Franz Hillebrand (1863-1926)
Inhalt
Franz Hillebrand: Die experimentelle Psychologie, ihre Entstehung und ihre Aufgaben. Antrittsvorlesung, gehalten am 19. Oktober 1896 in Innsbruck
Herausgegeben und eingeleitet von Joachim Gatterer*, Peter Goller** & Pierre Sachse***
* Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Forschungsinstitut Brenner-Archiv
** Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Universitätsarchiv
*** Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Institut für Psychologie
2018 – innsbruck university press, Innsbruck
Journal Psychologie des Alltagshandelns / Psychology of Everyday Activity, Vol. 11 / No. 1, ISSN 1998-9970
Der 1896 ernannte Philosophieprofessor Franz Hillebrand forschte in seinen drei Innsbrucker Lehrjahrzehnten vor allem als bei Ewald Hering und Ernst Mach in Prag ausgebildeter Experimentalpsychologe. Dementsprechend blickt Hillebrand in seiner Antrittsvorlesung auf die Tradition der Psychophysik seit Ernst Heinrich Weber und Gustav Theodor Fechner zurück. Bezüglich der Einteilung der Psychologie in einen deskriptiv-phänomenologischen und in einen genetisch-naturwissenschaftlichen Zweig folgt Hillebrand 1896 noch weitgehend seinem Wiener Lehrer Franz Brentano. 1897 konnte Hillebrand in Innsbruck ein „Institut für experimentelle Psychologie“ gründen, nur vier Jahre, nachdem 1893 Alexius Meinong in Graz das erste staatlich finanzierte „Psychologische Laboratorium“ an einer österreichischen Hochschule eingerichtet hatte. Hillebrands Antrittsvorlesung ist ein Schlüsseldokument für die Periode der endgültigen Loslösung der Psychologie aus dem Verbund der „reinen“ Philosophie und für die 1879 mit Wilhelm Wundts Leipziger „Institut für experimentelle Psychologie“ einsetzende Gründerwelle.
Schlüsselwörter: Geschichte – „reine“ Philosophie – Psychophysik – Physiologie – F. Brentano – E. Hering – E. Mach – E. H. Weber – Th. Fechner
Abstract
Professor of philosophy Franz Hillebrand, appointed in 1896, mainly conducted his three teaching decades of research in Innsbruck as experimental psychologist schooled by Ewald Hering and Ernst Mach in Prague. Accordingly, in his inaugural lecture, Hillebrand reflects on the tradition of psychophysics tracing back to Ernst Heinrich Weber and Gustav Theodor Fechner. Regarding the classification of psychology in descriptive-phenomenological and genetic-scientific branches, Hillebrand still largely followed his Viennese teacher Franz Brentano in 1896. In 1897, Hillebrand was able to found the „Institute for Experimental Psychology“ in Innsbruck, only four years after Alexius Meinong established the first government-funded „Psychological Laboratory“ at an Austrian university in Graz in 1893. Hillebrand’s inaugural lecture represents a key document of the period of psychology’s ultimate detachment from the grouping of „pure“ philosophy as well as the wave of founders, beginning with Wilhelm Wundt’s „Institute for Experimental Psychology“ in Leipzig.
Keywords: History – „pure“ philosophy – psychophysics – physiology – F. Brentano – E. Hering – E. Mach – E. H. Weber – G. Th. Fechner
Franz Hillebrand (1863-1926) wurde 1887 nach voran gegangenem Studium in Wien an der Universität Prag bei Anton Marty, einem Schüler von Franz Brentano, mit einer Dissertation über die „synechologischen Probleme der Scholastik“ promoviert. In den Folgejahren in Prag auch in den naturwissenschaftlichen Laboratorien des „Psychophysikers“, vom Nominalfach her Physiologie lehrenden Ewald Hering und des Experimentalphysikers Ernst Mach ausgebildet, habilitierte sich Hillebrand 1891 an der Universität Wien mit einer „rein“ philosophischen Arbeit über „die neuen Theorien der kategorischen Schlüsse“. Der Habilitationsvortrag selbst war schon einem experimentalpsychologischem Thema gewidmet: „Die Adaption als allgemeine Beziehung zwischen Reiz und Empfindung“. Zu diesem Zeitpunkt lag bereits folgende in enger Abstimmung mit Hering entstandene und mit einer Vorbemerkung versehene wahrnehmungspsychologische Arbeit von Hillebrand vor: „Über die spezifische Helligkeit der Farben – Beiträge zur Psychologie der Gesichtsempfindungen“ (1889). 1893 folgte eine Arbeit „über die Stabilität der Raumwerte auf der Netzhaut“ und 1894 eine über das „Verhältnis von Akkommodation und Konvergenz zur Tiefenlokalisation“. 1928 hat Franziska Hillebrand die späteren experimentellen Arbeiten nach zurückgelassenen Aufzeichnungen als „Lehre von den Gesichtsempfindungen“ redigierend mit einer abschließenden Bibliographie herausgegeben: „So sollte schließlich die Herausgabe einer Gesamtdarstellung der Lehre von den Gesichtsempfindungen – im Rahmen einer allgemeinen Psychologie – einer späteren Zeit vorbehalten bleiben, die auch die Befreiung von Vorlesungsverpflichtung und amtlicher Tätigkeit gebracht hätte“ (Hillebrand, 1929, S. IIIf.; Stumpf & Rupp, 1927; Schweinhammer, 1995; Oberkofler, 1982/83; Oberkofler, 1986).
Nach zwei Jahren als Extraordinarius an der Wiener Universität war Hillebrand zum 1. Oktober 1896 als ordentlicher Professor der Philosophie an die Universität Innsbruck berufen worden. Die Innsbrucker Fakultät – Hillebrand nachgereiht waren Christian Ehrenfels und Emil Arleth – hatte sich bewusst für einen Philosophen mit experimentalpsychologischer Qualifikation entschieden. Hillebrand beantragte unmittelbar nach seinem Innsbrucker Amtsantritt ein eigenes „Institut für experimentelle Psychologie“. Das Unterrichtsministerium genehmigte die Gründung im Februar 1897 (Benetka & Guttmann, 2001).
1889 erklärte Hillebrand in einer Besprechung, dass Franz Brentano mit seinem Vortrag „über den Ursprung der sittlichen Erkenntnis“ vor der Wiener juristischen Gesellschaft das Verdienst zufalle, die Rechtswissenschaft vor blindem Positivismus, vor Wertrelativismus, also vor allem „ethischen Subjectivismus“ gerettet zu haben, indem er jenseits untauglich spekulativer Naturrechtssysteme in den Akten der „Gemütsbewegung“ das Kriterium moralisch „natürlicher Sanction“ gefunden habe, analog wie „der Vorzug der logischen Richtigkeit gewissen Acten des Urtheils eigen ist“ [2] (Hillebrand, 1889).
Der junge Hillebrand galt deshalb anfangs vor allem als enger Schüler von Franz Brentano, dem Hillebrand 1891 auch das Verdienst zuschrieb, „englischen Logikern“ wie William Hamilton, George Boole, Augustus de Morgan oder Stanley Jevons folgend „eine fundamentale Reform der Syllogistik“ angebahnt zu haben. Alexius Meinong, selbst vormals Wiener Schüler Brentanos, nun seit 1882 Philosophieprofessor in Graz und dann ab 1893 Leiter des dortigen „Psychologischen Laboratoriums“, wollte keinen systematischen Reformversuch der Logik im Werk Brentanos finden. Für Meinong war Hillebrand überdies ein zu loyaler Schüler Brentanos: „Es wäre wo[h]l deutlicher gewesen, sich im Titel statt auf die ‚neuen Theorien‘ der kategorischen Schlüsse sogleich auf die Theorie F. Brentano’s zu beziehen, um deren Darlegung und Vertretung es dem Autor doch zunächst zu thun ist. Eine solche Theorie hat Brentano in seiner ‚Psychologie‘ mehr angekündigt und angedeutet als mitgeteilt, (…)“ (Meinong, 1892, S. 199; Hillebrand, 1891).
Hillebrands Innsbrucker – zum Großteil im Manuskript und in Bearbeitungen von Franziska Mayer- Hillebrand erhaltene – Vorlesungen blieben bei allen späteren Differenzen mit Brentano von dessen 1874 erstveröffentlichter „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ geprägt. In seiner Antrittsvorlesung folgt Hillebrand sehr eng Franz Brentanos „Philosophie der Evidenz“ der „inneren Wahrnehmung“, Brentanos Dreiteilung der psychischen Phänomene in „Vorstellungen, Urteile und emotionelle Phänomene [also ‚Wille und Gefühl in einer Grundklasse‘]“, und somit einer teilweise auf Descartes zurückgehenden methodischen Zweiteilung der „empirischen Psychologie“ in eine deskriptiv-phänomenologische Psychologie (eine begrifflich analytische „Psychognosie“) einerseits und in eine genetische (naturwissenschaftlich, experimentell geprägte) Psychologie andererseits. Wolfgang Stegmüller, einige Jahre nach 1945 ebenfalls in Innsbruck (Analytische) Philosophie lehrend, beschreibt dies in den 1950er Jahren im Brentano-Kapitel seiner „Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie“: „Die psychischen Erscheinungen können [nach Brentano] in zweifacher Weise untersucht werden. Einmal kann man darangehen, die seelischen Phänomene zu analysieren, um die letzten Elemente ausfindig zu machen, aus denen sich das Gesamtbewusstsein aufbaut, wobei Gleichartiges zusammengefasst und dadurch eine Einteilung (Klassifikation) aller psychischen Erscheinungen erzielt wird. Mit dieser Aufgabe hat sich die deskriptive Psychologie oder Psychognosie zu befassen. Eine ganz andere Aufgabe, die der genetischen Psychologie zufällt, besteht darin, die Gesetze für das Auftreten und Verschwinden der Bewusstseinserscheinungen zu ermitteln“ (Stegmüller, 1978, S. 2f.; Brentano, 1874; Baumgartner, 1992).
In seinen Überlegungen „zur Lehre von der Hypothesenbildung“ – 1896 knapp vor seiner Berufung nach Innsbruck erschienen – spricht Hillebrand wie in seiner Antrittsvorlesung „von unserem der Metaphysik so abholden Zeitalter“, in dem jede Einzelwissenschaft „ihre erkenntnistheoretischen Grundlagen“ neu zu prüfen hat: „So sehen wir – um nur einige Beispiele anzuführen – einen Chemiker wie Ostwald [im „Lehrbuch der allgemeinen Chemie“ (1893) und in seiner „Antrittsvorlesung, Die Energie und ihre Wandlungen“ (1888) – Anm.] um die Feststellung der constitutiven Merkmale des Begriffes ‚Real‘ sich bemühen, dem Ursprung des Begriffes ‚Substanz‘ nachgehen, ihn durch Angabe der unbedingt nöthigen Merkmale präcisiren, den Begriff Energie definiren und ihre letzten, irreduciblen Gattungen namhaft machen und was derlei grundlegende Verrichtungen mehr sind.“ Vorab habe sich auch Hermann Helmholtz auf Kant zurückgreifend „mit den erkenntnistheoretischen Grundlagen“ der Naturwissenschaften beschäftigt, so „wenn er in den Grundlagen der Geometrie die empirischen Momente herauszufinden und von den analytischen zu sondern trachtet“.
Maßgeblicher Ausgangspunkt für Hillebrand war Ernst Machs 1883 in Prager Jahren veröffentlichtes Buch über „Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt“ – mit der für Hillebrand zentralen Annahme eines Prinzips der Denkökonomie:
„Die Anweisung, die einst David Hume gegeben hatte, für jeden auch noch so abstracten und complicirten Begriff die ‚Sensationen‘ anzugeben, aus welchen er gewonnen wurde, finden wir bei Mach auf das strengste befolgt. (…) Wir finden Mach weiter bemüht, die Aufgabe jeder Naturforschung scharf zu präcisiren, indem er den Begriff ‚Naturerklärung‘ genau definirt und in dem ‚Princip der Oekonomie‘ die oberste und allgemeinste Forschungsregel aufzustellen sucht.“
Mach folgend kritisiert Hillebrand 1896 vor dem Hintergrund des Streits „über die atomistische Constitution der Materie“ den Begriff der „Ursache“ und der „Causalität“, wie er ihn in John Stuart Mills „System der deduktiven und induktiven Logik“ vorfindet. Hillebrand stellt die in der Physik zumindest seit Newton umstrittene Frage, ob „nur solche Hypothesen zuzulassen [sind], welche eine ‚vera causa‘ zum Gegenstand haben“ (Hillebrand, 1896, S. 1-7).
Mach beglückwünschte Hillebrand am 27. Jänner 1897: „Mit Vergnügen habe ich jüngst Ihre Schrift über Hypothesen gelesen.“ Zehn Jahre später bezog sich Mach in „Erkenntnis und Irrtum“ explizit auf Hillebrands Studie: „Verschiedene Autoren haben sich bemüht die Anforderungen, welche an eine gute naturwissenschaftliche Hypothese gestellt werden müssen, zu präzisieren. Sehr weitläufig hat sich J. St. Mill darüber ausgesprochen. Seine Forderung, dass die Hypothese sich auf die Annahme einer schon als vorhanden bekannten Ursache für das zu Erklärende, einer wahren Ursache (vera causa im Newtonischen Sinne) aufbauen müsse, hat Hillebrand eingehend als nicht haltbar dargetan. Man kann Mills Grundsätze, wie Hillebrand gezeigt hat, nicht konsequent befolgen, ohne fortwährend mit denselben in Widerspruch zu geraten. In der Tat würde man, mit dem Beginn der bewussten Forschung, nach Mills Prinzipien, die augenblickliche Unwissenheit in Permanenz erklären; es könnte von da an, durch Denken wenigstens, keine wesentlich neue Entdeckung mehr gemacht werden.“ Es genügt nach Mach und Hillebrand, „wenn eine Hypothese mit den Tatsachen in Übereinstimmung sei“ (Mach, 1905, S. 236f.).
Inwieweit Hillebrand Machs psychologisches Hauptwerk „Analyse der Empfindungen“ (1886) rezipierte, ist unklar. Bis knapp vor dem Weltkrieg standen Hillebrand und Mach jedenfalls auch in persönlich wissenschaftlichem Kontakt, wie einige im Innsbrucker Hillebrand-Nachlass überlieferte Briefe belegen. Sie debattierten 1899 über „die scheinbare Größe bei gegebener Convergenz und gegebenem Gesichtswinkel“, später 1911 über die „Frage der absoluten Localisation“.
1901 legte Mach Hillebrands Arbeit über die „Theorie der scheinbaren Größe beim binokularen Sehen“ der Wiener Akademie vor, so Mach am 21. Juni 1901: „Sie haben den Weg gezeigt, einen alten psychologischen Aberglauben endgültig aus der Welt zu schaffen, wozu ich Ihnen herzlich gratuli[e]re.“ Ernst Mach spricht damit Hillebrands Verdienst an, als Erster das Problem der nicht-euklidisch (hyberbolischen) Raumwahrnehmung systematisch analysiert zu haben: Hillebrands Probanden – unter ihnen seine Fakultätskollegen Wilhelm Wirtinger (Mathematik), Paul Czermak (Experimentalphysik) und Michael Radakovic (Theoretische Physik) – sollten in „Alleen- Versuchen“ eine Anordnung von zwei Reihen hängender Fäden justieren, sodass diese Reihen in ihrem gesamten Verlauf parallel erscheinen – dabei wurde eine Abweichung von der wirklichen Parallelität deutlich, die etwas über die Geometrie des subjektiven Raumes gegenüber dem objektiven aussagt. Hillebrands „Alleen-Versuche“ wurden von Schubotz (1910), Poppelreuter (1911) und Blumenfeld (1913) repliziert sowie um monokulare und binokulare Beobachtungsbedingungen ergänzt (León, 1994; vgl. ferner Indow, 1991).
Am 17. Jänner 1902 ermahnte Mach Hillebrand: „Es wäre sehr bedauerlich, wenn Sie die Beschäftigung mit Erkenntnistheorie aufgeben würden, da Sie doch gerade durch die experimentelle Psychologie der Naturwissenschaft sehr nahe stehen.“ Über Carl Stumpf klagt Mach: „Stumpf ist sehr scharfsinnig, aber dabei und wohl dadurch steril. Man kann so logisch sein, dass man nicht mehr vom Fleck kommt. Am wenigsten hätte ich erwartet, dass mich Stumpf über den Werth der physikalischen Begriffe belehren würde. Von der 3. Aufl. der Analyse konnte ich Ihnen leider kein Exemplar mehr schicken.“ Hatte Mach am 30. April 1901 nach seiner Ernennung zum lebenslänglichen Mitglied des Herrenhauses mit einer politischen Bemerkung geendet: „Die liberale Luft halte ich nach alten österreichischen Erfahrungen für Aprilwetter.“, so schloss er im Jänner 1902 mit einer berufungspolitischen Anmerkung: „Ueber die Besetzungsangelegenheit der durch meinen Abgang erledigten Stelle sind Sie wohl orienti[e]rt. Meine Propositionen wurden von J[odl] & M[üllner] mit éclat und Suada abgelehnt. Wenn [Alois] Riehl käme, wäre doch ein Mann von philosophischem Sinn und Interesse hier.“ Schon 1901 hatte Mach Hillebrand in einem Fakultäts-Promemoria als relevanten Kandidaten für seine Wiener Nachfolge genannt (Goller, 1991, S. 555-558).
Schon im Jänner 1897 hatten sich Mach und Hillebrand über Denis Diderots „Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden“ ausgetauscht: „Befremdlich ist Diderot’s Meinung, dass die Blinden keine Phantasie haben. Er glaubt offenbar, dass es nur optische Phantasie gibt, oder überschätzt diese doch sehr.“, so Mach am 27. Jänner 1897.
Besonders interessiert zeigte sich Hillebrand an Machs Kontroverse mit Max Planck, nachdem dieser 1908 als Verfechter eines naturwissenschaftlichen „Realismus“ Strömungen eines phänomenalistischen Empiriokritizismus angegriffen hatte, namentlich jene „Naturphilosophie, die gerade gegenwärtig unter der Führung von Ernst Mach sich großer Beliebtheit gerade in naturwissenschaftlichen Kreisen erfreut. Danach gibt es keine andere Realität als die eigenen Empfindungen, und alle Naturwissenschaft ist in letzter Linie nur eine ökonomische Anpassung unserer Gedanken an unsere Empfindungen, zu der wir durch den Kampf ums Dasein getrieben werden. Die Grenze zwischen Physischem und Psychischem ist lediglich eine praktische und konventionelle, die eigentlichen und einzigen Elemente der Welt sind die Empfindungen“ (Planck, 1909, 1910; Mach, 1910).
Hillebrand schrieb am 6. März 1911 an Mach: „Plancks Replik kenne ich nicht, dürfte ich Sie bitten mir anzugeben, wo ich sie finden kann? Ich würde es aber doch bedauern, wenn Sie ihm gar nicht antworteten. Bringt er wirklich nichts Sachliches vor, so steht es doch dafür eben dies zu constatiren, umsomehr als sich alle möglichen Philosophen an seine Autoritaet anklammern werden. Külpe aber verdient ebenfalls eine kurze Abfertigung. Es gehört schon einige Naivetaet dazu, wenn er Ihnen die Neuigkeit mittheilt, daß viele Vorgänge in der Natur von uns unabhängig und dass die physikal. Gesetze keine psychologischen sind. Aehnliche Banalitaeten hat seiner Zeit Lipps – auch auf einer Naturforscherversammlung – vorgebracht. Anfangs Jänner war Brentano hier. Das Alter macht ihn nicht toleranter; er verwirft einfach Alles, was nicht mit seinen, oft recht vorgefaßten Ansichten harmonirt. So zwingt er z. B. den Qualitaeten verschiedener Sinnesgebiete gewisse Analogien auf und verhält sich skeptisch gegen alle Thatsachen, die mit diesen Analogien nicht stimmen. Ich sehe nur, wie fatal die ausschließlich deductive Denkrichtung oft werden kann. Ende April will ich nach Wien fahren und werde mir dann erlauben Sie, verehrtester Herr Hofrat, aufzusuchen.“ [3]
Seinem für das eigene wissenschaftliche Werk wohl entscheidenden Prager Lehrer Ewald Hering widmete Hillebrand 1918 mit einem „Gedenkwort der Psychophysik“ einen eindrucksvollen Nachruf: Hering gehört mit seinen (sinnes-)physiologischen Forschungen dem „Zeitalter der klassischen Psychophysik“ von johannes Müller, Jan Evangelista Purkinje, Ernst Heinrich Weber, Alfred Wilhelm Volkmann und Gustav Theodor Fechner an.
Die Erinnerung an das Fechnersche Gesetz (respektive an das Weber-Fechnersche Gesetz) als dem zentralen theoretischen Kondensat der klassischen Psychophysik („psychophysisches Grundgesetz“) ist eine der Schlüsselstellen in Hillebrands Antrittsvorlesung, mit Erläuterungen zur „Ebenmerklichkeit“, also zur Unterschiedsschwelle als dem Betrag, um den eine Reizintensität sich ändern muss, damit (in 50 % der Fälle) überhaupt ein Empfindungsunter- schied festgestellt werden kann, bzw. zum Verhältnis von Reiz und Empfindung, wonach die erlebte Intensität proportional zum Logarithmus des physikalischen Reizes wächst. Das Fechnersche Gesetz gilt nur für den gewichtigen mittleren Intensitätsbereich eines Reizkontinuums, d. h. bei sehr großen und sehr kleinen Reizstärken ist es nicht wirksam.
Hillebrand erinnerte an Herings „besonders enge Verbindung“ zu johannes Müllers „Gesetz von den „spezifischen Sinnesenergien“, woraus sich auf dem Gebiet der Gesichts- und Farbwahrnehmungen der stete Gegensatz zu Hermann Helmholtz wie von selbst ergeben sollte: „Zu einem seiner größten und von ihm nur mit Ausdrücken rückhaltloser Verehrung genannten Zeitgenossen, zu Hermann von Helmholtz, ist Hering, man kann fast sagen, in ununterbrochenem Gegensatz gestanden.“
Ein weiterer Hering-Schüler, der 1916 aus Leipzig an die Innsbrucker Physiologieprofessur berufene Ernst Theodor Brücke, hat in einer Besprechung von Hillebrands Gedenkschrift den Gegensatz als einen von „Empiristen“ und „Nativisten“ zusammengefasst: „Helmholtz betrat das Gebiet der Sinnesphysiologie als Physiker, Hering als Biologe, deshalb sah jener in den Empfindungen im wesentlichen nur Funktionen der physikalisch definierten äußeren Reize, während Hering – so wie Joh. Müller – die Empfindungen in erster Linie als Korrelate der Lebensvorgänge des Nervensystems auffasste, sie also in gleicher Weise von dem jeweiligen Zustande des Nervensystems wie von der Art des äußeren Reizes abhängig erkannte. Die Differenz der Resultate, die sich aus diesen beiden Betrachtungsweisen ergibt, möge ein Beispiel aus der Farbenlehre zeigen. Helmholtz meinte, dass die Merkmale einer Farbe, ihr Ton, ihre Helligkeit, ihre Sättigung physikalisch definierbar seien durch die Wellenlänge, die Amplitude und die Menge des beigemischten weißen Lichtes. Da nun die tägliche Erfahrung lehrt, dass zwischen unseren Farbenempfindungen und jenen nur nach der physikalischen Qualität des Reizlichtes theoretisch zu erwartenden Empfindungen tiefgreifende Unterschiede bestehen (Kontrast, Nachbilder usf.), sah sich Helmholtz genötigt, diese Unterschiede z. B. bei den simultanen Kontrastphänomenen als Folgen von Urteilstäuschungen, unbewussten Schlüssen usf. aufzufassen. Es ist ein nicht hoch genug einzuschätzendes Verdienst Herings um die Psychologie, dass er die Unhaltbarkeit dieser Hilfshypothesen nachgewiesen und sie durch das Gesetz der Wechselwirkung der Sehfeldstellen ersetzt hat.“ [4]
Hillebrand nahm 1918 einleitend zur Hering- Gedenkschrift einige Motive seiner 22 Jahre zurückliegenden Antrittsvorlesung auf, so die Beobachtung, dass das „systematische Studium der Sinnesempfindungen“ in der Geschichte der Psychologie mit „außerordentlicher Verspätung“ eingesetzt hat, dass nicht nur eine überholte alte „rationale (Seelen-)Psychologie“, sondern auch die empirisch orientierte Psychologie der englischen Aufklärung von Locke über Berkeley bis Hume „fast gänzlich im Dienste der Metaphysik, vor allem aber der Erkenntnistheorie“ gestanden ist und „daher die Auswahl der Fragestellungen nicht von selbständigen psychologischen, vielmehr von Interessen metaphysischen und insbesondere er- kenntnistheoretischen Charakters“ beherrscht war, so etwa die Frage, ob es „angeborene Ideen“ gibt oder nicht, oder „wie es möglich sei, dass die immaterielle Seele Eigenschaften der materiellen Dinge (z. B. deren Farben) in sich aufnehme“. Psychologisch relevante Fragen – wie etwa jene schon von Newton gestellte „nach dem System unserer Farbenempfindungen und seiner Dimensionenzahl“ seien, da für Erkenntnistheoretiker irrelevant, nicht gestellt worden. Nicht zufällig sei deshalb auch die „Lehre vom Urteil, von seinen Unterarten und Zusammensetzungen“ viel weiter entwickelt als die Untersuchung der „Vorstellungen“.
Wie in der Antrittsvorlesung von 1896 zitiert Hillebrand wieder John Lockes einleitenden Motivenbericht zum „Versuch über den menschlichen Verstand“ (1690): „Man versteht dieses Versagen der Psychologie, wenn man bedenkt, dass keine allgemeinen Fragen der Erkenntnistheorie an Problemen dieser Art unmittelbar interessiert waren. Lockes Versuch über den menschlichen Verstand bildet sicher einen Markstein in der Geschichte der Psychologie und hat den Anstoß zu einer Reihe der wertvollsten Untersuchungen gegeben; aber das Interesse, das ihn bei der Abfassung seines Hauptwerkes geleitet hat, ging – wie er selbst gesteht – dahin, den Ursprung und die Grenzen der menschlichen Erkenntnis festzustellen: die Resultatlosigkeit mancher Diskussionen, die sich im Freundeskreis abgespielt, hatte ihn veranlasst sich diese Aufgabe zu stellen. Es ist kennzeichnend, dass selbst die berühmte Scheidung der Qualitäten in primäre und sekundäre nicht einer psychologischen Problemstellung entsprang, sondern einer erkenntnistheoretischen: es handelte sich ja um die Frage, welche Merkmale der Empfindungen uns die wirklichen Eigenschaften der Außendinge zeigen und welche nicht.“
Wie in der Antrittsvorlesung trägt Hillebrand nun auch 1918 die These vor, dass jene Arbeiten, die geschichtlich eigentlich am Beginn psychologischer Forschung hätten stehen müssen, nämlich die „systematische Durchforschung des Gebietes der Sinnesempfindungen“ erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts von auf den ersten Blick fachfremden Medizinern, von Anatomen, von Physiologen aufgegriffen wurden und erst über die wissenschaftliche Pionierleistung von „Psychophysikern“ wie johannes Müller, Gustav Theodor Fechner und Ernst Heinrich Weber der empirischen, nun auch experimentell arbeitenden Psychologenzunft vermittelt wurde: „Aber nicht aus dem Kreise der Psychologen ist sie hervorgegangen, vielmehr war es die Physiologie, die hier die Führung übernahm und mit Erfolg übernehmen konnte, seit sie sich in ihrem eigenen Gebiete von der Mystik der Lebenskraft und ähnlicher ‚okkulter Qualitäten‘ frei zu machen und mit gesunden naturwissenschaftlichen Methoden zu arbeiten begonnen hatte. (…) Die systematische Erforschung der Sinnesempfindungen war daher in ihrer Gänze in die Hände der Physiologen geraten und erst allmählich hat die Psychologie von den Errungenschaften im Nachbarland Kenntnis genommen und sie selbsttätig weitergeführt.“ (Hillebrand, 1918, S. 1-9).
Hillebrand hat seine Antrittsvorlesung mit einem Abgesang auf die philosophische Systemspekulation eingeleitet. Er hatte dabei die auf den „Deutschen Idealismus“ nachfolgenden Positionen, die neukantisch kritizistische (Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Hermann Cohen, Alois Riehl), die naturwissenschaftlich positivistische (Friedrich Albert Lange, Wilhelm Wundt, Ernst Mach, Richard Avenarius), die objektivistisch-phänomenologische (Franz Brentano, Edmund Husserl) oder die geisteswissenschaftlich historisch lebensphilosophische (Wilhelm Dilthey, Georg Simmel) Aufspaltung der bürgerlichen deutschen und österreichischen Universitätsphilosophie in posthegelianischen Jahren seit der Revolution von 1848 vor Augen (Schnädelbach, 1983; Köhnke, 1986).
Als 1913 deutsche Philosophieprofessoren – angeführt etwa von Husserl, Rickert, Windelband, Riehl oder Simmel – verlangten, die philosophischen Lehrstühle nicht länger auch mit Vertretern der experimentellen Psychologie zu besetzen, [5] reagierte Hillebrand unter dem Titel „Aussperrung der Psychologen“ scharf: Es besteht kein Grund die psychologische Lehre und Forschung von den philosophischen Professuren fern zu halten. Durch die ungefähr 1860 einsetzende Anwendung experimenteller Methoden habe sich nämlich nichts an der Stellung der empirischen Psychologie im Teilsystem der philosophischen Disziplinen von Logik über Ästhetik zu Ethik reichend geändert.
Es gilt Hillebrand als ein Irrtum, wenn etwa Georg Simmel behauptet, „er wisse ‚keinerlei positive oder negative Bedeutung der psychologischen Experimente für spezifisch philosophische Bestrebungen zu nennen’, wenn man etwa vom Fechnerschen Gesetz“ absehe.
Mit drei Beispielen will Hillebrand belegen, dass eine empirisch (nunmehr auch experimentell operierende) Psychologie, wäre sie früher vorhanden gewesen, manchen metaphysischen Umweg erspart hätte. Dieses Faktum sei sogar schon Georg Berkeley oder David Hume bekannt gewesen: „Man weiß doch, um nur ein paar Beispiele anzuführen, in welche Beziehung das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien schon von seinem ersten Entdecker zur Lehre vom phänomenalen Charakter der äußeren Wahrnehmung gebracht wurde. Und wenn man aus ihm vorschnelle Konsequenzen zugunsten eines Kantschen Apriorismus gezogen hat, so ist es wieder die Psychologie, die hier korrigierend einzugreifen hatte. Wieviele nutzlose Kontroversen wären ferner der Metaphysik und Erkenntnistheorie erspart geblieben, wenn die Untersuchungen über Wesen und Ursprung unserer Raum- und Zeitanschauung anderthalb Jahrhunderte früher gemacht worden wären oder wenn sie wenigstens gegenwärtig von den ‚reinen Philosophen‘ der Beachtung wert gehalten würden, anstatt dass die Fiktion ihres apriorischen Charakters noch bis zum heutigen Tag ihr Unwesen triebe!“
Neben johannes Müllers „Gesetz der spezifischen Sinnesenergien“ aus den 1820er Jahren verweist Hillebrand auf „die erkenntnistheoretischen Folgen, die sich an die Zerstörung der alten Projektionstheorie anschließen“: „Ebensowenig wie man die Konsequenzen verkennen wird, die sich an die Untersuchung über die Dimensionenzahl unserer primären Raumanschauung knüpfen.“ Gleiches gilt für das „Problem der Allgemeinbegriffe, dessen Beziehung zu Logik und Erkenntnistheorie wohl niemand verkennen wird“, und dem sich „das Experiment wenigstens zu nähern“ beginnt, auch wenn die „Denkpsychologie“ noch in den Kinderschuhen stecken würde. Die primär natur- wissenschaftlich orientierten Beiträge zur Erkenntnistheorie wie jene von Wilhelm Ostwald oder von Ewald Hering können nach Hillebrand von der Fachphilosophie nicht ignoriert werden: „Ist es nicht bekannt genug, auf welchem Wege man dazu gekommen ist, die Tatsachen des Gedächtnisses so weit zu verallgemeinern, dass man schließlich mit Hering von einem Gedächtnis der Materie sprechen und mit Ostwald sogar an eine chemische Theorie dieses Vorgangs denken konnte, und dass die weitgehenden Schlüsse, die da- ran geknüpft wurden, nur durch genauestes Studium des psychischen Gedächtnisaktes auf ihre Stringenz geprüft werden können?“ [6]
Für Hillebrand macht das Philosophenmemorandum – abgesehen vom universitätspolitischen Kampf um knappe Lehrstühle – nur dann Sinn, wenn sich die Unterzeichner am anachronistischen Modell einer „reinen“ aprioristischen Philosophie orientieren wollten, und wenn sie damit verbunden gleichsam der Rückkehr zu einer „alten rationalen Psychologie“ das Wort reden wollten, also zu den Lehren „von der See- le als denkender Substanz“ oder zu anderen sinnlosen Scheinfragen wie jener, ob es eine Wechselwirkung zwischen Leib und Seele gibt und wenn ja, ob man diese okkasionalistisch oder im Sinn einer prästabilisierten Harmonie verstehen müsse: Einen Weg, den Hillebrand schon in der Antrittsvorlesung von 1896 als einen fast völlig fruchtlosen geschichtlichen Weg von G. W. Leibnitz zu einer Ch. Wolffschen „Vermögenspsychologie“, hin zu einer in den Fesseln („Symmetrien“) der Kantschen Vernunftkritik gefangenen Psychologie oder in anderer Variante gar hin zu einer auf dem Irrationalismus der Schopenhauerschen Willensmetaphysik aufbauenden Psychologie geschildert hatte (Hillebrand, 1913; Pongratz, 1984; Ash, 1985; Fahrenberg & Stegie, 1998).
Franz Hillebrand kündigte im Sinne dieses Verständnisses einer Einheit von Philosophie und Psychologie für sein erstes Innsbrucker Wintersemester 1896/97 neben der vor allem von „Philosophicums“- und Lehramtskandidaten frequentierten Hauptvorlesung aus „Logik“ (übrigens nach dem Manuskript seiner ersten Wiener Logik-Vorlesung von 1892) eine philosophische Disputationsübung über George Berkeleys „Abhandlung über die Principien der menschlichen Erkenntnis, 1869 in’s Deutsche übersetzt von Friedrich Überweg“ mit Fortsetzung im Sommersemester 1897 an.
Neben seinen zyklisch wiederholten Hauptvorlesungen aus verschiedenen philosophischen Teilgebieten und der „allgemeinen Psychologie“ kündigte er jeweils für ein ganzes Studienjahr spezielle philosophische Textübungen an: Auf Berkeley folgte im Studienjahr 1897/98 eine „dialektische Disputierübung“ zu René Descartes’ „Meditationes de prima philosophia, Übersetzung Sigmund Barrach“. Die biographische Einleitung hat Hillebrand nach Kuno Fischers Descartes-Biographie bestritten. Für die 1898/99 abgehaltene Übung über Kants „Kritik der reinen Vernunft“ zog Hillebrand Friedrich Paulsens Kant-Biographie heran. Für die 1899/1900 angebotene Lehrveranstaltung über David Humes „Untersuchungen über den menschlichen Verstand, deutsch von C. Nathanson, Leipzig 1893“ empfahl Hillebrand den Studenten die Lektüre von Friedrich Jodl, Leben und Philosophie David Humes (Halle 1872). Für die wieder ein Studienjahr später folgende Interpretationsübung zu Arthur Schopenhauers „über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ und dessen „Preisschrift über die menschliche Moral“ benützte Hillebrand die Schopenhauer-Biographie von Wilhelm Gwinner.
1901/02 kehrte Hillebrand noch einmal zu dem ihm für die Psychologiegeschichte wichtig scheinenden Berkeley zurück. Hillebrand wählte nun Berkeleys „Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous, deutsch von Dr. Raoul Richter, Leipzig 1901“. In Hillebrands nachgelassenen Unterlagen finden sich auch Notizen zu einem Kolleg über Etienne de Condillacs „Abhandlung über die Empfindungen“. In den Jahren zwischen 1902 und 1905 folgten Übungen zur praktischen Philosophie, zur Moraltheorie und Religionsphilosophie von Kant und Hume. Die Geschichte der Strafrechtstheorien exzerpierte Hillebrand für sein „Collegienheft über Ethik“ nach „[Franz] Holtzendorff’s Handbuch des deutschen Strafrechts [1871] I. Bd., pag. 241ff. (Darstellung von [Rudolf] Heinze)“. 1904/05 schloss Hillebrand diesen Zyklus aus praktischer Philosophie mit Übungen zu Jean Jacques Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ ab.
1905 wurde mit dem Prager Aristoteles-Experten Emil Arleth ein weiterer Brentano-Schüler auf die zweite Innsbrucker philosophische Professur berufen. Nach Arleths frühem Tod 1909 folgte mit Alfred Kastil wieder ein überaus loyaler Brentano-Schüler. Kastil kümmerte sich mit Oskar Kraus in Prag nicht nur um zahlreiche Editionen aus dem wissenschaftlichen Nachlass Brentanos. Kastil verfasste spät noch eine Einführung in die „Philosophie Franz Brentanos“, die erst 1951 ein Jahr nach Kastils Tod von Franziska Mayer-Hillebrand herausgegeben werden konnte (Haller, 1979).
Nach der Berufung von Arleth und Kastil zog sich Franz Hillebrand aus dem philosophischen Lehrbetrieb im engeren Sinn weitgehend zurück. Sein Spezialkolleg kündigte er nun bis zu seinem Tod 1926 Semester für Semester als „Konversatorium über neuere Erscheinungen aus dem Gebiete der Psychologie“ an.
Literatur
Ash, M. G. (1985). Die experimentelle Psychologie an den deutschsprachigen Universitäten von der Wilhelminischen Zeit bis zum Nationalsozialismus. In M. G. Ash & U. Geuter (Hrsg.), Geschichteder Psychologie im 20. Jahrhundert. Ein Überblick (S. 45-82). Opladen: Westdeutscher Verlag.
Baumgartner, W. (1992). Franz Brentano, ein europäischer Denker. In K. Feilchenfeld & L. Zagari (Hrsg.), Die Brentano. Eine europäische Familie (S. 115-128). Tübingen: Max Niemeyer Verlag.
Benetka, G. & Guttmann, G. (2001). Akademische Psychologie in Österreich. Ein historischer Überblick. In K. Acham (Hrsg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften 3/1 (S. 83-167). Wien: Passagen Verlag.
Blumenfeld, W. (1913). Untersuchungen über die scheinbare Größe im Sehraume.Zeitschrift fürPsychologie, 65, 241-404.
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Fußnoten
[1] Das Manuskript von Franz Hillebrands Antrittsvorlesung liegt im Universitätsarchiv Innsbruck, Nachlass Franz Hillebrand. Hier liegen neben Korrespondenzen mit Ewald Hering, Carl Stumpf, Ernst Mach, Wolfgang Köhler, u. a. auch Abschriften von Franz Brentanos Briefen an Franz Hillebrand, angefertigt von Hillebrands Frau, der Innsbrucker Privatdozentin für Philosophie und experimentelle Psychologie Franziska Mayer-Hillebrand. Im Nachlass Hillebrands finden sich auch zahlreiche, im Folgenden zitierte Vorlesungsmanuskripte. Auch das Manuskript zu Hillebrands Wiener Habilitationsvortrag (1891) liegt hier ein.
Redaktionelle Vorbemerkung: Hillebrands Orthographie – an der Wende zum 20. Jahrhundert gelegentlich zwischen unterschiedlichen Neuerungen schwankend – wurde beibehalten. Hillebrands durch Streichungen vorgenommene Korrekturen wurden nicht aufgenommen, da sie inhaltlich nichts verändern. Ein von Hillebrand offenbar nicht korrigierter Satz wurde sinngemäß mit Hilfe eckiger Klammern (=[…]) angepasst.
[2] 1893 hat Hillebrand in den „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ (S. 175-180) auch Edmund Husserls „Philosophie der Arithmetik I. Psychologische und logische Untersuchungen“ (Halle 1891) besprochen.
[3] Wiederholt hat Carl Stumpf seine „kritisch realistische“ Position gegen den „modernen Phänomenalismus“ von Ernst Mach verteidigt, so 1907 in seiner „Einteilung der Wissenschaften“ und auch noch in der späten – erst nach Stumpfs Tod – 1940 veröffentlichten „Erkenntnislehre“ (Band II, S. 587-589). Stumpf beruft sich dabei auch auf Oswald Külpes „Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft. Vortrag gehalten am 19. September 1910 auf der 82. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Königsberg“ (Leipzig 1910, S. 10f., 44f.), wo es gegen die „Phänomenalisten“ im Umfeld Ernst Machs wie etwa Hans Kleinpeter heißt: „Vielleicht macht es auf Kleinpeter etwas mehr Eindruck, dass auch ein Physiker wie M. Planck (Die Einheit des physikalischen Weltbildes, Leipzig 1909) sich auf denselben [realistischen] Standpunkt stellt wie wir Philosophen, die sich angeblich ‚über die anderwärts bereits geleistete Arbeit einfach‘ hinwegsetzen und damit ‚eine etwas lächerliche Rolle spielen‘.“ Der von Hillebrand angesprochene Theodor Lipps hat sich in einem Vortrag über „Naturwissenschaft und Weltanschauung“ (Heidelberg 1906) ebenfalls gegen eine Naturwissenschaft, die sich auf eine „vereinfachte Beschreibung von Erscheinungen“ beschränken wolle, ausgesprochen. Ernst Mach wird von Lipps nicht namentlich erwähnt. Im Anhang zu seiner 1907 für den programmatischen Sammelband „Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts“ veröffentlichten „Naturphilosophie“ zählt Lipps Mach aber mit Heinrich Hertz, Wilhelm Ostwald und Henri Poincaré zu jener positivistischen Strömung, die verkennen würde, dass jede Naturphilosophie „in Wahrheit jenseits der Grenzen aller empirischen Naturforschung“ ansetzen müsse
[4] Ernst Theodor Brücke, Rezension von Hillebrands Hering-Gedenkwort, Korrekturfahne im Universitätsarchiv Innsbruck, Nachlass Franz Hillebrand. Hillebrand hatte nicht nur kollegial wissenschaftlichen Kontakt zum Physiologen Brücke, sondern auch zu dessen Innsbrucker Vorgänger Oskar Zoth, der sich mit Fragen der physiologischen Optik beschäftigte. Zoth lehrte von 1902 bis 1904 in Innsbruck. Auf Zoth folgte der Hillebrand ebenfalls verbundene, auf den Gebieten der Physiologie der Sinnesorgane, über den optischen Raumsinn arbeitende Franz Bruno Hofmann, der in Prag Assistent von Hering gewesen war und sich 1898 in Leipzig bei Hering habilitiert hatte. Hofmann lehrte von 1905 bis 1911 in Innsbruck.
[5] Ein Exemplar der gedruckten „Erklärung“ findet sich im Universitätsarchiv Innsbruck, Nachlass Franz Hillebrand.
[6] Hillebrand bezog sich immer wieder auf Ewald Herings als Wagnis geschilderte „Wanderung in das weite Reich philosophischer Betrachtungen“, so auf Hering, 1870.
Die experimentelle Psychologie, ihre Entstehung und ihre Aufgaben.
Antrittsvorlesung, gehalten am 19. October 96 in Innsbruck
Hochansehnliche Versammlung!
Zur Zeit, als es noch philosophische Systeme gab und sich noch jeder Jünger dieser Wissenschaft zu einem Complex fester Lehrmeinungen bekennen musste, die sein Forschungsgebiet beherrschten, zu dieser Zeit würde ein neu berufener Lehrer sich nicht passender in seine Stellung haben einführen können, als dadurch, daß er die Grundsätze seines Systems vor seinem neuen Zuhörerkreise dargelegt und so eine Art Programm entwickelt hätte, zu dem sich seine künftige Lehrthätigkeit etwa ebenso verhielte wie die Wirksamkeit eines Politikers zu seiner Programmrede, bestimmt in den Ausgangspunkten und mit festgesetzten Zielen.
Doch diese Zeiten sind vorüber: es giebt keine unumstößlichen Lehrmeinungen mehr und der Glaube, ein System könne wenigstens implicite die Lösung aller philosophischen Fragen enthalten, eine Meinung, die nicht einmal dem kritischen Geiste Kants als Illusion erschien, ist endgiltig verschwunden.
Wer eine wissenschaftliche Epoche nach dem Glanz des äußeren Erfolges beurtheilt, mag vielleicht bedauern, daß nunmehr die bevorzugte Stellung der Philosophie aufgegeben sei – hatte doch keine andere Wissenschaft sich je den Zustand der Vollendung angemaßt. Heute huldigen wir aber mehr der Ansicht, daß diese Sonderstellung für unsere Wissenschaft kein Glück bedeutet hat. Der klägliche Sturz der großen Systeme von Kant bis Hegel hat uns gelehrt, daß eine Wissenschaft, welche sich für abgeschlossen hält, das Schicksal aller Gebilde theilt, denen die Entwicklung versagt ist: Kaum geboren verfallen sie dem Untergang.
Heute geht die Philosophie einen beschwerlicheren Weg. Niemand baut mehr ein Haus von schwindelnder Höhe, das, errichtet auf schwachen Fundamenten und mit schlechtem Materiale, schon vor den Augen der unmittelbaren Epigonen wieder zusammenbricht, um einem neuen Platz zu machen von ebenso kurzer Dauer. Es giebt heute keine Meister und keine Schulhäupter im hergebrachten Sinne, sondern nur viele Arbeiter, von denen ein Jeder mit Geduld und Fleiß einen Stein herbeischafft, größer oder kleiner je nach seiner Kraft. An die Stelle der umfassenden u. geschlossenen Systeme sind die Einzeluntersuchungen getreten, welche, auf die sichere Basis der Erfahrung gestellt, mit den anderwärts längst bewährten Mitteln der strengen Induction und der legitimen Hypothesenbildung, langsam fortschreitend denselben Erfolg garantiren, um den wir die Naturwissenschaften längst beneiden.
Diesen Weg vom all umfassenden Schulsystem zur bescheidenen Einzeluntersuchung hat in unseren Tagen jede der philosophischen Disciplinen durchgemacht. Bei keiner tritt dies aber so sehr zu Tage wie bei der Psychologie. Und dies will ich heute zeigen, indem ich Ihnen in großen Zügen, skizzenhaft, wie es die zugemessene Zeit verlangt, ein Bild von der Entwicklung der modernen Psychologie vorzuführen beabsichtige.
Ich will versuchen, den gegenwärtigen Zustand der Psychologie zu charakterisiren, zu zeigen, wie er historisch geworden ist und welches die Aufgaben sind, vor die sich der psycholog. Forscher in der nächsten Zukunft voraussichtlich gestellt sehen wird.
Ich wähle dieses Thema, weil die Psychologie der neuesten Zeit sich ohne Zweifel im Zustand einer radicalen Wandlung befindet und weil über die Natur sowohl wie auch über den Wert dieser Wandlung mitunter die allerabenteuerlichsten Meinungen verbreitet sind, so daß hier eine Klärung nicht unerwünscht sein dürfte.
Die Thatsache selbst, das Bestehen einer tiefgreifenden Reform in der Psychologie, muß schon dem Laien klar sein, wenn er nur auf die äußerlichen Zeichen dieser Aenderung achtet. Der ältere Psychologe hatte neben seiner Bibliothek keinerlei äußere Hilfsmittel; seine Forschung gründete sich auf die Beobachtung der Phaenomene, wie sie sich im zufälligen Wechsel des täglichen Lebens in seinem Inneren abspielten, oder wie er sie von Andern beschrieben fand, die vor ihm auf dieselbe Weise beobachtet hatten.
Den modernen Psychologen sehen wir häufiger im Laboratorium als in der Studirstube. Die Phaenomene, die er beobachten will, sind nicht bloß diejenigen, welche ihm der Zufall des täglichen Lebens darbietet und die von Momenten abhängen, auf welche er meistentheils keinen Einfluß hat, vielmehr führt er sie willkürlich und planmäßig herbei, d.h. er experimentirt. Auch sein Studiengang ist ein anderer geworden: in früherer Zeit waren es nur die Werke der älteren Psychologen, aus denen der junge Forscher die Resultate fremder Selbstbeobachtung zu erfahren suchte; heute überschreitet er die officiellen Grenzen seiner Disciplin, studirt Physik, Anatomie und Physiologie.
Neue Fachzeitschriften entstehen und von mancher ihrer Abhandlungen wäre es ohne Personalkenntnis schwer zu entscheiden, ob sie von einem Physiologen oder Psychologen herrühren. Und – was das merkwürdigste ist
– die Psychologie löst sich allmählig los von jenen andern Disciplinen, mit denen sie früher gemeinsam den Collectivnamen Philosophie getragen hatte, so daß jetzt mancher Forscher, der ihr die dankenswertesten Dienste leistet, sein Leben lang keine einzige logische, ethische, aesthetische oder metaphysische Untersuchung angestellt hat.
Das sind äußere Zeichen, die auch der oberflächlichsten Betrachtung nicht entgehen können. Worin aber liegt das eigentliche Wesen dieses Umschwunges? Ist es – so müssen wir vor Allem fragen – dieselbe Classe von Problemen, die der Psychologe auch früher behandelt hatte und hat man nur bessere Methoden gefunden, um ihnen beizukommen? Oder sind neue Probleme hinzugekommen, so daß dann freilich bei geändertem Ziel auch die Wege andere werden mußten?
Ich glaube, daß das Letztere der Fall ist: es sind, meine ich, neue Aufgaben, welche zu neuen Methoden Veranlassung gaben: Eines aber muß ich hier zugleich vorausschicken: neue Untersuchungen entstehen in einer Wissenschaft nicht immer als die systematischen Fortbildungen älterer. Es geschieht vielmehr häufig, daß bei einem vorgeschrittenen Zustand einer Wissenschaft sich mit einem Male das Bedürfnis geltend macht noch einmal auf ihre natürlichen Fundamente zurückzukommen, sie zu revidiren und von Unklarheiten oder Widersprüchen zu befreien und etwaige Lücken auszufüllen.
Die Geometrie der Ebene war schon hoch entwickelt, als sich mit einem Male das allg. Interesse wieder der Lehre von den Axiomen zuwandte und der skeptische Blick im II. Axiom des Euklid eine petitio principii entdeckte, die ihre Lösung erst durch [Carl Friedrich] Gauß (also in unserem Jahrhundert) erfuhr. Regressive Aufgaben dieser Art sind es auch, welche in der Psychologie heute als „neue“ Probleme in den Vordergrund treten, während sie bei systematischer Entwicklung längst hätten gelöst sein sollen.
Am besten wird sich dies zeigen, wenn wir die folgenden 2 Fragen zu beantworten suchen:
- Welchen Weg hätte die Psychologie gehen müssen, wenn sie sich systematisch und s.z.t. in gerader Linie entwickelt hätte, aufsteigend von den primaeren und einfacheren Fragen zu den secundaeren und complicirteren? Und
- Wie hat sich die Psychologie thatsächlich entwickelt?
Wir wollen zugleich mit der ersten Frage beginnen.
Die Psychologie beschäftigt sich mit dem Studium der psych. Phaenomene. Offenbar können diese letzteren in 2facher Weise Gegenstand der Untersuchung werden, einmal indem sie als fertige Gebilde analysirt, beschrieben und classificirt werden, dann indem die Gesetze ihrer Entstehung und Aufeinanderfolge festgestellt werden; wir können demzufolge erstens von einer descriptiven oder analytischen, zweitens von einer genetischen oder physiologischen Psychologie sprechen. Bei systematischer Behandlung muß ohne Zweifel der descriptive Theil dem genetischen vorangehen, so sicher als in der Zoologie und Botanik die Morphologie u. Systematik der Physiologie vorangehen muß: wer die Entstehungsgesetze einer Erscheinung studiren will, muß ja die Erscheinung zuerst kennen, d.h. richtig beschrieben und in das Gebiet des bereits Bekannten richtig eingeordnet haben.
Welches sind nun die Aufgaben, an die der descriptive Psychologe zuerst herantreten muß? Der Hauptsache nach wird es sich etwa um folgende Probleme handeln: welches sind die Grundclassen der psych. Phaenomene und welches sind ihre Kriterien? Man wird finden, daß die wichtigste Classe offenbar die der Vorstellungen ist, weil kein anderes psych. Phaen. ohne eine Vorstellung denkbar ist, die ihm zu Grunde liegt. Man wird nun die Vorstellungen selbst wieder eintheilen müssen und dadurch zugleich auf die Frage stoßen, wodurch sich die Empfindungen von den Phantasievorstellungen descriptiv unterscheiden, wodurch diese von den Erinnerungsvorstellungen, da doch nicht Alles, was die Phantasie bietet, darum schon ein Erinnerungsbild ist; man wird weiter fragen, ob es abstracte Begriffe giebt und wenn, wodurch sie sich von den übrigen Vorstellungen descriptiv unterscheiden.
In der Classe der Empfindungen selbst wird wieder die Frage entstehen, wie viele Sinnesgattungen es giebt und wodurch sie charakterisirt sind. Soll man die populaere Eintheilung nach den 5 Sinnen aufrecht erhalten, die, wenn durch nichts anderes, doch schon dadurch Misstrauen erweckt, daß das ganze Chaos der sog. Gemeingefühle wie Hunger und Durst, die verschiedenen sonstigen Arten der Schmerz- u. Lustqualitaeten, die Muskel- und Gelenksempfindungen, die Innervationsempfindungen, die Temperatur- und Tastempfindungen und noch vieles Andere in eine einzige Classe zusammengeworfen werden, geradeso als ob diese ganze Menge von Empfindungen nur durch das negative Merkmal charakterisirt wären, daß sie weder zum Gesichts- noch zum Gehörs-, Geschmacks- und Geruchssinn gehören. Man wird also wohl nach einer besseren Eintheilung suchen müssen.
Wenn diese descriptive und classificatorische Arbeit vollzogen ist, dann müßte darnach getrachtet werden innerhalb jeder einzelnen Sinnesgattung das ganze System der einfachen oder elementaren Qualitaeten zu ermitteln, so innerhalb des Gesichtssinnes die Anzahl und Art der elementaren Farben, innerhalb des Geruchsinnes der elementaren Gerüche und so im Uebrigen.
Weiter wäre zu fragen, in welchen Sinnesgebieten man überhaupt von einer Intensitaet sprechen kann und ob es möglich ist, die Intensitaet als additive Größe zu fassen und daher im eigentlichen Sinne zu messen.
Eine weitere wichtige Frage wäre dann die, ob alle Empfindungen localisirt sind, d.h. ob jede Qualitaet auch einen scheinbaren Ort einnimmt, wie das bei den Gesichts- und Tastempfindungen wohl sicher ist, in Betreff der Gehörsempfindungen aber vielfach angezweifelt wird. Es wäre dann für jedes einzelne Sinnesgebiet zu untersuchen, welches das ganze System der scheinbaren Orte ist, die von seinen Qualitaeten eingenommen werden; kurz gesagt, es wäre nach der Gestalt und der Dimensionenzahl der einzelnen Sinnesfelder zu forschen, wobei wir unter „Sinnesfeld“ eben das ganze System der scheinbaren Orte verstehen, die von den Qualitaeten eines u. desselben Sinnes occupirt werden.
Sind auf diese Weise die Elemente des Vorstellungslebens sauber herausanalysirt, dann erwachst die Aufgabe die verschiedenen Beziehungen, in welche die einzelnen Elemente zu einander treten können, zu beschreiben und zu classificiren, mit einem Worte die Relationslehre auszuarbeiten.
Es würde zu weit führen, wollte ich Ihnen nun noch die Aufgaben andeuten, die sich in Betreff der Psychologie des Urtheils und der Gemütsthätigkeiten darbieten. Für den Augenblick sei nur darauf hingewiesen, daß die Hauptfrage für beide Gebiete die ist, ob sich Urtheile und Gemütsthätigkeiten in bloße Beziehungen von Vorstellungen auflösen lassen (z.B. das Urtheil in eine Verbindung zweier Vorstellungen) oder ob sie letzte, irreducible Phaenomene darstellen, vor welchen die Analyse halt machen muß. Selbstverständlich würden dann Untersuchungen über die einfachen und zusammengesetzten Urtheile und Gemütsthätigkeiten folgen und es würde auch hier wieder von höchster Wichtigkeit sein, eine erschöpfende Uebersicht über Zahl und Art der einfachen Phaenomene und über die Arten ihrer Zusammensetzung zu gewinnen.
Doch es mag vorläufig genügen auf jene kleine Auslese von descriptiven Fragen hinzuweisen, welche bei einem systematischen Betrieb der Psychologie zu allererst hätten erledigt werden müssen und nur in Form einiger Beispiele will ich noch auf die elementaren genetischen Fragen hinweisen, die nach Erledigung der descriptiven Probleme hätten in Angriff genommen werden müssen.
Bleiben wir auf dem Gebiete der Empfindungen, so müßte zuerst festgestellt werden, welche Art von Reiz zur Erzeugung der Empfindungen jeder einzelnen Sinnesgattung erforderlich ist, durch welche Variable des Reizvorganges jede einzelne Variable der Empfindung bedingt ist, ob diese Beziehung eine wechselseitig eindeutige ist oder ob vielleicht durch die Aenderung einer Reizvariablen gleichzeitig mehrere Variable der Empfindung geändert werden, wie ja z.B. durch die Intensitaet eines objectiven Lichtes nicht nur die Helligkeit sondern auch der Ton der Farbenempfindung mitbestimmt wird. Außerdem wäre zu untersuchen, in welcher Weise die Empfindung nicht bloß von der Art des objectiven Reizes, sondern auch von den Erregbarkeitsverhältnissen des Organes abhängt, wobei vor Allem der Einfluß der Ermüdung und der Hyperästhesie zu studiren wäre, dann aber auch der Einfluß früherer Erfahrungen.
Auch das scheinbar regellose Spiel der Phantasie müßte allmählig bestimmten Gesetzen untergeordnet werden, aber exacteren Gesetzen, als es die so oft wiederholten Associationsgesetze der Aehnlichkeit und Gleichzeitigkeit sind, von denen man ohne Uebertreibung sagen kann, daß sie mindestens ebenso häufig versagen als zutreffen. Die wenigen Beispiele von elementaren Problemen sollten zeigen, welche Bahnen die psycholog. Forschung hätte gehen müssen, wenn sie sich systematisch entwickelt hätte. Die thatsächliche Entwicklung war aber eine andere. Die erste, von der aristotelischen Doctrin und ihren metaphysischen Voraussetzungen völlig emancipirte Psychologie war ohne Zweifel die des Engländers J. Locke. Sehen wir nun zu, welchen Fragen er und seine unmittelbaren Nachfolger sich gegenüber gestellt hatten.
Da wird vor Allem untersucht, ob es angeborene Ideen und angeborene Urtheile gebe oder ob sie alle erst im individuellen Leben erworben werden; weiter, ob die Vorstellungen Abbilder äußerer Realitaeten seien oder ob sie bloß subjective Bedeutung haben oder schließlich ob vielleicht von den einen dieses von den andern jenes gelte; und unter diesem Gesichtspunkt, der doch keineswegs ein descriptiver, ja überhaupt kein psychologischer ist, erfolgt dann die Eintheilung der Vorstellungen.
Dieselbe Frage wird dann für die Relationsbegriffe aufgeworfen und namentlich die Relation der Causalitaet darauf hin geprüft, ob sie aus der äußeren Wahrnehmung selbst gewonnen oder erst in sie hineingetragen wird. Dieselbe Frage wird in Betreff des Verhältnisses von Substanz und Eigenschaft gestellt.
Weiter wird dann untersucht, ob es abstracte und allgemeine Begriffe oder bloß concrete bezw. individuelle Vorstellungen gebe. Weiter wird darnach gefragt, ob die Bürgschaft für die Wahrheit eines Urtheils nur in der Erfahrung gesucht werden kann oder ob es noch andere Quellen unmittelbarer Wahrheiten gebe; es ist das die Frage nach dem Bestehen evidenter Urtheile, d.h. solcher, welche die Gewähr der Richtigkeit unabhängig von der Erfahrung in sich tragen.
Die Psychologie des Urtheils bleibt auf ein paar, für die Logik zwar unentbehrliche, psychologisch aber doch höchst dürftige Eintheilungen beschränkt, so besonders die Eintheilung der Urtheile nach Qualitaet und Quantitaet. Die Lehre von den Gemütsbewegungen wurde besonders stiefmütterlich behandelt; bis auf einige wenige Analysen zusammengesetzter Affecte, wie z.B. Zorn, Neid, Reue, Sehnsucht u. dergl. war hier fast nichts geschehen.
In Frankreich und Deutschland wurde dafür um so eifriger speculirt, ob die Seele einfach oder zusammengesetzt, ob sie vergänglich oder unsterblich sei, ob es eine Wechselwirkung zwischen Leib und Seele gebe und wie man sich dieselbe zu denken habe, ob occasionalistisch oder im Sinne der praestabilisirten Harmonie. – Kurz lauter Fragen, mit denen man (ihre Lösbarkeit überhaupt vorausgesetzt) die psycholog. Forschung doch nicht beginnen lassen kann.
Vergleichen Sie nun all‘ diese Fragen mit jener kleinen Auslese von Problemen, die wir früher als die elementaren und daher zu allererst zu behandelnden bezeichnet haben, so fällt Ihnen sofort auf, daß der größte Theil der letzteren von den älteren Psychologen überhaupt gar nicht aufgeworfen worden ist; dann aber werden Sie bemerkt haben, daß die naturgemäße Ordnung der Probleme von den älteren Psychologen in keiner Weise [ein] gehalten [wurde], daß vielmehr das [eine oder] andere Problem aus dem Zusammenhang herausgerissen wurde unbekümmert darum, daß für seine Lösung die nötigen Voraussetzungen fehlten.
Wie kann man, um nur ein Beispiel zu wählen, die Frage nach der Existenz angeborener Ideen in Angriff nehmen, wenn nicht zuerst eine erschöpfende Classification des gesammten Vorstellungsmateriales unter rein descriptivem Gesichtspunkt durchgeführt ist? Ebenso müßte eine Classification der Relationsbegriffe vorangehen, ehe man darüber urtheilen kann, ob wir den Begriff der Causalitaet besitzen und wo wir ihn anwenden dürfen. Auch das berühmte Problem, ob es abstracte Begriffe giebt, kann nicht gelöst werden, ehe wir uns über das Wesen der Aufmerksamkeit klar sind.
Woher kam nun jene Systemlosigkeit in der psycholog. Forschung? Was war die Ursache, daß man eine so große Anzahl viel einfacherer Fragen fast unbeachtet ließ, um sich mit desto größerem Eifer, aber auch mit desto geringerem Erfolg an die complicirteren heranzuwagen? Die Ursache war, um es kurz zu sagen, die: die Begründer der neueren Psychologie, J. Locke u. seine Nachfolger waren bei ihren psycholog. Forschungen in letzter Instanz gar nicht durch das Interesse an der Psychologie selbst geleitet; nicht darauf war ihr Augenmerk gerichtet, die psych. Phaenomene möglichst vollständig zu beschreiben und die Gesetze ihres Entstehens zu erforschen; ihr Ziel war vielmehr, die Quellen und die principiellen Grenzen der menschlichen Erkenntniskraft festzustellen; ihre gesammten psycholog. Forschungen waren ihnen nicht Selbstzweck, sie standen vielmehr durchaus im Dienste der Erkenntnistheorie. Charakteristisch dafür ist die Entstehungsgeschichte von Locke‘s psychologischem Hauptwerk, wie er sie uns selbst erzählt; er berichtet uns von den Discussionen, die er im Freundeskreise zu pflegen gewohnt war; bei einer solchen Discussion sei es nun einmal vorgekommen, daß die Unterredner schlechterdings zu keiner Einigung kommen konnten. Keiner war Sieger, keiner unterlag und ein Resultat war nicht zu gewinnen; da sei ihm nun der Gedanke gekommen die Ergebnislosigkeit der Unterredung möchte wohl darin ihren Grund haben, daß das Thema selbst jenseits der Grenzen gelegen sei, die der menschlichen Erkenntniskraft von Natur aus gezogen sind. So entstand nun in Locke‘s Geist der Plan das Terrain der menschl. Erkenntnis einmal genau abzustecken; diese Arbeit, meinte er, müsse jeder anderen wissenschaftlichen Untersuchung vorausgehen. So entstand sein Hauptwerk, der „Versuch über den menschl. Verstand“. Locke’s psycholog. Forschungen standen also durchaus im Dienste der Erkenntnistheorie und dasselbe muß in Betreff seiner englischen Nachfolger Berkeley und D. Hume gesagt werden. Aber auch auf deutschem Boden finden wir dieses charakteristische Symptom in der Psychologie Leibnitzens, die dann durch Chr. Wolff in eine schulgerechte und systematische Form gebracht wurde, während Kant die Wolff‘sche Psychologie einfach acceptirte, freilich mit allerhand Zuthaten, die hauptsächlich auf das Bedürfnis nach Symmetrie in seinen metaphysischen Constructionen zurückzuführen waren. Kant und seinen Nachfolgern bis auf Schopenhauer verdankt die Psychologie bekanntlich überhaupt keine Bereicherung. Doch dies nur nebenbei.
Jetzt, denke ich, findet die Discrepanz zwischen demjenigen Entwicklungsgang, den die Psychologie bei systematischem Betrieb hätte durchmachen müssen, und demjenigen, den sie thatsächlich durchgemacht hat, ihre Erklärung, sobald wir nur festhalten, daß das Ziel der psych. Forschung stets ein erkenntnistheoretisches war. Was kann es denjenigen, der nur auf Feststellung der Erkenntnisgrenzen ausgeht, interessiren, welches die elementaren Geruchsempfindungen sind? Was kann es ihn interessiren, den descriptiven Unterschied zwischen Empfindung und Phantasie festzustellen? Was berührt ihn die Frage, ob das Urtheil ein irreducibler Act ist oder ob er sich analysiren lässt. Oder was soll er sich gar um die Classification der Gemütsthätigkeiten Sorge machen? Ob diese Fragen so oder anders beantwortet werden, das bleibt für die Feststellung der Erkenntnisgrenzen offenbar gleichgiltig.
Aber freilich Untersuchungen über die Existenz abstracter Begriffe, über den Ursprung des Causalitaetsbegriffes u. ähnliches, das sind psycholog. Probleme, an denen der Erkenntnistheoretiker hervorragend interessirt sein muß. Und von dieser Art waren ja auch die Probleme, welche die damalige Psychologie behandelte.
So dürfte denn Beides erklärt sein: die Außerachtlassung jener großen Zahl von elementaren psychol. Problemen und das unsystematische Herausgreifen einzelner Fragen aus der natürlichen Ordnung.
Wie trat nun jener Umschwung ein, durch den die Entwicklung der modernen Psychologie charakterisirt ist? Wie kam es, daß die Fesseln des lediglich erkenntnis-theoret. Interesses gelöst wurden und sich mit einem Male ein ganz anderes und größeres Arbeitsfeld eröffnete. Ich will versuchen, diese Frage in aller Kürze zu beantworten. Während die Psychologen bei ihrer beständigen Sorge die Grenzen der menschl. Erkenntnis zu bestimmen an den elementaren Fragen ihrer Wissenschaft ahnungslos vorbeigegangen waren, war eine ganz andere Gemeinde wissenschaftlicher Arbeiter gerade mit jenen elementaren Fragen der Psychologie beschäftigt: ich meine die Physiologen oder genauer gesprochen diejenigen unter ihnen, welche sich mit der Physiologie der Sinnesorgane beschäftigten, wie z.B. Joh. Müller, E.H. Weber, Volkmann, Purkinje u.A. Wer die Physiologie der Sinnesorgane studiren will, will ihre Leistungen kennenlernen und die Mittel, durch welche sie dieselben hervorbringen.
Die Leistungen der Sinnesorgane sind aber die Empfindungen und die Frage nach dem Wie? der Hervorbringung setzt die Frage nach dem Was? in Betreff der Wirkungen voraus. So sahen sich denn die Sinnesphysiologen vor die Fragen gestellt, was es für Arten von Empfindungen gebe, welche Variable sich in der einzelnen Empfindung unterscheiden lassen, welches das System der scheinbaren Orte innerhalb jeder Sinnesgattung sei, ob die Phantasievorstellungen sich nur durch geringere Intensitaet von den Empfindungen unterscheiden, u.s.w. Kurz gerade vor die Fragen, die wir als die elementaren Probleme der analytischen Psychologie bezeichnet haben.
Mit diesen Fragen mußten sie sich nun selbst beschäftigen, da sie bei den Psychologen vom Fach keine Auskunft erhielten. Und in der That verdanken wir den Sinnesphysiologen wesentliche Förderung in dem bezeichneten Gebiete.
Das Merkwürdigste ist aber, daß die Fachpsychologen von diesen Arbeiten, da sie nicht in der eigenen Gilde betrieben wurden, zunächst fast gar keine Notiz nahmen. Es fehlte die Communication zwischen beiden Gebieten und sie würde vielleicht heute noch fehlen, wenn nicht ein Mann aufgetreten wäre, der sich die Vermittlung zwischen beiden Gebieten, man kann fast sagen zur Lebensaufgabe gemacht hatte. Dieser Mann war G.Th. Fechner.
Der Name ist heutzutage jedem gebildeten Laien bekannt; wer ihn hört, denkt unwillkürlich an die Psychophysik und an das psychophysische Grundgesetz. Auf die Entstehung dieses letzteren muß ich nun mit ein paar Worten zu sprechen kommen, weil nur dadurch der Einfluß Fechners auf die Psychologie verständlich wird.
E.H. Weber, den Fechner in gewohnter Bescheidenheit als den eigentlichen Vater der Psychophysik bezeichnet, war durch Untersuchungen, die er hauptsächlich an Druck-, Muskel- und Temperaturempfindungen anstellte, zu dem Ergebnis gelangt, daß, wenn man eine bestehende Empfindung so verstärken will, daß diese Verstärkung gerade merklich wird, dazu ein Reizzuwachs erforderlich ist, der zum ursprünglichen Reiz in einem constanten Verhältnis steht, so daß also wenn z.B. ein gehobenes Gewicht von 100 gr dann eben merklich verstärkt erscheint, wenn 1 gr zugesetzt wird, ein Gewicht von 500 gr eines Zusatzes von 5 gr bedarf, wenn die Steigerung der Intensitaet eben merklich sein soll. So weit E.H. Weber. Offenbar war hiermit nur ein bestimmtes Verhältnis der Reizgrößen für einen bestimmten Empfindungseffect, nämlich den der Ebenmerklichkeit festgestellt.
Fechner glaubte nun durch eine – leider nicht einwandfreie – Integration zur Aufstellung eines Empfindungsmaßes selbst gelangt zu sein, welche sich so ausdrücken läßt: die Größe einer Empfindung ist gleich dem Logarithmus des Reizes, insofern als Reizeinheit diejenige Reizgröße angesehen wird, welche gerade hinreicht, um überhaupt eine Empfindung zu erzeugen – eine Größe, die man als Schwellenwert der Empfindung bezeichnet. – Ich würde von meinem Thema allzuweit abschweifen, wollte ich Ihnen die zahlreichen Einwände gegen das Schlußverfahren mittheilen, durch welches Fechner vom Weber’schen Gesetze bis zur Aufstellung seiner Maßformel gelangt zu sein glaubte. Die Acten darüber scheinen heute geschlossen zu sein, leider im negativen Sinne: wir sind nicht in der glücklichen Lage ein Empfindungsmaß zu besitzen. Aber wenn der Glaube an den Besitz eines solchen Maßes sich auch schließlich als irrig erwies, so war dieser Irrtum doch nicht ohne die segensreichsten Folgen. Mit wahrem Feuereifer stürzten sich die Psychologen auf die Arbeit des Messens; auf allen Sinnesgebieten wurde das Fechner‘sche Gesetz geprüft, war doch die Hoffnung all‘ zu verlockend durch den Besitz eines Maßstabes endlich zu exacteren genetischen Gesetzen zu gelangen. Und nicht bloß auf die Intensitaet erstreckten sich die Messungen, vielmehr wendete man die Formel überall an, wo immer es Variable gab, die einer continuirlichen Veränderung fähig waren, also z.B. auf die Farbenreihe, auf das Continuum der Tonqualitaeten, auf die räumliche Ausdehnung der Gesichts- u. Tastempfindungen, auf die Schätzung von Zeitstrecken u.dergl.m.
Hatten nun auch diese Messungen selbst nicht denjenigen Wert, welchen man ihnen anfänglich beimaß, so drängten sie doch die Psychologen zu einer Menge descriptiver Untersuchungen, an denen sie vordem vorübergegangen waren, und veranlaßten sie vor Allem sich mit denjenigen Forschungen bekannt zu machen, durch welche sich die Sinnesphysiologen an jenen Aufgaben bereits betheiligt hatten. Denn so viel ist ohne Weiteres klar: complicirte Gebilde, wie das die psychischen Phaenomene sämmtlich sind, können der Messung erst dann unterworfen werden, wenn sie zuerst bis in ihre letzten, irreduciblen Bestandtheile analysirt sind. Das Geschäft des Messens nötigte also zur Analyse der Empfindungen und somit zu allen denjenigen Aufgaben, welche wir früher als die primaeren Aufgaben der Psychologie bezeichnet haben. Was hier bereits von den Sinnesphysiologen geschehen war, das mußten die Psychologen nunmehr recipiren und weiterbilden.
So war es also gekommen, daß die Psychologie sich erst in unseren Tagen von den Schranken eines lediglich erkenntnistheoretischen Interesses befreite und zu der Einsicht kam, daß ihre ersten Aufgaben in dem Gebiet der descriptiven Empfindungslehre zu suchen sind. Dies ist auch das Bereich, in dem sich die gegenwärtige Forschung vornehmlich bewegt.
Ist nun – so wird man fragen – damit schon gesagt, daß die gegenwärtige Psychologie eine experimentelle sein müsse?
Bedarf es denn zur bloßen analytischen Beschreibung auch schon des Experimentes? Genügt hier nicht die bloße Selbstbeobachtung? Hier liegt nun schon ein Fehler in der Fragestellung. Experiment und Beobachtung sind ja keine Gegensätze; vielmehr verhält sich das erstere zur letzteren wie die Art zur Gattung. Wer experimentirt, beobachtet doch auch, nur beobachtet er die Escheinung nicht so, wie sie sich unabhängig von seinem Einfluß vollzieht, sondern er führt sie herbei willkürlich und planmäßig. – Wird nun ein Forscher, seine Disciplin führe den Namen einer descriptiven oder nicht, ich frage: wird ein Forscher, wenn er die Macht über die Erzeugung und Aenderung seines Forschungsmateriales hat, so unklug sein, diese Macht nicht zu benützen? Experimentirt der Anatom, den man immer als den Typus des descriptiven Forschers hinstellt, etwa nicht, wenn er ein Gewebe den Einwirkungen einer Flüssigkeit aussetzt, um bestimmte Theile desselben, etwa die Markscheiden der vorhandenen Nerven, zu färben und so der descriptiven Untersuchung zugänglicher zu machen? Oder darf man es kein Experiment nennen, wenn derselbe Anatom den Verlauf einer sensiblen Nervenbahn dadurch studirt, daß er das empfindende Endorgan zerstört und zusieht, welche Bahnen secundaer degeneriren?
Ich denke, wenn hier das Experiment die größten Dienste für die Beschreibung leistet, so wird dies wohl auch in der Psychologie der Fall sein. In der That, schon derjenige, welcher sich bloß die Aufgabe stellt die Empfindungen einer bestimmten Sinnesgattung erschöpfend aufzuzählen, bedarf des Experimentes, weil er dieselben willkürlich und mit planmäßiger Aenderung der entsprechenden Reize erzeugen muß. Niemand würde es ja für ein wissenschaftliches Vorgehen halten, wenn Einer, um das System der Geschmacksempfindungen darzustellen, sich bloß auf die culinarischen Erfahrungen stützen würde, die er beim Mittag- oder Abendmahl macht.
Ist nun schon bei so einfachen Aufgaben das Experiment unentbehrlich, so gilt das in noch höherem Maße, wenn es sich darum handelt in einem bekannten System von Empfindungen die einfachen von den zusammengesetzten zu unterscheiden und so zur Kenntnis der Elementarempfindungen zu gelangen. Namentlich wenn die Zusammensetzung eine sehr hohe ist (wie etwa bei den Geruchsempfindungen) wird es besonderer Vorkehrungen bedürfen, um die Elemente aus der Mischung herauszufinden. Man wird z.B. die Erregbarkeit des Organs für eine bestimmte Qualitaet, die man in einer Mischung vermutet, abnorm steigern oder abnorm herabsetzen, um zu sehen, ob dadurch die Mischempfindung geändert wird. Hering hat dieses Mittel auf die Gesichtsempfindungen, [Hendrik] Zwaardemaker auf die Geruchsempfindungen angewendet.
Auch um das System der scheinbaren Orte innerhalb einer Sinnesgattung festzustellen bedarf man künstlicher Bedingungen, die nur das Experiment schaffen kann. Hier sei beispielshalber auf folgenden Umstand aufmerksam gemacht: An eine Empfindung kann sich unter Umständen ein Ortsdatum associiren, welches gar nicht im Reiz begründet ist, sondern in Folge früherer Erfahrungen associativ beigesellt wird, wie dies z.B. bei denjenigen Entfernungsunterschieden der Fall ist, welche durch die Perspective oder die Schattenvertheilung scheinbar gesehen, thatsächlich aber nur associirt werden.
Hier müssen, wenn man das primitive Sinnesfeld studiren will, künstliche Umstände geschaffen werden, welche alle derartigen Associationen ausschließen. Die physiolog. Optiker wissen sehr gut, welche Schwierigkeiten mit dieser Aufgabe verbunden sind, und wenn irgendwo, so sieht man gerade auf diesem Gebiete, daß, um das Beobachtungsmateriale möglichst einfach zu gestalten, gerade die complicirtesten Vorkehrungen in Betreff der Versuchsumstände erforderlich sind. Man täuscht sich sehr, wenn man glaubt, die einfachsten Beobachtungsverhältnisse seien diejenigen, welche man mit den Mitteln des Alltagslebens herstellen kann. Die Verhältnisse des Alltagslebens sind immer complicirt und erst die Kunst des Experimentators muß sie vereinfachen. Die Beispiele mögen genügen um zu zeigen, welch‘ wichtige Function dem Experimente auch in Sachen der bloßen Beschreibung zukommt. In Betreff der genetischen Fragen ist die Unentbehrlichkeit des Experimentes von vornherein einleuchtend und darum jedes weitere Wort überflüssig.
In aller Kürze möchte ich noch die Frage nach den Grenzen der experimentellen Methode berühren, zumal ihre Leistungsfähigkeit, wie das bei neuen Methoden schon so zu sein pflegt, heutzutage stark überschätzt und (in Reaction darauf) von ihren Gegnern ungebührlich unterschätzt wird.
Die Grenzen des Experimentirens überhaupt müssen dort gelegen sein, wo der Forscher auf die Bedingungen einer Erscheinung nicht mehr Einfluß nehmen kann, sei es, daß ihn die Technik im Stiche läßt, sei es, weil er nicht weiß, auf welchem Gebiete die Bedingungen, in die er eingreifen möchte, etwa gelegen sein mögen.
Dieses letztere Moment kommt vor Allem bei der Psychologie in Betracht. Es giebt hier eine große Menge von Phaenomenen, von denen wir auch nicht annähernd wissen, in welchem Gebiete etwa ihre Entstehungsbedingungen gelegen sein mögen.
Denken Sie beispielsweise an die intellectuellen Functionen, also an das Urtheilen, Folgern, Schließen und Beweisen. Warum verwertet der eine Mensch eine Reihe gleichartiger Erfahrungen so, daß sich ihm daraus ein allgemeines Gesetz ergiebt, während der Andere mit den gleichen Voraussetzungen schlechterdings nichts zu machen weiß und, wie wir sagen, aus der Erfahrung nichts zu lernen versteht? Warum zieht der Eine aus gegebenen Praemissen einen Schluß, während der Andere in alle Ewigkeit nicht über die Praemissen hinauskommt? Warum ist der Eine im Stande die Unterschiede zwischen zwei ähnlichen Begriffen sofort herauszufinden, während sie der andere übersieht und darum Fehlschlüsse macht? Auf Fragen dieser Art wissen wir schlechterdings keine Antwort. Aehnliches gilt auf dem Gebiete des Fühlens und Wollens. Warum erweckt dasselbe Erlebnis in einem Individuum Freude oder Aerger oder Hoffnung, Reue, Zorn u. dergl., während ihm das andere gleichgiltig gegenübersteht? Wer vermöchte ferner die Beweggründe zu einem Willensentschluss so genau zu bestimmen, wie er die Bedingungen eines einfachen physikal. Experimentes bestimmen kann, so daß sich der Willensact mit eben derselben Sicherheit voraussagen ließe, mit der wir voraussagen können, daß ein geworfener Stein zur Erde fallen wird?
Wir können hier freilich von Dispositionen, Temperamenten oder Charaktereigenschaften reden; aber das sind Worte und keine Erklärungen. Wenn wir also gar nicht ahnen können, auf welchem Gebiete etwa die Bedingungen der intellectiven und emotionellen Phaenomene liegen, so können wir sie auch nicht planmäßig ändern, wir stehen ihnen anders gegenüber als den einfacheren Phaenomenen des Vorstellungslebens: nicht als Experimentirende sondern als passive Beobachter.
Hier können höchstens die pathologischen Vorkommnisse einiges Licht verbreiten, die Fälle, in welchen gewissermaßen die Natur für uns experimentirt.
Die experimentellen Methoden scheinen somit (wenigstens einstweilen) auf das Gebiet der Vorstellungen beschränkt. Auf den übrigen Gebieten werden sich die althergebrachten Methoden wohl noch für lange Zeit behaupten.
Ich kann diese Erörterungen nicht abschließen, ohne eine praktische Frage zu berühren, die heute vielfach erörtert wird, wenn ich ihr auch die übliche Bedeutung nicht beizumessen vermag.
Die Frage lautet kurz so: sollen die Psychologen überhaupt experimentelle Forschung betreiben oder sollen sie diesen Theil ihres Gebiets nicht besser den Physiologen, als den hiezu berufeneren Arbeitern überlassen? Auch darüber erlauben Sie mir ein klärendes Wort. Wahr ist, daß zu einem soliden Betrieb experimentalpsychologischer Forschung eine gründliche und schulmäßige Vorbildung in den betreffenden anatomischen, physikalischen und physiologischen Disciplinen unbedingt und unumgänglich erforderlich ist. Das kann heute nicht genug betont werden. Wer in die Bedingungen einer psycholog. Erscheinung ändernd eingreift, muß wissen, was er ändert: er muß das Versuchsfeld anatomisch beherrschen, er muß die Wirkungen seines Eingriffes physikalisch beurtheilen können und er muß den Proceß, der zwischen der physikalischen Aenderung und der schließlichen psychischen Wirkung liegt, so weit kennen, als es der augenblickliche Zustand der Physiologie überhaupt zuläßt. Sonst entsteht jener halbnaturwissenschaftliche Dilletantismus, welcher selbst unfähig zu einer ersprießlichen Leistung nur geeignet ist, die ganze Richtung zu compromittiren. Es ist zu bedauern, daß nur ein kleiner Theil der Psychologen diesen Anforderungen wirklich genügt, während die Mehrzahl noch der Ansicht huldigt, zu einer experimen. psycholog. Untersuchung gehöre nur ein Psychologe und ein Apparat.
Aber auch die Physiologen sind durch ihr Fach allein für derartige Untersuchungen nicht hinlänglich vorbereitet. Wenn sie einerseits vor der Begehung von Versuchsfehlern ohne Zweifel mehr bewahrt sind als Andere, so sind sie doch andererseits den Gefahren einer falschen Auslegung der Versuchsergebnisse, ja schon einer falschen Fragestellung in weit höherem Maße ausgesetzt als die Psychologen von Fach.
Das Resultat eines Versuchs richtig beurtheilen, dazu giebt uns die Physiologie kein Hilfsmittel, das ist eine Sache der descriptiven Psychologie, verlangt also nicht nur die Uebung des Analytikers sondern auch die Kenntnis der wichtigsten Klassen der psychisch. Phaenomene und ihrer Kriterien. Denn jede Beschreibung besteht aus Subsumptionen unter bestehende Classenbegriffe. Unter den Sinnesphysiologen sind es ebenfalls nur wenige, welche der Bedingung einer hinreichenden psycholog. Vorbildung wirklich entsprechen, während die Mehrzahl mit einer ad hoc zurechtgelegten Psychologie, einer Art Psychologie für den Hausgebrauch, auszukommen meint. Bei der experimentellen Psychologie handelt es sich also um ein Grenzgebiet, das keiner der beiden Nachbarn bebauen kann, ohne bei dem anderen eine ausgiebige Anleihe an Werkzeugen zu machen. Da mithin Keiner in einer besseren Lage ist als der andere, werden wir den müßigen Zunftstreit bei Seite lassen und lieber dafür sorgen, daß jenes große und vielversprechende Gebiet überhaupt cultivirt werde.
Vielleicht tragen die heutigen Erörterungen ein Weniges dazu bei, zur Theilnahme an der gemeinsamen Arbeit anzuregen. Sie wird mühevoll sein und nicht gekrönt durch die blendenden Erfolge eines geistreichen Systems; aber der berufene Forscher findet sich reichlich belohnt durch jedes Korn von Wahrheit, in ehrlicher Arbeit erworben.
We see the modern psychologist rather in the laboratory than in the study room1 – The alley experiments by Franz Hillebrand (1863-1926)
Pierre Sachse*, Ursula Beermann**, Peter Goller***, Stefan E. Huber*/****, Marco R. Furtner*****, Thomas Maran******, Robert Marhenke*, Hisaaki Tabuchi*, Alexandra Hoffmann*, Christian Büsel* & Markus Martini*
* Leopold-Franzens-University of Innsbruck, Department of Psychology
** UMIT – Private University for Health Sciences, Medical Informatics and Technology, Hall i.T.
*** Leopold-Franzens-University of Innsbruck, Archives
**** Leopold-Franzens-University of Innsbruck, Department of Basic Sciences in Engineering Sciences
***** University of Liechtenstein, Institute of Entrepreneurship, Vaduz
****** Leadershipwerk, Vaduz, Liechtenstein
1 UAI Nachlass Franz Hillebrand, inaugural lecture on October 19, 1896, „Experimental Psychology, its formation and its tasks“ (orig. „Die experimentelle Psychologie, ihre Entstehung und ihre Aufgaben“).
2021 – innsbruck university press, Innsbruck
Journal Psychologie des Alltagshandelns / Psychology of Everyday Activity, Vol. 14 / No. 1, ISSN 1998-9970
The experimental psychologist Franz Hillebrand (1863-1926), who had been trained by Ewald Hering and Ernst Mach, worked in Innsbruck for three decades. His scientific research during this time focused on experimental investigations of spatial perception. His pioneering „alley experiments“ initiated the clarification of the important question of the geomet- rical structure of visual space. His study results suggest that visual space is inhomogeneous with respect to its geometry, which he assumes to be locally Euclidean or hyperbolic. Initiated by Hillebrand’s experiments, research received crucial and internationally visible input in a variety of fields such as spatial perception, the geometry of visual-spatial orientation, size constancy, as well as in the development of mathematical models and theories such as in the area of perception psy- chology. Additionally to the history and the results of the above-mentioned studies, the life and work of the pioneer of this research, Franz Hillebrand, will be introduced.
Keywords: Visual space perception – geometry of visual space – non-euclidean space perception – alley experiments – Franz Hillebrand
Franz Hillebrand. Ausgewählte Schriften zur Wahrnehmungspsychologie und Erkenntnistheorie (1889-1926). Eingeleitet und herausgegeben von Pierre Sachse und Peter Goller
Das Buch ist als Druckwerk und als pdf in der digitalen Bibliothek der Univeristät Innsbruck erhältlich bzw. verfügbar.