, sondern Jahr für Jahr wären sie in der guten Jahreszeit immer vorwärts gerückt, und hätten so in langer Zeit das Festland unter Kampf und Krieg durchzogen.‘ Die Stelle zu dem jährlichen Ackerwechsel der Sueven gehalten, wie 70 Jahre später ihn Cäsar beschreibt, gibt den Modus der germanischen Einwanderung an: wo man den Winter verbracht, wurde im Frühjahr gesät und nach der Ernte weitgezogen, bis der Winter Halt gebot. (…) Beides zusammen erklärt auch, warum bei Cäsar ‚privati ac separati agri apud eos nihil est‘, auf der Wanderschaft war nur geschlechterweise organisierter Gemeinbau möglich, Vermessung von Einzeläckern wäre absurd gewesen. Der Fortschritt resp. Rückschritt zum Einzelanbau bei gemeinsamem Eigentum dann bei Tacitus.“ (MEW 35, 116f.)
Engels benützt auch „Monumenta Germaniae Historica”-Bände, so die 1826 von Georg Heinrich Pertz herausgegebenen „Annales Bertiniani“, zu den karolingischen Reichsannalen des 8. und 9. Jahrhunderts zählend.[53]
Anfang der 1880er Jahre beschäftigt sich Friedrich Engels mit dem historischen Übergang zum Feudalzeitalter. Engels vermutet zunehmenden Druck der Grundherrschaften der „Völkerwanderungszeit“ auf das kleine freie (allodiale) Landeigentum: „Die antike Sklaverei hatte sich überlebt. Weder auf dem Land in der großen Agrikultur noch in den städtischen Manufakturen gab sie einen Ertrag mehr, der der Mühe wert war – der Markt für ihre Produkte war ausgegangen. Der kleine Ackerbau aber und das kleine Handwerk, worauf die riesige Produktion der Blütezeit des [Römischen] Reichs zusammengeschrumpft war, hatte keinen Raum für zahlreiche Sklaven. (…) Daher einerseits wachsende Zahl der Freilassungen überflüssiger, zur Last gewordner Sklaven, andrerseits Zunahme der Kolonen hier, der verlumpten Freien (ähnlich den poor whites der Exsklavenstaaten Amerikas) dort. (…) In den Provinzen sah es [im 4. Jahrhundert] nicht besser aus. Wir haben die meisten Nachrichten aus Gallien. Neben den Kolonen gab es hier noch freie Kleinbauern. Um gegen Vergewaltigung durch Beamte, Richter und Wucherer gesichert zu sein, begaben sich diese häufig in den Schutz, das Patronat eines Mächtigen.“ (MEW 21, 144f.)
Engels übernimmt die Kategorien der „Kritik der politischen Ökonomie“, wenn er in seiner Studie über die „fränkische Zeit“ die zunehmende Klassen-/Ständeungleichheit analysiert: „Mit dem Allod war nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit gegeben, dass die ursprüngliche Gleichheit des Grundbesitzes sich in ihr Gegenteil verkehrte. Von dem Augenblick seiner Herstellung auf ehemals römischem Boden wurde das deutsche Allod, was das römische Grundeigentum, das neben ihm lag, schon lange gewesen war – Ware. Und es ist ein unerbittliches Gesetz aller auf Warenproduktion und Warenaustausch beruhenden Gesellschaften, dass in ihnen die Verteilung des Besitzes immer ungleicher, der Gegensatz von Reichtum und Armut immer größer, der Besitz immer mehr in wenigen Händen konzentriert wird; ein Gesetz, das in der modernen kapitalistischen Produktion zwar seine volle Entwicklung erhält, aber keineswegs erst in ihr überhaupt zur Wirkung kommt. Von dem Augenblick also, wo Allod, frei veräußerliches Grundeigentum, Grundeigentum als Ware entstand, von dem Augenblick war also die Entstehung des großen Grundeigentums nur eine Frage der Zeit.“ (MEW 19, 476)
Die fränkische Periode beschreibt Engels als eine Periode der Ruinierung eines freien Bauernstandes, der sich auch aus der Schwäche der königlichen Zentralgewalt erklärt, einer Zentralgewalt, die die Raubzüge weltlicher und kirchlicher Grundherrschaften nicht nur nicht verhindern konnte, sondern diese durch religiös verhimmelte Landschenkungen, Benefizien auch noch gefördert hat.
Engels greift bei der Beschreibung eines mittels „Wunderheilungen“ oder Reliquienschwindels korrumpierend, religiös abergläubisch demoralisierend wirkenden Benefizialwesens auf den in Marburg, Rostock, Kiel und dann wieder in München lehrenden Rechtsprofessor Paul Roth, am Plan einer Kodifikation eines bayerischen Zivilrechts, dann an den BGB-Kodifikationsarbeiten beteiligt, und 1861 einer der Mitbegründer der „Zeitschrift für Rechtsgeschichte“, zurück: „P. Roth, ‚Geschichte des Beneficialwesens‘, Erlangen 1850. Eins der besten Bücher in vormaurerscher Zeit, dem ich in diesem Kapitel manches entlehne.“ Engels nimmt die drastische Schilderung Roths auf: „So floss dann der eingezogne Grundbesitz freier Franken, die der Rebellion bezichtigt, großenteils in den Besitz der Kirche. (…) Dazu kam die Immunität, die das Eigentum der Kirche vor Vergewaltigung schützte zu einer Zeit unaufhörlicher Bürgerkriege, Plünderungen, Konfiskationen. Mancher kleine Mann fand es angebracht, sein Eigentum der Kirche abzutreten, wenn ihm dessen Nießbrauch gegen mäßigen Zins verblieb. (…) Betrug, Taschenspielerstücke, Erscheinungen Verstorbener, besonders Heiliger, dienten zur Erschwindelung von Reichtümern für die Kirche, endlich aber auch und hauptsächlich – Urkundenfälschung.“ (MEW 19, 478f.)[54]
Paul Roth implementierte eine dogmatisch retrograd konstruierende Rechtsgeschichtsschreibung, die später von „induktiv“ vorgehenden Historikern kritisiert werden sollte. Roth widersprach jener französischen Historikertradition, wonach „germanische Freiheit“ nichts anderes als die Anarchie von „Bandenchefs“ gewesen sei. Aus der Sicht der entstehenden staatsrechtspositivistischen Denkweise (Paul Laband u.a.) und vor dem Hintergrund der deutschen Nationaleinigung des 19. Jahrhunderts nahm Roth für die fränkische Periode eine zentrale königliche Staatsgewalt, einen „Untertanenverband“ von unmittelbar dem „König als Staatsoberhaupt“ unterstellten Freien an. Aus der Mediatisierung – also aus dem Niedergang einer angeblichen öffentlichen Ordnung – durch die Verleihung von quasi hoheitlichen Ämtern an (adelige) Privatpersonen, erklärte er den fränkischen Staatszerfall.[55]
Im „Ursprung“ deutet Engels 1884 die Herabstufung der „freien fränkischen Bauern“ an, die in karolingischer Zeit auf einen Status vergleichbar dem der „römischen Kolonen“ herabsanken, zu maßlosen „Frondiensten“ verpflichtet waren. (MEW 21, 149)
Die Differenz „Baron/Leibeigener“, jene Formel, die 1848 im „Manifest der Kommunistischen Partei“ für das Feudalzeitalter steht, also den Übergang von der antiken Sklavenhaltergesellschaft zur „feudalen Gesellschaft“ (mit ihrem Widerspruch von „Feudalherren, Vasallen, Zunftbürgern, Gesellen, Leibeigenen und in fast jeder dieser Klassen wieder besondere Abstufungen“) hat Engels nie näher ausgeführt. (MEW 4, 462f.) Er hat diese Verhältnisse aber eingehend an Hand von Karl Theodor Inama-Sterneggs „deutscher Wirtschaftsgeschichte“, die 1879 im ersten Band „bis zum Schluss der Karolingerperiode“ erschienen war, studiert. Karl Theodor Inama-Sternegg, später 1880 kurz Professor der politischen Ökonomie in Prag und dann jahrelang Präsident der statistischen Zentralkommission in Wien, hat dieses Grundlagenwerk in seinen Jahren als Professor der nationalökonomischen Wissenschaften an der Universität Innsbruck begonnen. Sowohl Marx als auch Engels haben ihr Bibliotheksexemplar mit zahlreichen Marginalien versehen. Engels zitiert den ersten Band der „Wirtschaftsgeschichte“ an einer Stelle seines Manuskripts über die „Urgeschichte der Deutschen“. (MEGA IV/32, 338)
Inama-Sternegg beschreibt 1879 die zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit, die Rechtsungleichheit, die Lage der (teils) Rechtsunfähigen, der Unfreien, der unfreien Zinsbauern, der Halb-, Minderfreien, der Liten und Freigelassenen (liberti), der Hörigen, der leibeigenen Knechte (coloni, servi casati) oder der nicht einmal dem Personenrecht, sondern bloß dem Sachenrecht zugerechneten Sklaven.[56]
Rudolf Sohm, Rechtsprofessor in Straßburg, dann Leipzig, stellt den absoluten Vorrang des römischen und fränkischen Rechts für die folgenden Jahrhunderte der „Rezeption“ in den Raum: „Für die Weltrechtsgeschichte, d.h. für die Rechtsgeschichte der abendländischen Culturwelt, kommen nur zwei Rechte in Betracht: das römische Recht (mit seiner Fortentwickelung durch kanonisches und lombardisches Recht) und das fränkische Recht.“
Für die Darstellung der Geschichte der Rezeption des Römischen Rechts in Deutschland vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit merkt sich Marx aus den Sohm’schen Fußnoten Roderich Stintzings „Ulrich Zasius“ (1857), dessen „Geschichte der populären Literatur des röm.-kanonischen Rechts in Deutschland“ (1867), sowie Adolf Stölzel „Die Entwicklung des gelehrten Richterthums in den deutschen Territorien“ (1872) vor.
Marx war auch Sohms „altdeutsche Reichs- und Gerichtsverfassung I. Die Fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung“ (1871) über seine Exzerpte von Henry Sumner Maine: Lectures on the Early History of Institutions“ (London 1875) präsent. Eigens vorgemerkt wird Heinrich Brunner „Entstehung der Schwurgerichte“ (1872).
Sohm unterschiebt seiner historischen Interpretation die Staatsrechtskategorien des bürgerlich konstitutionellen Zeitalters: „Die Capitularien der Karolinger stellen, wenngleich in eine Reihe von Einzelerlassen aufgelöst, dennoch, im Großen und Ganzen betrachtet, ein Reichsgerichtsverfassungsgesetz, ein Reichstrafgesetzbuch, ein Reichsprocessgesetzbuch dar.“
Marx benützt für seine historische Klassenanalyse mehrere Sohm-Passagen, so über die „Dreitheilung der freien Leute in Gemeinfreie (barones de minoflidis), Mittelfreie (mediani) und Hochfreie (primi Alamanni)“, dann über die „minderfreien gemeinen Leute“ usw. Marx notiert Sohms Einschätzung, dass bei den germanischen Stämmen „das Privateigenthum an Grund und Boden verhältnismäßig jung ist“ und dass ein „Grundbesitzverkehr“ erst seit der „Berührung mit römischem Recht“ eine Rolle spielt.
Marx merkt sich aus Sohm für die Entstehung des städtischen bürgerlichen (Haus-) Eigentums die Bücher von Eduard Rosenthal, Professor der Rechtsgeschichte und des Staatsrechts in Jena, „zur Geschichte des Eigenthums in der Stadt Würzburg“ (1878) und von Wilhelm Arnold, Professor der Rechtsgeschichte in Basel und Marburg, „zur Geschichte des Eigenthums in den deutschen Städten“ (1861) vor.
Marx exzerpiert so aus Sohm: „Weil die Verwandlung des Leiherechts in Hauseigenthum eine unmerkliche war, so verstand es sich hier von selbst, dass für das Eigenthum des Bürgers an seinem Hause die Überlieferungen des Leiherechts in Kraft blieben, dass nach wie vor die Veräußerung des Hauses nicht durch einfaches Rechtsgeschäft, sondern nur unter Mitwirkung der Obrigkeit, d.h des früheren Grundherren, erfolgen konnte.“
Sohm verweist auf die 1878 bei Julius Ficker in Innsbruck entstandene Habilitationsschrift von Otto Zallinger über „Milites und Ministeriales“, die über „die Standesverhältnisse des Mittelalters“ (des niederen Adels) wichtige Ergebnisse liefert. Zallinger unterschrieb den Titel mit „Untersuchungen über die ritterlichen Unfreien zunächst in baierischen Rechtsquellen des XII. und XIII. Jahrhunderts“. Hans Voltelini verweist 1934 in einem Nachruf auf Zallinger auf den Umstand, dass dieser sich 1879 bei Sohm in Straßburg zu Forschungen aufgehalten hat, auch wenn ihm „Sohms manchmal überspitzte Konstruktionen fremd bleiben mussten“: „Zallinger wies in diesem Buch die Zweiteilung des unfreien Adels in eine Oberschicht: die Dienstmannen, und eine Unterschicht: die einschildigen Ritter nach, jene in bevorzugter Stellung als Amtsträger der Fürsten, diese als Eigenleute sowohl der freien Herren als auch der Dienstmannen in wirtschaftlich bescheidener, ja dürftiger Stellung, die sich allerdings hebt.“
Marx übernimmt Sohms Literaturverweis auf Otto Zallinger. Er hält folgende sich auf Zallinger beziehende Stelle fest: „Für das Landrecht waren die Verhältnisse der bäuerlichen kleinen Grundeigenthümer entscheidend. Das kleine Eigen auf dem platten Lande ist im 13. Jahrhundert, wie der Sachsenspiegel uns bezeugt, gleichfalls ‚pfleghaft‘, zinsbar geworden. Die Lasten des öffentlichen Rechts haben hier die ‚Pflege‘ hervorgebracht. Einmal die Abgabe für den Heerbann. Sodann aber auch die Gerichtsdienste und Gerichtsabgaben (…) Die Grafschaft wird gegenüber den Pfleghaften zur Vogtei. Der Landrichter (Graf) ist um seiner Abgabenrechte willen an der Erhaltung der Leistungsfähigkeit des kleinen Grundeigenthums interessirt. Darum ist in seinem Interesse die übermäßige Parcellirung des pfleghaften Grundeigenthums verboten. Darum ist die Veräußerung des pfleghaften Grundeigens an seine Zustimmung geknüpft.“[57]
In den frühen „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ bringt Marx (1857/58) die Auflösung, Veräußerung, „die involuntary alienation des feudalen Grundeigentums“ mit „dem Wucher und dem Geld“ in Verbindung. Für diesen Zweck las Marx die wirtschaftsgeschichtlichen Bücher des an der Universität Bonn lehrenden Karl Dietrich Hüllmann. Er fertigte zahlreiche Auszüge aus Hüllmanns mehrteiligem „Städtewesen des Mittelalters“ (1826-1829) an. Marx notierte zur Geschichte der „Zahlungen in Gold“, zum Rechnungsmünzenwesen beginnend in fränkischer Zeit, zum Hauptwucherer-, Pfandleiher- Geldhändlerwesen, zur langsamen Entwicklung der Wechselgeschäfte, zum Entstehen eines „allgemeinen Zinsfußes“. Mit Hüllmann beschreibt Marx, wie die feudalen Klassenverhältnisse durch die heraufziehende bürgerliche Entwicklung ihren falschen „ehrwürdigen Heiligenschein“ verlieren: „Indem das Geld das allgemeine Äquivalent, die general power of purchasing, ist alles käuflich, alles in Geld verwandelbar. Aber es kann nur in Geld verwandelt werden, indem es alieniert wird, indem der Besitzer sich seiner entäußert. (…) Die sogenannten unveräußerlichen, ewigen Besitztümer und ihnen entsprechenden unbeweglichen, festen Eigentumsverhältnisse brechen also zusammen vor dem Geld. (…) Es gibt nichts Unveräußerliches, da alles gegen Geld veräußerlich. Es gibt nichts Höhres, Heiliges etc., da alles durch Geld aneigenbar. Die ‚res sacrae‘ und ’religiosae‘, die ‚in nullius bonis‘ sein können, ‚nec aestimationem recipere, nec obligari alienarique posse‘ die eximiert sind vom ‚commercio hominum‘, existieren nicht vor dem Gelde, wie vor Gott alle gleich sind. Schön wie die römische Kirche im Mittelalter selbst Hauptpropagandist des Geldes.“ (MEW42, 727-729)[58]
Für die Analyse der antiken Klassenverhältnisse, der sozialen Lage der pauperisierten Schichten, des spekulativen Kornpreiswuchers, der wirtschaftliche „Stockungen“, der erhöhten Sterblichkeit der unteren Bevölkerungsgruppen, der Schwankung der Getreide-, Nahrungsmittelpreise, „wie wenig der Durchschnittslohn in der Masse der arbeitenden Klasse den zum Leben absolut nötigen Betrag übersteigt“, zieht Marx Georg Friedrich Puchtas juristische Studien über „Kredit“, „Vermögen“, „Schulden“ heran, vor allem aber Rudolph Jherings Hinweise auf „Verschuldungsursachen (Ursachen des Pauperismus: Ernteschwankungen, Kriegsdienst, Sklavenkonkurrenz)“.
Marx exzerpiert Rudolph Jherings „Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung“ (1852-1865). Er benützt auch August Böckh „Die Staatshaushaltung der Athener“ (1817). (MEW 19, 378, 380)[59]
In der Marx-Engels-Bibliothek findet sich etwa „Die Arbeiter und Communisten in Griechenland und Rom“ (1860), von Wilhelm Drumann. Unter vielem anderen mehr legt Marx auch eine bibliographische Notiz von Karl Wilhelm Nitzsch „Die Gracchen und ihre nächsten Vorgänger“ (1847) an.
Ferner exzerpiert Marx um 1880 Ludwig Friedlaender „Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgang der Antonine“ (1862-1871), Ludwig Lange „Römische Alterthümer I“ (1856) und Karl Bücher „Die Aufstände der unfreien Arbeiter 143-129 v.Chr.“ (1874). Karl Bücher hat 1879 auch das „Ureigenthum“ des belgischen Nationalökonomen Emile Laveleyes übersetzt. Für Marx‘ und Engels‘ Studium „vorkapitalistischer Verhältnisse“ hätte es von Nutzen sein können. Dem stand aber offenbar entgegen, dass Laveleye zu jenen gerechnet wurde, die in einer „Kapital“-Besprechung „Blödsinn“ „über meine Werttheorie“ verbreiten. (MEW 34, 207f., MEW 35, 123)
Niebuhr, Mommsens dürftiger „Kapital“-Begriff
1857 beginnt sich Marx für Theodor Mommsen zu interessieren. Er schreibt am 23. April 1857 an Engels: „Hast Du etwas gehört – oder Lupus [Wilhelm Wolff] – von einer ‚Römischen Geschichte‘, die irgendwo um Heidelberg herum erschienen und viel Neues enthalten soll?“ (MEW 29, 131)
Engels selbst interessiert sich für den Militärhistoriker Mommsen. Er berichtet Marx am 28. März 1858, dass er Mommsens „Römische Geschichte“ schon für eine militärgeschichtliche Arbeit verwenden konnte: Ich „habe wieder hübsches Material in Mommsen ‚Röm. Geschichte‘ (Hannibals Kavallerie) gefunden. Leider schwer über den 7jährigen Krieg was aufzutreiben.“ (MEW 29, 308)
Mommsen wird für Marx ein wichtiger Referenzpunkt, auch wenn er dessen Schlussfolgerungen oft polemisch ablehnt. Marx studierte Mommsens Abschnitte, wie „Ackerbau, Gewerbe und Verkehr“ in der römischen Frühzeit, der späteren Perioden, die „Ausgleichung der Stände und die neue Aristokratie“, „die Revolution und Gaius Gracchus“, „das Gemeinwesen und seine Ökonomie“ oder den Abschnitt „Boden- und Geldwirtschaft in der römischen Kaiserzeit“, über die frühe römische Gutssklavenwirtschaft, Formen der Aufsicht („villicus“).
Mommsen verwechselt allerhand, so Marx. Er hat das Kapital nur in seinen Anfangsformen als Geld- und parasitäres (zinstragendes) Wucherkapital [„Das Wucherkapital besitzt die Exploitationsweise des Kapital ohne seine Produktionsweise.“ – MEW 25, 610f.], allenfalls als Kaufmanns-/Handelskapital im Blickfeld. Mommsen kann deshalb die „Genesis der kapitalistischen Grundrente“ nicht verstehen, so Marx später in „Kapital III“: „Und selbst in den Ackerbauwirtschaften des Altertums, die die meiste Analogie mit der kapitalistischen Landwirtschaft zeigen, in Karthago und Rom, ist die Ähnlichkeit größer mit der Plantagengenwirtschaft als mit der der wirklich kapitalistischen Exploitationsweise entsprechenden Form. Eine formelle Analogie, die aber auch in allen wesentlichen Punkten durchaus als Täuschung erscheint für den, der die kapitalistische Produktionsweise begriffen hat und der nicht etwa wie Herr Mommsen in jeder Geldwirtschaft auch schon kapitalistische Produktionsweise entdeckt – eine formelle Analogie findet sich im Altertum im kontinentalen Italien überhaupt nicht, sondern nur etwa in Sizilien, weil dies als agrikoles Tributland für Rom existierte, der Ackerbau daher wesentlich auf den Export gerichtet war. Hier finden sich Pächter im modernen Sinn.
[Herr Mommsen in seiner ‚Römischen Geschichte‘ fasst das Wort Kapitalist durchaus nicht im Sinn der modernen Ökonomie und der modernen Gesellschaft, sondern in der Weise der populären Vorstellung, wie sie nicht in England oder Amerika, sondern auf dem Kontinent als altertümliche Tradition vergangener Zustände noch fortwuchert.]
Eine unrichtige Auffassung der Natur der Rente basiert auf dem Umstand, dass aus der Naturalwirtschaft des Mittelalters her, und ganz den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise widersprechend, die Rente in Naturalform zum Teil in den Zehnten der Kirche, zum Teil als Kuriosität, durch alte Kontrakte verewigt, sich in die moderne Zeit herübergeschleppt hat. Es gewinnt dadurch den Anschein, dass die Rente nicht aus dem Preis des Agrikulturprodukts, sondern aus seiner Masse entspringt, also nicht aus gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern aus der Erde.“ (MEW 25, 795f.)[60]
Mommsens dürftiger Kapital[ismus]begriff verleitet ihn zu jedem „Quidproquo“: „Herr W[ilhelm] Kiesselbach („Der Gang des Welthandels im Mittelalter“, 1860) lebt in der Tat immer noch in den Vorstellungen einer Welt, worin das Kaufmannskapital die Form des Kapitals überhaupt ist. Von dem modernen Sinn des Kapitals hat er nicht die geringste Ahnung, sowenig wie Herr Mommsen, wenn er in seiner ‚Römischen Geschichte‘ von ‚Kapital‘ spricht und von Herrschaft des Kapitals.“ (MEW 25, 339)
Oder wie es 1867 in „Kapital I“ im Abschnitt „Verwandlung von Geld in Kapital“ geheißen hat. Der Kapitalismus setzt den „freien Lohnarbeiter“, der nur die „Ware Arbeitskraft“ anbieten kann – frei von allen Zunftzwängen, aber auch frei von allen Produktionsmitteln, voraus: Der „freie Lohnarbeiter“ und „der Geldbesitzer begegnen sich auf dem Markt und treten in Verhältnis zueinander als ebenbürtige Warenbesitzer, nur dadurch unterschieden, dass der eine Käufer, der andre Verkäufer, beide also juristisch gleiche Personen sind. (…) In Realenzyklopädien des klassischen Altertums kann man den Unsinn lesen, dass in der antiken Welt das Kapital völlig entwickelt war, ‚außer dass der freie Arbeiter und das Kreditwesen fehlten‘. Auch Herr Mommsen in seiner ‚Römischen Geschichte‘ begeht ein Quidproquo über das andre.“ (MEW 23, 181f.)
Kautsky mag zutreffend im Sinn von Marx und Engels nachgezeichnet haben, wenn er Mommsen 1903/04 als den gescheiterten 1848er, den angesichts des Aufstiegs des Sozialismus, der proletarischen Arbeiterbewegung Ängstlichen darstellt: „Die Beschränktheit des deutschen Liberalismus wurde für Mommsen zu einer Schranke seiner historischen Einsicht. (…) Angst vor dem Proletariat, Hass gegen das Junkertum und die Sehnsucht gegen einen Monarchen, der beiden den Fuß in den Nacken setzte und im Sinne einer feingebildeten Bourgeoisie regierte, das war das politische Credo Mommsens, und dies trug er aus der praktischen Politik auch in seine römische Geschichte hinein.“ Immer wieder projiziert der liberale Honoratiorenpolitiker antidemokratische Ressentiments auf die Darstellung sozialpolitischer Tendenzen (Armenversorgung!) in der römischen Geschichte. Soweit Mommsen mit der Sozialdemokratie seiner Tage sympathisierte, so nicht mit einer Partei des Klassenkampfs, sondern mit einer „Sozialdemokratie, von der erwartete, sie werde sich selbst untreu werden und an Stelle proletarischer liberale Politik treiben“. Kautsky lehnt Mommsens linksliberale Attitude ab. Trotzdem bleibt – so Kautsky – Mommsens „wissenschaftliche Tat ersten Ranges“ ein „hervorragendes Kunstwerk, sowohl in der Komposition wie in der Darstellung“.[61]
Unter „Heißhunger nach Mehrarbeit“ hält Marx fest, dass die Mehrarbeit keine Erfindung des Kapitals ist. Dies haben schon der athenische Aristokrat, der „etruskische Theokrat“, der „civis romanus“, der „normännische Baron“, der „amerikanische Sklavenhalter“, der „walachische Bojar“ im Weg raffinierter Ausbeutungsmethoden (Sklaven-, Fronarbeit, Naturalrente etc.) praktiziert. Im Kapitalismus aber erst entspringt die „Überarbeit“ aus dem „Charakter der Produktion“ selbst: „Entsetzlich zeigt sich daher im Altertum die Überarbeit, wo es gilt, den Tauschwert in seiner selbständigen Geldgestalt zu gewinnen, in der Produktion von Gold und Silber. Gewaltsames zu Tod arbeiten ist hier die offizielle Form der Überarbeit. Man lese nur den Diodorus Siculus. Doch sind dies Ausnahmen in der alten Welt.“
Marx zitiert aus der „Historischen Bibliothek“ des Diodor: „Man kann diese Unglücklichen [in den Goldbergwerken zwischen Ägypten, Äthiopien und Arabien], die nicht einmal ihren Körper reinlich halten noch ihre Blöße decken können, nicht ansehn, ohne ihr jammervolles Schicksal zu beklagen. Denn da findet keine Nachsicht und keine Schonung statt für Kranke, für Gebrechliche, für Greise, für die weibliche Schwachheit. Alle müssen, durch Schläge gezwungen, fortarbeiten, bis der Tod ihren Qualen und ihrer Not ein Ende macht.“ (Zit. nach MEW 23, 250)
Wie Diodor zählte auch Appian zu Marx‘ Zeugen aus der Reihe der römischen Historiographen, Chronisten, Annalisten. Während ein Niebuhr oder ein Mommsen von Diodor als einem „elenden Skribenten“ und „geistlosen Kompilator“ sprachen, und während Diodor oder Appian vor das Forum der historischen Quellenkritik des 19. Jahrhunderts zitiert nur mehr Geringschätzung erfuhren, war Marx faszinierter Leser von Appians „Römischem Bürgerkrieg“: „Dagegen abends zur Erholung Appians römische Bürgerkriege im griechischen Originaltext [gelesen]. Sehr wertvolles Buch. Der Kerl ist Ägypter von Haus aus. [Friedrich Christoph] Schlosser sagt [in seiner ‚Weltgeschichte für das deutsche Volk‘], er habe ‚keine Seele‘, wahrscheinlich, weil er in diesen Bürgerkriegen der materiellen Grundlage auf den Grund geht. Spartacus erscheint als der famoseste Kerl, den die ganze antike Geschichte aufzuweisen hat. Großer General (kein Garibaldi), nobler Charakter, real representative des antiken Proletariats. Pompejus reiner Scheißkerl; erst durch Eskamotage der Erfolge von Lucullus (gegen Mithridates), dann der Erfolge von Sertorius (Spanien) usw. als ‚young man‘ von Sulla usw. in falschen Ruf gekommen. Der römische Odilon Barrot als General. (…) Aber mit Pompejus war alles möglich. Shakespeare in seinem ‚Love’s Labour Lost‘ scheint eine Ahnung davon gehabt zu haben, was Pompejus wirklich war.“ (MEW 30, 160)
Appian zitierend stellt Marx in „Kapital I“ auch die englische ursprüngliche Akkumulation in einen weiteren geschichtlichen Zusammenhang: „Die Reichen hatten sich [in der Zeit vor den Licinischen Gesetzen – Anm.] des größten Teils der ungeteilten Ländereien bemächtigt. Sie vertrauten den Zeitumständen, dass sie ihnen nicht mehr abgenommen würden und kauften daher die in ihrer Nähe gelegenen Stücke der Armen, zum Teil mit deren Willen, zum Teil nahmen sie sie ihnen mit Gewalt, so dass sie nur mehr weit ausgedehnte Domänen statt einzelner Felder bebauten. Sie gebrauchten dabei Sklaven zum Landbau und zur Viehzucht, weil ihnen freie Leute weg von der Arbeit zum Kriegsdienst genommen worden wären. Der Besitz der Sklaven brachte ihnen auch insofern Gewinn, als sich diese wegen ihrer Befreiung vom Kriegsdienst ungefährdet vermehren konnten und eine Menge Kinder bekamen. So zogen die Mächtigen durchaus allen Reichtum an sich, und die ganze Gegend wimmelte von Sklaven.“ Die freien Italer aber verarmten. Marx stellt den Vorgang der sogenannten ursprünglichen Akkumulation nicht nur in Vergleich mit dieser antiken Periode, sondern auch mit der karolingischen Periode, als der Kriegsdienst ein Hauptmittel wurde, „wodurch Karl der Große die Verwandlung freier deutscher Bauern in Hörige und Leibeigne treibhausmäßig förderte.“ (MEW 23, 754f.)
Die alten Geschichtsquellen vernebeln in der Regel die ökonomisch materielle Grundlage politischer, ideologischer Kämpfe, haben keinen Blick für die soziale Realität von Klassenkämpfen, deshalb Engels 1886/88 im „Feuerbach“: „Von den alten Quellen über die Kämpfe innerhalb der römischen Republik sagt uns nur Appian klar und deutlich, um was es sich schließlich handelte – nämlich um das Grundeigentum.“ (MEW 21, 302)[62]
Was den „Heißhunger nach Mehrarbeit“, was das Schuften der „Subalternen“ für das Dasein (parasitär) privilegierter Gesellschaftsklassen betrifft, zum Motiv, dass alle Kultur auf Barbarei beruht, dass Sklavenarbeit notwendige Voraussetzung kultureller Blüte und Höhe ist, hat selbst ein Vordenker der Restauration und Gegenrevolutionär wie Edmund Burke ohne falsche Apologetik gestanden, Marx zitiert ihn: „Diejenigen, die arbeiten …, ernähren in Wirklichkeit sowohl die Pensionäre genannt die Reichen, als auch sich selbst.“ (Zitiert nach MEW 23, 249f.)[63]
Nur begrenzt hat dies in Marx‘ Sicht ein Barthold Georg Niebuhr erfasst: „Sehr naiv bemerkt Niebuhr in seiner ‚Römischen Geschichte‘: ‚Man kann sich nicht verhehlen, dass Werke wie die etruskischen, die in ihren Trümmern erstaunen, in kleinen (!) Staaten Fronherrn und Knechte voraussetzen.‘ Viel tiefer sagt Sismondi, dass ‚Brüsseler Spitzen‘ Lohnherrn und Lohndiener voraussetzen.“
Die frühen römischen Agrarbesitzverhältnisse (Fortleben von Gemeindeeigentum, ager publicus, Privateigentum) hat Marx schon 1857 in den „Grundrissen“ unter Zuhilfenahme von Niebuhrs „Römischer Geschichte“ beschrieben. (MEW 42, 388-390) Marx folgt Niebuhr auch in der Beschreibung der römischen „Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse“ (MEW 42, 408f.)
Die ursprüngliche Akkumulation
Die ursprüngliche Akkumulation schafft durch die Vertreibung der Kleinbauern die doppelte Bedingung für die Genesis des Kapitals, einerseits durch „Einhegungen“ (enclosures, die Verwandlung von Ackerland in „Schaftrift“) die materielle Basis für den (Londoner) Wollmarkt und vor allem aber den „freien Lohnarbeiter“, der sich aus den deklassiert verelendet pauperisierten ehemaligen Parzellenbesitzern, kleinen Ackerbauern rekrutiert.
Die maßgeblichen „bürgerlichen Geschichtsschreiber“ bieten eine harmonische Erzählung der (ursprünglichen) kapitalistischen Akkumulation. Gewalt, Vertreibung bleiben außen vor. Sie übergehen die blutige „Verjagung des Landvolks“ in England im späten 15. Jahrhundert einsetzend. Sie beschreiben die in Wirklichkeit „gewaltsame Schöpfung vogelfreier Proletarier“ als fast idyllische Befreiung aus Leibeigenschaft, aus der Gefesseltheit an die Scholle, aus dem Zunftzwang, als Schaffung des freien Lohnarbeiters, eines „freien Verkäufers von Arbeitskraft“. (MEW 23, 770)
Zur Zielscheibe von Marx‘ Polemik wird Thomas Macaulay mit seiner um 1850 erschienenen „History of England from the Accession of James II.“. Macaulay, der „schottische Sykophant und Schönredner“, fälscht die „englische Geschichte im Whig- und Bourgeoisieinteresse“, rechtfertigt die kapitalistische „Kinderexploitation“ damit, dass diese in vorindustrieller Periode viel extremer erfolgt sei. (MEW 23, 289f.)
Marx greift lieber auf zeitgenössische Beobachter wie Thomas Morus zurück, der „in seiner ‚Utopia‘ von dem sonderbaren Land [spricht], wo ‚Schafe die Menschen auffressen‘“: „Thomas Morus sagt in seiner ‚Utopia: ‚So geschieht‘s, dass ein gieriger und unersättlicher Vielfraß, die wahre Pest seines Geburtslandes, Tausende von Acres Land zusammenpacken und innerhalb einer Umpfählung oder einer Hecke einzäunen, oder durch Gewalt und Unbill ihre Eigner so abhetzen kann, dass sie gezwungen sind, alles zu verkaufen. Durch ein Mittel oder das andre, es mag biegen oder brechen, werden sie genötigt fortzurollen – arme, einfältige, elende Seelen! Männer, Weiber, Gatten, Frauen, vaterlose Kinder, Witwen, jammernde Mütter mit ihren Säuglingen und der ganze Haushalt, gering an Mitteln und zahlreich an Köpfen, da der Ackerbau vieler Hände bedurfte. (…) Und wenn sie umhergeirrt, bis der letzte Heller verzehrt ist, was anders können sie tun außer stehlen und dann, bei Gott, in aller Form Rechtens gehangen werden, oder auf den Bettel ausgehn? Und auch dann werden sie ins Gefängnis geschmissen, als Vagabunden, weil sie sich herumtreiben und nicht arbeiten.‘“ (zit. nach MEW 23, 747 und 764)
Marx sieht in den englischen Geschichtsschreibern aber nicht nur die Apologeten der kapitalistischen Entwicklung. Er zitiert auch eine Reihe von Chronisten, die nichts beschönigen, die auf die „Großen“ verweisen, die die kleine Bauernschaft expropriieren, sie als Zielscheibe des „Bauernlegens“ wie „Unkraut“ ausrotten.
Unter Rückgriff auf zahlreiche Chronisten schildert Marx die „Blutgesetzgebung“ gegen die Armen, den Vorgang der repressiven Disziplinierung der bürgerlichen Moderne: „72000 große und kleine [aus Not und Hunger in die Kleinkriminalität – Anm.] getriebene Diebe hingerichtet unter der Regierung Heinrich des Achten“: „Zu Elisabeths Zeiten wurden ‚Landstreicher reihenweise aufgeknüpft‘, die Korruption der restriktiv verliehenen Bettellizenzen, die Welt der Zwangs-Arbeitshäuser perfektioniert. (MEW 23, 758-764)
Deutscher Bauernkrieg – frühbürgerliche Revolution – Wilhelm Zimmermann
Friedrich Engels‘ „deutscher Bauernkrieg“ – 1850 erst erschienen – stand in doppelt zeitgeschichtlichem Konnex. Die Zweitauflage von 1870 wurde von Engels vor dem Hintergrund kontroversiell agrarpolitischer Debatten innerhalb der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) positioniert. Mit Blick auf die Bündnispolitik der „lebenslänglich auf den Arbeitslohn angewiesenen Klasse“, die „noch immer bei weitem nicht die Mehrzahl des deutschen Volkes“ bildet und deshalb Bundesgenossen braucht, mit Blick auf die agrarischen Taglöhner, Ackerbauproletarier oder auf die (teils noch immer in Fronabhängigkeit) gehaltenen, hypothekarverschuldeten, vom Kapitalwucher niedergehaltenen, aber in der Eigentumsillusion gefangenen Kleinbauern, auf die am Existenzlimit vegetierenden Pächter referiert Engels zur „Bauernfrage“. Engels bezieht sich auf den umstrittenen „Beschluss des Baseler internationalen Arbeiterkongresses [1869], [wonach] die Gesellschaft das Interesse hat, das Grundeigentum in gemeinsames, nationales Eigentum zu verwandeln“. Dieser „Beschluss ist gefasst worden hauptsächlich für die Länder, wo großes Grundeigentum und, damit zusammenhängend, Bewirtschaftung großer Güter besteht“ und wo auf diesen großen Gütern sich „ein Herr“ und viele Taglöhner gegenüberstehen. Ein Beschluss gefasst also vor allem etwa für die Agrarverhältnisse, wie sie im Ostelbischen vorzufinden sind, wo eine Masse von Taglöhnern einer feudalen Junkerklasse gegenüberstand, schwierig umzusetzen in den Gegenden „freier“ Kleinbauern, z.B. im Umfeld der französischen Parzellenbauern, weshalb die Proudhonisten in Basel gegen die Kollektivierung respektive Verstaatlichung, für die Rettung des kleinen Bauerneigentums agitierten.
Die im Sommer 1850, „noch unter dem unmittelbaren Eindruck der eben vollendeten Kontrerevolution“, geschriebene Erstauflage sollte der eben geschlagen demoralisierten Demokratie neue Hoffnung geben, indem sie in diesem Moment der „augenblicklichen Erschlaffung“ auf die auch „revolutionäre Tradition“ des deutschen Volkes verwies: „Es gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder an die Seite stellen können, (…), wo deutsche Bauern und Plebejer mit Ideen und Plänen schwanger gingen, vor denen ihre Nachkommen oft genug zurückschaudern.“ (Friedrich Engels: Vorwort zu „Der deutsche Bauernkrieg“ (zweite Auflage (1870), in: MEW 16, 393-400)
Engels wollte eine „Parallele zwischen der deutschen Revolution von 1525 und der von 1848/49“ ziehen: „Die Klassen und Klassenfraktionen, die 1848 und 49 überall verraten haben, werden wir schon 1525, wenn auch auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe, als Verräter vorfinden.“
In der Quellengrundlage sah sich Engels völlig der 1841-1843 erschienenen „Allgemeinen Geschichte des großen Bauernkrieges“ (3 Teile, Stuttgart), verfasst von Wilhelm Zimmermann, einem nach 1848 gemaßregelten württembergischen Demokraten, Vertreter des bürgerlich linken Flügels in der Frankfurter Paulskirchen-Nationalversammlung, verpflichtet. Engels „macht keinen Anspruch darauf, selbständig erforschtes Material zu liefern. Im Gegenteil, der gesamte auf die Bauernaufstände und auf Thomas Münzer sich beziehende Stoff ist aus Zimmermann genommen. Sein Buch, obwohl hie und da lückenhaft, ist immer noch die beste Zusammenstellung des Tatsächlichen. Dabei hatte der alte Zimmermann Freude an seinem Gegenstand. Derselbe revolutionäre Instinkt, der hier überall für die unterdrückte Klasse auftritt, machte ihn später zu einem der Besten auf der äußersten Linken in Frankfurt.“ Zimmermanns „Bauernkrieg“ zählte bis 1914 zu den aus sozialdemokratischen Arbeiterbibliotheken am häufigsten entlehnten Werken.
Was Zimmermann nicht liefern kann, ist eine Darstellung der Reformation und der Bauernkriege als einer Geschichte von sozialen Konflikten, von Klassenkämpfen: „Wenn dagegen der Zimmermannschen Darstellung der innere Zusammenhang fehlt; wenn es ihr nicht gelingt, die religiös-politischen Streitfragen jener Epoche als das Spiegelbild der gleichzeitigen Klassenkämpfe nachzuweisen; wenn sie in diesen Klassenkämpfen nur Unterdrücker und Unterdrückte, Böse und Gute und den schließlichen Sieg der Bösen sieht; wenn ihre Einsicht in die gesellschaftlichen Zustände, die sowohl den Ausbruch wie den Ausgang des Kampfes bedingten, höchst mangelhaft ist, so war dies der Fehler der Zeit, in der das Buch entstand. Im Gegenteil, für seine Zeit ist es, eine rühmliche Ausnahme unter den deutschen idealistischen Geschichtswerken, noch sehr realistisch gehalten.“[64]
Engels wollte in Übereinstimmung mit Marx ein Muster „materialistischer Geschichtsanschauung“ liefern, konkret im Sinn dessen, was dann unter dem Titel der „frühbürgerlichen Revolution“ firmierte: „Meine Darstellung versuchte, den geschichtlichen Verlauf des Kampfes nur in seinen Umrissen skizzierend, den Ursprung des Bauernkriegs, die Stellung der verschiedenen darin auftretenden Parteien, die politischen und religiösen Theorien, in denen diese Parteien über ihre Stellung sich klarzuwerden suchen, endlich das Resultat des Kampfes selbst mit Notwendigkeit aus den historisch vorliegenden gesellschaftlichen Lebensbedingungen dieser Klassen zu erklären.“
Der „Bauernkrieg“ galt Engels als eine erste Probe für die Tragfähigkeit einer nicht idealistischen Interpretation: „Die deutsche Ideologie sieht, trotz der neuesten Erfahrungen, in den Kämpfen, denen das Mittelalter erlag, noch immer weiter nichts als heftige theologische Zänkereien. Hätten die Leute jener Zeit sich nur über die himmlischen Dinge verständigen können, so wäre, nach der Ansicht unsrer vaterländischen Geschichtskenner und Staatsweisen, gar kein Grund vorhanden gewesen, über die Dinge dieser Welt zu streiten. Diese Ideologen sind leichtgläubig genug, alle Illusionen für bare Münze zu nehmen, die sich eine Epoche über sich selbst macht oder die die Ideologen einer Zeit sich über diese Zeit machen.“ (MEW 7, 342)
Die frühproletarisch, plebejisch bäuerliche Aufstandsbewegung („die bäurisch-plebejische Ketzerei“) – die chiliastisch frühkommunistische Züge tragende Revolte Thomas Münzers – ist nach Engels nicht nur am Verrat an den militärisch repressiven Fürstenabsolutismus, wie er von Seite der „bürgerlich gemäßigten lutherischen Reform“ geübt worden war, gescheitert, sondern auch daran, dass sich diese heroisch sozialrevolutionären, künftige proletarische Kämpfe großartig antizipierenden Kräfte über die reale Klassenbewegung, über ihre eigene Schwäche täuschten, über den Umstand, dass die Auflösung der feudalen Gesellschaft zugunsten der „ersten Vorläufer der modernen bürgerlichen Gesellschaft“ auf der historischen Tagesordnung stand: „Aber zugleich konnte dies Hinausgehen, nicht nur über die Gegenwart, sondern selbst über die Zukunft, nur ein gewaltsames, phantastisches sein und musste beim ersten Versuch der praktischen Anwendung zurückfallen in die beschränkten Grenzen, die die damaligen Verhältnisse allein zuließen. Der Angriff auf das Privateigentum, die Forderung der Gütergemeinschaft, musste sich auflösen in eine rohe Organisation der Wohltätigkeit; die vage christliche Gleichheit konnte höchstens auf die bürgerliche ‚Gleichheit vor dem Gesetz‘ hinauslaufen.“ Kurz: „Die Antizipation des Kommunismus durch die Phantasie wurde in der Wirklichkeit eine Antizipation der modernen bürgerlichen Verhältnisse.“ (MEW 7, 346)[65]
In den letzten Lebensmonaten 1894/95 plante Engels eine dann nicht mehr realisierte Überarbeitung des „Bauernkrieges“. Engels lag hierfür aus dem Umfeld der historischen Schule der Nationalökonomie etwa Georg Friedrich Knapps „Die Bauern-Befreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens“ (1887) vor, eine Materialsammlung von Umfang, auch wenn Engels der Interpretation skeptisch gegenüberstand.
1885/86 hatte Engels an „die Geschichte der preußischen Bauern“ erinnert, indem er ein Vorwort zur Neuausgabe von Wilhelm Wolffs „Schlesischer Milliarde“ verfasste, seinerzeit 1849 in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ erstmals erschienen. Dort rechnete Wolff nach, „welche Beträge in Geld, Geldeswert und Grundbesitz allein der schlesische Adel seit Beginn der Fronden-Ablösung den Bauern widerrechtlich entzogen“ hatte. (MEW 19, 67 und MEW 21, 238-247)
Im November 1894 polemisierte Engels in der „Neuen Zeit“ gegen jene französischen und deutschen Genossen, die im Streit über die Ausrichtung eines Agrarprogramms das kleine und mittlere Bauerneigentum im Kampf gegen Hypothekarwucher stützen und erhalten wollten.
In Frankreich, dem „klassischen Land der Kleinbauernwirtschaft“, „wie sollte man dem Bauer helfen können, dem Bauer nicht als zukünftigem Proletarier, sondern als gegenwärtigem besitzenden Bauer, ohne die Grundprinzipien des allgemeinen sozialistischen Programms zu verletzen?“, fragt Engels: Wie sollte dies mit der geforderten Vergesellschaftung von Grund und Boden, mit der Annahme, dass das Parzelleneigentum unter kapitalistischen Agrarmarktbedingungen unrettbar dem „Untergang geweiht ist“, vereinbar sein? Wie können es die französischen Genossen 1894 in ihrer Resolution von Nantes zur „Pflicht des Sozialismus erklären, ‚die selbstarbeitenden Bauern im Besitz ihrer Landstückchen zu erhalten gegenüber dem Fiskus, dem Wucher und den Eingriffen der neuerstandenen großen Grundherren‘.“
In der deutschen Arbeiterpartei sind es nach Engels vor allem die kleinbürgerlich opportunistisch bayerischen Sozialdemokraten, die mit ihrer Verklärung des Mittelbauern jede Agitation, jede Bündnispolitik gegenüber der ausgebeuteten Landarbeiterschaft unterlaufen und damit einer „proletarischen Partei zumut[en], sie soll den oberbayrischen Groß- und Mittelbauern, Eignern von 10-30 Hektaren, ihren jetzigen Zustand verewigen, der zur Grundlage hat die Ausbeutung von Gesinde- und Taglöhnern.“ (MEW 39, 331f. – Engels am 24. November 1894 an Wilhelm Liebknecht)
Engels dagegen: „Wir können nun und nimmermehr den Parzellenbauern die Erhaltung des Einzeleigentums und des Einzelbetriebes gegen die Übermacht der kapitalistischen Produktion versprechen. (…) Ist es also von unsrer Seite eine einfache Torheit, den Parzellenbauern ihre dauernde Fortexistenz als Parzellenbauern in Aussicht zu stellen, so grenzte es schon direkt an Verrat, wollten wir den Groß- und Mittelbauern dasselbe versprechen.“ Die deutsche Partei muss sich nach Engels in ihrer Werbearbeit an den in „halber Leibeigenschaft gehaltenen ostelbischen Landarbeiter“ wenden, der unter die Knute der preußischen Junkerschaft gebeugt ist. (MEW 22, 483-505)
[1] MEW = Karl Marx-Friedrich Engels Werke – MEGA = Karl Marx-Friedrich Engels Gesamtausgabe; Vgl. Heinz Heizer/Wolfgang Küttler: Eine Revolution im Geschichtsdenken. Marx, Engels, Lenin und die Geschichtswissenschaft, Berlin 1983. Weiters generell Gustav Mayer: Friedrich Engels [1934], Frankfurt – Berlin – Wien 1975 und Auguste Cornu: Karl Marx und Friedrich Engels, 3 Bände, Berlin 1954ff. Vgl. durchgehend: Die Bibliotheken von Karl Marx und Friedrich Engels. Annotiertes Verzeichnis des ermittelten Bestandes, bearbeitet von Hans-Peter Harstick, Richard Sperl und Hanno Strauß. MEGA IV/32, Berlin 1999, sowie Bruno Kaiser – Inge Werchan: Ex libris Karl Marx und Friedrich Engels. Schicksal und Verzeichnis einer Bibliothek, Berlin 1967 und Hans-Peter Harstick: Verzeichnis des Marxschen Lesefeldes im Bereich der Historie als Anhang zu derselbe: Vergleichende Studien zur Geschichte des Grundeigentums im Nachlass von Karl Marx – Exzerpte aus M.M. Kovalevskij: Obscinnoe zemlevladanie [Gemeindelandbesitz] (1879), 2 Bände, phil. Diss., Münster 1974.
[2] Vgl. Friedrich Engels: Briefe über den Historischen Materialismus an Paul Ernst am 5. Juni 1890, an Conrad Schmidt am 5. August 1890, 27. Oktober 1890, 1. Juli 1891 und 1. November 1891, an Joseph Bloch am 21./22. September 1890, an Franz Mehring am 14. Juli 1893, an Wilhelm Borgius am 25. Jänner 1894, an Ferdinand Tönnies am 24. Jänner 1895, in: Marx-Engels Werke (=MEW) 37, 411-413, 435-438, 462-465, 488-495; MEW 38, 128-130, 203-205; MEW 39, 96-100, 205-207, 394-396.
[3] Vgl. Paul Barth: Die Geschichtsphilosophie Hegel’s und der Hegelianer bis auf Marx und Hartmann. Ein kritischer Vergleich, Leipzig 1890, 42-62, 132-135. Der Leipziger Philosoph Paul Barth verwarf Hegels Dialektik als Methode spekulativer Tricks. Er warf Marx und Engels vor, mit ihrem „Wahn“ des „Ökonomischen“, alle ideellen, moralischen, Triebkräfte (z.B. der Reformation) oder alle juristischen Grundlagen der bürgerlichen Entwicklung (etwa Naturrecht, Gedanke „der staatsbürgerlichen Gleichheit und Freiheit“) zu verkennen. Engels dankt im Jänner 1895 Ferdinand Tönnies für seine Abrechnung mit Barth, auch wenn diese zu glimpflich sei. Engels interessiert sich auch für Tönnies Comte-Interpretation, für Comte als abgefallenen Anhänger von Saint-Simon. (MEW 39, 394f.) Tönnies hält fest, dass Barth in pedantischer Manier der materialistischen Geschichtsbetrachtung vorwirft, auf einer „Stockwerk-Metaphysik“ von Basis und Überbau zu beruhen. Mit Hilfe schiefer Bilder schaffe Barth Vogelscheuchen, auf die er dann in billiger Manier einschlagen kann. Anhand einer Analyse von Marx Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“ widerspricht Tönnies der Barth’schen Polemik: „Wenn Herr Barth das Stückwerk von Bildern (das Bild von Basis und Überbau – Anm.) bei Marx anklagt, so muß ich ihm vorwerfen, dass er aus eigenen Mitteln diese Bilder vermehrt. Marx hat weder von Erdgeschossen und darauf ruhenden Stockwerken, noch von Widerspiegelungen eines Grundrisses gesprochen.“ Barth zeige keinerlei Verständnis für die Dialektik von „Produktionsverhältnissen/Produktivkräften“ und sonstige Kategorien der „Kritik der politischen Ökonomie“. (Vgl. Ferdinand Tönnies: Neuere Philosophie der Geschichte: Hegel, Marx, Comte, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 7 (1894), 486-515).
[4] Engels bezieht sich auf Gustav von Gülichs mehrbändige, ab 1830 erscheinende „Geschichtliche Darstellung des Handels, der Gewerbe und des Ackerbaus der bedeutendsten handelstreibenden Staaten unsrer Zeit“, von Marx auch für das „Kapital“ verwendet. Georg Sartorius‘ [Professor in Göttingen] „Geschichte des Hanseatischen Bundes“ (dreibändig 1802-1808) fügte Marx zahlreiche Marginalien bei. Weitere sozialgeschichtliche Informationen entnahmen Marx und Engels u.a. den Schriften des preußischen Agrarhistorikers und Statistikers August Meitzen („Der Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des preußischen Staats“ (vierbändig 1868-1873). Zu den heute vergessenen Historikern zählt auch der Leipziger Professor Wilhelm Wachsmuth. Marx und Engels interessierten sich etwa für Wachsmuths „Europäische Sittengeschichte vom Ursprunge volksthümlicher Gestaltungen bis auf unsere Zeit“ (1831-1835) oder dessen „Allgemeine Culturgeschichte“ (1850/51). (MEW 32, 507)
[5] John Wades „History of the middle and working classes“ (1835) war für Marx’ Mehrwerttheorie von einiger Bedeutung. Schon 1847 legte er für einen Vortrag „Arbeitslohn“ vor dem Brüsseler deutschen Arbeiterverein – Notizen aus Wade an. (MEW 6, 537f.) In den „Grundrissen“ von 1857 zitiert er aus Wade, dass die Kapitalisten von den Arbeitern „usurpieren (…) durch Beschneiden oder Verkürzung der freien Tage und Mahlzeiten und graduelle Ausdehnung der Arbeitsstunden“. (MEW 42, 517) Drastisch zitiert Marx aus Wade in „Kapital I“ 1867: „Die Habgier der Fabrikbesitzer, deren Grausamkeiten bei der Jagd nach Gewinn kaum von denjenigen übertroffen wurden, die die Spanier bei der Eroberung Amerikas, bei der Jagd nach dem Golde verübten.“ (MEW 23, 258) Engels hat Wade schon 1845 für die „Lage der arbeitenden Klasse in England“ herangezogen. Von ähnlichem Interesse für Marx William Cobbett „A History of protestant ‚Reformation‘, in England and Ireland“ (1824). Von Marx ebenfalls ständig benützt Thomas Tooke: „History of prices“ (1857). Über die „Radikalen“ Wade und Cobbett vgl. Edward P. Thompson: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, 2 Bände, Frankfurt 1987, 845-876.
[6] Zur Geschichte der französischen Revolutionsforschung vgl. Albert Soboul: Die Große Französische Revolution. Ein Abriss ihrer Geschichte (1789-1799), Frankfurt 1973, XIV-XVI.
[7] Vgl. Karl Kautsky: Erinnerungen und Erörterungen, The Hague 1960, 212ff., 376ff., 386ff.
[8] Franz Mehring hat 1891 auf die Dialektik in Johannes Janssens Wirken aufmerksam gemacht. Mit seiner „Geschichte des deutschen Volks“ habe Janssen zahlreiche Konstrukte der kleindeutsch protestantischen Historiker zerstört und sei deshalb von diesen attackiert worden, nicht wie ein „katholischer Priester, sondern wie ein roter Sozialdemokrat“. Am Umstand, dass Janssen insgesamt nur „katholische Geschichtslegenden“ verbreitet hat, ändert sich nach Mehring aber nichts. (Franz Mehring: Zur bürgerlichen Geschichtsschreibung (1891), in derselbe: Zur deutschen Geschichte von der Revolution von 1848/49 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Gesammelte Schriften 7, Berlin 1972, 490-495. In Engels‘ Bibliothek fand sich auch Onno Klopps „Der König Friedrich II. von Preußen und die deutsche Nation“ (1860). Auch Klopp trat für die Restauration eines katholischen Reichsuniversalismus ein.
[9] Vgl. Karl Korsch: Die materialistische Geschichtsauffassung. Eine Auseinandersetzung mit Karl Kautsky (1929), in derselbe: Krise des Marxismus. Schriften 1928-1935. (=Korsch Gesamtausgabe 5), Amsterdam 1996, 189-309.
[10] Vgl. Georg Lukács: Franz Mehring 1846-1919 [1933], in derselbe: Beiträge zur Geschichte der Ästhetik, Berlin 1954, 318-403. Gegen Lukács’ Mehring-Kritik vgl. Thomas Höhle: Franz Mehring. Sein Weg zum Marxismus 1869-1891, 2. Auflage, Berlin 1958,12-23 und Josef Schleifstein: Franz Mehring. Sein marxistisches Schaffen 1891-1919, Berlin 1959, 250-256.
[11] Vgl. Franz Mehring: Über den Historischen Materialismus (1893), in derselbe: Philosophische Aufsätze. Gesammelte Schriften 13, Berlin 1961, 299-356. Franz Mehring: Deutsche Geschichte. Rezension von Karl Lamprecht, in derselbe: Zur deutschen Geschichte von der Revolution 1848/49 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Gesammelte Schriften 7, Berlin 1972, 496-510. Zu Blos: Engels kritisiert Wilhelm Blos als opportunistischen Reichsratsabgeordneten und mäßigen Historiker. Engels zählt ihn zu den rechten „Spießbürgersozialisten“, die sich von Bismarcks sozialmonarchistischer Politik täuschen ließen. (MEW 36, 160, 324) Mit seiner Geschichte der französischen Revolution von 1789ff., der deutschen Revolution von 1848/49, oder mit seiner Ausgabe von Zimmermanns Bauernkrieg zählte Blos zu den in Arbeiterbibliotheken viel gelesenen Autoren.
[12] Vgl. Gerhard Schilfert: Friedrich Christoph Schlosser (1776-1861), in: Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, hrg. von Joachim Streisand, Berlin 1963, 136-147.
[13] Vgl. Manfred Naumann: Literatur im „Kapital“ (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR 1979, 2/G), Berlin 1979.
[14] Vgl. Georg Lukács: Der historische Roman, Neuwied-Berlin 1965, 39.
[15] Franz Mehring: Über den Historischen Materialismus (1893), in derselbe: Philosophische Aufsätze (Mehring-Gesammelte Schriften 13), Berlin 1961, 299-356, hier 305. – Vgl. Karl Korsch: Karl Marx (1938), Frankfurt 1967, 40.
[16] Vgl. Hegel Reclam-Ausgabe (Stuttgart 1997) von „Vorlesungen über Philosophie der Geschichte“, 77f. Und Gottfried Wilhelm Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“ (Frankfurt – Berlin – Wien 1973, 370), Abschnitt …., c. „das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung“ ergänzend: „So gibt es für das Beurteilen keine Handlung, in welcher es nicht die Seite der Einzelheit der Individualität, der allgemeinen Seite der Handlung entgegensetzen, und gegen den Handelnden den Kammerdiener der Moralität machen könnte. Dies beurteilende Bewusstsein ist hiemit selbst niederträchtig, (…).“
[17] Vgl. Friedrich Engels: Bruno Bauer und das Urchristentum (1882), in: MEW 19, 297-305; Friedrich Engels: Das Buch der Offenbarung (1883), in: MEW 21, 9-15; Friedrich Engels: Zur Geschichte des Urchristentums (1894), in: MEW 22, 447-473.
[18] Vgl. Heinrich Leo: Thomas Münzer. Ein Vortrag im Auftrage des Evangelischen Vereins in Berlin, Berlin 1856, 29-31.
[19] Vgl. Heinrich Sybel: Die Lehren des heutigen Socialismus und Kommunismus, Bonn 1872.
[20] Vgl. Georg Below: Die deutsche wirtschaftsgeschichtliche Literatur und der Ursprung des Marxismus, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik III/43, 561-592.
[21] Vgl. auch gegen den „Kathedersozialisten“ Gustav Schmoller gerichtet Heinrich Treitschke: Der Socialismus und seine Gönner, in: Preußische Jahrbücher 34 (1874), 67ff. und 248ff.
[22] Vgl. Heinrich Sybel: Oestreich und Deutschland im Revolutionskrieg. Erg.Heft zur Geschichte der Revolutionszeit 1789 bis 1795, Düsseldorf 1868; derselbe: Polens Untergang und der Revolutionskrieg, in: Historische Zeitschrift 23 (1870).
[23] Über Rüstow Walter Grab: Ein Mann, der Marx Ideen gab. Wilhelm Schulz. Weggefährte Georg Büchners. Demokrat der Paulskirche, Frankfurt 1972, 336. Marx hat Schulz‘ „Die Bewegung der Produktion. Eine geschichtlich-statistische Abhandlung“ (Zürich 1843), „eine in mancher Hinsicht lobenswerte Schrift“, u.a. für das „Kapital I“ verwendet. (MEW 23, 392)
[24] Antoine Henri Jomini „Histoire critique et militaire des guerres de la Révolution de 1792 à 1801” (1819-1824) oder Antoine Henri Jomini „Précis de l’art de la guerre” (1837) später deutsch „Abriss der Kriegskunst“. Vgl. Jehuda Wallach: Jomini. Ein mechanischer Deuter Napoleons, in derselbe: Kriegstheorien. Ihre Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1972, 11-27. Zu Jomini gegen Clausewitz vgl. Raymond Aron: Clausewitz. Den Krieg denken, Frankfurt 1980, 251-253.
[25] Friedrich Engels: Einleitung zu Sigismund Borkheims Broschüre „Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten 1806/07“ (1887), in: MEW 21, 346-351. Nach Clausewitz ist Engels zufolge die preußische Militärliteratur „unendlich tief gesunken“, etwas besser sei das 1855 erschienene Buch von Eduard Höpfner „Der Krieg von 1806 und 1807. Ein Beitrag zur Geschichte der Preußischen Armee nach den Quellen des Krieg-Archivs bearbeitet“, 2. Auflage, Berlin 1855, aus dem Borkheim schöpfen kann.
[26] Vgl. Jehuda L. Wallach: Die Kriegslehre von Friedrich Engels, Frankfurt 1968.
[27] Hier nach Carl Clausewitz: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk. Ungekürzter Text nach der Erstausgabe (1832-34), Frankfurt-Berlin-Wien 1981, 34 (=1. Buch, 24.)
[28] Ebenda, 680 (=achtes Buch, sechstes Kapitel B).
[29] Ebenda, 48 (=erstes Buch, zweites Kapitel): „Die Waffenentscheidung ist für alle großen und kleinen Operationen des Krieges, was die bare Zahlung für den Wechselhandel ist; wie entfernt diese Beziehungen auch sein, wie selten die Realisationen eintreten mögen, ganz können sie niemals fehlen.“
[30] Ebenda, 202 (viertes Buch, 2. Kapitel): „Auf diese Weise brennt die Schlacht mit gemäßigtem Element wie nasses Pulver langsam ab, und wenn der Schleier der Nacht Ruhe gebietet, weil niemand mehr sehen kann, und sich niemand dem blinden Zufall preisgeben will, so wird geschätzt, was dem einen und dem anderen übrig bleiben mag an Massen, die noch brauchbar genannt werden können, d.h. die noch nicht ganz wie abgebrannte Vulkane in sich zusammengefallen sind; es wird geschätzt, was man an Raum gewonnen oder verloren hat, wie es mit der Sicherheit des Rückens steht.“ Carl von Clausewitz: Vom Kriege, in: Hinterlassene Werke des Generals Carl von Clausewitz über Krieg und Kriegsführung, Band 1-3, Berlin 1832/33; Carl von Clausewitz: Der Feldzug von 1796 in Italien, in ebendort, Band 4, Berlin 1833; Carl von Clausewitz: Die Feldzüge von 1799 in Italien und der Schweiz, in ebendort, Band 5, Berlin 1833; Carl von Clausewitz: Der Feldzug von 1812 in Rußland, der Feldzug von 1813 bis zum Waffenstillstand und der Feldzug von 1814 in Frankreich, in ebendort, Band 7, Berlin 1835; Carl von Clausewitz: Der Feldzug von 1815 in Frankreich, in ebendort, Band 8, Berlin 1835. – Vgl. Jehuda L. Wallach: Clausewitz. Der Philosoph des modernen Krieges, in derselbe: Kriegstheorien. Ihre Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1972, 31-68. Vgl. Hans-Peter Harstick und Manfred Neuhaus: Clausewitz und Marx – eine archivalische Nachlese, in: Revolution und Reform in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert II. Zum 75. Geburtstag von Walter Schmidt, hrg. von Helmut Bleiber u.a., Berlin 2004, 129-150. Vgl. Gerhard Förster – Helmut Otto: Zur Erforschung der Militärgeschichte des deutschen Volkes von ihren Anfängen bis zum Ende des zweiten Weltkriegs, in: Evolution und Revolution in der Weltgeschichte II. Festschrift für Ernst Engelberg, Berlin 1976, 731-748. Vgl. Franz Mehring: Kriegsgeschichtliche Streifzüge (1914/15), in derselbe: Zur Kriegsgeschichte und Militärfrage. Gesammelte Schriften 8, Berlin 1976, 303-368.
[31] Vgl. MEGA IV/12, hrg. von Manfred Neuhaus und Claudia Reichel, Berlin 2007, 1038-1042, 1051f. Vgl. Manfred Kossok: Karl Marx und der spanische Revolutionszyklus des 19. Jahrhunderts, Berlin 1987. Für seine Studien im Umfeld des Krimkriegs exzerpierte Marx neben vielen Arbeiten zu Osteuropa etwa die Schriften des Göttinger Völkerrechtlers und Diplomaten Georg Friedrich Martens („Grundriss einer diplomatischen Geschichte der europäischen Staatshändel und Friedensschlüsse seit dem Ende des 15ten Jahrhunderts bis zum Frieden zu Amiens“, 1807) oder jene des englischen antirussischen, turkophilen Publizisten David Urquhart („Progress of Russia in the West, North and South“, 1853), aber auch jene der Österreicher Franz Schuselka („Die orientalische das ist die russische Frage“, 1843) und Anton Prokesch-Osten („Geschichte des Abfalls der Griechen vom Türkischen Reiche 1821 und die Gründung des hellenischen Königreiches“, 1867). Neben den Schriften von Jakob Philipp Fallmerayer (u.a. „Fragmente aus dem Orient“, 1845) [MEW 29, 5] merkten sich Marx und Engels auch die Arbeiten des federführenden österreichischen Orientalisten Joseph Hammer-Purgstall (mehrbändige „Geschichte des osmanischen Reichs“, 1827-1835) vor. 1854 merkt Marx in einem Zeitungsartikel an, dass Hammer-Purgstall belegt hat, „dass die Organisation des Türkischen Reichs zu jener Zeit [der Wiener „Türkenbelagerung“ 1683] schon in Auflösung begriffen war und dass die Epoche des rapiden Niedergangs der ottomanischen Größe und Macht schon vorher eingesetzt hatte“. (MEW 10, 267)
[32] Vgl. Karl Marx, Die ethnologischen Exzerpthefte, hrg. von Lawrence Krader, Frankfurt 1976.
[33] Engels am 7. März 1884 an Friedrich Adolph Sorge: „Lies Morgan (Lewis H.), Ancient Society, 1877 in Amerika erschienen. Enthüllt die Urzeit und ihren Kommunismus meisterhaft: Hat Marx‘ Geschichtstheorie naturwüchsig neu entdeckt und schließt mit kommunistischen Folgerungen für heute.“ (MEW 36, 124)
[34] Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats. Im Anschluss Lewis H. Morgan’s Forschungen (Hottingen-Zürich 1884), in MEW 21, hier 28, 105. Vgl. Dieterich Treide: Marx und Engels zur Untersuchung wenig entwickelter gesellschaftlicher Verhältnisse in unterschiedlichem ‚historischen Milieu‘, in: Familie, Staat und Gesellschaftsformation. Grundprobleme vorkapitalistischer Epochen einhundert Jahre nach Friedrich Engels‘ Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, hrg. von Joachim Herrmann und Jens Köhn, Berlin 1988, 181-188 und zur aus dem „Ursprung“ geschöpften moralischen Stärkung des proletarischen Klassenbewusstseins, dass der Blick in die „Urgesellschaft“ Perspektive auf eine künftige Gesellschaft jenseits von Privateigentum an Produktionsmitteln, jenseits einer Ausbeutergesellschaft und jenseits der Unterdrückung der Frau öffnet, vgl. Ursula Herrmann – Klaus Kinner: Zur Wirkungsgeschichte von Engels‘ „Ursprung“ in der deutschen Arbeiterbewegung, in ebenda, 213-221. Holger Zapf: Lewis Henry Morgan (Ancient Society, New York 1877), in: Klassiker der Sozialwissenschaften. 100 Schlüsselwerke im Portrait, hrg. von Samuel Salzborn, Wiesbaden 2016, 54-57.
[35] Vgl. Karl Dickopf: Georg Ludwig von Maurer 1790-1872. Eine Biographie, München 1960. Dogmengeschichtlich vgl. Heinrich Cunow: Vorwort zu Georg Ludwig von Maurer, Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfassung und der öffentlichen Gewalt, zweite Auflage, Wien 1896 (Erste Wiener Volksbuchhandlung Ignaz Brand), III-XXXVI.
[36] Engels zitiert die Peloponnes-Arbeit von Fallmerayer: Die oberflächlich christanisierten Bauern opfern im 9. Jahrhundert weiterhin dem Zeus. – Jakob Philipp Fallmerayer: Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters. Ein historischer Versuch, Teil I: Untergang der peloponnesischen Hellenen und Wiederbevölkerung des leeren Bodens durch slavische Volksstämme, Theil II: Morea, durch innere Kriege zwischen Franken und Byzantinern verwüstet und von albanesischen Colonisten überschwemmt, wird endlich von den Türken erobert. Von 1250-1500 nach Christus, Stuttgart-Tübingen 1830/1836. (MEW 19, 302f. und MEW 22, 471)
[37] Marx am 25. März 1868 an Engels über die historischen Arbeiten des in München lehrenden Agronomen Karl Nikolaus Fraas (1810-1875): „Sehr interessant ist von Fraas (1847): ‚Klima und Pflanzenwelt in der Zeit, eine Geschichte beider‘, nämlich zum Nachweis, dass in historischer Zeit Klima und Flora wechseln. Er ist vor Darwin Darwinist und lässt die Arten selbst in der historischen Zeit entstehn. Aber zugleich Agronom. (…) Viel sich in Griechenland, Kleinasien, Ägypten herumgetrieben! (…) Fourier nennt er diesen ‚frommen und humanistischen Sozialisten‘.“ (MEW 32, 52f.)
[38] Engels hält den englischen Ethnologen Henry Sumner Maine („Lectures on the Early History of Institutions“, 1875) im Vergleich mit Maurer für nachrangig, so am 11. August 1884 in einem Brief an Paul Lafargue: „Maine verdient es keineswegs, neben Maurer zitiert zu werden; er hat nichts entdeckt, er ist nur Schüler der Schüler Maurers. Das Gemeineigentum an Boden in Indien wurde längst vor ihm bekannt und von Campbell beschrieben usw.; das auf Java von Money usw.; und das in Russland von Haxthausen. Sein einziges Verdienst besteht darin, der erste Engländer zu sein, der die Entdeckungen Maurers übernommen und gemeinverständlich gemacht hat.“ (MEW 36, 194). Marx hat aus Maine, aus dem Werk dieses „bornierten Engländers“, exzerpiert.
[39] Vgl. Hermann Wopfner: Beiträge zur Geschichte der älteren Markgenossenschaft, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 34 (1913), 1-42. Wopfner referiert 1913 den Forschungsstand nach Georg Ludwig Mauer, der die Annahme einer gemeinschaftlichen Markgenossenschaft in germanischer Zeit relativiert hat. Wopfner fasst auch die Kritik an Maurers juristisch konstruierendem „Rückschlussverfahren“, das auf einem problematischen Zusammenziehen von Quellenhinweisen aus weit auseinanderliegenden Geschichtsperioden beruht, zusammen.
[40] Gegen eine „agrarkommunistische“ Deutung der „Markgenossenschaft“ in einer „germanischen Vorzeit“ – angenommen u.a. auf Grund angezweifelter Aussagekraft von Cäsar- und Tacitus-Stellen – vgl. gegen agrarkommunistische Hypothesen etwa: Alfons Dopsch: Wirtschaft und Gesellschaft im frühen Mittelalter, in: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Gesammelte Aufsätze. Zweite Reihe, hrg. von Erna Patzelt, Wien 1938, 1-71. Zur Kritik von Alfons Dopsch an Modellen, die für die frühe germanische Stammesgeschichte „egalitäre Sozialformen“ im Rahmen von freien Markgenossenschaften annahmen, zur Kritik von Dopsch an einer rechtsdogmatisch von späteren, jüngeren Quellen auf frühere Verhältnisse schließenden Methode, zu Dopschs Plädoyer für eine induktiv quellenkritische Geschichtsforschung vgl. Thomas Buchner: Alfons Dopsch (1868-1953). „Die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse“, in: Österreichische Historiker 1900-1945, hrg. von Karel Hruza, Wien 2008, 155-190.
[41] Jakob Grimms Werke – wie weiters die „Geschichte der deutschen Sprache“ (1853), „Deutsche Grammatik“ (1819-1837) – begleiteten Marx und Engels lebenslang, aber auch jene von Wilhelm Grimm „Altdänische Heldenlieder, Balladen und Märchen“ (1811) und jene Wörterbücher und Sagensammlungen der Brüder Grimm gemeinsam. So schreibt Engels im Juli 1865 an Marx: „Ich treibe jetzt Grimms Märchen, Deutsche Heldensage, altfriesisches Recht usw. Sobald ich damit etwas durch bin, geht’s ernsthaft ans Altnordische.“ (MEW 31, 129) Auch die Vermittlung der (süd-) slawischen Geschichte und Sprachen verlief über Jakob Grimms Übersetzungen. Schriften des serbischen Nationaldenkers-, Historikers, Sprachreformers Vuk Stepanowitsch Karadzic lagen „in Grimms Übersetzung von Wuk“ vor, so „Wuk’s Stephanowitsch kleine Serbische Grammatik, verdeutscht und mit einer Vorrede von Jacob Grimm. Nebst Bemerkungen über die neueste Auffassung langer Heldenlieder aus dem Munde des Serbischen Volks“ (1824). Im Mai 1863 berichtet Engels, dass er die serbische Sprache nach den von „Vuck Stef. Karadzic gesammelten Liedern“ lernt. (MEW 30, 348. Vgl. Hermann Klenner: Jacob Grimms Juristengermanistik, in derselbe: Deutsche Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert. Essays, Berlin 1991, 110-124.)
Im Rahmen seines Studiums der slawischen Sprachen hatte Engels in den 1850er Jahren daran gedacht, eine eigene Grammatik zu erstellen. Hier kam der Wiener Slawistikprofessor Franz Miklosich ins Spiel, weshalb Engels im März 1859 an Ferdinand Lassalle schreibt: „… und wenn ich auch einmal den Gedanken hegte, eine vergleichende Grammatik der slawischen Sprachen auszuarbeiten, so hab‘ ich das doch längst fallenlassen, besonders seit Miklosich dies mit so glänzendem Erfolg unternommen hat.“ Engels bezieht sich auf Miklosichs „Vergleichende Grammatik der slavischen Sprachen“, ab 1852 in Wien drei Bände erschienen. (MEW 29, 583)
Engels hat beim Studium der (süd-) osteuropäischen Geschichte u.a.m. auch auf die Göttinger Aufklärungshistoriker, auf August Ludwig Schlözer oder auf Johann Christoph Gatterer und dessen „Einleitung in die synchronistische Universalhistorie“ (1771) zurückgegriffen. Vgl. France Klopcic: Friedrich Engels und Karl Marx über die „geschichtslosen“ slawischen Nationen 1847-1895 in: Marxismus und Geschichtswissenschaft. ITH-Tagungsberichte 19, Wien 1984, 217-249.
[42] Vgl. Tanja Angela Kubes: Johann Jakob Bachofen (Das Mutterrecht, Stuttgart 1861), in: Klassiker der Sozialwissenschaften. 100 Schlüsselwerke im Porträt, Wiesbaden 2016, 46-49. Johann Jacob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Stuttgart 1861, u.a. VIII. Folgende Methodenstelle Bachofens hätte für Marx‘ und Engels‘ Kritik des nationalliberal borussisch, „faktenpositivistischen“ Historismus relevant sein können: „Zum Verstehen wird das Wissen nur dann erhoben, wenn es Ursprung, Fortgang und Ende zu umfassen vermag. Der Anfang aller Entwicklung aber liegt in dem Mythus. Jede tiefere Erforschung des Alterthums wird daher unvermeidlich zu ihm zurückgeführt. Er ist es, der die Ursprünge in sich trägt, er allein, der sie zu enthüllen vermag. Die Ursprünge aber bedingen den späteren Fortschritt, geben der Linie, die dieser befolgt, für immer ihre Richtung. Ohne Kenntniss der Ursprünge kann das historische Wissen nie zu innerm Abschluss gelangen. Jene Trennung von Mythos und Geschichte, wohlbegründet sofern sie die Verschiedenheit der Ausdrucksweise des Geschehenen in der Überlieferung bezeichnen soll, hat also gegenüber der Continuität der menschlichen Entwicklung keine Bedeutung und keine Berechtigung. Sie muss auf dem Gebiete unserer Forschung durchaus aufgegeben werden, der ganze Erfolg der Untersuchung hängt wesentlich hievon ab.“
[43] Über Grote Karl Christ: Hellas. Griechische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1999, 23-25.
[44] Marx hält 1857 in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ unter Bezug auf Niebuhrs „Römische Geschichte I“ zu gemeinschaftlichen Sozialfunktionen fest: „Am längsten erhielt sich die Beerbung der ohne Angehörige und Verfügung verstorbenen Mitgeschlechter. Verpflichtung in der ältesten Zeit der Geneten, dem Hilfsbedürftigen unter den Ihrigen ungewöhnliche Lasten tragen zu helfen. (Bei den Deutschen überall ursprünglich, am längsten unter den Dithmarsen.)“ (MEW 42, 390)
[45] Vgl. Lebenserinnerungen des Agrarhistorikers und Nationalökonomen Georg Hanssen, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 40 (1910), 1-180. Für Marx und Engels war auch Hanssens „Aufhebung der Leibeigenschaft und die Umgestaltung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse überhaupt in den Herzogtümern Schleswig und Holstein“ (1861) wichtig. Marx benützt sie in „Kapital I“ zur Darstellung der Fronarbeit, im Rahmen des Kapitels über den „Heißhunger nach Mehrarbeit“. Engels fügt das Zitat später redaktionell ein. (MEW 23, 251)
[46] Vgl. Friedrich Engels: Die Mark (1882, als Beilage zu „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“), in MEW 19, 315-330.
[47] Vgl. Hans Georg Lehmann: Karl Kautsky und die Agrarfrage, in: Marxismus und Demokratie. Karl Kautskys Bedeutung in der sozialistischen Arbeiterbewegung, hrg. von Jürgen Rojahn, Frankfurt 1992, 100-115.
[48] Im Detail die umfangreiche Einleitung zu Hans-Peter Harstick: Vergleichende Studien zur Geschichte des Grundeigentums im Nachlass von Karl Marx – Exzerpte aus M.M. Kovalevskij ([Gemeindelandbesitz, Ursachen, Verlauf und Folgen seines Zerfalls] 1879), phil. Diss., Münster 1974. Vgl. Alexander Haxthausen: Die ländliche Verfassung Russlands, Leipzig 1866. Über den westfälischen Gutsherrn August Freiherr von Haxthausen (1792-1866), preußischen Regierungsrat und Agrarwissenschaftler, der in mehreren Büchern die Reste der russischen Dorfgemeinde beschrieb, aber auch ein rückschrittlicher Anhänger der Leibeigenschaft war, vgl. Gustav Mayer: Friedrich Engels. Eine Biographie II. Friedrich Engels und der Aufstieg der europäischen Arbeiterbewegung in Europa, Frankfurt 1975, 56-58. In den Bibliotheken von Marx und Engels finden sich von August von Haxthausen: a) Die ländliche Verfassung Russlands. Ihre Entwickelungen und ihre Feststellung in der Gesetzgebung von 1861, Leipzig 1866 und b) Studien über die innern Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländliche Entwicklung Russlands, Berlin 1852. Wiederholt haben Marx und Engels diese Schriften zitiert, das erstgenannte Werk hat Marx 1876 auch exzerpiert.
[49] Der am 8. März 1881 abgesandte Brief an Sassulitsch in MEW 19, 242f. Die Briefentwürfe insgesamt in MEW 19, 384-406. Marx nach „Kapital I“, die deutschsprachige Version von der französischen Übersetzung abweichend.
[50] Vgl. Wolfgang Küttler: Inhaltsbestimmung und Gesellschaftsformationen in Marx‘ Briefentwürfen an Vera Zasulic (1881), in: Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag I, Berlin 1976, 217-246.
[51] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Reclam-Universalbibliothek), Stuttgart 1997, 183.
[52] Karl Marx: Die britische Herrschaft in Indien (1853), in: MEW 9, 127-133 und Karl Marx: Die künftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien (1853), in: MEW 9, 220-226. Vgl. zur „asiatischen Produktionsweise“/“orientalischen Despotie“ (Marx 1859) Shlomo Avineri: Hat Marx eine einheitliche Theorie der Weltgeschichte? Beiträge zur Marxschen Auffassung der nichteuropäischen Welt, in: Marxismus und Geschichtswissenschaft. Berichte der Internationalen Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung (ITH Linz 1983), Wien 1984, 17-41.
[53] Für eine Arbeit über die „Urgeschichte der Deutschen“ benütze Engels knapp nach 1880 auch folgende historische Werke: 1) Georg Waitz: Deutsche Verfassungsgeschichte I, Kiel 1844; 2) Jakob Grimm: Geschichte der deutschen Sprache I, Leipzig 1848, 3) von dem an der Universität München lehrenden Keltologen Johann Kaspar Zeuss: „Die Deutschen und die Nachbarstämme“ (1837); 4) von dem in Kiel und Berlin lehrenden Mediävisten Karl Viktor Müllenhoff dessen „Deutsche Altertumskunde“ (1870) oder 5) „Das heidnische Zeitalter in Schweden“, 1873 verfasst vom schwedischen Urhistoriker Hans Hildebrand. Friedrich Engels: Zur Urgeschichte der Deutschen (1881/82, erst aus dem Nachlass von Engels veröffentlicht), in MEW 19, 425-473.
[54] Friedrich Engels: Fränkische Zeit. Die Umwälzung der Grundbesitzverhältnisse unter Merowingern und Karolingern (Manuskript 1881/82), in: MEW 19, 474-494. Engels nach Paul Roth: Geschichte des Benefizialwesens von der ältesten Zeit bis ins zehnte Jahrhundert, Erlangen 1850, 246-276.
[55] Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitbedingte Fragestellungen und Leitbilder, Berlin 1961, 180-187. Vgl. Karl Amira: Paul von Roth (1820-1892), in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) 53, Leipzig 1907, 538-549.
[56] Karl Theodor Inama-Sternegg: Deutsche Wirtschaftsgeschichte bis zum Schluss der Karolingerperiode, 2. Auflage, Leipzig 1909, 63-69, 80-86, 206-211, 410-424, 488-491. Vgl. Valerie Müller: Karl Theodor von Inama-Sternegg, Innsbruck 1976, 75-79. Zur Kritik an Inamas „Grundherrschaftstheorie“ vgl. Alfons Dopsch: Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit, vornehmlich in Deutschland, 2. Auflage, Weimar 1921, 7-9. Über „Knechtschaft und Freiheit“ vgl. Marc Bloch: Die Feudalgesellschaft [1939/40], Stuttgart 1999, 337-363. Zum bis in die Gegenwart anhaltenden Streit über den Stellenwert von Feudalismus, Lehenswesen vgl. Bernhard Töpfer: Varianten der Herausbildung des Feudalismus in Europa: Familie, Staat und Gesellschaftsformation. Grundprobleme vorkapitalistischer Epochen einhundert Jahre nach Friedrich Engels‘ Werk „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“, Berlin 1988, 513-528.
[57] Rudolf Sohm: Fränkisches Recht und Römisches Recht. Prolegomena zu einer deutschen Rechtsgeschichte, Wien 1880. Otto von Zallinger: Ministeriales und Milites. Untersuchungen über die ritterlichen Unfreien zunächst in baierischen Rechtsquellen des XII. und XIII. Jahrhunderts, Innsbruck 1878. Vgl. Hans Voltelini: Otto von Zallinger-Thurn (1856-1933); in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 54 (1934), XI-XXIII.
[58] Vgl. Roman Rosdolsky: Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen „Kapital“. Der Rohentwurf des Kapital 1887-1858, 3 Bände, Frankfurt 1968.
[59] Die Ihering-Exzerpte sind nun so wie die Sohm-, Friedlaender-, Lange-, Bücher-Auszüge über „MEGAdigital“: Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), IV. Abteilung. Exzerpte und Notizen. Band 27 (IV/27: Frühgeschichte, Gemeindelandbesitz, Ethnologie [1879-1882] zugänglich. Die vorhin zitierten Hüllmann-Exzerpte sind online ebenda unter MEGA IV/25. Politische Ökonomie, Geld- und Kreditwesen, Krisen (1876-1879) zugänglich.
[60] Vgl. zur Entwicklung von der Natural- zur Geldrente, zur Entwicklung des Kapitals vom (zinstragenden) Wucherkapital, Geldkapital, Kaufmannskapital, zum Manufaktur- und zum industriellen Kapital Ernest Mandel: Marxistische Wirtschaftstheorie I, Frankfurt 1978, 109-148, 315-355.
[61] Vgl. Karl Kautsky: Theodor Mommsen, in: Neue Zeit [Sozialdemokratisches Theorieorgan] 22/1, Nr. 6 (1903/04), 161-167. Gegen Kautskys Einschätzung Karl Christ: Theodor Mommsen und die „Römische Geschichte“, in: Anhang zu Theodor Mommsen: Römische Geschichte [Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt in zwei Bänden] Darmstadt 2010, 8/1-69.
[62] Zum heute differenzierten Urteil über Diodor oder Appian vgl. Michael Rathmann: Diodor und seine „Bibliotheke“. Weltgeschichte aus der Provinz, Berlin-Boston 2016. Bertolt Brecht verwendet Theodor Mommsens „Römische Geschichte“ als eine Textvorlage für die „Geschäfte des Herrn Julius Cäsar“. Unter den antiken Quellen führt er „Appians Römische Geschichte“ an.
[63] Zur Apologetik der Sklaverei als Basis aller kulturellen „Höherentwicklung“ etwa bei Friedrich Nietzsche vgl. Domenico Losurdo: Nietzsche der aristokratische Rebell I. Die Kritik der Revolution von den jüdischen Propheten bis zum Sozialismus, Berlin 2009, 403-409 (Abschnitte wie „Muße und Arbeit: Freiheit und Sklaverei der Alten und Modernen“).
[64] Vgl. Gerhard Schilfert: Wilhelm Zimmermann (1807-1877), in: Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, hrg. von Joachim Streisand, Berlin 1963, 170-184.
[65] Vgl. Max Steinmetz: Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland 1476-1535 [1960]
Reformation oder frühbürgerliche Revolution, hrg. von Rainer Wohlfeil, München 1972, 42-55 und Gerhard Brendler: Zur Problematik des frühbürgerlichen Revolutionszyklus, in: Studien zur vergleichenden Revolutionsgeschichte 1500-1917, hrg. von Manfred Kossok, Berlin 1974, 29-52.