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Sandler Willibald: Der verbotene Baum im Paradies
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Der verbotene Baum im Paradies
(Was es mit dem Sündenfall auf sich hat)

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Wenn Gott dem Menschen alles geben wollte – warum hat er ihm dann den Baum der Erkenntnis vorenthalten? Hat Gott den Menschen gar in eine Falle locken wollen? Oder gibt es doch etwas, was Gott dem Menschen gar nicht geben kann? Alles Sein, das der Mensch besitzt, verdankt er Gott, dem Schöpfer. Wenn er sich über diese Verdanktheit erhebt, wird er erkennen, dass er nackt und nichtig ist. Verzweifelt wird er sich hinter Masken und Kulissen verstecken, die ihn fortan vom Paradies trennen. So entwickelt sich eine regelrechte „Kultur der Feigenblätter“. Doch wie lässt sich Gott wieder finden, wenn er einmal verloren ist?
Publiziert in:W. Sandler, Der verbotene Baum im Paradies. Was es mit dem Sündenfall auf sich hat. Kevelaer: Topos Taschenbuch 2009.
Datum:2009-05-29

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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DIESER TEXT IST ALS BUCH IM BUCHHANDEL ERHÄLTLICH!

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um 11,90 Eur[D]; 12,30 [Ö]
(Topos plus) ISBN: 978-3-8367-0689-6
Paperback, 208 S.

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Vorwort

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Warum setzte Gott einen verbotenen Baum ins Paradies? Wollte er den Menschen in eine Falle locken? Dann wäre Gott Schuld am Sündenfall.

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Ein Volksschüler bringt diesen Einwand und muss dafür fünfhundert Mal schreiben „Ich darf nicht Gott lästern." So erzählt Isabel Allende in einem ihrer Romane.1 Der Vorfall ist zwar erfunden, aber gut erfunden. Für den kleinen Gregory Reeves markiert er die Abwendung von der absonderlichen Religiosität seines Vaters - einem Wanderprediger - und den Entschluss, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Damit ist Gregory der typische moderne Mensch.

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Muss man sich denn nicht lossagen von einem Gott, der uns mit Willkürverboten gängelt? Ist denn die absurde Bestrafung Gregorys durch seinen Religionslehrer etwas anderes als die kirchliche Vollstreckung eines Willkür-Denkverbots, das schon Gott selber den ersten Menschen auferlegte?

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„Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen, denn sobald du davon isst, wirst du sterben." (Gen 2,17)

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Menschen aus vielen Jahrhunderten verdächtigten den Gott der Sündenfallgeschichte als einen launischen Tyrannen: in der neueren pädagogischen Literatur (Alice Miller), im Denken der Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert und in gnostischen Texten zur Zeit des frühen Christentums. Doch die erste, die diesen Verdacht aussprach, war die Schlange im Paradies.

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„Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf, ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse." (Gen 3,5)

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Ist Gott also ein neidischer Gott, der verhindern will, dass der Mensch sich zu seiner eigenen Größe erhebt? Ist das der Grund für das Verbot im Paradies? Von einem solchen Gott muss der Mensch sich emanzipieren, um er selber zu sein, autonom und mit eigener Verantwortung. - So sah es die Schlange. Und die Gnosis2, die Aufklärung, sowie die moderne Religionskritik geben der Schlange Recht.

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Solche Verdächtigungen untergraben die Geschichte der christlich geprägten Kulturen. Tief prägen sie auch unsere gegenwärtige Welt. Sie durchwehen die religiöse Praxis selbst überzeugter Christen mit einem Gifthauch von Peinlichkeit. Als ob Frömmigkeit zwangsläufig Resignation und Regression bedeutete: „Da kann man nur noch beten." Das klingt wie: „Der Papa wird's schon richten".

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Offen werden solche Vorbehalte nur selten diskutiert. Die Theologie befasst sich gewöhnlich nicht damit. Erscheint doch die Frage, warum Gott einen verbotenen Baum ins Paradies gestellt hat, als naiv. Wer glaubt denn heute noch, dass es ein buchstäbliches Paradies gegeben hat? Also gab es auch keinen buchstäblichen verbotenen Baum. Hier handelt es sich doch um Bilder!

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Aber eben: In Bildern artikuliert die Sündenfallgeschichte ein tiefes Zerwürfnis zwischen Gottvertrauen und Eigenverantwortlichkeit, zwischen Theonomie und Autonomie. Sie erzählt, worin dieses Zerwürfnis gründet, das nach späterer christlicher Auffassung universal ist: als Erbsünde. Ein Zerwürfnis zwischen Gott und Mensch, das so alldurchdringend ist, dass selbst die Geschichte, die es beschreibt, von ihm verseucht scheint.

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Die Gottesfrage ist heute so aktuell wie eh und je. Wo das Wort Gott seine Bedeutung verloren hat, ist doch die damit angesprochene „Sache" nicht verschwunden. Auch anonym - ohne dass es eine Sprache dafür gäbe - treibt der Verdacht gegen Gott weiter sein Unwesen. In Gestalt eines Urmisstrauens verdirbt er unser Verhältnis zu Mitmenschen, zu unserer Lebenswelt, zu uns selber und verstrickt uns in jene Probleme, mit denen wir uns täglich herumschlagen:

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  • vom Familienstreit über das Mobbing in Schule und Beruf bis zu den Kriegen in der Welt;
  • von privaten haushaltssorgen bis zur Klimakatastrophe;
  • von persönlichen Identitätsproblemen bis zu den Identitätskrisen von Staaten und der globalisierten Weltgesellschaft.
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Damit wird die Sündenfallgeschichte brennend aktuell: Als Geschichte vom verlorenen Gott ist sie zugleich die Geschichte vom verlorenen Nächsten, von der verlorenen Welt, vom verlorenen Selbst. Und so sagt es die Bibel auch, wenn sie die Folgen des Sündenfalls beschreibt: Verdorben ist infolge des Gottesverlustes das Verhältnis der Menschen zueinander, wenn die Frau nach dem Mann verlangt, der Mann aber über die Frau herrscht (Gen 3,16). Verdorben ist das Verhältnis zur Welt, wenn der Ackerboden verflucht ist und der Mensch im Schweiße seines Angesichts sein Brot essen muss (Gen 3,17-19). Verdorben ist sein Verhältnis zum Dasein, wenn er den Tod fürchten muss (Gen 3,19). Und verdorben ist sein Selbstverhältnis, wenn er sich seiner Nacktheit schämt und sie ängstlich zudeckt (Gen 3,7).

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Dieses Buch ist nicht am Schreibtisch entstanden; es ist über Jahre in Vorträgen und Gesprächen gewachsen. Viel verdankt es dem aufmerksamen Hinhören und kritischen Nachfragen von Studierenden und TeilnehmerInnen der Erwachsenenbildung, vor allem aus den Wiener Theologischen Fernkursen. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Danken möchte ich auch Simone Paganini für fachkundige Hinweise aus der Kompetenz des Alttestamentlers, sowie Maximilian Paulin, der sich als Lektor überdurchschnittlich für die Verbesserung des Manuskripts engagiert hat.

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1. IST GOTT SCHULD AM SÜNDENFALL?

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Gott - ein schwarzer Pädagoge?

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Ist nicht Gott selber letztverantwortlich für den Sündenfall? Er setzte doch den verbotenen Baum in die Mitte des Paradieses! Hat er die Menschen damit nicht in eine Falle gelockt? Erst schuf er sie als kreative und neugierige Wesen (Gen 1,28; 2,19f), um dann mit einem willkürlichen Baumverbot ihre Neugierde anzustacheln!

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In diese Richtung zielt die wütende Kritik von Alice Miller, einer streitbaren Pädagogin und Schriftstellerin:

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„Warum hat Gott den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse mitten in den Garten Eden gepflanzt, wenn er nicht wollte, dass die beiden von ihm geschaffenen Menschen dessen Früchte aßen? Warum hat er seine Geschöpfe in Versuchung geführt? Warum hat er das nötig, wenn er doch der allmächtige Gott ist, der die Welt erschaffen hat? Warum hat er es nötig, die beiden Menschen zum Gehorsam zu zwingen, wenn er der Allwissende ist? Wusste er nicht, dass er mit dem Menschen ein Wesen ins Leben rief, das neugierig ist, und dass er es gezwungen hat, seiner Natur untreu zu werden?"3

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Alice Miller bemerkt, dass sie sich diese Fragen schon als Kind gestellt hat. Eine befriedigende theologische Antwort habe sie zeitlebens nicht erhalten. Sie kam zu dem Schluss, dass die Bibel von Männern geschrieben worden war, die eine gewalttätige Erziehung - schwarze Pädagogik - erlitten hatten und sich deshalb Gott nur als gewalttätig vorstellen konnten.

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„Ihr Gott dachte sich ein grausames Szenario aus, schenkte Adam und Eva den Baum der Erkenntnis, verbot ihnen aber ausgerechnet dessen Früchte zu essen, das heißt zu wissenden und autonomen Menschen aufzuwachsen. Er wollte sie ganz von sich abhängig machen. Ein solches Vorgehen eines Vaters bezeichne ich als sadistisch, weil es die Freude am Quälen des Kindes enthält. Das Kind dann auch noch für die Folgen des väterlichen Sadismus zu bestrafen, hat nichts mit Liebe, sondern eher mit der Schwarzen Pädagogik zu tun. Aber so haben die Bibeldichter unbewusst ihre angeblich liebenden Väter gesehen."4

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Gott ein Sadist und schwarzer Pädagoge? Der Angriff könnte irritieren. Kann man denn so mit der Bibel umgehen? Aber selbst wenn man solche Bibelkritik als absurd und blasphemisch empfindet: Wir müssen zugestehen, dass sie keiner Boshaftigkeit, sondern einer ernsten Irritation entsprungen ist. Deshalb müssen wir uns offen auf die Unterstellungen einlassen. Tabuisierte Kritik wirkt unterschwellig weiter und vergiftet das Gottesverhältnis. Sie hinterlässt den Verdacht, dass Gott es vielleicht doch nicht so gut mit uns Menschen meint; dass ich meine Freiheit verliere und vielleicht meinen Verstand, wenn ich mich rückhaltlos auf Gott einlasse.

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Versuchen wir also, der Kritik von Alice Miller auf den Grund zu gehen. Stellen wir uns dazu einen Vater vor und ein kleines Kind. Gewiss findet es unsere Zustimmung, dass der Vater das Kind nicht in eine Gehschule einsperrt, sondern ihm die Möglichkeit gibt, seiner Neugier zu folgen, indem es seine kleine Welt erkundet. Ähnlich hat auch Gott laut zweitem Schöpfungsbericht den Menschen in einen Garten gesetzt, in dem er sich frei bewegen konnte und auf dessen Bäume er freien Zugriff hatte. - Was würden wir nun dazu sagen, wenn besagter Vater in der Mitte des Spielzimmers einen gefährlichen Gegenstand platziert, wenn er ihn dem ahnungslosen Kind mit wilden Drohungen verbietet und das Kind dann mit seiner Neugierde allein lässt? Wir würden einen solchen Vater als unverantwortlich und boshaft verurteilen. Wir würden uns fragen, was er sich denn dabei gedacht hat, und der Verdacht würde sich in uns regen, der Vater wollte mit seiner Aktion jede Autonomie seines Kindes im Keim ersticken. Erst lockt er ein autonomes Verhalten aus dem Kind heraus, um es dann umso effektiver zu frustrieren. Wenn das Kind sich am verbotenen Gegenstand gehörig die Finger verbrennt, wird es künftig nur mehr ängstlich Papa fragen, bevor es etwas Neues probiert.

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Die Schlange als Erlöserin von einem bösen Gott?

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Alice Millers Vorwürfe sind nicht neu. Schon im zweiten nachchristlichen Jahrhundert kommentierte der gnostische5 Text „Zeugnis der Wahrheit" die Sündenfallgeschichte in überaus kritischer Weise:

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„Was ist denn das für ein Gott? / Erst gönnte er Adam nicht, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Zweitens fragte er: ‚Adam, wo bist du?' Er hat es nicht von Anfang an gewusst! Gott hat also kein Vorauswissen. / Danach sagte er: ‚Wir wollen ihn aus diesem Ort hinauswerfen, sonst isst er vom Baum des Lebens und lebt für immer.' Damit hat er zweifellos gezeigt, dass er bösartig und neidisch ist."6

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Der unbekannte Verfasser des „Zeugnisses der Wahrheit" gibt also der Schlange des Paradieses Recht. Ja mehr noch, er sieht in ihr eine Vorgestalt des erlösenden Christus. Und mit dieser Auffassung steht er nicht allein; verschiedene gnostische Bewegungen stimmen darin mit ihm überein.7 Nicht der Teufel also, sondern Christus ist demnach in Gestalt der Schlange erschienen; und er ist erschienen, um die Menschen aus den Fängen eines gewalttätigen und neidischen Schöpfergottes zu befreien.

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Gott als moralische Ursache des Sündenfalls?

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Im 18. Jahrhundert nahm Hermann Samuel Reimarus, einer der Väter der philosophischen Aufklärung, die Kritik von Alice Miller in schärfster Weise vorweg. Hören wir uns Reimarus im Originalton an:

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„Gesetzt, ich weis [zum] voraus, daß Simplicius sich wird voll sauffen, und sich sowohl als seinen Nachkommen eine unheilbare Krankheit, die schwere Noht, zuziehen, wenn man ihm einen schönen Römer mit Wein vor Augen setzt, und einen schlauen Menschen dabey stellet, der ihn zum Trunke nöhtigen wird. Ich mache mein bestes Zimmer im hause zurecht: setze zwar hin und wieder allerley Eßwaren, auch Wasser, Bier, Thee, Caffee herum, in der Mitte aber setze ich einen grossen Römer auf dem Tische, dessen Wein mit seinem glüenden Glantze und erquickenden Geruche einen desto angenehmern Geschmack verspricht. Unter dem Tische liegt ein Anthal von demselben Weine, woraus mehr zu zapfen ist; ich gebe ihm den Namen Vin de joie. Nun lasse ich Simplicium zu mir bitten, führe ihn in dies Zimmer, und spreche: Hört, ich kann für eine Weile nicht bey euch seyn; wenn ihr aber unterdessen Appetit bekommt, so steht da allerley Essen und Trinken zur Erfrischung im Zimmer herum; aber nehmt euch in acht für den Vin de joie in der Mitte, daß ihr nicht davon trinket; denn wo ihr das thut, so werdet ihr euch eine unheilbare Krankheit zuziehen. Hierauf gehe ich weg; lasse aber Cacochartum alsobald hinein, ohne daß der da was zu schaffen hat. Ich weis es unterdessen wohl, daß der eine Freude daran zu haben pflegt, wenn er jemand zum Argen verleiten kann, und daß er dem Simplicio viel zu schlau ist. Dieser fängt ein freundschaftlich Gespräch mit Simplicio an, kommt endlich auf den Wein und nöhtiget ihn zum Trinken. Simplicius weigert sich, mit wiederholter Warnung des Wirts. Ey, sagt Cacochartus, merkt ihr denn nicht, daß der Wirt diesen Wein nur für sich allein behalten will? Riecht nur den Wein einmal, und seht wie er im Glase spielt: er heist nicht umsonst Vin de joie: wenn man den trinkt, so wird man so vergnügt als immer ein König seyn kann. Last uns heute lustig seyn; ich will den ersten Trunk thun, ihr sollt sehen, daß es mir nicht schadet. Mein Simplicius läst sich bereden, trinkt, kommt in den Geschmack, berauscht sich, daß er allen Verstand verliert, und kriegt die schwere Noht; da liegt er! Nun komme ich wieder dazu, wie Simplicius sich etwas wieder erholt, schmäle8 ich mit Cacocharto sowohl als Simplicio, daß sie beide ihr Unglück zur Strafe davon tragen würden. Endlich jage ich Simplicium aus dem Zimmer und hause, verschließe das Zimmer und stelle ein Paar Diener mit bloßen Degen davor, daß niemand weiter hineinkommen und von dem Wein trinken solle."9Und in Bezug auf den Engel mit dem Flammenschwert, der die Rückkehr in das Paradies verhindert (Gen 3,24), legt Reimarus noch eins drauf: „Würden die Cherubim mit ihren blitzenden Schwertern nicht bessere Dienste bey dem verbotenen Baum gethan haben?"10

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Dennoch verstand sich Reimarus nicht als Atheist. Er sah auch nicht die Bibel als ein verlogenes Buch an. Statt dessen kritisierte er die Theologen und Prediger, die die Paradieserzählung als historischen Bericht vom Sündenfall der Menschheit missverstanden hätten. Er sah sich als kritischen Bibelexegeten, und als solcher ging er auch in die Geschichte ein. Aber er wusste um die Brisanz seiner Kritik und hat sie deshalb nie publiziert. Erst über seinen Nachlass gelangte sie an die Öffentlichkeit und löste ein Erdbeben aus.11

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Sündenfallgeschichte ohne Gott

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Damals entkamen Philosophen der Schärfe solcher Kritik durch das Kunststück, dass sie die Paradiesgeschichte nacherzählten, ohne dass Gott darin vorkam. So hielt es Immanuel Kant in seiner Schrift über den mutmaßlichen Ursprung der Menschengeschichte (1786):12 Im Unterschied zu den Tieren gingen die Menschen über ihren Naturtrieb hinaus. Neugierig griffen sie nach Nahrungsmitteln, die ihnen nicht bekömmlich waren. Sie verdeckten ihre Blößen durch Feigenblätter und stimulierten so ihren sexuellen Trieb durch Phantasien. Sie sorgten sich um Zukünftiges und verfielen so in Unruhe und Ängste. Und sie begannen, sich selbst als alleinigen Zweck der Welt zu begreifen und die Welt zu ihrem Vorteil auszubeuten. So vertrieb der Mensch sich selbst aus dem Paradies, wo er in ruhiger Untätigkeit nur seine unmittelbarsten Bedürfnisse zu stillen brauchte. Vieles Problematische entstand auf diese Weise - Begierden, Laster und mancherlei Not -, aber auch das überaus Gute, dass die Menschen begannen, die in sie gelegten Fähigkeiten zu entfalten und ihren Weg eigenverantwortlich zu gehen. „Sapere aude - hab Mut, dich deiner Vernunft zu bedienen." Kant erhob diesen Wahlspruch zum Programm13 und begründete damit die Epoche einer religionskritisch ausgerichteten Aufklärung.14

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Dieses Leitprinzip hatte eine ungeheure Wirkungsgeschichte und prägt bis heute unser Bildungsverständnis an Schulen, Universitäten und in den „gehobenen" Bereichen von Presse und Medien. Autonomie - im Sinne einer moralischen Selbstbestimmung - ist das zentrale Schlagwort.

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An sich ist Autonomie auch für die Bibel und das Christentum ein positiver Wert: Nach der biblischen Schöpfungsgeschichte hat Gott den Menschen nicht zu einer Marionette gemacht, sondern ihn daraufhin geschaffen, eigenverantwortlich seine Welt zu gestalten. Dem entspricht es, wenn das Zweite Vatikanische Konzil für Gewissensfreiheit eintritt und das Wort Autonomie in positiver Weise verwendet.15

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Dass die Vordenker der Aufklärung die menschliche Autonomie in die Mitte stellten, war deshalb nicht problematisch. Gefährlich irreführend war aber, dass sie dieses Ideal in einen Gegensatz zu Gott stellten. Und es ist beklemmend, festzustellen, dass die sonst so unabhängigen Denker diesen Irrtum einfach von protestantischen und katholischen Theologen übernommen hatten. Wie diese waren sie von einem Gegensatz zwischen Gott und Autonomie überzeugt, - nur dass sie angesichts dieses vermeintlichen Gegensatzes sich auf die Seite der menschlichen Autonomie stellten.

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Auch wenn sie - wie Kant in seiner Schrift zum Ursprung der Menschengeschichte - versuchten, Gott aus dem Spiel zu lassen, verkehrten sie doch den Sinn der Sündenfallgeschichte in ihr Gegenteil. Der Griff nach der verbotenen Frucht markierte für sie den Übergang von einer tierhaften Natur zur vernünftigen Freiheit; er wurde zum Symbol für das Erwachsenwerden der Menschheit. Was viele damals dachten, formulierte Friedrich Schiller voller Überschwang:

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„Dieser Abfall des Menschen vom Instinkte, der das moralische Übel zwar in die Schöpfung brachte, aber nur um das moralische Gute darin möglich zu machen, ist ohne Widerspruch die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte, von diesem Augenblick her schreibt sich seine Freiheit, hier wurde zu seiner Moralität der erste entfernte Grundstein geleget."16

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So verstand die philosophische Aufklärung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts die Sündenfallgeschichte als eine Geschichte der Emanzipation: Die Bibel würde erzählen, wie die Menschenkinder erwachsen und damit erst im Vollsinn zu Menschen wurden; und wie sie den Mut aufbrachten, sich aus ihrer anfänglichen Unmündigkeit und Fremdbestimmung zu lösen. Die Menschen ließen sich nicht mehr bestimmen von gott- oder naturgegebenen Geboten und Verboten, sondern machten sich bereit, selber zu entdecken und zu bestimmen, was gut und was böse ist. Autonomie, die eigenmächtige Erkenntnis „auf" Gut und Böse, - diese Frucht vom Baum der Erkenntnis durfte den Menschen nicht vorenthalten bleiben.

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Protest gegen den Gott der Sündenfallgeschichte

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Was musste all das bedeuten, wenn man Gott nicht mehr - wie es Kant tat - vornehm aus der Sündenfallgeschichte heraushielt? Dann konnte Gott nur noch als zweifelhafter Despot erscheinen, der missgünstig den Menschen das vorenthielt, was für sie doch entscheidend war. Einige Jahrzehnte nach Kant zog Heinrich Heine diesen Schluss in einem bösen Gedicht:

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Du schicktest mit dem Flammenschwert
Den himmlischen Gendarmen
Und jagtest mich aus dem Paradies,
Ganz ohne Recht und Erbarmen!

Ich ziehe fort mit meiner Frau
Nach and'ren Erdenländern;
Doch daß ich genossen des Wissens Frucht,
Das kannst du nicht mehr ändern.

Du kannst nicht ändern, daß ich weiß,
Wie sehr du klein und nichtig,
Und machst du dich auch noch so sehr
Durch Tod und Donnern wichtig. [...]

Vermissen werde ich nimmermehr
Die paradiesischen Räume;
Das war kein wahres Paradies -
Es gab dort verbotene Bäume.

Ich will mein volles Freiheitsrecht!
Find' ich die g'ringste Beschränknis,
Verwandelt sich mir das Paradies
In Hölle und Gefängnis.17

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Von hier ist es kein weiter Schritt zum radikalen Atheismus eines Friedrich Nietzsche, für den das Wie-Gott-Sein - das die Schlange mit dem Genuss der verbotenen Frucht versprach - nur gegen Gott verwirklicht werden kann: „Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich's aus, kein Gott zu sein!"18

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Immerhin gebührt Heine und Nietzsche das Verdienst, dass sie ein Problem auf den Punkt brachten, welches schon lange bestand, aber verschleiert geblieben war. Auch wir leben in einer Zeit der Verschleierung. Der atheistische Pathos eines Nietzsche ist nicht mehr angesagt, aber das Gift eines tief wurzelnden Misstrauens gegen Gott - jenes Gift der Paradiesschlange19 - wirkt dennoch weiter. Es führt nicht nur dazu, dass aufgeklärte Menschen den christlichen Glauben als Zumutung empfinden, es lähmt auch die Lebenskraft der Christen und bewirkt so, was ausgerechnet Nietzsche an ihnen bekrittelte: „Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten mir seine Jünger aussehen!"20

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Statt aus der tieferen Kraft des Glaubens die größere Kraft zum eigenverantwortlichen Weltengagement zu schöpfen, beschränken sich viele Christen auf einen faulen Kompromiss: nicht zu fromm, um nicht als weltfremde Spinner abgestempelt zu werden; und nicht zu engagiert in der Welt, damit die Frömmigkeit nicht zu kurz kommt. Welt und Glaube klaffen hier auseinander: Religiosität erscheint als unproblematisch, wenn man sie auf heilige Zeiten und private Orte beschränkt. Außerhalb wird̓s schnell peinlich, wie beim Kreuzzeichen im Restaurant oder beim Gebet, das ein Christ abseits kirchlicher Orte und Anlässe zu stammeln versucht.

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Diese Schizophrenie ist eigentlich unverständlich, wenn der Mensch wirklich als Gottes Ebenbild geschaffen ist, und wenn folglich „Gottes Ehre der lebendige Mensch", und „Gott des Menschen Ehre" ist, wie der Kirchenvater Irenäus gesagt hat.21 Die Verlegenheit gegenüber allem Frommen ist aber logisch für eine Welt, in der Selbstbestimmung und Gottbezogenheit, Autonomie und Theonomie, in einen unversöhnlichen Gegensatz geraten sind. Dann kann Beten nichts anderes mehr bedeuten als die Regression auf eine Stufe früher Kindheit, als man noch den Papi bat, er soll̓s richten, anstatt selber die Ärmel hochzukrempeln. Nur wenn wirklich nichts mehr geht, wird die Hinwendung zu Gott toleriert: „Da kann man nur noch beten". Beten steht hier für Resignation und Regression.

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Wir haben gesehen, wie sich an der Sündenfallgeschichte eine unversöhnliche Entgegensetzung zwischen Gottvertrauen und menschlicher Autonomie entzündet. Kann man die Sündenfallgeschichte auch anders verstehen? Dazu müsste man eine bessere Antwort parat haben auf die Frage, warum Gott einen verbotenen Baum ins Paradies gesetzt hat. Im vierten Kapitel werden wir diese Antwort ausarbeiten. Dafür müssen wir aber erst verstehen, wie die Bibel das Verhältnis von Gott und Mensch beschreibt. Wir müssen eine Vorstellung davon entwickeln, wie der Mensch in Gott gründet. Das wird im dritten Kapitel geschehen. Von daher können wir dann den Sündenfall als exemplarische Geschichte darüber begreifen, wie der Mensch Gott verliert. Als erstes müssen wir aber klären, wie wir die biblische Geschichte überhaupt verstehen sollen: Handelt es sich hier um einen historischen Bericht oder um ein bloßes Märchen, um einen Mythos oder um exemplarische Geschichte?

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2. NICHT NUR EIN MÄRCHEN: WIE MAN DIE PARADIESGESCHICHTE RICHTIG VERSTEHT

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Warum hat Gott einen verbotenen Baum ins Paradies gepflanzt? Wollte er den Menschen eine Falle stellen? Solche Fragen werden zwar bis in die Gegenwart gestellt. Aber sind sie nicht längst erledigt? Wer glaubt denn heute noch ernsthaft, am Anfang der Weltgeschichte habe es ein Paradies gegeben, und Böses, Unheil und Gewalt seien lediglich die Folgen der Ursünde zweier Menschen, genannt Adam und Eva? Außer bei einigen Bibelfundamentalisten bestehen doch wohl keine Zweifel mehr an einem evolutiven Weltbild, nach dem die Menschheit sich aus primitiveren Lebensformen heraus entwickelt hat; und auch für diese früheren Lebensformen waren der Wettkampf um Ressourcen und bessere Reproduktionsbedingungen gang und gäbe. Ein anfängliches Paradies voller Friede, Harmonie und Überfluss ist hier undenkbar.

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Gab es aber kein Paradies, dann auch keinen verbotenen Baum, keine verführerische Schlange und keinen Sündenfall. Warum also so viel Aufhebens - gar ein ganzes Buch - rund um einen bloßen Mythos, um ein Märchen?

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Der Mythos vom Sündenfall

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Allerdings verarbeiten Mythen Urerfahrungen des menschlichen Daseins, die eine bleibende Aktualität haben. Sie erzählen von Grundspannungen, die unserem Welt- und Selbstverständnis, unserer Moral zugrunde liegen und direkt nur schwer beschreibbar sind. Denn sie liegen unseren konkreten Weltbeschreibungen und Lösungsansätzen für unsere Weltprobleme immer schon bestimmend voraus.

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Für das Problemfeld Böses und Schuld besteht die Grunderfahrung, von der Mythen erzählen, in einer unauflösbaren Spannung zwischen menschlicher Verantwortung für das Böse und dem Umstand, dass das Böse nicht ausschließlich auf menschliche Verantwortung zurückgeht. Es gibt auch so etwas wie Verführung. Und es gibt eine Eigendynamik der Dinge, die bewirkt, dass wir in Verhängnisse hineingedrängt werden, die wir nicht beabsichtigten.22 Mit unserem Tun und Mühen sind wir eingespannt in diese Polarität von Eigenverantwortlichkeit für das Böse und einer schwer fassbaren Vorgegebenheit des Bösen. Ob und wie wir hier eine Balance finden, ist kaum ein Thema für unsere Humanwissenschaften, Ethiken und persönlichen Weltanschauungen. Vielmehr werden diese davon beeinflusst, wie man diese Grundspannung akzentuiert:

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  • Wer angesichts des Übels in der Welt die menschliche Verantwortung absolut setzt, lädt dem Menschen eine Last auf, die kaum tragbar ist. Fast zwangsläufig kommt es zu Entlastungsversuchen, zum Beispiel indem man die Hauptschuld auf bestimmte Menschen abwälzt, die man damit zu regelrechten Teufeln macht. Man kann mit einer begrenzten Schuld leben, solange andere die Hauptschuldigen sind. Das ist die moralistische Auflösung des Paradoxes vom Bösen; sie führt in die Anklage.
  • Wer hingegen einseitig die Vorgegebenheit des Bösen als Versuchung und Verführung betont, der hat damit die Frage nach der menschlichen Verantwortung insgesamt entschärft. Die Last fällt nun auf eine tragisch verstandene Welt, auf einen als ambivalent oder böse verstandenen Schöpfergott, oder auf Teufel und Dämonen, die die Macht des guten Gottes begrenzen. In jedem Fall wird die Menschheit als Ganze zum Opfer schicksalshafter Vorgegebenheiten. Das ist die defätistische Auflösung des Paradoxes vom Bösen; sie führt in die Resignation.
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Mythen legen also die Grundausrichtungen für unsere Sicht der Welt fest. Sie bedienen die Stellschrauben an unseren Weltanschauungen, an unseren Einstellungen zu den Grundspannungen des menschlichen Daseins. Und Mythen tun das, indem sie Anfangsgeschichten erzählen, - zum Beispiel zur Frage, wie das Böse in die Welt kam. Paul Ricoeur, der bedeutende französische Philosoph und Mythentheoretiker, unterschied hier mehrere Grundtypen von Mythen:23

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  1. Der Grundtyp des Schöpfungsdramas nimmt an, dass das Böse immer schon in der Welt ist. Es gründet in einem dramatischen Kampf zwischen feindlichen Urmächten. Heil wird verwirklicht, indem die Chaosmächte durch gute Götter zurückgedrängt werden.
  2. Mythen vom tragischen Grundtyp schreiben das Böse im Wesen des Menschen fest. Schon das Dasein selbst bedeutet Schuld. Heil kann damit nur jenseits dieser Welt (zum Beispiel nach dem leiblichen Tod) erreicht werden; in dieser Welt höchstens durch die Haltung einer geduldigen und mitleidvollen Selbstbescheidung.
  3. Für den typischen Mythos vom Sündenfall ist hingegen das Böse nicht ursprünglich. Durch einen „Fall", den verschiedene Mythen unterschiedlich beschreiben, kommt das Böse nachträglich in die Welt. Da sich der Sündenfall innerhalb der Geschichte vollzieht, ist auch Heil, als Überwindung dieses Falls, grundsätzlich innergeschichtlich möglich.
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Nach Ricoeur können Mythen meist nicht eindeutig einem dieser drei Typen zugeordnet werden. Die biblische Erzählung vom Fall ist zwar primär dem Typus „Sündenfall" zuzuordnen, verarbeitet aber auch Anteile der anderen beiden Typen. Aus philosophisch-ethischen (und nicht aus religiösen) Gründen misst Ricoeur dem Typus Sündenfall in seiner biblischen Form einen höheren Wert zu: Zwischen den Extremen von menschlicher Totalverantwortung und schicksalshafter Vorgegebenheit des Bösen findet er am ehesten eine Mitte, welche die menschliche Verantwortung für das Böse und seine Überwindung auf realistische Weise grundlegt.

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Mythen erklären also Wesentliches, indem sie Anfangsgeschichten erzählen. Und das Wesentliche, das Mythen erzählen, ist so fundamental, dass es anders nur schwer ausgedrückt werden kann. Mythologien sind also keine „Kindergeschichten"; sie sind keine nachträglichen Simplifizierungen für Menschen, die die wissenschaftliche Darstellung nicht kapieren. Mythen vermitteln über den Weg der Erzählung, was direkt nicht oder nur unscharf gesagt werden kann.

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Versteht man die Sündenfallgeschichte in dieser Weise als Mythos, dann kann man im Rahmen dieser Erzählung auf anschauliche Weise das schwierige Problem diskutieren, wo das Böse seinen Ursprung hat. Man kann fragen, warum Gott einen verbotenen Baum ins Paradies stellte. Indem man dieser Frage nachgeht, erforscht man die biblische Verhältnisbestimmung von Eigenverantwortung und Vorgegebenheit des Bösen.

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Wenn wir auf diese Weise die Frage nach dem Ursprung des Bösen diskutieren, dann bedeutet Ursprung keineswegs einen chronologisch-weltgeschichtlichen Anfang, der von einem evolutionistischen Weltbild her lächerlich gemacht werden könnte. Es geht nicht um die Frage, wo das Böse anfänglich oder urgeschichtlich herkommt, sondern worin es gründet. Zur Diskussion steht, auf welche Faktoren es zurückgeführt werden kann, wo immer es auftritt:

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  • auf die Verantwortlichkeit des Menschen? - wie durch die Übertretung Adams und Evas erzählerisch nahegelegt wird;
  • darauf, dass in der Welt von Anfang an „der Wurm drinnen ist"? - symbolisiert durch verbotenen Baum und Schlange;
  • darauf, dass Gott für den anfänglichen Wurm in der Welt verantwortlich ist? - nahegelegt durch die Frage, warum denn Gott einen verbotenen Baum und eine listige Schlange in das Paradies hineingeschaffen hat.
  • Wir werden uns mit diesen Alternativen später noch eingehender auseinandersetzen (S. 109ff). Zunächst aber wollen wir uns noch ein wenig bei der Grundfrage aufhalten, wie denn die Textform der Sündenfallerzählung zu verstehen ist und welche Aktualität ihre Aussagen folglich für unsere heutige Welt haben.
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Bis jetzt lautet unser Ergebnis: Wenn wir die Sündenfallerzählung als Mythos und nicht als historischen Bericht verstehen, dann entgehen wir dem Widerspruch zu heutigen naturwissenschaftlichen Weltbildern („Evolution"), und zugleich gewinnt der biblische Text eine hohe Aktualität. Er handelt von Fragen, wie wir sie auch heute noch stellen, wenn wir etwa fassungslos angesichts eines monströsen Verbrechens ausrufen: „Wie konnte jemand zu so etwas fähig sein?" - Mit Antworten wie „Dieser Mensch ist ein Teufel", oder „Hier zeigt sich wieder: der Mensch ist von Natur aus eine Bestie", oder mit der Frage „Warum hat Gott das nicht verhindert?" betreten wir jene Themenfelder, um die es der Sündenfallerzählung geht. Keineswegs werten wir sie damit zu einer erfundenen Geschichte ab. Wir schreiben ihr vielmehr einen anderen Typ von Wahrheit zu als den gegenständlichen Wissenschaften, - weniger greifbar, aber dennoch unverzichtbar. Denn es geht hier um Bereiche, wo wir ständig Urteile fällen und immer schon gefällt haben, meist ohne dass wir uns dessen bewusst sind, folglich mit einer unüberschaubaren Tragweite. Festgelegt wird durch solche Urteile, welche aus der Vielfalt der Weltanschauungen, Anthropologien, Ethiken oder Ideologien wir bevorzugen.

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Nicht nur Mythos, sondern exemplarische Geschichte

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Mythen sind Wesensgeschichten in der Form von Anfangsgeschichten. Mit dieser Formel wird die Eigenart der biblischen Urgeschichte häufig auf einen Punkt gebracht. Untermauert wird diese Erklärung oft mit dem Hinweis auf die Eigenart der hebräischen Sprache. Diese sei nicht dafür geeignet, allgemeine Wesensaussagen zu machen, so wie die altgriechische Sprache, die sich damit als Muttersprache der Philosophie empfahl. Wenn jemand in hebräischer Sprache ausdrücken wollte, dass er ein verdorbenes Wesen hat, dann sagte er wie David nach seiner Affäre mit Batseba: „In Sünde hat mich meine Mutter empfangen" (Ps 51,7). Und damit wollte er bestimmt keine Anfangsaussage darüber machen, was bei seiner Zeugung passierte, sondern eine Wesensaussage: Ich bin durch und durch sündig.

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An dieser Erklärung ist vieles richtig. Aber sie verführt auch dazu, die biblische Sprache zu „entgeschichtlichen" und damit ihre wesentlich geschichtliche Ausrichtung zu verfehlen. Man hat ja jetzt einen Schlüssel, mit dem man Anfangsgeschichten mühelos in immergültige, „existenziale" Wahrheiten übersetzen kann. Wenn die Bibel davon erzählt, wie Adam Gottes Gebot übertreten hat, dann können wir mit Hilfe dieses Schlüssel herauslesen, wie Adam - das heißt: der Mensch schlechthin - immer schon durch und durch von Gott entfremdet ist. Gewiss weiß die biblische Urgeschichte manches über den Zustand unserer Gottverlorenheit zu sagen. Aber wir wollen doch auch begreifen, wie es dazu kommt, dass der Mensch Gott verliert. Hat die Bibel dazu nichts zu sagen?

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Wenn wir das Alte Testament als Ganzes berücksichtigen, dann stellen wir fest, dass das Gegenteil der Fall ist. Immer wieder berichtet die Bibel von Israeliten und vom Volk Israel als Ganzem, dass sie sich aus eigener Schuld von Gott entfernten; und zwar nicht, weil es ihnen bei Gott an etwas gemangelt hätte. Unbegreiflicherweise fielen sie auch dann von Ihm24 ab, wenn sie in Seinem Angesicht Glück, Reichtum und Erfolg erfuhren. Warum? - Das war ein Rätsel, das die biblischen Schriftsteller beschäftigen musste. Es war kein bloß theoretisches Problem, sondern eine Frage, die über Untergang oder Weiterbestand des jüdischen Glaubens entschied. Wir können die Erzählung von Adams Fall als Versuch verstehen, dieses Rätsel „von Grund auf" zu lösen.

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Schauen wir uns einige Beispiele von diesen alttestamentlichen Sündenfallgeschichten an:25

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König David hatte mit seinen Erfolgen und seinem Reichtum Gottes Zuwendung erfahren wie kein Israelit vor ihm. Obwohl er in großer Frömmigkeit Gott anhing und es ihm dabei an nichts fehlte, brach er den Bund mit Gott, indem er sich an Batseba vergriff und ihren Mann auf hinterhältige Weise ermordete (vgl. 2 Sam 11f). Wie war so etwas möglich?

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  • Hatte David sein Verbrechen kaltblütig geplant? War seine Frömmigkeit also nur Fassade gewesen? An der Affäre mit Batseba hätte sich dann seine verborgene Bosheit verraten. Eine echte Reue, wie sie die Bibel berichtet, wäre dann allerdings nicht möglich gewesen.
  • Oder war ein dunkler Teil seiner Menschennatur mit David durchgegangen? Dann wäre er letztlich unschuldig; aber der Mensch insgesamt wäre aufgrund einer bösen Naturanlage zum Unheil verdammt.
  • Oder war jemand anders schuld? Hatte es vielleicht Batseba darauf angelegt, David mit aufreizender Nacktheit zu verführen? Für eine solche Deutung gibt die Davidsgeschichte keinen Anhaltspunkt. Als David vom Propheten Natan mit seiner Tat konfrontiert wird, macht er keine Anstalten, seine Schuld auf die Frau abzuwälzen, - im Gegensatz zu Adam in der Paradiesgeschichte (vgl. Gen 3,12).
  • Oder war es eine andere böse Macht - ein Dämon oder gar der Teufel -, die David zum Bösen verführte? Eine solche Annahme ist biblisch nicht zu begründen, auch wenn sie in einer anderen Davidserzählung anklingt, nämlich in der Geschichte von Davids unrechtmäßiger Volkszählung (vgl. 1 Chr 21).
  • Oder war es gar Gott selber, der David zum Bösen reizte, indem Er ihn in eine Situation trieb, in der seine Schwäche für Frauen ihn zu Fall brachte? Auch diese Annahme findet keinen Anhalt in der Batsebageschichte, wohl aber in einer anderen Erzählversion von Davids Volkszählung (vgl. 2 Sam 24).
  • Offensichtlich hat David das Böse nicht in seiner ganzen Tragweite beabsichtigt. Indem er versuchte, ein moralisches Vergehen - seinen Ehebruch mit Batseba - zu vertuschen, verstrickte er sich in die weit schlimmere Sünde eines hinterhältigen Mordes. So kann das geschehene Böse nicht restlos einem üblen Wollen Davids angelastet werden. Dennoch übernimmt David bedingungslos die Alleinverantwortung für seine Tat (vgl. Ps 51,6; 2 Sam 12,13). Und diese Haltung wird von Gott bestätigt, indem er die angekündigte Strafe mildert (vgl. 2 Sam 12,13f).
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Wie die Davids-Erzählung, so lässt auch die Geschichte über seinen Sohn Salomo Bestürzung darüber durchscheinen, dass ein König, dem Gott nichts an Gaben versagte - großzügiger noch als bei David -, dennoch von Gott abfällt: Salomo, der erste Erbauer eines Tempels für Jahwe, lässt in Jerusalem Götzentempel aufstellen und verfällt schließlich selber dem Götzendienst. Wie bei seinem Vater waren Frauen der Auslöser für den Sündenfall.

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„König Salomo liebte neben der Tochter des Pharao noch viele andere ausländische Frauen: Moabiterinnen, Ammoniterinnen, Edomiterinnen, Sidonierinnen, Hetiterinnen. Es waren Frauen aus den Völkern, von denen der Herr den Israeliten gesagt hatte: Ihr dürft nicht zu ihnen gehen, und sie dürfen nicht zu euch kommen; denn sie würden euer Herz ihren Göttern zuwenden. An diesen hing Salomo mit Liebe. Er hatte siebenhundert fürstliche Frauen und dreihundert Nebenfrauen. Sie machten sein Herz abtrünnig. Als Salomo älter wurde, verführten ihn seine Frauen zur Verehrung anderer Götter, so dass er dem Herrn, seinem Gott, nicht mehr ungeteilt ergeben war wie sein Vater David. Er verehrte Astarte, die Göttin der Sidonier, und Milkom, den Götzen der Ammoniter. Er tat, was dem Herrn missfiel, und war ihm nicht so vollkommen ergeben wie sein Vater David." (1Kön 11,2-6)

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Hätten wir von Salomo ein ähnliches Schuldbekenntnis, wie es uns von David im Psalm 51 überliefert ist, - wie sein Vater würde er dann wohl ausrufen: „In Sünde hat mich meine Mutter empfangen". Das wäre dann zwar auch, wie wir oben feststellten (S. 26), eine Wesensaussage in Form einer Anfangsaussage; aber es würde darüber hinaus buchstäblich auf eine geschichtliche Wirklichkeit verweisen. In der Zeugung Salomos verdichtete sich Davids Verhängnis.

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Nicht nur Israels Repräsentanten, auch Israel selbst fiel immer wieder von Gott ab, und zwar auch zu Zeiten, wo es Gottes reiche Zuwendung erfahren hatte. Psalm 78 widmet sich ganz dieser Versagensgeschichte. Schauen wir uns einen Ausschnitt daraus an:

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„Vor den Augen ihrer Väter vollbrachte er [Gott] Wunder im Land Ägypten, im Gefilde von Zoan. Er spaltete das Meer und führte sie hindurch, er ließ das Wasser feststehen wie einen Damm. Er leitete sie bei Tag mit der Wolke und die ganze Nacht mit leuchtendem Feuer. Er spaltete Felsen in der Wüste und gab dem Volk reichlich zu trinken, wie mit Wassern der Urflut. Er ließ Bäche aus dem Gestein entspringen, ließ Wasser fließen gleich Strömen. Doch sie sündigten weiter gegen ihn, sie trotzten in der Wüste dem Höchsten." (Ps 78,12-17)

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Was David nach seiner Batseba-Affäre erschüttert von sich bekennt - eine abgrundtiefe Schuldverstrickung -, das bescheinigt das prophetische Urteil dem Volk Israel als ganzem:

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„Kann ein Schwarzer seine Haut ändern, ein Leopard seine Flecken? Dann könntet auch ihr Gutes tun, die ihr an Bösestun gewöhnt seid." (Jer 13,23)26

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Die wiederholte Erfahrung eines grundlosen Abfalls von Gott wird von der biblischen Urgeschichte thematisiert und erklärt. Dass nicht Mangel der Grund für die Abwendung von Gott ist, wird mit dem Motiv des Paradieses ausgedrückt. Dieses steht nicht für ein phantastisches Schlaraffenland am Beginn der Menschheitsgeschichte, sondern für ein Leben aus der Fülle ungetrübter Gottesnähe.27 Die Absicht der Paradiesgeschichte ist zu zeigen, dass Menschen in dieser Situation der Fülle von Gott abfallen. Wie ist so etwas möglich? Diese Frage wird von der Sündenfallgeschichte in erzählender Weise beantwortet.

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Damit ist die Sündenfallgeschichte mehr als ein Mythos, der im Modus einer Anfangsgeschichte die Gottentfremdung aller Menschen behauptet. Sie stellt nicht nur fest, dass Gott verloren ist, sondern, wie Gott verloren geht. Sie beschreibt einen typischen Ablauf, der immer wieder vorkommt. Sie erzählt eine exemplarische Geschichte. Nicht die Sündenverfallenheit der Menschen, die als Zustand jederzeit gleichmäßig gegeben wäre, ist deshalb der zentrale Gegenstand der Sündenfallgeschichte, sondern eine typische Ereignisfolge.

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Das klingt vielleicht selbstverständlich, ist es aber nicht, - zumindest nicht in den üblichen Deutungen des Sündenfalls:

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  • Traditionell wurde der Sündenfall zwar meist als ein Ereignis gesehen - sogar als ein historisches Ereignis am Anfang der Geschichte - , aber ohne jeden typischen Charakter: Adam und Eva waren frei von Sünde, bis sie vom verbotenen Baum aßen. Ihr Ungehorsam bewirkte die Erbsünde28: Seit Adam und Eva leiden alle Menschen von Anfang an unter einem gebrochenen Verhältnis zu Gott. Weil die Menschen immer schon gefallen sind, konnte sich so etwas wie ein Sündenfall nicht wiederholen. Zwar sündigten die Menschen auch später, aber diese Sünde war etwas völlig anderes als bei Adam und Eva, die sich im Paradies, also aus einer ungetrübten Gottesbeziehung heraus verfehlten. Das Ereignis des Sündenfalls fiel damit völlig aus unserer Geschichte heraus; es war ein vorgeschichtliches Ereignis, das erklären sollte, warum wir alle von Grund auf Sünder sind. Der modernen Kritik fiel es nicht schwer, diese Lehre von Sündenfall und Erbsünde als bloße Phantasterei über „Hinterwelten" lächerlich zu machen.29
  • Gegen diese Kritik versuchen neuere Interpretationen, die typische Bedeutung der Sündenfallgeschichte hervorzuheben:30 Man begreift Adam und Eva als Symbol für jedermann, und die Sündenfallgeschichte als symbolische Verdichtung unserer eigenen Lebensbedingungen fern von Gott. Der Vorteil dieser Deutung: Adam wird aus seiner Ausnahmerolle in unsere Geschichte zurückgeholt; wir alle sind Adam. Die Paradiesgeschichte gewinnt eine neue Aktualität: Sie hält uns einen Spiegel über unsere eigene Gottlosigkeit vor. Diese Deutung hat aber einen Haken: Wie wir, so verhalten sich Adam und Eva als Sünder von Anfang an. Immer schon agieren sie aus einem Zustand der Entfremdung von Gott, des Misstrauens und der Angst. Nicht mehr deutlich wird dabei, dass dieser gottferne Zustand das Ergebnis einer Entscheidung ist, - er erscheint wie ein Verhängnis, das immer schon in der menschlichen Natur festgeschrieben ist. Gesehen wird in dieser Deutung somit der Zustand einer Gottentfremdung, nicht aber das Ereignis, das diese Entfremdung bewirkte.
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So haben wir zum einen traditionelle Deutungen, die den Sündenfall zwar als Ereignis des Gottverlusts sehen, ohne ihn aber als typisches Ereignis verstehen zu können; er hat nichts mehr zu tun mit unseren Erfahrungen. Und zum anderen haben wir neuere Deutungen, die das für uns Typische an der Sündenfallgeschichte herausarbeiten; aber diese Interpretationen sehen den Sündenfall nicht mehr als Ereignis, - nämlich als Ereignis des Übergangs von einem Zustand der Gottvertrautheit in einen Zustand der Entfremdung von Gott. Stattdessen verstehen sie ihn als ein Agieren innerhalb eines Zustands der Gottentfremdung.

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Wenn wir die Sündenfallgeschichte im Zusammenhang mit den vielen anderen Sündenfällen im Alten Testament lesen, dann kommen wir auf einen dritten Deutungsansatz: Die Sündenfallgeschichte erzählt in exemplarischer Verdichtung ein typisches Ereignis; sie erzählt, wie es zugeht, dass Menschen, die mit Gott vertraut sind, Gott verlieren, - und sich in der Folge auch voneinander, von der Welt und von sich selber entfremden. Solche Ereignisse kommen immer wieder vor, weil Gott sich immer wieder den Menschen zuwendet und sie damit neu in die Entscheidungssituation versetzt, Gott treu zu bleiben oder sich von Ihm loszusagen. Wenn und im Maße als Menschen Gottes Nähe erfahren, wird für sie der Sündenfall zum aktuellen Thema. Wie Adam und Eva geraten sie in Gefahr, zu verspielen, was sie als Geschenk erhalten haben. So ist es David, Salomo und dem Volk Israel passiert.

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Später werden wir in diesem Buch entfalten, dass sich Gottesnähe in einem gelingenden Bezug zu Mitmenschen, zur Welt und zu einem selber äußert; und dass der Sündenfall einen Gottesverlust bedeutet, der sich im Verlust und Verrat von Nächstenliebe, Selbstliebe und heilem Weltbezug bekundet. Von daher ist Sündenfall nicht nur ein Thema für auserwählte Gottesmänner und -frauen, sondern für jeden von uns. Darin liegt die exemplarische Bedeutung der Sündenfallgeschichte: sie zeigt nicht nur, wie man Gott verliert; in eins damit zeigt sie, wie es zugeht, dass glückende mitmenschliche Beziehungen, ein achtsamer Umgang mit den Dingen der Schöpfung und ein heiles Selbstverhältnis verspielt werden.

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Damit ist die Sündenfallgeschichte wirklich eine exemplarische Geschichte für zahllose Ereignisse unserer Lebenswelt. Sie ist mehr als eine Anfangsgeschichte, die den Zustand einer gottverlorenen Welt beschreibt; sie beschreibt Ereignisse der fallenden und verlorengehenden Freiheit, die immer wieder vorkommen, aber nicht jederzeit in gleicher Weise. Es gibt dunkle Zeiten, in denen Menschen den Eigengesetzlichkeiten einer gottlosen Welt ausgeliefert sind und so von einem Unheil ins nächste tappen, ohne zu wissen, was sie da eigentlich tun. Und es gibt Zeiten, wo den Menschen ein Licht aufgeht und ihre Grundbeziehungen unerwartet heilvoll werden: Im Leben eines Menschen oder in einer Epoche für ein Volk bricht etwas auf wie Morgenröte; eine große Erwartung liegt in der Luft, dass nun alles besser werden wird. Alles scheint glücklich wie von selber zu laufen, bis auf unbegreifliche Weise Sand ins Getriebe kommt und die schöne Entwicklung zusammenbricht. Das sind die typischen Situationen, die von der Sündenfallgeschichte erschlossen werden. Sie kommen immer wieder vor, aber nicht jederzeit in gleichem Maße. Für die Entwicklung der Geschichte - in individuellen Biographien ebenso wie in der Weltgeschichte - markieren sie entscheidende Wendepunkte.

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Im Zusammenhang lesen!

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Die Sündenfallgeschichte ist der biblische Schlüsseltext für die kirchliche Lehre von der Erbsünde.31 Bibeltheologen, die die Erbsündenlehre und ihre biblische Begründung kritisieren, relativieren oft die Bedeutung der Sündenfallgeschichte, indem sie auf ihre isolierte Position im Alten Testament hinweisen. Tatsächlich bezieht sich die alttestamentliche Bibel kaum jemals auf die Paradiesgeschichte, und wenn, dann nur in späten, weisheitlichen Texten.32 Eine Erklärung dafür könnten neueste biblische Forschungen geben, die die Entstehungszeit für die Paradiesgeschichte viel später ansetzen als bisher angenommen.33 Dem entspricht, dass das Alte Testament zwar fast niemals auf die Sündenfallgeschichte verweist, aber ihr zentrales Thema - der scheinbar grundlose Abfall von Menschen aus der Verbundenheit mit Gott - in zahlreichen alttestamentlichen Texten vorgezeichnet ist. Im vorigen Kapitel haben wir das mit Bezug auf David, Salomo und ganz Israel gezeigt.

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Es ist also sehr wohl möglich, die Paradiesgeschichte im Gesamtzusammenhang der alttestamentlichen Bibel zu verstehen; und eine solche Lesart ist unverzichtbar für ihr rechtes Verständnis. In besonders engem Zusammenhang steht die Sündenfallgeschichte mit der biblischen Urgeschichte. Das ist ein Kreis von Erzählungen, die der Geschichte Israels, die in Genesis 12 mit Abraham beginnt, vorausgeht und sich auf die gesamte Menschheit bezieht.

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Der Anfang der biblischen Urgeschichte - und damit der ganzen Bibel - erzählt zweimal von der Erschaffung der Welt, zuerst in einem dichten, poetisch durchkomponierten Text mit kosmischer Perspektive: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde ..." (Gen 1,1). In einem Werk von sechs Tagen schafft Gott mühelos und souverän die Welt. Sechsmal heißt es: „Und Gott sah, dass es gut war"; - eine Aussage, die abschließend, unmittelbar nach der Erschaffung des Menschen, noch überboten wird: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut" (Gen 1,31).

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Das folgende Kapitel thematisiert die Erschaffung der Welt nochmals, und zwar in einer einfachen, erzählenden Form: Wie ein Handwerker legt Gott einen Garten an und bildet darin den Menschen, zuerst Adam, später Eva. Der Garten Eden ist die Szenerie, in der sich dann die Sündenfallgeschichte abspielt. Es folgt die Erzählung von Kain und Abel; daran anschließend wird eine Geschlechterfolge aufgelistet, die eine wachsende kulturelle Entwicklung mit zunehmender Verderbnis parallelisiert, - bis Gott im sechsten Kapitel die Welt als „verdorben und voller Gewalt" aburteilt und über sie die Sintflut verfügt. Allein Noah wird gerettet; mit ihm schließt Gott einen menschheitlichen „Urbund". Er verspricht, die Welt nicht nochmals zu vernichten. Eine weitere Geschlechterfolge wird skizziert, die deutlich macht, dass sich weiterhin Verdorbenheit in der Welt breit macht. Exemplarisch dafür steht der Turmbau zu Babel, - der Griff von Völkern nach den Sternen, den Gott durch eine universale Sprachverwirrung vereitelt.

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Mit dem ersten Schöpfungsbericht entwirft die Bibel die ideale Vorstellung von einer sehr guten Welt, die ein allmächtiger und gütiger Gott geschaffen hat.34 Ist das nicht eine träumerische Phantasie, ohne Bezug zu einer Welt voller Leid, Übel und Bosheit? Wie konnte ein solches Weltbild überhaupt entstehen?

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Man könnte sich einen reichen Gelehrten vorstellen, der in der Muße schöner Stunden in seinem Palastgarten auf und ab wandelt und die schöne Geschichte von der Erschaffung einer guten Welt zu Papier bringt. Die exegetische Forschung ergibt einen völlig anderen Hintergrund. Der erste Schöpfungsbericht setzt die Erfahrung des Babylonischen Exils voraus. Damals, im fünften vorchristlichen Jahrhundert, wurde Juda mit seiner Hauptstadt Jerusalem besiegt, und die Führenden des Volkes wurden nach Babylon in die Verbannung geschickt. Leid und Gewalt waren dort eine alltägliche Erfahrung, und die Annahme lag für die Juden nahe, dass ihr Gott gescheitert wäre. Waren nicht seine Verheißungen widerlegt, da das von ihm versprochene Land verloren, sein Tempel vernichtet und die kultische Verehrung unmöglich gemacht waren? Hatten nicht die Götter Babyloniens über den Gott Israels triumphiert? Dieser Schluss war die beabsichtigte Folge aus dem politischen Mittel der Exilierung. Besiegte Völker sahen die Unterlegenheit ihrer Religion ein, schlossen sich den Siegermächten und Siegergöttern an und verloren so ihre religiöse und kulturelle Identität. In Israel geschah genau das Umgekehrte. Es ging gestärkt und vertieft aus der Katastrophe hervor.

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Entscheidend dafür war eine Vertiefung des Gottesverständnisses, die in den Büchern der großen Propheten zum Ausdruck kommt. Diese verkündeten einen allmächtigen Gott, der nicht nur der Gott Israels sondern auch der Herr über die Siegermacht Babylon war. Keineswegs war also Jahwe von Babylon und seinen Göttern besiegt worden. Vielmehr verwendete Er Babylon als Werkzeug, um Israel für seinen Abfall zu strafen. Gott ist größer als die bisher dominierenden Vorstellungen von einem politischen Siegergott; Er ist auch in der Ferne des Exils ohne Tempel und kultische Institutionen gegenwärtig und will dort verehrt werden. Wenn der Rest Israels umkehrt und sich treu auf Ihn einlässt, wird Er Israel neu aus den Trümmern erstehen lassen.

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Die Katastrophe des Babylonischen Exils bewirkte somit eine radikale Transformation und Entgrenzung des Gottesglaubens. Damals erst setzte sich in Israel ein strikter Monotheismus durch, im Unterschied zur früher dominierenden „monolatrischen" Auffassung, wonach es zwar viele Götter gab, aber Israel nur Jahwe verehren durfte. In der Ferne des Exils und in den Klauen eines unterdrückenden Volkes ging den Israeliten die Botschaft auf, dass Gott ein Gott aller Menschen ist, und dass es den Ort nicht gibt, an dem Gott nichts mehr für sie tun kann.35

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Die Vorstellung des guten und rettenden Gottes, der Israel aus Ägypten herausgeführt hatte, verband sich nun mit der Vorstellung eines allmächtigen Gottes, der der Herr und Schöpfer der ganzen Welt ist. Wenn aber ein guter und allmächtiger Gott die ganze Welt geschaffen hat, woher dann das Böse, das Leid und die Gewalt, die nach Israels eigener blutiger Erfahrung die Welt durchdringt?

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Das ist das zentrale Thema der biblischen Urgeschichte. Die Vorstellung vom guten und allmächtigen Schöpfergott kommt im ersten Schöpfungsbericht auf den ersten Seiten der Bibel zum Ausdruck. Und die Frage, wie das real erfahrbare Böse damit zusammengeht, wird in der biblischen Urgeschichte beantwortet.

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So ist der erste Schöpfungsbericht alles andere als eine abgehobene, träumerische Phantasie. Er spiegelt die Grunderfahrung eines guten und allmächtigen Schöpfergottes, der die Geschicke aller Völker in der Hand hat, - eine Erfahrung, die den Israeliten das Überleben inmitten der Unterdrückung des Babylonischen Exils ermöglichte, - sodass der Glaube Israels an dieser Erschütterung nicht zerbrach, sondern transformiert und gestärkt daraus hervorging.

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Demgemäß kommen die anfänglich ausfallenden negativen Seiten der Welt in den folgenden Kapiteln zunehmend drastischer zur Geltung, bis es im 6. Kapitel - in äußerstem Gegensatz zur anfänglichen Qualifizierung der Welt als sehr gut - heißt:

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„Die Erde aber war in Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat. Gott sah sich die Erde an: Sie war verdorben; denn alle Wesen aus Fleisch auf der Erde lebten verdorben." (Gen 6,11f)

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Zwischen dem anfänglichen „Sehr gut" und dem späteren „Total verdorben" zieht die biblische Urgeschichte einen bemerkenswerten Bogen (siehe Abbildung 1). Sie erzählt davon, wie das einmal eingebrochene Übel dazu neigt, sich zu vermehren, und wie das Schlechte immer noch schlechter wird. Diese Tendenz zur Eskalation von Bösem und Gewalt ist uns leicht nachvollziehbar, wir kennen sie aus eigener Erfahrung. Wie aber kann in einer Welt, die von einem guten und allmächtigen Gott anfänglich gut geschaffen wurde, das Böse überhaupt einen Anfang nehmen? Zweitausend Jahre später wurde dieses Problem mit der Bezeichnung Theodizeefrage zur schwersten Herausforderung für den jüdisch-christlichen Gottesglauben. Auf diese Frage gibt der biblische Bogen zwischen anfänglichem „Sehr gut" und schlussendlichem „Sehr schlecht" der Welt eine Antwort. Entscheidend ist das Anfangsstück des Bogens, wo erklärt wird, wie und woher das Böse in der ursprünglich sehr guten Welt seinen Anfang nimmt. Diese heikelste Stelle des ganzen Erklärungsbogens wird von der Sündenfallgeschichte abgedeckt.

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Nur in diesem Zusammenhang lässt sich der biblische Sündenfall recht verstehen.36 Das heißt, wir müssen uns zuerst den Menschen in seinen ursprünglich positiven Möglichkeiten anschauen, wie sie sich von einem biblischen Schöpfungsverständnis her ergeben.

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— Abbildung 1 —

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3. SCHÖPFUNG: WIE DER MENSCH IN GOTT GRÜNDET

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Der biblische Sündenfall ist das exemplarische Ereignis des verlorengehenden Gottes. Man muss aber Gott erst „haben", um ihn verlieren zu können. Deshalb können wir den Sündenfall nur verstehen, wenn wir wissen, was es bedeutet, dass der Mensch einen Zugang zu Gott hat. Wir müssen erklären können, wovon wir reden, wenn wir von Gott reden. Und wir müssen sagen können, wo die Wirklichkeit vorkommt, die die Bibel als Gott bezeichnet.

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„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde", also alles was ist, - das ist der erste Satz der Bibel. Es ist der Ausgangspunkt von allem. Die beiden Schöpfungsberichte zeigen, was das bedeutet. Es ist ein guter und allmächtiger Gott, der die Welt und insbesondere die Menschen gut, ja sehr gut geschaffen hat. Dazu gehört, dass der Mensch Gottes Abbild ist.

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„Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie." (Gen 1,26f)

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Das bedeutet: Wenn ich einem Menschen in die Augen schaue, dann geht mir Gott auf. Dass ich das meist nicht so erfahre, hängt mit Defiziten im Sein des Anderen und mit Defiziten meines Wahrnehmungsvermögens zusammen, die beide von der Sündenfallgeschichte erklärt werden.

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Wenn der Mensch Gottes Ebenbild ist, dann heißt das, dass Gott im Menschen bleibend gegenwärtig ist. Er hat den Menschen nicht nur anfänglich ins Dasein gesetzt. In jedem Augenblick seines Seins erhält Er ihn, mit allem was er ist und was er tut. Und Er führt den Menschen auf einen Weg der Vollendung. Nach biblischem Verständnis gilt das für die gesamte Schöpfung: Gott ist Schöpfer in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, - nämlich indem er die Welt erschaffen hat, erhält und vollendet. In diesem Sinn spricht der Psalmist zu Gott:

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„Herr, wie zahlreich sind deine Werke!
Mit Weisheit hast du sie alle gemacht,
die Erde ist voll von deinen Geschöpfen. [...]
Sie alle warten auf dich,
dass du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit.
Gibst du ihnen, dann sammeln sie ein;
öffnest du deine Hand, werden sie satt an Gutem.
Verbirgst du dein Gesicht, sind sie verstört;
nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin
und kehren zurück zum Staub der Erde.
Sendest du deinen Geist aus,
so werden sie alle erschaffen,
und du erneuerst das Antlitz der Erde."
(Psalm 104, 24-30)

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Gott erhält den Menschen am Leben. Dazu gehört nicht nur das, was er zum Überleben braucht, sondern nach biblischem Verständnis die Gesamtheit seiner Beziehungen. Ein Mensch ist lebendig in dem Maße, als er in Beziehung zu Gott, zu anderen Menschen und zur gesamten Schöpfung steht, und in dem Maße, als er ein heiles Selbstverhältnis hat. Die Bibel sieht es so, dass Gottesbeziehung, mitmenschliche Beziehung, Weltbezug und Selbstbezug in einem direktem Verhältnis zueinander stehen: je tiefer sein Gottbezug, desto mehr ist der Mensch bei sich und beim anderen.37 Der zweite Schöpfungsbericht (Gen 2) drückt das so aus, dass Gott den Menschen in einen blühenden Garten versetzt (glücklicher Weltbezug), dass er ihm eine Frau zur Seite stellt, die ihn vor Wonne aufjauchzen lässt (gelingende mitmenschliche Beziehung), und dass die Menschen sich ihrer Nacktheit nicht schämen (heiler Selbstbezug).

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Damit steht das biblische Gottesbild in äußerstem Gegensatz zum Verständnis der philosophischen Aufklärung, wie wir es im ersten Kapitel zur Kritik an der Sündenfallgeschichte beschrieben haben. In der bis heute maßgeblichen Sicht der Aufklärung stehen Selbstbestimmung und Gottbezug in einem unauflösbaren Gegensatz zueinander. Von einem biblischen Schöpfungsverständnis her ist es gerade umgekehrt. Zwar kennt die Bibel auch den Gegensatz zwischen Gottesbeziehung und menschlicher Autonomie, aber sie versteht diesen Gegensatz als Folge des Sündenfalls.

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Wie aber können wir zum ursprünglich positiven Gottesverständnis der biblischen Schöpfungsgeschichte finden, wenn unser Sein und Erkennen durch den Sündenfall beeinträchtigt ist? Wir werden uns dafür von Erfahrungen gelingender Beziehung leiten lassen, in denen das biblische Gottesverständnis am ehesten durchscheint. Einige Skizzen sollen uns dabei behilflich sein.

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Ein unauslotbares Geheimnis

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Der Mensch ist Gottes Geschöpf. Das heißt: er gründet in Gott und hat in Ihm seine bleibenden Wurzeln. Das Verhältnis des Menschen zu Gott ist von daher nicht ein bloß äußerliches. Von seiner innersten Mitte her ist er mit Gott verbunden. Der Kirchenvater Augustinus drückte das mit den Worten aus: „Gott ist dem Menschen innerlicher als er sich selbst."38 Dieser Zusammenhang lässt sich mit folgender „Trichter-Skizze"39 bildlich darstellen (siehe Abbildung 2).

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— Abbildung 2 —

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Wenn wir einen Menschen nur flüchtig kennen, dann wissen wir, wie er äußerlich erscheint. Wir haben eine Ahnung davon, was er hat, was er tut und wo er herkommt.

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Aber sein Inneres ist uns weitgehend verborgen. In unserer „Trichter-Skizze" können wir diese oberflächliche Kenntnis mit einem Pfeil verdeutlichen, der nur wenig in den Kreis eindringt (siehe Abbildung 3).

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— Abbildung 3 —

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Wenn wir mit einer Person aber besser vertraut werden, wenn sie sich uns öffnet und wir uns auf sie wirklich einlassen, dann kann sich uns ein unerschöpflicher Reichtum erschließen. Wir lernen sie zwar immer besser kennen und können manche ihrer Verhaltensweisen voraussehen; dennoch werden wir immer weniger den Eindruck haben, sie durchschaut und ihre Tiefen ausgelotet zu haben. Menschen können ein ganzes Leben miteinander verbringen, ohne dass sie einander langweilig werden. In unserer Skizze lässt sich das mit einem Pfeil darstellen, der weit in die Mitte des Person-Kreises reicht: dort öffnet sich uns etwas von der unauslotbaren Tiefe des Anderen.

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An dieser Stelle - sozusagen in der Tiefe der Personmitte - haben wir in unserer Skizze „Gott" geschrieben. Heißt das nun, dass der Mensch in seinem tiefsten Seinsgrund Gott ist? Das wäre eine pantheistische Annahme, die uns auch heute in esoterisch-gnostischen Heilslehren begegnet: „Du musst nur erkennen, dass du in deinem Innersten göttlich bist. Lerne, dich dieser göttlichen Kräfte zu bedienen! Mit Hilfe bestimmter Techniken kannst du dir diesen Zugang verschaffen, und dann ist dir alles möglich."

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Man könnte die Skizze so missverstehen, muss es aber nicht. Ich kann auch annehmen, dass Gott sich im innersten Seinsgrund des Menschen erschließt und sich doch von diesem Seinsgrund nochmals unterscheidet. Das ist deshalb möglich, weil der Mensch über den Ursprungspunkt seines Seins, von dem heraus er lebt und handelt, nicht selber verfügen kann. Dass das so ist, soll nun in einem nächsten Schritt und mit Hilfe einer weiteren Skizze gezeigt werden.

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Versuchen wir, mittels einer Selbstreflexion die Tiefe unserer eigenen Personmitte zu erkunden. Wo ist der Ursprungspunkt, von dem her ich „ich" sage und aus dem meine Entscheidungen entspringen? Machen wir dazu ein kleines Experiment:

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Was tun Sie gerade jetzt, in diesem Augenblick?

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Sie werden vermutlich antworten:

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„Ich lese diese Zeilen".

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Versuchen Sie nun, den Ursprungspunkt dieses Ihres Tuns zu fassen. Sie werden vielleicht sagen:

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„Ich bin derjenige, der in diesem Augenblick diese Zeilen liest."

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Aber das stimmt schon nicht mehr genau. Denn indem Sie das sagen, haben Sie sich gerade entschieden, sich selbst dabei zu beobachten, wie Sie diese Zeilen lesen. Um die Personmitte Ihres jetzigen Tuns wirklich zu erfassen, müssen Sie also Ihre Beschreibung korrigieren:

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„Ich bin der, der sich im Moment dabei beobachtet, wie er diese Zeilen liest."

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Haben Sie damit nun Ihre Personmitte wirklich erfasst? Nein. Wieder haben sie sie um ein kleines Stück verfehlt. Denn in dem Augenblick, wo sie diese Worte sagen, sind Sie die Person, die sich dazu entschieden hat, sich selbst dabei zu beobachten, wie Sie sich beobachten, wie Sie diese Zeilen lesen. Haben Sie mit dieser Beschreibung nun endlich die Mitte Ihrer Person erreicht? Es dürfte jetzt klar sein, dass das wieder nicht zutrifft. Jede Selbstbeschreibung, auch wenn sie noch so detailliert ist, enthält einen blinden Fleck. Wenn Sie das beschreiben, was Sie tun, dann tun sie etwas, was sich von dem unterscheidet, was sie gerade beschrieben haben. Das, was Sie tun, wenn Sie etwas beschreiben, können Sie nicht zugleich in ebendieser Beschreibung einfangen.40

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Unser Gedankenexperiment lässt sich mit Hilfe unserer Skizze bildlich veranschaulichen (siehe Abbildung 4):

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abb4

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— Abbildung 4 —

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In dieser Abbildung stehen die waagrechten Pfeile für das, was ich gerade tue. Zum Beispiel a1: „Ich lese diese Zeilen." Für jede Beobachtung gilt: Sie hat nicht nur ein Ziel, nämlich das, was ich beobachte - dargestellt durch die Pfeilspitze -, sondern ist zugleich ein neuer Akt, der nochmals beobachtet werden kann: dargestellt durch den Pfeil in seiner gesamten Länge. Die gestrichelten Linien, die senkrecht von den Pfeilenden nach unten reichen, stehen für den Entschluss, diesen Akt des Beobachtens zum Gegenstand einer erneuten Beobachtung zu machen. Der fortgesetzte Versuch, den Ursprungspunkt meines Tuns erkennend in den Griff zu bekommen, führt so zu zunehmend komplizierten Beschreibungen:

a1 ... „Ich lese diese Zeilen"
a2 ... „Ich beobachte mich beim Lesen dieser Zeilen"
a3 ... „Ich beobachte meine Beobachtung" ...

In diesem Prozess der fortgesetzten Selbstbeobachtung zeigt sich durchwegs Neues, das aber immer inhaltsärmer, immer „dünner" wird. Die Skizze macht das durch immer kürzere Pfeile sichtbar. Es entsteht eine endlose, unabschließbare Folge von Versuchen der Selbstbeobachtung. Ich komme an kein Ende. Im Bild: Es gibt nicht den abschließenden Pfeil, der mich in die Mitte und den Grund meiner Subjektivität führt.

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Die Unauslotbarkeit der eigenen Subjektivität lässt sich auch literarisch einfangen. Vor hundert Jahren erzählte Rudyard Kipling - bekannt als Autor des „Dschungelbuchs" - in seinem Roman „Kim" von dem indisch-irisch-stämmigen Jungen Kimball. Den kommt es manchmal merkwürdig an. Dann setzt er sich still hin und sagt zu sich selbst: „Ich, Kim. . . Ich, Kim ... Ich, Kim ..." Dabei hat er das Gefühl, dass es immer tiefer hineingeht, auf ein Letztes, Unsagbares zu; und wenn es gelingt, dort anzukommen, dann ist alles gut. Im vorletzten Augenblick aber reißt es immer ab; er fährt auf, und alles war vergeblich. Eines Tages steht ein alter Asket vor ihm, sieht ihm zu und sagt mit traurigem Gesicht: „Ich weiß, ich weiß... Es geht nicht!"41

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Wie unser philosophisches Gedankenexperiment, so zeigt auch Kiplings Erzählung etwas Grundsätzliches: Die Mitte unserer Person, aus der unsere Entscheidungen entspringen, ist uns selber nicht verfügbar. Heißt das nun, dass wir gar nicht frei sind, sondern fremdgesteuert? Manchmal haben Menschen diesen Schluss gezogen. Aber diese Annahme würde eben jener Selbsterfahrung widersprechen, die wir durch unser philosophisches Experiment zu klären versuchten: dass ich mich nämlich entschieden habe, gerade jetzt diese Zeilen zu lesen, und dass ich mich jederzeit entscheiden könnte, das Buch beiseite zu legen und mir zum Beispiel aus dem Kühlschrank ein Bier zu holen.

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Besser passt es mit unserer Erfahrung zusammen, wenn wir in Bezug auf die Ursprungsmitte unserer Person ein unauflösbares Paradox annehmen,42 - im Sinne eines Zusammenspiels von zwei Aussagen, die wir nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen können, auch wenn sie sich nicht direkt widersprechen: 1. Ich bin frei, ich kann über mein Tun bestimmen. 2. Dennoch kann ich auf den Ursprungspunkt dieser Selbstbestimmung nicht eigenmächtig zugreifen.

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Wir können dieses Paradox auch so ausdrücken: In seinem tiefsten Grund ist der Mensch sich selbst ein unverfügbares Geheimnis.43 Genau das drückt unsere erste Skizze aus: Je mehr der Mensch sich seiner Mitte nähert, ein desto tieferer Abgrund tut sich ihm auf, - und desto schwieriger wird es für ihn, seine Tiefe auszuloten. Im Blick auf diese Erfahrung wird es sinnvoll zu sagen: In der Mitte seines Seins gründet der Mensch in einer unendlichen, unergründlichen Tiefe.

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Aus unseren Überlegungen folgt nicht schon automatisch, dass diese unergründliche Tiefe Gott ist. Menschen können dieselbe Wahrnehmung machen, die wir soeben analysiert haben, und den sich hier öffnenden Abgrund als Nichts bezeichnen, oder als absolut unsagbar, sodass jedes Wort diesen Abgrund nur zuschütten würde, - auch das Wort Gott. Sie könnten den Menschen, die diesen Grund als Gott bezeichnen, vorwerfen, dass sie sich mit einem vorschnellen und feigen Trick der Abgründigkeit ihrer Erfahrung zu entziehen versuchten. Über die Religion könnte man dann ja doch einen Zugriff zu diesem Gott genannten Abgrund beanspruchen. Religion wäre dann der skandalöse Versuch, das Heiligste im Menschen zu manipulieren.

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Dennoch kann eine religiöse Person, die an Gott glaubt, auf diesen Abgrund im eigenen Innersten verweisen, um zu verdeutlichen, wovon sie redet, wenn sie „Gott" sagt. Anstelle damit das Unsagbare mit einem Wort zuzuschütten, könnte ihr diese Erfahrung menschlicher Unverfügbarkeit - in sich selbst und, wie wir gleich zeigen werden, im geliebten Anderen - zum „Referenzpunkt" werden, von dem her sie ihre Vorstellungen von Gott immer neu aufbrechen lässt.

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So kann man trotz aller möglichen Missverständnisse und Missbräuche sagen: In seiner innersten Mitte rührt der Mensch an Gott. Oder, wie es der Kirchenvater Augustinus formulierte: „Gott ist dem Menschen innerlicher als er sich selbst." Oder mit dem Apostel Paulus:

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„Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?" (1 Kor 3,16)

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Der gläubige Mensch kann das sagen, ohne dass er sich damit mit Gott gleichsetzt, denn er ist sich selbst in seiner Personmitte nicht verfügbar. Und er kann sagen, dass er in seiner Personmitte in Gott gründet, ohne dass er damit durch Gott fremdgesteuert wäre.

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Dass der Mensch nicht eine Marionette Gottes ist, lässt sich an unserer letzten Skizze und der Überlegung „Was tue ich jetzt gerade?" verdeutlichen: So weit wir auch unser Fragespiel in die Tiefen des eigenen Seins hinab vorantreiben, nie kommen wir an einen Punkt, wo wir sagen müssten, hier handelt nicht mehr der Mensch, sondern Gott an seiner Stelle. Aber dennoch hat der Mensch sich am Ursprung seines Tuns nicht souverän im Griff. Nicht er befähigt sich selber zu seinem selbstständigen Tun, sondern er wird dazu befähigt. So tief er auch in seine Seinsmitte hineinfragt, er begegnet immer beidem: einem Moment souveräner Eigenständigkeit und einem Moment von Abhängigkeit oder Verdanktheit. So muss man paradoxerweise beides sagen: Am Ursprungsgrund menschlichen Seins ist ganz der Mensch. Und: am Ursprungsgrund menschlichen Seins ist ganz Gott. Wie beides dennoch zusammengehen kann, veranschaulicht unsere erste Skizze: Die Linie steht für das Ich des Menschen; die Mitte, der sich diese Linie - je tiefer je mehr - annähert, steht für Gott. So tief man auch kommt: Niemals erreichen die hyperbolischen Linien einen abschließenden Ursprungspunkt. Ohne Ende laufen sie auf eine Mitte zu, mit der sie doch niemals zusammenfallen.

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Dieser Gewissheit entspricht die biblische Einsicht, dass Gott den Menschen in seinem Sein und Tun jederzeit trägt. Gott verfügt über den Menschen so, dass der Mensch dadurch über sich selbst verfügen kann. Gott ist der ermöglichende Grund der Freiheit des Menschen. Es ist Ruah, Gottes Geist-Hauch, der den Menschen von innen heraus belebt, und der mit des Menschen eigenem Geist-Atem so innig verbunden ist, dass sich beides trotz wesentlicher Verschiedenheit kaum auseinanderhalten lässt:44 „Nimmst du ihnen den Atem [ruah], so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub der Erde" (Ps 104,29).

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Identität von Gott her

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Wenn wir diese wurzelhafte Unergründlichkeit des Menschen bedenken: Was ist dann seine Identität? Worin besteht seine personale Einmaligkeit und Unvertretbarkeit?

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Um die Identität eines Menschen - eines anderen oder von uns selbst - zu bestimmen, zählen wir gewöhnlich bestimmte Merkmale auf, die ihn von anderen unterscheiden: wie jemand aussieht, wo er herkommt, was er geleistet hat usw. - Das sind eher äußerliche Bestimmungen, die wir in unserer „Trichter-Skizze" im flachen Randbereich eintragen würden. Spätestens wenn wir eine Person näher kennen lernen, erweisen sich diese „Identitätsmarker" als unzulänglich. Dem liebenden Menschen erschließt sich ein tieferer Grund der Identität des geliebten Anderen.

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Anhand unserer Skizze: Des Menschen Identität - also das, was seine Einmaligkeit und Unvertretbarkeit ausmacht - wird nicht so sehr bestimmt durch sein äußeres Profil, durch das er sich von allen anderen unterscheidet, sondern durch seine Personmitte. Diese in der Personmitte gründende Identität lässt sich nicht objektiv vorrechnen, wird aber durch eine liebende Person angezielt, die in ihrer Liebe ausdrückt: „Dich meine ich, und nicht die Summe deiner Eigenschaften und Leistungen." Wer ein Mensch wirklich und unvertretbar ist, wird ihm durch liebende Menschen zugesagt.

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Und wenn ein Mensch von niemandem wirklich geliebt wird? Verliert er dann seine Identität, seine Lebenswürde und letztlich sein Lebensrecht? Der christliche Glaube ist davon überzeugt, dass jeder Mensch in seiner Personmitte letztlich vom liebenden Schöpfergott getragen ist. Wahre Liebe stellt nicht erst die Einmaligkeit des geliebten Anderen her, sondern macht diese sichtbar, indem sie in jene Liebe einstimmt, mit der Gott jeden Menschen liebt und ihm damit eine unverwechselbare Identität zuspricht: „Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände" (Jes 49,16) und: „Ich habe dich beim Namen gerufen, mein bist du" (Jes 43,1). Dies ist der Ruf zu einer einmaligen und unverwechselbaren Existenz, einem Lebensort und Lebensauftrag, der sich von dem eines jeden anderen Menschen unterscheidet und an seinem Ort unverzichtbar ist. Die Würde und das unverfügbare Lebensrecht eines jeden Menschen, gleich ob hochtalentiert oder gehandicapt, ob heilig oder schuldverstrickt, gründen so in seiner unverfügbaren Personmitte, - dort, wo er an Gott grenzt.

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Heißt das nun, dass die äußeren Merkmale des Menschen für seine Identität bedeutungslos sind, weil allein die göttliche Ursprungsmitte die unverwechselbare Identität eines Menschen begründet? Nein! Der Mensch ist von Gott beim Namen gerufen in seinem konkreten Sein, mit Seele und Leib, auch mit seinen speziellen Merkmalen.45

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So kann die Bestimmung menschlicher Identität auf zwei entgegengesetzte Weisen scheitern: entweder indem man die Identität ohne Bezug auf die unfassbare Mitte festzustellen versucht - allein mittels äußerer Merkmale, welche die Einmaligkeit, Unersetzlichkeit, Unverfügbarkeit und Würde nie ausreichend begründen können -, oder im Versuch, sie ausschließlich von der unfassbaren Mitte her, ohne jede menschliche Konkretheit zu bestimmen. Die Unsinnigkeit des letztgenannten Versuchs lässt sich an unserer Skizze verdeutlichen: Löschen wir Schritt für Schritt, vom flachen Außen bis zum tiefen Innen, die beiden Linien aus - denn nichts an äußeren Eigenschaften, an Gehabtem und Geleistetem ist ja ausreichend, um die wahre Identität zu bestimmen. Wenn wir auf diese Weise versuchen, die Identität eines Menschen aus seiner gründenden Mitte pur zu gewinnen, dann bleibt schließlich gar nichts mehr übrig: Wir haben die ganze Skizze ausgelöscht.

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Diese beiden Wege, die menschliche Identität zu verfehlen, sind nicht nur philosophische Verirrungen. Sie zeichnen den traurigen Alltag scheiternder Beziehungen. Da gibt es Menschen, die fühlen sich von ihrem Partner oder ihrer Partnerin nicht um ihrer selbst willen geliebt, sondern allein um bestimmter vorteilhafter Merkmale willen. Der fabelhafte Ehemann ist nicht mehr derselbe, seitdem er seinen Job verloren hat und den gewünschten Lebensstandard nicht mehr halten kann; und die fesche Freundin ist auch nicht mehr was sie war, seit sie wegen ihrer Schilddrüsenerkrankung ein paar Kilo zugelegt hat. Hier wird Identität zynisch an äußeren Merkmalen festgemacht. Die Personmitte des anderen wird verfehlt, und Liebe wird zur Lüge.

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Beziehungen können aber auch am entgegengesetzten Extrem scheitern: Ein Mann vergöttert seine Freundin, in der er das Ideal seiner Träume sieht. Anfangs wird es der Frau vielleicht wohl tun, dass sie auf Händen getragen wird. Sie kann tun und lassen was sie will, er nimmt es ihr nicht übel. Bis sie zu ahnen beginnt, dass ihr Freund eigentlich gar nicht sie meint, sondern ein Ideal, das er auf sie projiziert.

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Beide Extreme kommen darin überein, dass die Identität des anderen Menschen verfehlt und er austauschbar wird. Austauschbar wird der Mensch, der nur wegen gewisser Vorzüge „geliebt" wird; diese können gleich und sogar besser bei anderen vorkommen. Austauschbar wird aber auch ein Mensch, in dem ein „Liebender" die ideale Frau oder Gott oder sonst ein Ideal zu finden meint, ohne dass diese ideale Sichtweise auf das konkrete Wesen des anderen hin geerdet wäre.

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Zwischen diesen Straßengräben scheiternder Beziehungen gibt es eine goldene Mitte, die mehr ist als ein flacher Kompromiss. Diese Mitte lässt sich nicht konstruieren, weder am Reißbrett der Philosophen noch auf dem Experimentierfeld der Beziehungstechniker. Aber wir können sie staunend wahrnehmen, wo Liebe - als ein unberechenbares Wunder - gelingt:

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Wahre Liebe bleibt nicht an den äußeren Erscheinungsformen hängen, sondern zielt auf den geliebten Menschen in seiner Mitte. Wir lieben einen Menschen nicht bloß wegen seiner äußeren Eigenschaften, sondern um seiner selbst willen.46 Das ist ja das Wesen der Liebe, im Unterschied zu Zweckbeziehungen. Und dennoch sind die konkreten Eigenschaften und Taten des Anderen für die Liebe nicht gleichgültig. Wir lieben den anderen Menschen gerade in seiner konkreten Erscheinung - mit den brünetten Haaren, der vielleicht leicht pummeligen Figur -, mit seinen attraktiven oder auch nicht so anziehenden Eigenschaften und mit all dem, was ihm gut oder vielleicht nicht so gut gelingt.47

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Auch hier stoßen wir also auf ein Paradox: Die Identität eines Menschen wird tatsächlich durch seine unterscheidenden Merkmale - in der Skizze: die flachen äußeren Bereiche - bestimmt; man erfasst sie aber ungenügend, wenn man die Mitte weglässt. Konkret heißt das: Wo die Personmitte aus dem Blick bleibt - die nie fassbar ist, aber in Glaube, Hoffnung und Liebe „offen gehalten" werden kann - wird der Mensch zum verwechselbaren und ersetzbaren Wesen degradiert.

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Von der biblischen Schöpfungsgeschichte her lassen sich diese Zusammenhänge folgendermaßen beschreiben: Jede Person ist in ihrer einmaligen Besonderheit - mit bestimmten Merkmalen und Anlagen, in einer bestimmten sie prägenden Situiertheit (Familie, Herkunft...) - geschaffen und dazu berufen, diese Vorgaben aus Eigenem heraus zu entfalten. Alles, was sie ist und tut, ist durchleuchtet von der ungreifbaren Wesensmitte, in der sie aus Gott entspringt. Was das bedeutet, öffnet sich wieder am deutlichsten dem liebenden Blick: Das Gesicht eines Menschen mit seinen reizenden Zügen, aber auch mit seinen Runzeln und Deformationen, ist von Gott her dazu bestimmt, ein Widerschein von Gottes Wesen zu sein. In der Konkretheit dieses Gesichtes werden Gottes Liebe und Güte, Seine Schönheit und Wahrhaftigkeit konkret. An solcher Konkretheit vorbei sind sie uns nicht zugänglich. Die konkrete Erscheinung von Gottes Eigenschaften wird biblisch als Herrlichkeit (hebräisch: Kabod) bezeichnet: Sie ist der Widerschein von Gottes Schönheit, Güte, Größe und Wahrhaftigkeit in seiner Schöpfung. Sie spiegelt sich - in Ansätzen und mehr oder weniger gebrochen - in allem, was Gott geschaffen hat.

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Gottes unendliche Tiefe und Größe zeigt sich im konkreten Menschen. Analoges gilt für seine ganze Schöpfung. Des Menschen Tiefe zeigt sich in seinen konkreten Eigenschaften, nicht einfach nur jenseits davon. Was Gott dem Menschen an Eigenschaften und Anlagen vorgegeben hat und was der Mensch daraus aus Eigenem heraus entfaltet, ist grundsätzlich geeignet, seine unfassbare Mitte - und damit zugleich: Gottes Herrlichkeit - widerzuspiegeln. Bereits für seine äußeren Merkmale, die sich einer oberflächlichen Betrachtung öffnen - in der Skizze: die Außenbereiche des „Trichters" - gilt, dass sie etwas von jener Tiefe widerspiegeln, die aus der Mitte hervorstrahlt, - und das heißt: zugleich von des Menschen Personmitte (seiner tiefsten, unvertretbaren Identität) und von Gott selber. Je mehr wir uns der unverfügbaren Mitte einer Person nähern, umso ausgeprägter wird dieses paradoxe Verhältnis: umso mehr zeigt sich von der personalen Mitte, und zugleich: umso mehr zeigt sich von Gott, in dem die Person gründet.

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Gott in der Welt und im Nächsten finden

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Was wir soeben für einen einzelnen Menschen entfaltet haben, gilt für alles, was Gott geschaffen hat: Geschaffensein bedeutet nicht nur „Herkommen von Gott", sondern ein bleibendes In-Gott-Gründen.

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Von daher können wir unsere erste Skizze erweitern zu einer schematischen Darstellung der Welt als Kreisoberfläche, an der jeder Punkt - alles was ist - in Gott seinen Wurzelgrund hat (siehe Abbildung 5).

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— Abbildung 5 —

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Wenn alles was ist, in Gott gründet, dann ist es die größte und schönste Herausforderung im Leben eines religiösen Menschen, „Gott in allen Dingen zu finden".48

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Unsere „Weltkreis-Skizze" gibt eine Idee davon, dass Gott vom Menschen grundsätzlich in zwei Richtungen gefunden werden kann: innen, durch eine Vertiefung in den Gottesgrund des eigenen Selbstseins; und außen, durch ein liebendes Sicheinlassen auf andere Seiende.

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Alles was ist, gründet im einen, selben Gott. Deshalb bin ich in den Tiefen meines inneren Selbst mit dem Seinsgrund von allem anderen verbunden. So hängen die beiden Grundausrichtungen der Gottsuche - innen und außen - untrennbar miteinander zusammen. Wer Gott wirklich in sich selber findet, dem erschließt sich zugleich eine verborgene Tiefendimension von allem anderen Seienden. Und wem Gott an irgendeinem anderen Seienden wirklich aufgeht, dem öffnet sich damit eine tiefere Möglichkeit, Gott in allen anderen Seienden und auch in sich selber zu finden. Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe sind auf diese Weise ursprünglich miteinander verbunden.

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Um mit einem anderen Menschen in Beziehung zu treten, gibt es somit zwei Wege, die sich miteinander zu einem Königsweg ergänzen können:

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  • einerseits im direkten Austausch über unsere raumzeitliche Welt: ich kann die andere Person besuchen, anrufen, ein Gespräch mit ihr führen, oder mich in körperlicher Liebe mit ihr vereinigen. Die verschiedensten Formen eines leiblich vermittelten Austausches lassen sich in unserer Skizze durch Pfeile längs der Kreisoberfläche darstellen;
  • anderseits in einer Bewegung hin zum göttlichen Wurzelgrund: Wer auf Gott hin geöffnet ist, hat damit die Möglichkeit, anderen Menschen nicht nur äußerlich - über die Vermittlungswege der materiellen Welt -, sondern von innen her nahe zu kommen.49
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Umgekehrt bedeutet das zuletzt Gesagte: Wenn jemand einen anderen Menschen zuinnerst verabscheut, dann lehnt er damit zugleich den göttlichen Wurzelgrund, also Gott selber ab. Der erste Johannesbrief drückt diesen Zusammenhang in aller Schärfe aus:

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„Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht." (1 Joh 4,20)

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Ehre sei Gott in der Höhe - und Tiefe und Weite

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Unsere Skizzen machen deutlich: Gott ist in uns, und wir werden von Gott getragen. Als der Wurzelgrund unseres Seins trägt er jeden von uns von innen. Damit gilt paradoxerweise zweierlei zugleich: Gott ist in uns, und wir sind in Gott. Biblisch bringt das zum Beispiel der erste Johannesbrief zum Ausdruck:

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„Wer seine Gebote hält, bleibt in Gott und Gott in ihm." (1 Joh 3,24)50

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Gott umgibt uns damit von allen Seiten, zugleich von außen und von innen; in Bezug auf seine Schöpfung ist er zugleich der Größte, Allumfassende, und das Kleinste, Allumfasste, das alles Geschaffene von innen trägt. „Du aber warst noch innerer als mein Innerstes und höher noch als mein Höchstes", schreibt Augustinus.51 Und der Psalmist ruft staunend aus:

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„Du umschließt mich von allen Seiten
und legst deine Hand auf mich.
Zu wunderbar ist für mich dieses Wissen,
zu hoch, ich kann es nicht begreifen.
Wohin könnte ich fliehen vor deinem Geist,
wohin mich vor deinem Angesicht flüchten?
Steige ich hinauf in den Himmel, so bist du dort;
bette ich mich in der Unterwelt, bist du zugegen.
Nehme ich die Flügel des Morgenrots
und lasse mich nieder am äußersten Meer,
auch dort wird deine Hand mich ergreifen
und deine Rechte mich fassen.
Würde ich sagen: ‚Finsternis soll mich bedecken,
statt Licht soll Nacht mich umgeben',
auch die Finsternis wäre für dich nicht finster,
die Nacht würde leuchten wie der Tag,
die Finsternis wäre wie Licht.
Denn du hast mein Inneres geschaffen,
mich gewoben im Schoß meiner Mutter.
Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast.
Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke."
(Psalm 139,5-14)

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Dass Gott uns von allen Seiten, außen und innen, umgibt, macht ein irisches Segensgebet deutlich, das dem heiligen Patrick zugesprochen wird:

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„Der Herr sei vor dir, um dir den rechten Weg zu zeigen.
Der Herr sei neben dir, um dich in die Arme zu schließen und vor Gefahren zu schützen.
Der Herr sei hinter dir, um dich zu bewahren vor der Heimtücke des Bösen.
Der Herr sei in dir, um dich zu trösten, wenn du traurig bist.
Der Herr umgebe dich wie eine schützende Mauer, wenn andere über dich herfallen.
Der Herr sei über dir, um dich zu segnen.
So segne dich der gütige Gott, heute und morgen und immer. Amen."

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* * *

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Dass Gott in mir und - als tragender Wurzelgrund - unter mir ist, wird durch unsere „Weltkreis-Skizze" anschaulich. Gewöhnlich stellen wir uns allerdings eher vor, dass Gott über mir ist und mich umfängt (weil ich in ihm bin). Auch das lässt sich in einer Skizze darstellen.52

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Allerdings müssen wir hier vorsichtig sein. Wenn wir uns Gott „oben" vorstellen, sind wir in größerer Gefahr, Gott auf einen bestimmten Ort festzulegen, - als ob er über bestimmten Menschen wäre und über anderen nicht. Das ist der Grund, warum ich die Skizze mit Gott in der Kreismitte bevorzugt habe. Diese macht nämlich sofort klar, dass es keinen Sinn hat zu sagen: „Gott ist unser Gott und nicht euer Gott". Vielmehr gilt: Je näher wir Gott kommen, einen desto tieferen und innigeren Zugang gewinnen wir auch zu allem anderen was ist.

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Diese Einsicht können wir grundsätzlich auch mit der Vorstellung verbinden, dass Gott über uns ist. Wir müssen uns dazu allerdings vorstellen, dass unser Horizont umso weiter wird, je höher wir kommen, das heißt desto mehr wir uns Gott annähern. Die folgende Skizze soll diese Vorstellung veranschaulichen (s. Abb. 6).

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— Abbildung 6 —

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Die Gesamtheit von dem, was ist und geschaffen ist, wird hier wieder durch eine Kreisoberfläche (oder Kugeloberfläche) symbolisiert. Unsere Verwurzelung in Gott - exemplarisch dargestellt an den Personen A und C - erfolgt gemäß dieser Vorstellung von oben her; mit dem eigenartigen Ergebnis, dass die Wurzeln nach oben immer weiter werden. Würde ein Mensch Gott ganz erreichen - was nach unserem Glauben für Jesus Christus, den menschgewordenen Sohn Gottes zutrifft - dann umfasste er damit den gesamten Horizont - buchstäblich den ganzen Himmel.53

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Durch unsere Verwurzelung in Gott sind wir zugleich mit der ganzen Schöpfung verbunden. Je höher ich mich zu Gott erhebe - zum wahren Gott und nicht einer einschränkenden Vorstellung von ihm - desto weiter werde ich. Oder dasselbe im Bild unserer ersten Weltkreis-Skizze: Je tiefer ich in Gott verwurzelt bin, desto mehr bin ich auf alles andere Geschaffene bezogen. Die größere Tiefe ist die größere Weite.54 Oder dasselbe als eine Erfahrungsweisheit: Man muss tief verwurzelt sein, um sich weit hinauslehnen zu können. Eine tief in Gott verankerte Frömmigkeit macht also nicht eng, sondern weit! Dass es faktisch oft umgekehrt läuft, hängt mit problematisch verzerrten Gottesvorstellungen zusammen.

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Wenn ich mich tiefer auf Gott einlasse und mehr zu Gott erhebe, dann öffnet mich das zugleich auf die ganze Welt hin. Sehr schön wird das ausgedrückt durch die klassische kirchliche Gebetshaltung (Orantenhaltung), bei der die betende Person beide Hände nach oben ausbreitet. Die doppelte Grundbewegung zugleich nach oben zu Gott und in die Weite der Menschheit und Schöpfung wird hier leibhaftig ausgedrückt (siehe Abbildung 7).

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— Abbildung 7 —

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„Danke, dass du mich so liebst"

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Wenn wir Gott allein in unserem Inneren suchen, dann laufen wir Gefahr, uns selbst mit Gott zu verwechseln.55 Suchen wir Gott ausschließlich in einem geliebten Mitmenschen, müssen wir aufpassen, dass wir ihn nicht vergötzen. Dass Gott ganz in der Schöpfung gefunden werden kann und sie dennoch ganz übersteigt (transzendiert), also über ihr steht, wird dort am besten erfahrbar, wo ich Gott zugleich in mir und in anderen finde. Dies geschieht auf hervorragende Weise dort, wo zwei Menschen sich gegenseitig lieben. Dabei findet jeder Gott im anderen und zugleich in sich selbst, weil das eigene Innere vom liebenden Anderen als liebenswert erschlossen wird.

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Wie Gott sich in der gegenseitigen Liebe zweier Menschen als zugleich in und über der Schöpfung stehend offenbart, wollen wir nun mit Hilfe einer weiteren Skizze verdeutlichen.

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* * *

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Nehmen wir an, A und B - nennen wir sie Andreas und Barbara - sind zwei Menschen, die einander lieben. Stellen wir uns idealerweise vor, dass diese gegenseitige Liebe ohne Abstriche rein und geglückt ist. Das heißt, Barbara liebt Andreas nicht bloß wegen seiner äußeren Vorzüge, sondern um seiner selbst willen. Und auf dieselbe reine Weise liebt Andreas Barbara. Was wird diese wechselseitig glückende Liebe bei den beiden Liebenden bewirken?56

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Dort wo ein Mensch sich um seiner selbst willen angenommen und geliebt erfährt, erwachen in ihm Staunen und Dankbarkeit. In diesem Sinn könnte Andreas zu Barbara sagen: „Danke, dass du mich so liebst." - Wie wird Barbara auf diesen Dank antworten? Einerseits wird sie ihn annehmen können, - denn sie weiß, dass es stimmt: Tatsächlich liebt sie Andreas so wie er ist, nicht bloß wegen seiner äußeren Vorzüge. Anderseits weiß sie aber auch: Es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie ihn so lieben kann. Bei anderen Menschen ist ihr eine solche Liebe nicht - oder zumindest nicht im gleichen Ausmaß - möglich. Warum kann sie Andreas so lieben? Sie wird dazu befähigt, weil sie sich ihrerseits als von Andreas geliebt erfährt. Liebe hat eine wunderbare Wirkung: Sie ermächtigt die geliebte Person dazu, ihrerseits zu lieben.

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Die solcherart freigesetzte Liebe kann auch weitere Personen einbeziehen - in einer Familie vor allem die gemeinsamen Kinder. Aber auch auf viele andere Menschen strahlt eine glückende Partnerschaft aus. Auf diese Weise ist eine echte Liebe zwischen zwei Menschen keinesfalls exklusiv. Menschen, die einander in reiner, aufrichtiger Weise lieben, strahlen Liebe und Liebesfähigkeit in die sie umgebende Welt aus. Im Folgenden werden wir diesen wichtigen Aspekt der Fruchtbarkeit von Liebe nicht weiter verfolgen, sondern uns auf die Auswirkungen gegenseitiger Liebe innerhalb einer Paarbeziehung konzentrieren. Barbara weiß also, dass ihre Fähigkeit, Andreas zu lieben, wie er ist, durch dessen Liebe ermöglicht ist. Wollte sie dieses Wissen in Worten ausdrücken, dann würde sie auf den Dank von Andreas antworten:

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„Ich kann dich so sehr lieben, weil du mich liebst. Danke, dass du mich so liebst und mich damit befähigst, selber zu lieben, - dich zu lieben."

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Dieselbe Verdanktheit des Liebenkönnens gilt auch für Andreas. So befinden sich beide in einem Kreis glückender Liebe. Jeder kann zum anderen sagen: „Ich kann dich so lieben, weil du mich so liebst." Unsere Skizze (Abb. 8) stellt das mittels zweier gebogener Pfeile dar, die sich zu einem Kreis schließen.

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— Abbildung 8 —

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Andreas und Barbara wissen nicht nur, dass ihr Lieben durch die Liebe des jeweiligen Anderen ermöglicht wird. Sie wissen auch: Es ist nicht selbstverständlich, dass sie sich in einem positiven Wechselverhältnis gegenseitiger Liebe befinden. Dort, wo ein solcher Kreis der Liebe fehlt, kann er nicht einfach gemacht werden.

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Machen lässt sich nur etwas, das so ähnlich wie der Kreis der Liebe ausschaut. Wesentlich für diesen ist ein freier Austausch gegenseitigen Schenkens, wobei Schenken in einem weiten Sinn zu verstehen ist: Es bezieht sich nicht nur auf materielle Geschenke, sondern auch auf die Gaben von Aufmerksamkeit, Zeit und Zuwendung. Geschenke sind die sichtbaren Symbole für die gegenseitige Liebe und Dankbarkeit. Dass zwei Menschen sich in einem Kreis der Liebe befinden, wird am Austausch von Gaben sichtbar. Aber nicht überall, wo Gaben getauscht werden, ist deshalb auch ein Kreis echter Liebe gegeben.

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Im Unterschied zum Kreis der Liebe ist der Gabentausch, der den Liebeskreis symbolisiert, machbar. Zwei Menschen können versuchen, Liebe zu machen, indem sie sich auf einen gegenseitigen Austausch von Gaben einlassen. Nur führt das nicht automatisch in den Kreis echter Liebe.

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Die Problematik, die sich hier zeigt, wollen wir mit Hilfe eines zweiten Paares überspitzt verdeutlichen: Nehmen wir an, Angelika (A') sagt zu Bruno (B'):

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„Ich fühl mich nicht genügend geliebt, und dir geht es genauso. Tun wir uns also zusammen: Ich nehme dich um deiner selbst willen an, und du nimmst dafür mich um meiner selbst willen an."

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Wie soll das gehen? Wenn Bruno sich auf den Vorschlag von Angelika einlässt: Liebt er sie dann um ihrer selbst willen oder darum, um selbst von ihr geliebt zu werden? Beide können sich zwar einigen, sich gegenseitig Zeit, Aufmerksamkeit und Geschenke zuzuwenden. Damit können sie unter Umständen auch in den Kreis echter Liebe hineinwachsen. Aber machen lässt sich das nicht. Angelika kann nicht Bruno so lieben wie in unserem vorigen Beispiel Barbara den Andreas. Denn um das zu können, müsste sie sich zuerst von Bruno bedingungslos angenommen wissen. Angelika und Bruno können äußerlich einen ganz gleichen Gabentausch vollziehen wie Barbara und Andreas, - und dennoch würde es etwas völlig anderes bedeuten. Wendet Bruno sich Angelika mit der Absicht zu, um auch von ihr die gewünschte Zuwendung zu erhalten, oder tut er es mit der Absicht, um sich für bereits erhaltene Geschenke zu revanchieren? Wenn eine dieser beiden Möglichkeiten zutrifft, wenn Bruno also mit seiner Gabe eine Absicht, einen Zweck, verfolgt, dann ist die Gabe nicht mehr frei, um das Entscheidende auszudrücken: dass er Angelika liebt, das heißt, dass er sich ihr um ihrer selbst willen zuwendet.

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Kehren wir zu unserem glücklichen ersten Paar zurück. Andreas und Barbara wissen, dass der Kreis glückender Liebe (mit ihrer wechselseitigen Erfahrung, um ihrer selbst angenommen zu sein) nicht selbstverständlich ist. Weil sie auch den frustrierenden Typ der Angelika-Bruno-Beziehungen kennen, wissen sie, dass sie den glückenden Kreis der Liebe nicht aus Eigenem heraus machen konnten. Aus diesem Wissen erwächst eine gemeinsame Dankbarkeit, die sich mit den Worten ausdrücken lässt: „Danke, dass wir einander so lieben können."

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Diese Dankbarkeit hat mit dem Dank zu tun, den sie aneinander richten; er reicht aber zugleich darüber hinaus. Wer ist der Adressat dieses gemeinsamen Dankes? Nichtreligiöse Menschen werden sich schwer tun, diese Frage zu beantworten, obwohl auch ihnen die Erfahrung solcher Dankbarkeit zugänglich ist.57 Religiöse Menschen können den oder das, woraufhin sich dieser gemeinsame Dank richtet, als Gott benennen.

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Wir können diesen Zusammenhang mit einer weiteren Skizze veranschaulichen (siehe Abbildung 9).

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— Abbildung 9 —

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„Danke, dass du mich so liebst" - „Danke, dass wir einander so lieben können." Die Bewegung des Dankes, der aus der mitmenschlichen Liebe entspringt, ist ganz auf die andere Person gerichtet und richtet sich doch vermittels dieser anderen Person auf Gott. Gott eröffnet sich dem Liebenden zugleich in und über der geliebten Person. Indem eine Person den geliebten Anderen findet, findet sie Gott. So zeigt sich an der gelingenden zwischenmenschlichen Liebe am deutlichsten ein positives Wechselverhältnis von Gottesbeziehung und zwischenmenschlicher Beziehung: Je mehr ich beim Anderen bin - in dessen personaler Einmaligkeit, die nur die Liebe erreicht - desto mehr bin ich bei Gott.

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„Danke, dass wir einander so lieben können." - Die gemeinsame Erfahrung gegenseitiger Liebe erschließt eine Quelle, die in den Geliebten und doch über ihnen liegt. Diese Quelle wird seit jeher mit dem Namen Gott benannt. Dankbarkeit richtet sich auf diese göttliche Quelle, - und Dankbarkeit will Du sagen. So ist die Erfahrung zwischenmenschlicher Liebe zutiefst geeignet, die Vorstellung von einem personalen Gott zu begründen. Diese Du-Dimension Gottes ist absolut zentral für das biblische Gottesverständnis. Wenn wir Gott als Wurzelgrund des Seins verstehen - wie in unseren ersten Skizzen -, scheint das Du eines personal verstandenen Gottes schwer zugänglich zu sein. Die Dankbarkeitserfahrung, die der gemeinsamen Liebe entspringt, erschließt die Du-Dimension Gottes. Zudem ist die zwischenmenschliche Liebeserfahrung wichtig dafür, dass man Gott nicht mit einer innerweltlichen Wirklichkeit verwechselt: Wenn ich denselben Gott zugleich in mir und im geliebten Anderen wahrnehme, dann kann ich ihn weder mit mir noch mit dem geliebten Anderen verwechseln; nicht mit mir, weil er darüber hinaus auch im Anderen erscheint; und nicht im Anderen, weil er sich mir darüber hinaus im Wurzelgrund des eigenen Seins offenbart.

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Das Verhältnis Gottes zu einer geschaffenen Wirklichkeit können wir deshalb mit drei Schlüsselworten ausdrücken: Gott ist zugleich in, über, und gegenüber dieser Wirklichkeit. Zwischen allen drei Aspekten muss eine Balance gefunden werden. Diese Balance wird durch die christliche Erfahrung eines trinitarischen Gottes angezielt:

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Gott über mir: Vater
Gott gegenüber von mir: Sohn
Gott in mir: Heiliger Geist

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Gottbezug - Weltbezug - Selbstbezug

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Eine Gottesbeziehung, wie sie sich aus dem Kreis glückender Liebe erschließt, ist von Grund auf weltoffen. Hier gilt tatsächlich: Je mehr ich bei Gott bin, desto mehr bin ich bei meinen Mitmenschen, - oder noch allgemeiner: desto mehr bin ich bei der Welt.58 Von einer solchen Sichtweise her erweisen sich Christen nicht als weltfremd oder weltflüchtig, sondern als tief mit der Welt verbunden. Sie sind „in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt"59. Und gerade weil sie „nicht von dieser Welt sind", sondern in Gott, der die Welt transzendiert, verwurzelt sind, haben sie einen Sinn für die Tiefendimension der Welt, - für deren unverfügbares Geheimnis. Ihr Gottesglaube hilft ihnen, sich tiefer auf die Welt und auf die Menschen einzulassen.

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In der gelingenden Beziehung zum Mitmenschen erfahre ich mich zugleich als geliebt und als zur Liebe befähigt. So eröffnet sich mir durch die zwischenmenschliche Liebe mein tiefstes Geheimnis, meine Verwurzelung in Gott. Der mich liebende Mensch vermag mir zuzusagen:

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„Du bist ein unerschöpfliches Geheimnis. In dir eröffnet sich mir Gott. Meine Liebe zu dir ist für mich ein Gottesdienst."

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Gottbezug, Selbstbezug und Weltbezug - der in der zwischenmenschlichen Liebe seinen Höhepunkt findet - sind damit untrennbar verbunden. Wer Gott findet, dem erschließt sich zugleich die Welt mit den Mitmenschen, und dem öffnet sich die Geheimnishaftigkeit der eigenen Subjektivität. Wer wirklich sich selber gefunden hat, findet dadurch Gott und ist so befähigt, den Nächsten zu lieben. Und wer einen anderen Menschen ganz gefunden hat, dem kann in dieser Tiefe die ganze Weite der Mitmenschen und der Welt, aber auch der eigenen Subjektivität aufgehen. Es gilt: Die größere Tiefe ist die größere Weite.

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4. SÜNDENFALL: WIE MAN GOTT VERLIERT

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Im tiefsten Wurzelgrund unseres Seins können wir Gott finden. Über diesen Weg erhalten wir zugleich einen inneren Zugang zu anderen Menschen und überhaupt zu allem, was ist, auch über irdische Grenzen hinweg. Alles Geschaffene spiegelt die göttliche Herrlichkeit wider, und so können wir Gott im Nächsten und in allen Dingen finden. Aus dem glückenden Kreis der Liebe erschließt sich eine Dankbarkeit, „dass wir einander so lieben können", - eine Dankbarkeit, die uns das Du Gottes als Ziel des Dankes eröffnet. Und auf diese Weise sind Gott, Nächster, Welt, Selbst zugleich und ineinander die Ziele glückender Bezugnahmen.

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So lautet eine knappe Zusammenfassung des dritten Kapitels, das die Welt als Gottes Schöpfung beschrieb, in der Gott den Menschen gegeben ist. Aber ist diese Sichtweise nicht rettungslos idealistisch? Ist das nicht der träumerische Entwurf eines Paradieses?

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Das ist genau die Frage, die auch die ersten beiden Kapitel der Bibel mit ihren beiden Schöpfungsgeschichten aufwerfen (S. 35). In einer dichten, bildhaften Sprache beschreiben sie nämlich diese wechselseitige Vertrautheit von Gott, Nächstem, Welt und Selbst, die wir im vorigen Abschnitt entfaltet haben. Allerdings verbindet die Bibel diese ideale Sichtweise mit dem realistischen Blick auf eine Welt voller Übel und Gewalt. Zwischen dem „Sehr gut" des Anfangs und dem späteren „Verdorben und voller Gewalt" spannt die biblische Urgeschichte einen dramatischen Bogen von sich verschärfenden Sündenfällen. Das erste und schwierigste Bogen-stück, im Übergang von einem schattenlosen „Sehr gut" zum Keim der Sünde in der Welt, mit einer resultierenden Beeinträchtigung aller menschlichen Grundbezüge, wird durch die Sündenfallerzählung von Adam und Eva im Paradies abgedeckt: nicht Sünde im eigentlichen Sinn - dieses Wort kommt in der biblischen Erzählung gar nicht vor - sondern Wurzelsünde, im Sinne von Wurzel aller Sünde. Vom Ausgang dieser Geschichte gewinnt alles Folgende eine bedrückende Plausibilität.

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Auf diesen Bogen von einer guten zu einer verdorbenen Schöpfung haben wir im zweiten Kapitel schon hingewiesen; ebenso wie auf die Weise, wie wir diese Anfangsgeschichte zu verstehen haben:

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  • zum einen als Wesensgeschichte (vgl. S. 26), die uns bleibend Aktuelles über den Menschen und den Zustand der Schöpfung erschließt: Tief in unserem Inneren sind wir unverlierbar mit Gott verbunden. Selbst wenn dieser Wurzelgrund verschüttet und die aus ihm quellenden Kräfte ins Destruktive pervertiert werden: Zumindest im Verlauf eines menschlichen Lebens kann diese göttliche Urbeziehung niemals vollständig abgeschnitten werden.60 Jede Situation unseres Lebens ist so zugleich von zwei gegenläufigen Grundbestimmungen („Existenzialien") geprägt: von Schöpfung und Sündenfall, vom durch Schöpfung gegeben Gott und vom durch Sünde verlorenen Gott.
  • Zum anderen heilsgeschichtlich:61 Die jederzeitige (existenziale) Ausgespanntheit des Menschen zwischen bleibender Gottbezogenheit und Gottesverlust erzeugt typische Ereignismuster, aus denen sich unsere Geschichte (biblisch und heutig; individuell, gemeinschaftlich, gesellschaftlich und global) in Richtung auf Heilsgeschichte oder auf Unheilsgeschichte entwickelt. Es gibt typische Ereignismuster, gemäß denen wir den nahen Gott verlieren, in denen eine glückliche Beziehung sich zum Schlechten wendet, in denen gesunde Selbstachtung zu Stolz pervertiert wird, in denen der dankbar-achtsame Umgang mit Schöpfung sich in einen respektlosen Missbrauch verkehrt. Und es gibt umgekehrt Ereignismuster der Erlösung, gemäß denen wir den verlorenen Gott wiederfinden, - auch jeweils in den verschiedenen Grundbezügen des Menschen zu Mitmensch, Welt, sich selbst und Gott.62 Das Erstgenannte sind typische Situationen eines Sündenfalls, in denen Gott für Menschen ein Stück weit verloren geht. Um sie wird es in diesem Kapitel gehen. Ihre „Logik" wird richtungsweisend in der paradiesischen Sündenfallgeschichte entwickelt.
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Wenn Gottesbeziehung, mitmenschliche Beziehung und Selbstbezug so eng miteinander verwoben sind, dann muss auch negativ gelten: Wer Gott verliert, verliert eben dadurch seinen Mitmenschen und auch sich selbst. Die biblische Sündenfallgeschichte ist die exemplarische Geschichte vom verlorenen Gott. Von unseren Analysen der mitmenschlichen Liebe her können wir nun besser erschließen, wie diese Geschichte zu verstehen ist.

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Selbstabschließung vom göttlichen Wurzelgrund

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Auch wenn wir über den göttlichen Grund, in dem wir wurzeln, nicht nochmals verfügen können, so können wir doch in Freiheit zu dieser unserer Verwurzelung Stellung nehmen. Wir können Ja oder Nein dazu sagen. Ein Nein bedeutet, dass ich mein Dasein niemandem verdanken will. Ich verhalte mich so, als wäre ich der absolute Ursprung all meiner Leistungen und Vorzüge. Ein Ja zum eigenen wurzelhaften Gottbezug bedeutet hingegen, dass ich dankbar meine Begründetheit annehme. Wer auf diese Weise dankbar ist, dankt Gott für seine ganze Existenz. Er dankt also nicht nur dafür, dass ihm dieses und jenes geschenkt wurde, sondern auch für alles, was er selber tut. Das ist möglich, weil Gott der ermöglichende Grund auch für unser Tun ist.63

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Wo ich dankbar Gottes Herrlichkeit widerspiegle, werden meine Schönheit und das Gute, das ich vollbringe, durchscheinend auf Gottes Herrlichkeit. Wenn Menschen mir begegnen, haben sie die Möglichkeit, Gott zu erfahren. Es geht ihnen das Herz auf, und sie werden selber dazu angeregt, Gottes Schönheit und Gutheit widerzuspiegeln. Wahre Schönheit und authentische Gutheit wirken ansteckend.

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Wenn ich hingegen ausschließlich aus mir selbst heraus scheinen möchte, dann wird meine Erscheinung undurchsichtig; ich bin nicht mehr auf Gott hin transparent. In meiner Weigerung, mich zu verdanken, verhalte ich mich selbstherrlich; ich will ein Licht sein, das ausschließlich aus sich selbst heraus strahlt.

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Man kann auch damit einen faszinierenden Glanz an Schönheit oder auch an Leistungsfähigkeit entwickeln. Aber die Wirkung ist hier eine ganz andere: Menschen werden dadurch irritiert und beunruhigt. Eine dermaßen glänzende Attraktivität ist exklusiv im Sinne von ausschließend; sie gibt anderen Menschen das Gefühl, vergleichsweise hässlich und minderwertig zu sein. Auf diese Weise wirkt auch die Selbstherrlichkeit ansteckend: Menschen werden dazu verführt, ihrerseits eine selbstherrliche Attraktivität vorzuspielen, um nicht als minderwertig zu erscheinen.

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Beides - die reine durchscheinende Schönheit und die selbstherrliche Brillanz sind Extremformen, die wir nur selten in Reinform antreffen. Manchmal begegnen wir einer vor Güte strahlenden Person, die vielleicht nach äußerlichen Kriterien hässlich sein müsste, aber doch eine warme Schönheit ausstrahlt, die berührt. Im äußersten Gegensatz dazu steht manches Fotomodell, das zwar makellos schön ist, aber in ihrer kalten Sterilität die Ausstrahlung einer Barbiepuppe hat. Beides sind seltene Extreme; gewöhnlich wirken Menschen auf eine uneindeutige Weise irgendwo zwischen diesen Extremen. Durchscheinende Schönheit und glattes Brillieren sind miteinander vermischt, sie überlagern sich zu einem Zwielicht. Es hängt dann von der Herzensreinheit der wahrnehmenden Person ab, ob sie hier noch staunend die Spuren von authentisch Schönem aufnehmen kann oder sich vom falschen Glanz irritieren lässt.

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Sein wie Gott - höchste Verheißung und schlimmste Versuchung

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Von daher erschließt sich uns eine seltsame Doppeldeutigkeit der biblischen Sündenfallgeschichte: Wie Gott zu sein ist einerseits die höchste Verheißung und anderseits die fundamentale Versuchung, die gemäß der Paradiesgeschichte in den Sündenfall führt. Einerseits soll der Mensch danach streben, wie Gott zu sein, anderseits muss er es unter allen Umständen vermeiden.

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Sein-wie-Gott ist einerseits höchste Verheißung: Im Hinblick auf die schöpfungsmäßig dem Menschen gegebene und aufgegebene Gottebenbildlichkeit ist der Mensch wie Gott. Und er soll versuchen, es immer mehr zu werden: „Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist" (Mt 5,48). Die schöpfungsgemäß gute Person lässt Gott aus sich heraus durchscheinen. Wer sie sieht, dem geht zugleich Gott auf, - und zwar, ohne dass er in Versuchung geführt würde, den guten Mitmenschen mit Gott zu verwechseln. Wie wir am Modell der glückenden Liebe gesehen haben, geht ihm je ganz der Andere als er selber und zugleich damit Gott auf.

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Sein-wie-Gott ist anderseits die fundamentale Versuchung, die in den Sündenfall führt:

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„Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse." (Gen 3,4-5)

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Wie kann das Wie-Gott-Sein zugleich Schöpfungsgeschenk und Inbegriff der Sünde sein? Der Widerspruch löst sich, wenn wir zwei gegensätzliche Formen eines Wie-Gott-Seins annehmen. Es gibt ein dankbar angenommenes Wie-Gott-Sein, in dem Sinn, dass der Mensch die Schönheit seines göttlichen Grundes dankbar widerspiegelt. Und es gibt ein selbstherrliches Wie-Gott-Sein, mit dem ein Mensch allein aus sich selbst heraus wie ein Gott erscheinen will. Der Unterschied zwischen beiden besteht in der vollzogenen oder verweigerten Dankbarkeit.

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Das Sein ist dem Menschen als Geschenk gegeben. Er ist dazu berufen, dieses Geschenk in Freiheit dankend als Geschenk anzunehmen. Dankend verweist er in seinen Vollzügen auf eine Dimension, die sich in ihm zeigt und ihn doch übersteigt. Wer aus solcher Dankbarkeit lebt, gelangt in eine Grundhaltung der Demut, die mit einem Wissen um die eigene Würde im Sinne von Selbstvertrauen, Selbstgewissheit und Selbstachtung nahtlos zusammengeht. Die Lebenshaltung der Dankbarkeit macht den Menschen durchscheinend auf Gott hin, - wer ihn sieht, dem geht etwas von Gottes Güte und Gnade auf. Man kann sagen: Er ist mit Gott wie Gott.

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Der Mensch kann aber auch verleugnen, dass das, was er ist und leistet, zugleich von Gott geschenkt ist. Dann verdeckt er seine wurzelhafte Verdanktheit, schämt sich ihrer und verhält sich in einer selbstherrlichen Weise: Er versucht, ohne Gott wie Gott zu sein.

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Im Sündenfall rutscht der Mensch von einer Lebensform des Mit-Gott-wie-Gott-Seins ab zum Lebensprojekt eines Ohne-Gott-wie-Gott-Seins, - ein verzweifeltes Lebensprojekt, das zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist.

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Ein Verbot als Preis für die menschliche Freiheit?

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Erinnern wir uns an die massive Kritik am Gott der Sündenfallgeschichte, wie wir sie im ersten Kapitel wiedergegeben haben. Mit Reimarus und Alice Miller fragten wir: Warum hat Gott einen Baum mit verbotenen Früchten in die Mitte des Paradiesgartens gestellt? Wollte er den Menschen eine Falle stellen?

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Viele Bibelleser antworten spontan: Nein, das war keine Falle, sondern eine Erprobung. Und diese Erprobung hatte einen positiven Sinn für die Menschen. Gott schenkte ihnen damit die Freiheit, zu Ihm ja oder nein zu sagen.64

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Die Antwort klingt fürs erste überzeugend; bei näherem Hinsehen erweist sie sich aber als sehr problematisch. Eine Erprobung funktioniert nach dem Prinzip: „Wenn du X tust, dann beweist du damit, dass du mich ablehnst." Das macht aber nur Sinn, wenn zwischen der erprobenden Person und der Tat X ein innerer Zusammenhang besteht, der auch für die erprobte Person einsichtig ist. Wenn zum Beispiel bei einer Hungersnot eine Frau zu ihrem Lebensgefährten sagt: „Bitte iss nicht von dem lebenswichtigen Vorrat, denn damit würdest du beweisen, dass du verantwortungslos bist, und dass dir auch mein Schicksal egal ist", dann wäre eine solche Warnung zwar immer noch seltsam, weil sie eine Haltung des Misstrauens voraussetzt, aber es wäre zumindest ein Sinnzusammenhang zwischen verbotenem Gegenstand und dem Wohl für die „erprobende" Person gegeben. Ein solcher Zusammenhang wäre aber für Adam und Eva nicht ersichtlich, wenn Gott einfach einen beliebigen Baum in die Gartenmitte stellen würde, und sagen würde: „Wenn ihr von diesem Baum esst, dann beweist ihr damit, dass ihr mich ablehnt."

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Aber besteht der Zusammenhang nicht darin, dass Gott dem Menschen ein Gebot gibt? Muss Er denn - als Gott - dieses Gebot vor den Menschen erst noch begründen? Gott könnte ja auch dem Menschen sagen: „Daran, ob ihr meine Gebote und Verbote bedingungslos befolgt, auch dort wo ihr sie nicht einseht, entscheidet sich, ob ihr mich als euren Gott haben wollt oder ablehnt. Ein solches Verbot gebe ich euch in Bezug auf diesen Baum in der Mitte des Gartens."

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Das wäre vorstellbar, und seit Jahrtausenden haben sich viele Menschen - auch kluge Theologen - Gott so vorgestellt. Aber geht das zusammen mit einem Gott, der die Menschen als sein Ebenbild, als Mitschaffende und Mitliebende geschaffen hat? Damit das der Fall ist, muss das Paradiesverbot einen tieferen Sinn haben; es genügt nicht, dass es bloß ein willkürlicher Gegenstand ist, an dem Gott das Verhältnis der Menschen zu Ihm austesten wollte.

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Die Sündenfallgeschichte macht dann tatsächlich einen inneren Zusammenhang zwischen Verbot und Gottesbeziehung deutlich: Die Schlange untergräbt das Vertrauen der Menschen zu Gott, und erst aus ihrem Misstrauen heraus wird der verbotene Baum für sie begehrenswert. Wenn sie schließlich davon essen, geht es nicht nur um den Reiz irgendeiner verbotenen Frucht; die ersten Menschen versuchen, sich etwas von Gott zu holen, von dem sie glauben, Er habe es ihnen aus Missgunst vorenthalten.

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Das Misstrauen konnte die Schlange säen, weil Eva keinen positiven Sinn für das Verbot sah. So konnte die Schlange Eva zur Überzeugung verführen, Gott habe den Baum aus einem geheimen und bösen Grund verboten: weil Er verhindern wollte, dass die Menschen Ihm gleich würden.

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Es kommt vor, dass jemand den Grund für ein Verbot nicht einsieht; dann ist es tatsächlich eine Sache des Vertrauens, ob er an dem Verbot festhält. Wenn es aber überhaupt keinen sinnvollen Grund für ein Verbot gibt, dann ist durch die Aufstellung des Verbots das Verhältnis zwischen Verbietendem und Verbotsempfänger schon getrübt. Wer ein Willkürverbot setzt, markiert damit einen unüberwindlichen Abstand - einen Respektabstand - zwischen Befehlendem und Befehlsempfänger. Ein solches Verhältnis zwischen Gott und Geschöpf ist denkbar und wurde auch oft gedacht; es geht aber nicht zusammen mit der biblischen Sicht des Menschen als Gottes Ebenbild, als mitschaffendem und mitliebendem Partner Gottes. Wer sagt, Gott habe ein willkürliches Verbot aufgestellt, um damit dem Menschen zu ermöglichen, zu Gott ja oder nein zu sagen, der gibt damit, ohne es zu wollen, der Schlange Recht: „Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott ..." - Der willkürlich von Gott aufgestellte Respektabstand wäre getilgt.

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Damit wir nicht gezwungen sind, der Position der Schlange Recht zu geben - einer Position, die über Gnosis und Aufklärung bis in die Gegenwart immer wieder vertreten wurde -, muss es einen guten Grund dafür geben, warum Gott in der Mitte des Paradieses ein Verbot aufrichtete:

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„... doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben." (Gen 2,17)

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Diese Forderung scheint zunächst unlösbar zu sein. Das Verbot würde zwar einem guten Gott entsprechen, wenn Gott vor Folgen der Übertretung - den Tod - warnen würde, für die er nicht selber verantwortlich ist; wenn es also zum Beispiel einen Teufel gäbe, der den vermaledeiten Baum hineingestellt hätte. In diesem Fall wäre Gott zwar gut, aber nicht allmächtig. Wenn Er aber selber für Baum und Verbot verantwortlich ist, wie kann der warnende Gott dann noch als gut erscheinen? Es wäre das Willkürverbot eines Willkürgottes, der sich dadurch als besonders schlecht erweisen würde, dass er die Menschen vorher auf freie Selbstentfaltung hin geschaffen hat. Die Kritik von Gnosis, Aufklärung und Gegenwartsschriftstellern, ja schon die Kritik der Schlange, scheint unausweichlich zu sein.

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Im Folgenden werden wir einen Vorschlag ausarbeiten, der dennoch - gegen alle scheinbare Unmöglichkeit - einen Ausweg eröffnet. Wir werden sehen,

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  • dass es etwas gibt, was Gott dem Menschen nicht geben kann, auch wenn er wollte;
  • dass dadurch Gottes Allmacht dennoch nicht beschnitten wird;
  • dass für den Menschen tatsächlich die gefährliche Möglichkeit besteht, zu versuchen, sich dieses Bestimmte, das Gott nicht geben kann, anzueignen;
  • dass die Folge dieses Aneignungsversuches tatsächlich der Tod ist: als Zerstörung von Beziehung auf allen Ebenen;
  • und dass es folglich der angemessene Ausdruck eines guten und zugleich allmächtigen Gottes ist, dass er die Menschen vor diesem Aneignungsversuch warnt.
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Was Gott dem Menschen nicht geben kann, selbst wenn er wollte

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Es gibt etwas, was selbst ein allmächtiger Gott dem Menschen nicht geben kann, auch wenn er wollte. Dass es so etwas gibt und worin es besteht, wollen wir nun mit Hilfe eines Gedankenexperiments erschließen. Stellen wir uns vor, Gott habe dem Menschen an allem Ihm Zugehörigen Anteil gegeben, ohne ihm auch nur irgendetwas vorzuenthalten. Wir können das mit folgender Skizze darstellen, in der die verschiedenen Punkte für „Eigenschaften" stehen, die Gott zugehören. Welcher Art diese Eigenschaften sind, wollen wir hier völlig offen lassen. Es kann sich um Wesensmerkmale handeln, aber auch „Eigenschaften" im Sinn von irgendwelchen Dingen oder Merkmalen, die Gott zu eigen sind. Alle Eigenschaften würden gemäß unserer Annahme auch dem Menschen zuzuschreiben sein, weil Gott ihm in seiner grenzenlosen Freigebigkeit daran Anteil gegeben hat: (siehe Abbildung 10).

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abb10

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— Abbildung 10 —

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Das wäre nun sicher eine Situation, in der man Gott keine Missgunst vorwerfen könnte, so wie die Schlange es in der Sündenfallgeschichte getan hat. Und auch die Kritik von Reimarus und Alice Miller würde angesichts einer solchen Annahme haltlos. So etwas wie ein verbotener Baum scheint ja im Rahmen dieser Vorstellung keinen Platz zu haben.

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Allerdings verbleibt auch bei dieser Grenzüberlegung ein Unterschied zwischen Gott und Mensch, der sich unmöglich beseitigen lässt: Für all die Merkmale a, b, c, d, ... die wir Gott zuschreiben und folglich auch dem Menschen zuerkennen, können wir sagen: Gott hat sie ursprünglich aus sich heraus. Beim Menschen jedoch müssen wir sagen: Der Mensch hat sie nicht ursprünglich aus sich heraus, sondern als von Gott verdankt. Damit „hat" Gott also immer noch etwas, was der Mensch nicht „hat". Es handelt sich dabei nicht um eine Eigenschaft im eigentlichen Sinn, sondern um eine Eigenschaft von Eigenschaften, - eine „Meta-Eigenschaft", die alle anderen Eigenschaften betrifft. Wir können diese Eigenschaft als Unverdanktheit bezeichnen (siehe Abbildung 11).

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abb11

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— Abbildung 11 —

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Unser Versuch, einen Gott zu denken, der dem Menschen an absolut allem Eigenen Anteil gibt, scheitert an der Eigenschaft der Unverdanktheit. Gott hat alles, was er hat, aus sich selbst heraus, während dies für den Menschen nicht zutrifft. Diesen Unterschied kann man Gott nicht als mangelnde Freigebigkeit anlasten; er besteht aus logischen Gründen. Gott kann dem Menschen nicht schenken, dass der Mensch das, was er von Gott hat, nicht von Gott, sondern ausschließlich aus sich selbst heraus hat. Dass Gott das nicht kann, ist logisch zwingend und deshalb keine Beschränkung seiner Allmacht.65

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Trotz dieser logischen Unmöglichkeit ist es vorstellbar, dass der Mensch danach strebt, „wie Gott" alles aus sich selbst heraus zu haben. Allerdings ist das ein grundsätzlich unerfüllbares Streben, das den Menschen in die Verzweiflung treiben muss. Deshalb ist es angemessen, dass Gott den Menschen vor einem solchen Streben warnt. Eine solche Warnung entspricht ganz der liebenden Fürsorge eines Gottes, der zugleich gut und allmächtig ist.

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Von daher können wir das göttliche Verbot im Paradies nun auf eine befriedigende Weise deuten:

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„Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben." (Gen 2,16-17)

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Nach unserer Deutung sagt Gott zum Menschen: „Alles steht dir offen, nach allem darfst du streben. Nur vor einem warne ich dich dringend: Versuch nicht, das dir Gegebene als ausschließlich in dir gründend zu beanspruchen. Hüte dich vor den Früchten des Baums der Unverdanktheit."

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Die Parabel von der perfekten Spinne

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Es gibt eine Parabel, die das hier Gemeinte treffend zum Ausdruck bringt:

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„Eine Spinne hatte ein wunderschönes Netz gewoben. Immer wieder kletterte sie hin und her, um sich an ihrem Werk zu freuen, viele Tage lang. Wahrhaftig, ein perfektes Netz! Eines Tages stieß die Spinne auf etwas, das nicht in das vollkommene Bild passte. Da war ein Faden, der reichte von einem Netzknoten aus kerzengerade nach oben. Nur dieser eine Faden war zu viel. Er begann sie zu stören. Wenn sie ihn entfernte, dann erst hätte sie wirklich das perfekte Netz. Schließlich kroch die Spinne zu diesem Faden und biss ihn durch. - Das Netz brach in sich zusammen. Die Spinne hatte übersehen, dass es dieser Faden war, an dem das Netz aufgehängt war."66

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Viele Fäden sieht die Spinne vor sich, und alle stehen ihrem Gestaltungswillen frei zur Verfügung, bis auf einen einzigen Faden. Wir können uns die Stimme eines guten Gottes vorstellen, der die Spinne warnt: „An alle Fäden darfst du rühren, nur an den einen nicht". - Und wir können uns eine verführerische Schlange vorstellen, die die Spinne lockt: „Hat Gott wirklich gesagt, du darfst an keinen Faden rühren?" - Und weiter sagte die Schlange zur Spinne: „Nein du wirst nicht sterben, Gott weiß vielmehr: Sobald du an diesen Faden rührst, gehen dir die Augen auf. Du wirst wie Gott und erkennst Gut und Böse." - Da sah die Spinne, dass es köstlich wäre, in diesen Faden zu beißen ...

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Der gefährliche Faden im Gleichnis von der Spinne steht - im wahrsten Sinn des Wortes - für Abhängigkeit; und zwar nicht für eine willkürliche Abhängigkeit, von der man sich emanzipieren könnte, sondern für eine konstitutive Abhängigkeit. Die weise Spinne wird diesen Faden dankbar hüten, sie gibt ihr Halt und Beziehung nach oben. Der Spinne, die die Dankbarkeit verloren hat, wird dieser Faden zum Stein des Anstoßes. Er stört das ansonsten perfekte Netz einer vollkommen sich in sich selber schließenden Autonomie.

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Entsprechend zielt unser Deutungsvorschlag darauf hin, den verbotenen Baum als Unverdanktheit zu interpretieren. Oder vorsichtiger gefasst: Wenn wir den verbotenen Baum als Unverdanktheit verstehen, entkommen wir dem Dilemma, das wir am Ende des vorigen Kapitels beschrieben haben: dass wir Gott angesichts des Paradiesverbots entweder als allmächtig und nicht-gut (als Willkürgott gemäß der Kritik von Reimarus) oder als gut und nicht allmächtig verstehen: als warnend vor einer Gefahr, die von einer (teuflischen) Macht ausgeht, über die Gott nichts vermag.

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* * *

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Überprüfen wir, ob wir das Ziel erreicht haben, das wir uns zur Überwindung dieses Dilemmas gesteckt haben. Wir hatten uns vorgenommen zu zeigen,

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  • dass es etwas gibt, was Gott dem Menschen nicht geben kann, auch wenn Er wollte: das ist die Unverdanktheit;
  • dass dadurch Gottes Allmacht dennoch nicht beschnitten wird: Sie wird nicht beschnitten, weil Gott dem Menschen aus logischen Gründen nicht geben kann, dass er das, was er von Gott erhalten hat, ausschließlich aus sich selber hat;
  • dass für den Menschen tatsächlich die gefährliche Möglichkeit besteht, zu versuchen, sich dieses Bestimmte, das Gott nicht geben kann, anzueignen: Der Mensch kann versuchen, in einer nicht verdankenden Weise alles, was ihm gegeben und aufgegeben ist, ausschließlich sich selber zuzuschreiben;
  • dass die Folge dieses Aneignungsversuches tatsächlich der Tod ist: Wenn der Mensch versucht, alles ausschließlich auf sich selbst zurückführen, dann weist er alles zurück, was Gabe Gottes ist; da aber alles, was er hat und ist, Gottes Gabe ist, ist die äußerste Konsequenz dieser Zurückweisung der Tod.
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Folglich entspricht es einem guten und zugleich allmächtigen Gott, wenn er die Menschen warnt: „Alles steht dir offen, nach allem darfst du streben. Nur vor einem warne ich dich dringend: Versuche nicht, das dir Gegebene als ausschließlich in dir gründend zu beanspruchen. Hüte dich vor den Früchten des Baums der Unverdanktheit."

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Der Mensch: nicht grenzenlos, aber auf Grenzenlosigkeit hin

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Um ein richtiges Verständnis vom verbotenen Baum zu finden, haben wir uns von einem Gedankenexperiment leiten lassen: Was wäre, wenn Gott dem Menschen alles geben wollte. So sind wir auf eine logische Grenze gestoßen, die uns zeigte, was Gott dem Menschen nicht geben kann, - nämlich dass er das, was er von Gott erhalten hat, ausschließlich („wie Gott") aus sich allein hat, - ohne es Gott zu verdanken. Und wir sahen: Es ist dennoch möglich, dass der Mensch nach diesem Unmöglichen greifen will. So hat es auch einen Sinn, dass Gott davor warnt.

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Aber hat Gott dem Menschen wirklich alles geben wollen? Gewiss nicht. Er hat ihm vieles gegeben, aber nicht alles. Das ist der Grund, warum wir von einem Gedankenexperiment gesprochen haben. Nun müssen wir zeigen, wie sich unsere experimentell erschlossene Überlegung zu dem verhält, was die Bibel wirklich sagt.

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Zunächst: Gott hat dem Menschen vieles gegeben, aber nicht alles. Manche Beschränkungen - wie Krankheit und Tod - werden von der Bibel auf die Sünde zurückgeführt. Aber es gibt auch Grenzen, die dem Menschen unabhängig von der Sünde vorgegeben sind. So hat Gott die Menschen nicht als allmächtig und nicht als allwissend geschaffen. Warum nicht? Einiges spricht dafür, dass Gott den Menschen die Möglichkeit geben wollte, sich am Werk seiner Schöpfung aktiv zu beteiligen. In Gemeinschaft mit Gott sollten sie sich selbst und einander auf Vollkommenheit hin entfalten. Gott hat den Menschen nicht grenzenlos, aber auf Grenzenlosigkeit hin geschaffen.

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In diesem Sinn können wir einen biblischen Text verstehen, der doch zu bestätigen scheint, dass Gott den Menschen alles gibt:

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„Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt, bei denen, die nach seinem ewigen Plan berufen sind; denn alle, die er im voraus erkannt hat, hat er auch im voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene von vielen Brüdern sei. Die aber, die er vorausbestimmt hat, hat er auch berufen, und die er berufen hat, hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht. - Was ergibt sich nun, wenn wir das alles bedenken? Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns? Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?" (Röm 8,28-32)

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Nach dem Neuen Testament sind die Menschen zu einer grenzenlosen Herrlichkeit bestimmt und berufen. Das ist die Vollendung, auf die hin sie hoffend unterwegs sind. Aber es ist nicht schon der Anfang. Zu unserem In-der-Welt-Sein gehören Grenzen, und zwar nicht nur solche, die auf die Situation der Sünde zurückzuführen ist. Wir sind nicht allmächtig und nicht allwissend. Wir sind endliche und fehlbare Wesen. Und das ist nicht schlecht. Auch mit diesen Begrenzungen können wir in jenem ungetrübten Verhältnis zu Gott, Welt, Nächstem und uns selbst leben, das der Paradiesgarten darstellt.

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Der Paradiesgarten mit seinen reichen Bäumen, „verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten" (Gen 2,9) ist ein Ort der Fülle, aber nicht der Grenzenlosigkeit. Er ist kein Schlaraffenland, weder für sinnliche noch für geistige Genüsse. Die Bezeichnung Paradies ist nicht ursprünglich und kann hier in die Irre führen.67 Die Bibel spricht vom Garten Eden, und das bedeutet Wonne. Diese Wonne entspringt aus einer ungetrübten, liebenden Beziehung zu Schöpfung, Mitmensch, Selbst und Gott. Sie kann auch dort erfahren werden, wo menschliche Möglichkeiten begrenzt sind. Die Wonne des Gartens Eden ist sogar möglich in einem Zustand der Armut und Nacktheit.

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„Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander." Gen 2,25

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Übersieht man diese wesentliche Begrenztheit, dann wird das biblische Paradies zu einem Phantasiekonstrukt, das mit unserer Wirklichkeit nichts mehr gemeinsam hat. So ist es aber von der Bibel nicht gemeint. Der Garten Eden steht in engem Bezug zu Situationen in unserer Welt, und zwar zu Situationen, in denen Gott uns nahe ist: in der Schönheit der Welt, im geliebten Mitmenschen, in mir und als Er selber. Das kommt immer wieder vor, wenn auch nur annähernd. Typisch für solche Situationen ist nicht Grenzenlosigkeit; typisch dafür ist die staunend und dankbar vollzogene Beziehung zu Gott, Welt, Mitmensch und Selbst. Wie und wodurch in solchen Situationen diese wonnevolle Qualität der Beziehung verloren gehen kann, davon spricht die Geschichte vom Sündenfall. Wie die Paradiesgeschichte insgesamt spricht sie von Ereignissen in und nicht jenseits unserer Welt.

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Gott hat den Menschen also mit Grenzen geschaffen, und diese Grenzen sind nicht schlecht; auch mit ihnen ist ein Leben in Wonne möglich. Dennoch darf der Mensch an diese Grenzen rühren, er darf daran arbeiten, sie hinauszuschieben. Ja er soll das sogar; darin besteht sein Schöpfungsauftrag.

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„Gott schuf also den Menschen als sein Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen." (Gen 1,27f)

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„Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte" (Gen 2,15)

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„Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen." (Gen 2,19)

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Der von Gott geschaffene Mensch ist begrenzt, aber nicht beschränkt. Er darf und soll an Grenzen rühren. Er darf und soll sich und seine Welt entfalten, entgrenzen. Aber er soll es mit Gott, - das heißt, geleitet von einer Grundhaltung der staunend-dankbaren Achtung Gott und seinen Geschöpfen gegenüber. Allein auf diesen Modus der Weltgestaltung bezieht sich das Paradiesverbot; es verbietet einen „Gott-losen" Umgang mit der Welt, nicht aber die Weltgestaltung als solche. Versteht man den verbotenen Baum, die verbotene Erkenntnis von Gut und Böse als ein Tabu, als eine absolute Schranke der Selbstentfaltung - „an diese Grenze darfst du nicht rühren" (vgl. Gen 3,3) - dann wird alles verwirrt! Dann widerspricht sich Gott mit Schöpfungsauftrag und Baumverbot; dann ist die Schöpfung und in ihr die Anlage des Menschen - auf Grenzenlosigkeit hin und doch bei Todesstrafe in Schranken gewiesen - ein gewaltiges Double-bind, eine göttliche Falle, der niemand entrinnen kann.

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* * *

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Von daher können wir nun unser Gedankenexperiment auf die biblische Einsicht hin korrigieren. Als Gedankenexperiment nahmen wir an, Gott hätte dem Menschen alles gegeben, worüber Er selber als Gott verfügt. So entdeckten wir: Das Alles-geben stößt an eine unüberschreitbare Grenze. Selbst Gott kann nicht geben, dass das Gegebene nicht Gabe, sondern unverdanktes Eigentum ist. Trotzdem kann der Mensch wollen, dass er alles unverdankt allein aus sich selbst hat, und sich damit vom alles ermöglichenden göttlichen Geber abschneiden. Tut er das, so setzt er sich damit dem Tod aus. Und davor warnt Gott den Menschen.

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Diese Zusammenhänge bleiben auch gültig für eine Welt, in der der Mensch begrenzt ist. Für diesen Fall, der dem biblischen Schöpfungsverständnis entspricht, gibt es zwei Arten von Grenzüberschreitung: Der Mensch kann versuchen, seine Grenzen, innerhalb derer er geschaffen ist, zu überwinden; und er kann versuchen, an jene Grenze zu rühren, die ihn als sich verdankendes Wesen von Gott unterscheidet, der sich niemand anderen verdankt. Die Grenzen vom ersten Typ soll der Mensch überwinden; vor dem Versuch, die zweite Grenze zu überwinden, wird er von Gott dringend gewarnt.

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Damit ist unsere Deutung des verbotenen Baums auch für eine begrenzte Welt möglich. Dass Gott dem Menschen mit dem verbotenen Baum eine Grenze setzt, indem er nämlich vor der Anmaßung der Unverdanktheit warnt, ist unvermeidlich. Dass Gott den Menschen auch anderweitig begrenzt, wäre nicht notwendig, es entspringt aber dem Willen Gottes, mehr zu geben: Wer alles fertig empfangen hat, hat nichts aus sich selber; dass das ein Fluch sein kann, ist manchem Kind reicher Eltern leidvoll vertraut. Gott will aber dem Menschen die Würde des „Aus-sich-Selber" geben. Deshalb schafft er die Welt unvollkommen und legt in den Menschen eine Dynamik auf Vollkommenheit hinein. Der Mensch ist berufen, selber sich und die Welt zu entfalten. Allerdings kann und darf dieses „Selber" kein ab-solutes, von Gott losgelöstes sein. Das ist der Sinn des Paradiesverbots, das sich auch so formulieren lässt: „Sei wie Gott, indem du aus dir selber heraus wirkst; aber mit Gott, und nicht ohne Gott!"

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Wir müssen die Annahme unseres Gedankenexperiments, dass Gott den Menschen alles gegeben hätte, also nach oben und nicht nach unten korrigieren. Gott wollte dem Menschen nicht weniger, sondern mehr geben als „alles". Denn hätte Er ihm einfach alles fertig serviert, so hätte der Mensch nichts aus sich selber. Weil Gott dem Menschen auch die Gabe des Selbergebens geben wollte, durfte Er ihm nicht alles von Anfang an fertig zur Verfügung stellen. Er schuf den Menschen mit Grenzen auf Grenzenlosigkeit hin, damit der Mensch selber an der Entgrenzung von Selbst und Welt - mit Gott - mitwirken kann: als Gottes Ebenbild, von Gott ermächtigt, ein Mitschöpfer und Mitliebender zu sein.68

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Liebe, und tu was du willst? - Das Gottesgesetz und der Baum des Lebens

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Heißt das, dass der Mensch tun und lassen kann, was er will, wenn es nur „mit Gott", das heißt aus einer Grundhaltung der Dankbarkeit, Liebe und Achtsamkeit geschieht? Läuft der Sinn des Paradiesgebots also auf die berühmt-berüchtigte Aussage des heiligen Augustinus hinaus: „Liebe, und tu was du willst"?69 Alle konkreten moralischen Gesetzestraditionen würden damit auf das Grundgebot der Liebe zurückgeführt und von daher relativiert. Biblisch klingt eine solche Haltung bei Jesus an: Er führte die Unzahl der jüdischen Gesetze radikal auf das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe zurück und stellte fest, dass der Sabbat für den Menschen da ist, und nicht der Mensch für den Sabbat (Mk 2,27). Dass es mehr um den Geist geht, in dem man etwas tut, als um das, was man tut, sagt am schärfsten ein allerdings unsicheres Jesuswort:

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„Am selben Tage sah er [Jesus] einen am Sabbat arbeiten und sprach zu ihm: Mensch, wenn du weißt, was du tust, bist du selig; wenn du es aber nicht weißt, bist du verflucht und ein Gesetzesübertreter." (Lk 6,5)70

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In dieselbe Richtung weist unsere Deutung des Paradiesverbots, wenn wir es als warnenden Aufruf Gottes an den Menschen verstehen: „Nimm alles, was ich dir angeboten habe, aber tu eines nicht: versuche nicht, es ausschließlich aus dir selbst zu beanspruchen."71 Aber dürfen wir das alttestamentliche Paradiesverbot wirklich in diesem Sinn auslegen? Die Brisanz der Frage soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden:

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  • Für die Sexualethik: Ist es in Ordnung, sich selbst zu befriedigen, wenn es aus der Haltung eines dankbaren Genießens geschieht?
  • Für die medizinische Ethik: Sind gentechnische Experimente generell zu tolerieren, wenn sie aus einem Geist des dankbaren Staunens über die Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen erfolgen?
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Die Gegenfrage wäre hier jeweils, ob die angesprochenen Verhaltensweisen nicht doch die Grundhaltung der Liebe beschneiden, - bei häufiger Masturbation durch eine mangelnde „Triebkultur", die einen selbstlosen Umgang mit erotisch wirkenden Menschen erschwert; in der Gentechnologie durch Eigengesetzlichkeiten, die den achtsamen Umgang mit menschlichem Leben gegen alle gutgemeinten Absichten vereiteln. Grundsätzlich geht es hier um die Frage, ob und inwieweit Liebe, Achtung und Dankbarkeit ausreichende „Formalprinzipien" sind, um aus ihnen allein eine Ethik zu begründen. Diese Problematik brauchen wir hier nicht weiterzuverfolgen.

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Dem voraus wirft unsere Deutung des Sündenfalls die Frage auf, ob die Vorstellung eines „Liebe und tu was du willst" überhaupt dem alttestamentlichen-biblischen Denken entspricht. Für dieses gilt zwar: Der Mensch kann tun, was er will, solange es nur mit Gott geschieht. Aber dieses „mit Gott" entscheidet sich durchwegs am Gehorsam gegenüber Gottes gesetzgebendem Wort - seiner Tora (a), - und darüber hinaus an der Antwort auf Gottes ganz besonderen Ruf (b).

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a) Für große Teile des Alten Testaments ist Gottes gesetzgebendes Wort - gipfelnd im Dekalog, den zehn Geboten - so zentral, dass die Haltung eines „Liebe und tu was du willst" unvorstellbar wird. Zwar gibt es in der biblischen Urgeschichte noch kein explizites Gottesgesetz, aber sie enthält eine klare Weisung: „Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen..." (Gen 2,16f). Und für dieses Paradiesgebot gilt wie für das Israel zugedachte göttliche Bundesgesetz:

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„Hiermit lege ich dir heute das Leben und das Glück, den Tod und das Unglück vor. Wenn du auf die Gebote des Herrn, deines Gottes, auf die ich dich heute verpflichte, hörst, indem du den Herrn, deinen Gott, liebst, auf seinen Wegen gehst und auf seine Gebote, Gesetze und Rechtsvorschriften achtest, dann wirst du leben und zahlreich werden, und der Herr, dein Gott, wird dich in dem Land, in das du hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, segnen. Wenn du aber dein Herz abwendest und nicht hörst, wenn du dich verführen lässt, dich vor anderen Göttern niederwirfst und ihnen dienst - heute erkläre ich euch: Dann werdet ihr ausgetilgt werden; ihr werdet nicht lange in dem Land leben, in das du jetzt über den Jordan hinüberziehst, um hineinzuziehen und es in Besitz zu nehmen. Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, hör auf seine Stimme, und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben. Er ist die Länge deines Lebens, das du in dem Land verbringen darfst, von dem du weißt: Der Herr hat deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen, es ihnen zu geben." (Dtn 30,15-20)

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Dieser Text hat so verblüffende Bezüge zum Paradiesgebot, dass man die Paradiesgeschichte geradezu als Verdichtung von Israels Bundeserfahrung auffassen kann.72 Das Paradies entspricht dann dem gelobten Land; Adam und Eva stehen für Israel; und das Paradiesgebot entspricht dem göttlichen Bundesgesetz, auf das Israel „heute" verpflichtet wird. Wenn Adam und Eva ihr Herz von Gott abwenden und sich verführen lassen - von der Schlange, die hier offenbar mit dem Götzendienst zusammenhängt -, dann werden sie „ausgetilgt werden" und „nicht lange in dem Land leben". Leben und Tod liegen somit vor Adam, ebenso wie Segen und Fluch. Das Leben soll er wählen, damit er und seine Nachfahren leben.

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Wenn wir feststellten, der Mensch sei gerufen, sich und die Welt in Verbindung mit Gott - in einer Grundhaltung der Dankbarkeit - zu entfalten, so können wir dem von der Bibel her zustimmen; allerdings nicht ohne Folgendes verdeutlichend dazuzusagen: Des Menschen „Mit-Gott-Sein" entscheidet sich an seinem Gehorsam gegenüber Gottes Wort: „Liebe den Herrn, deinen Gott, hör auf seine Stimme, und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben" (Dtn 15,20).

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b) Über die Weisung der Tora hinaus ergeht Gottes Stimme als Ruf, der bestimmte Menschen auf ganz bestimmte Wege führt. Wenn der Herr zu Abraham sprach:

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„Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein" (Gen 12,1f),

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dann gründet dieser Ruf in keinem allgemeinen Gesetz; es ist eine Berufung über jedes generelle Gottesgebot hinaus. Dadurch wird Abrahams Weg zugleich beschnitten und erweitert. Wenn er Gottes Ruf folgen will, ist er nicht mehr frei, beim Gewohnten im Lande Ur zu bleiben. Er wird aber freigesetzt zu einer Selbstentfaltung, die alles in den Schatten stellt, was er sich allein aus sich selbst heraus hätte ausdenken können.

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Gesetzgebendes Gotteswort und berufendes Gotteswort sind die beiden Grundformen, in denen sich für Israel das „Mit-Gott" konkretisiert. Die zahlreichen Sündenfälle, die die alttestamentliche Heilsgeschichte beschreibt,73 geschehen durchwegs als Übertretung von Gottes Geboten oder als Missachtung seines Rufs.74 Das ist die Erfahrungsgrundlage, von der her die biblische Urgeschichte mit Paradiesgebot und Sündenfall entwickelt wird.

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Bei aller Gemeinsamkeit zwischen biblischer Urgeschichte und der späteren Geschichte Israels kommt nun aber ein entscheidender Unterschied zum Tragen: Indem die biblische Urgeschichte die heilsgeschichtliche Erfahrung Israels auf die gesamte Schöpfung hin ausweitet, geht sie hinter den Bund Gottes mit Israel (in Tora und besonderer Berufung) zurück. Im Paradies gibt es noch keine Tora, und Adam wird auch nicht wie Abraham zu einer speziellen heilsgeschichtlichen Aufgabe herausgerufen. Für diese allgemeinste Situation, die der ganzen Schöpfung und aller Menschheit gemeinsam ist, gibt es nach biblischer Auffassung dennoch ein Urgebot: jenes „Mit-und-nicht-ohne-Gott", das sich am verbotenen Paradiesbaum konkretisiert. Auch wenn noch keine Tora ergangen, kein besonderer Ruf erfolgt und kein Bund geschlossen ist, gilt dieses Grundgesetz.

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Über diesen Unterschied hinweg bleibt als Gemeinsamkeit zwischen biblischer Geschichte und Urgeschichte: Die deuteronomische Grundstruktur der Tora - zwei Wege: Leben und Tod - spiegelt sich in den beiden Bäumen in der Mitte des Gartens: Baum des Lebens und Baum des Todes. Wenn wir die Tora, Gottes Gesetz, im Paradies vorausgebildet sehen wollen, dann nicht allein und nicht zuerst im verbotenen Baum. Vor allem Verbot ist Gottes Weisung Gebot, das auf Leben zielt. Und deshalb steht für sie zuerst der Baum des Lebens. Die Fixierung des Gesetzes auf das Verbotene entspricht der List der Schlange, mit der sie Gottes Lebensgesetz den Menschen madig macht.

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So bringt das weisheitliche Judentum den Baum des Lebens mit dem lebenspendenden Gebot Gottes in Zusammenhang. Nach dem Buch Jesus Sirach spricht die Weisheit:

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„Ich fasste Wurzel bei einem ruhmreichen Volk, im Eigentum des Herrn, in seinem Erbbesitz. Wie eine Zeder auf dem Libanon wuchs ich empor, wie ein wilder Ölbaum auf dem Hermongebirge. Wie eine Palme in En-Gedi wuchs ich empor, wie Oleandersträucher in Jericho, wie ein prächtiger Ölbaum in der Schefela, wie eine Platane am Wasser wuchs ich empor. Wie Zimt und duftendes Gewürzrohr, wie beste Myrrhe strömte ich Wohlgeruch aus, wie Galbanum, Onyx und Stakte, wie Weihrauchwolken im heiligen Zelt. Ich breitete wie eine Terebinthe meine Zweige aus, und meine Zweige waren voll Pracht und Anmut. Wie ein Weinstock trieb ich schöne Ranken, meine Blüten wurden zu prächtiger und reicher Frucht. Kommt zu mir, die ihr mich begehrt, sättigt euch an meinen Früchten! An mich zu denken ist süßer als Honig, mich zu besitzen ist besser als Wabenhonig. [...] Wer mich genießt, den hungert noch, wer mich trinkt, den dürstet noch. Wer auf mich hört, wird nicht zuschanden, wer mir dient, fällt nicht in Sünde. [...] Dies alles ist das Bundesbuch des höchsten Gottes, das Gesetz, das Mose uns vorschrieb als Erbe für die Gemeinde Jakobs. Es ist voll von Weisheit..." (Sir 24,12-25)

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Kehren wir zurück zur Ausgangsfrage von diesem Kapitel: Unsere Deutung des verbotenen Baums lief auf die Annahme hinaus: Der Mensch kann tun, was er will - in ungebundener Selbstentfaltung -, wenn er es nur „mit Gott", das heißt aus einer Grundhaltung der Achtsamkeit, Liebe und Dankbarkeit tut. Wir fragten, ob diese Sichtweise der Bibel entspricht und kamen zum Schluss: Im Sinne des Alten Testaments ist diese Sicht zwar richtig, aber unzulänglich. Damit der Mensch sich „mit Gott" entfalten kann, reicht das Verbot „nicht ohne Gott" nicht aus. Es bedarf einer begleitenden göttlichen Wegweisung des Menschen durch Gottes Ruf und Weisung. Zuletzt stellten wir fest: Das Verbot „Nicht-ohne-Gott" wird durch den verbotenen Baum repräsentiert. Der Weg des „Mit-Gott" durch Tora und besondere Berufung wird hingegen vorgebildet durch den Baum des Lebens. Infolge seiner Übertretung kam der Mensch gar nicht dazu, von den Früchten des Lebensbaums zu essen, das heißt, sich auf den Weg der Gottesführung zu begeben, der ewiges Leben verheißt. Fern vom Paradies - das heißt, fern von einer heilen Beziehung zu Gott, Welt, Mitmensch und Selbst - irrt er herum auf Wegen, die er „selber ohne Gott" gewählt hat, und die ihn Schritt für Schritt tiefer in den Sumpf des Unheils treiben.

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Die verbotene Erkenntnis von Gut und Böse

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Die Bibel bezeichnet den verbotenen Baum im Paradies als „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse". Immer wieder hat das Ausleger zur Annahme verleitet, Gott habe den Menschen im Zustand kindlich-glücklicher Unschuld, mit einer eingeschränkten Erkenntniskraft erschaffen. Und mit dem Griff nach der verbotenen Frucht habe der Mensch umfassendes Wissen und die Fähigkeit zu autonomer Entscheidung an sich gerissen, anstatt sich einfach von Gott vorgeben zu lassen, was er darf und was nicht.

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Diese Auslegung ist fatal. Sie steht in einem direkten Widerspruch zu Gottes Schöpfungsauftrag, wonach die Menschen aus Eigenem heraus die Welt entfalten und gestalten sollen. Sie erzeugt die Vorstellung von einem Gott, der den Menschen klein halten will. Und damit bekräf-tigt sie den Verdacht der Schlange, Gott wolle verhindern, dass der Mensch werde wie Er.75 Der Kritik am Gott der Sündenfallgeschichte - von Gnosis über Aufklärung bis zu Nietzsche - gibt diese Auslegung allen Grund.

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Unser ganzes Bemühen war von dem Anliegen getragen, einem solchen Missverständnis des Sündenfalls zu entkommen. Das wesentliche Ergebnis war dabei, dass der verbotene Paradiesbaum für ein Ohne-Gott-wie-Gott-sein-Wollen steht. Wir verstanden den Griff nach der verbotenen Frucht als versuchte Aneignung einer göttlichen Eigenschaft, die Gott dem Menschen nicht geben kann: nämlich, dass der Mensch das, was er hat, niemandem anderen verdankt. Im Sinne unserer Auslegung müssten wir den verbotenen Baum „Baum der Unverdanktheit" nennen. Die Bibel nennt ihn aber „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse". Wie geht beides miteinander zusammen?

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Manche Theologen weisen darauf hin, dass Erkenntnis nach biblischem Sprachgebrauch in hohem Maße als aktiv-gestaltend zu verstehen ist. So kann das hebräische Wort für Erkennen auch für den geschlechtlichen Zeugungsakt stehen: „Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain" (Gen 4,1). Ähnlich handle es sich beim Baum der Erkenntnis nicht um ein hinnehmendes, sondern um ein aktives, festlegend-beurteilendes Erkennen, - so etwa, wie wenn wir sagen: „Der Richter erkannte auf unschuldig".

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Zu dieser Interpretation müssen wir kritisch anmerken: Es ist nicht grundsätzlich schlecht, dass der Mensch sich autonom verhält und selber „auf etwas erkennt". Verhängnisvoll ist es erst, wenn er in selbstherrlicher Loslösung von Gott selber erkennen und entscheiden will. Mit dieser Klarstellung können wir dem Deutungsvorschlag zustimmen, dass Erkenntnis von Gut und Böse ein eigenmächtiges, von Gott losgelöstes Urteilen darüber beinhaltet, was gut und was böse ist.

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Allerdings gibt uns diese Interpretation erst eine Verständnishilfe und noch keine befriedigende Deutung für den verbotenen Baum. Dieser heißt ja nicht „Baum des Urteils über Gut und Böse", sondern „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse". Erkennen und Urteilen stehen zwar in einem engen Zusammenhang, den die hebräische Sprache stärker als unsere heutigen Sprachen betont. Aber auch für die Bibel ist Erkennen nicht einfach gleichbedeutend mit Urteilen.76 Erkennen bedeutet immer auch, etwas Vorgegebenes zur Kenntnis zu nehmen. Das gilt auch für die Paradiesgeschichte. Nachdem Adam und Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, erkennen sie, dass sie nackt sind (Gen 3,7). Das bedeutet ganz gewiss nicht, dass sie eigenmächtig festlegen, nackt zu sein. Vielmehr werden sie von dieser Erkenntnis gegen alle Absicht geradezu überrollt.

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Wenn die von Gott verbotene Erkenntnis von Gut und Böse das hinnehmende Erkennen von etwas Vorgegebenen beinhaltet, wie entkommen wir dann der Annahme, Gott wollte die menschliche Erkenntnis willkürlich begrenzen? Versuchen wir, von unserem bisherigen Verständnis des verbotenen Baums her eine Antwort zu finden.

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Nach unserer Deutung steht der verbotene Baum für Gottes Warnung an den Menschen, die göttlichen Gaben nicht unverdankt als exklusiven Eigenbesitz zu beanspruchen. Die Haltung, sich niemandem verdanken zu wollen, beeinflusst die Wahrnehmung von allem was ist: Ich versuche die Gegenstände meines Erkennens - vor allem meine Mitmenschen und auch mich selber - von dem her zu begreifen, was sie ausschließlich aus sich selbst sind, ohne sich in irgendeiner Weise einem anderen zu verdanken. Dadurch wird meine Erkenntnis zwangsläufig verzerrt. Wenn ich mich selber so anschaue, dann weckt das in mir Scham oder Stolz. Scham: Mein Blick-ohne-Gott stößt am Grunde meines Seins auf eine beängstigende Nacktheit, die ich nicht anders bewerten kann denn als schlecht, übel und böse. Ängstlich versuche ich, sie zu verbergen und zu verschleiern. Und alles das, womit ich erfolgreich meine Nacktheit verbergen und mich besser darstellen kann, erscheint für mich als gut. Wenn ich mich davon beeindrucken lasse, dann erkenne ich auch mich selber voller Stolz und Eitelkeit als gut.

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Die Erkenntnis von Gut und Böse, vor der Gott uns warnt, ist also eine verzerrte Erkenntnis:

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Im Hinblick auf mich selber bedeutet sie entweder eitle Selbstüberschätzung - Erkenntnis als gut - oder ängstliche Selbstentwertung: Erkenntnis als schlecht. Ähnlich ist es bei der Erkenntnis von Gut und Böse in Bezug auf andere Personen: Wenn ich versuche, sie losgelöst von ihrem Gegründetsein in Gott zu verstehen, dann werden sie mich entweder mit ihrem Glanz faszinieren und sie erscheinen mir als gut, oder ich erfahre sie als schlecht, wenn ich ihre Blöße wahrnehme und mich aus einem Gefühl der Peinlichkeit von ihnen distanziere.

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Diese verzerrte Erkenntnis von Gut und Böse entspringt einem Fehlurteil - hier können wir der Deutung als urteilendes Erkennen zustimmen -, sie erscheint aber zugleich als Erkenntnis von etwas Vorgegebenen.

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All das entspricht genau dem, was die Bibel als unmittelbare Folge des Essens vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse beschreibt. Der Genuss der verbotenen Frucht bewirkt in Adam und Eva die Erkenntnis eines „Nicht-Gut" in Bezug auf sie selber und in Bezug auf den jeweiligen anderen:

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„Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. ..." (Gen 3,7a)

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Im Gegensatz zur Situation unmittelbar vor dem Sündenfall - „Sie waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander" - werden sie nun von Scham erfüllt: vor einander und über einander. Der Blick-ohne-Gott auf einander und auf sich selbst offenbart den Eindruck einer abgrundtiefen Nichtigkeit. Darin besteht nach unserer Deutung die „Erkenntnis von Böse". „Böse" ist dabei nicht in einem moralischen Sinn zu verstehen, sondern als Nichtigkeit, als seinsmäßige Schlechtigkeit, als untolerierbares Übel, als Mangel an allem Guten.

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Infolge dieser Erkenntnis versuchen Adam und Eva geradezu reflexhaft, ihre Nacktheit - dieses erkannte „Nicht-Gut" - zu verbergen, zu verschleiern oder auszubessern.

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„... Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz." (Gen 3,7)

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Der Ekel und die Angst, die die Wahrnehmung ihrer Nacktheit bewirkt, lässt alles als gut erscheinen, was den Eindruck dieser Nichtigkeit zum Schwinden bringt. Ihre verzweifelte Begierde, die aufscheinende Nichtigkeit mit Feigenblättern zuzudecken, entspricht einer fehlgeleiteten Erkenntnis von „Gut": Gut ist demnach alles, was den Eindruck erweckt, dass man ausschließlich aus sich selber heraus doch etwas ist. Als gut erscheint der Eigenglanz des Menschen, der sich ausstaffiert hat mit prächtigen Feigenblättern, die sein wahres Gut - nämlich seine Öffnung auf den unverfügbaren Gott - gerade zudecken.

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Es ist also nicht so, dass der Mensch vorgängig zum Sündenfall überhaupt keine Erkenntnis von Gut und Böse gehabt und sie erst durch das Essen vom verbotenen Baum an sich gerissen hätte. Das würde Gottes Schöpfergüte widersprechen und wäre überdies logisch absurd: Gottes Verbot musste den Menschen doch bereits eine Erkenntnis von Gut und Böse eröffnen: Gut sind alle Bäume des Gartens, ausgenommen den verbotenen Baum; böse ist das Essen vom verbotenen Baum. Im selben Atemzug hätte Gott dem Menschen die Erkenntnis von Gut und Böse erschlossen und zugleich verboten.77

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Gott wollte dem Menschen nur eine bestimmte Form der Erkenntnis von Gut und Böse vorenthalten: Diese verbotene Form der Erkenntnis ist nicht einfach eine autonome Erkenntnis - denn Autonomie ist von der Schöpfung her ein positiver Wert -, sondern eine Erkenntnis in der Weise einer sich niemandem verdankenden Autonomie. Es ist eine Erkenntnis, die von der Beziehung zu Gott abgespaltet ist. Sie wird durch das Essen vom verbotenen Baum symbolisiert.

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Diesem Essen entspricht eine völlig pervertierte Erkenntnis von Gut und Böse. Das Beste am Menschen, sein Seinsgrund, der als Ursprung seiner Gottebenbildlichkeit alles an ihm veredelt, erscheint ihm im Blick-ohne-Gott als Quellgrund von Nacktheit, Unzulänglichkeit, Nichtigkeit; es erscheint ihm als „böse". Und das Erbärmlichste am Menschen, seine Feigenblätter, mittels derer er die wahre Herrlichkeit seines Seins mit billigem Glanz zudeckt, erscheinen ihm als Inbegriff des Guten. Dass Gott vor solcher Erkenntnis von Gut und Böse warnt, erweist ihn als guten Gott.

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Versuchen wir, diese Erklärung mit Hilfe unserer „Trichterskizze" (vgl. S. 43) zu verdeutlichen: Was geschieht, wenn der Mensch versucht, sich selbst unter Ausschluss seiner Gottverdanktheit zu erkennen? (Siehe Abbildung 12)

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abb12

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— Abbildung 12 —

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Mit der Frage „Was bin ich allein aus mir selbst?" blickt der Mensch in die Tiefen seines Seins und versucht, dieses ohne seine Gegründetheit in Gott zu begreifen. Was sieht er dann? Am Grunde seines Seins gähnt ein Abgrund, ein Loch, ein Nichts. Die Erkenntnis, die von einem solchen Blick freigelegt wird, ist grauenhaft bedrohlich.

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Was das bedeutet, hat vor 170 Jahren der dänische Philosoph Sören Kierkegaard scharfsichtig beschrieben: „Angst lässt sich mit Schwindel vergleichen. Kommt jemand dahin, dass sein Auge in eine gähnende Tiefe hinuntersieht, so wird ihm schwindelig. Aber was ist der Grund, es ist ebensosehr sein Auge wie der Abgrund; denn gesetzt, er hätte nicht hinuntergestarrt. So ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthese setzen will, und die Freiheit nun in ihre eigene Möglichkeit hinunterblickt, und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran festzuhalten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit nieder. [...] Im selben Augenblick ist alles verändert, und indem die Freiheit sich wieder erhebt, sieht sie, dass sie schuldig ist."78

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Kierkegaard - und mit ihm Eugen Drewermann79 - hat diesen Blick als zugleich unvermeidlich und verhängnisvoll beschrieben. Damit erscheint der Mensch mit all seiner Selbstreflexion - vom Blick in den Spiegel bis zur Frage nach seiner Identität - als tragische Existenz. Als geistiges Wesen kann er gar nicht anders, als sich selbst zu reflektieren, und damit verliert er zwangsläufig seine Unschuld.80

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Im Sinne unserer Interpretation müssen wir hier unterscheiden: Nicht vom „Dass", sondern vom „Wie" des Blicks in den eigenen Seinsgrund hängt es ab, ob der Mensch in die Sünde fällt. Der Blick in den Spiegel - „Wer bin ich? - bis in die Tiefen des eigenen Seins gehört zur menschlichen Natur und darf nicht einfachhin schlecht gemacht werden. Dass der Mensch diesen Blick tun kann und unvermeidlich auch tut, gehört zum Adel seiner Existenz als gottebenbildliches Geschöpf. Dieser Blick ist dem Menschen nach biblischem Schöpfungsverständnis nicht untersagt. Das „Erkenne, was du bist" ist Teil seines Schöpfungsauftrags. Wovor Gott den Menschen aber warnt, ist, diesen Blick selbstherrlich - unter Absehung der eigenen Gegründetheit in etwas Unverfügbarem - zu unternehmen. Dann und erst dann wird des Menschen Freiheit von jenem Schwindel befallen, den Kierkegaard beschreibt. Wer seine Verwurzeltheit in einem unverfügbaren Grund dankbar akzeptieren kann, - das heißt: wer glaubt -, ist vor diesem Schwindel bewahrt. Denn er weiß: Wenn er fällt, dann fällt er in Gottes Hand. Und dieses Wissen beruhigt den bedrohlich-lockenden Zug nach unten, ja lässt ihn gar nicht erst aufkommen.

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Der verkannte Gott

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Dass der Mensch wie Gott sein will, ist noch nicht in sich schlecht. Verhängnisvoll wird es erst bei einem falschen Gottesbild. Die Schlange stellt Gott als missgünstig und egoistisch dar, und den so missverstandenen Gott nimmt der Mensch zum Leitbild seines Handelns. Der Mensch will wie Gott Gut und Böse erkennen. Und wie meint er, dass Gott Gut und Böse erkennt? Schauen wir uns den entscheidenden Satz, den die Schlange über den verbotenen Baum zu Eva sagt, in einer präziseren Übersetzung an:

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„Gott weiß wohl, dass, sobald ihr von ihm [dem verbotenen Baum] essen werdet, eure Augen aufgetan werden und ihr sein werdet wie Gott, wissend, was gut und schlecht ist." (Gen 3,5)81

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Präziser an dieser Übersetzung ist nicht nur, dass es anstelle von „gut und böse", das moralisierend missverstanden werden kann, „gut und schlecht" heißt. Genauer ist auch die Rede von Wissen anstelle von Erkenntnis. Hier wird deutlich, dass das hebräische Wort für Wissen in diesem Satz zweimal vorkommt: Einerseits wollen die Menschen wie Gott wissen, was gut und schlecht ist. Anderseits weiß Gott, dass die Menschen wie Er werden und um Gut und Böse wissen, wenn sie von dem verbotenen Baum essen. Dieses Wissen, so wie die Schlange es Gott unterstellt, ist ein Wissen um Gut und Böse: Gut wäre es demnach, dass der Mensch nicht von dem Baum in der Gartenmitte isst, und dass er demnach nicht wie Gott ist; und schlecht wäre es demnach, dass der Mensch von dem Baum isst und damit wie Gott wird. Gut wäre es, wenn Gott seinen Vorrang gegenüber den Menschen behält, wenn Er der einzige Gott bleibt und damit seine Einmaligkeit wahrt. Und schlecht wäre es, wenn Er Vorrang und Einmaligkeit einbüßt.

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Dieses Wissen um Gut und Böse will der Mensch sich aneignen, in dieser Hinsicht will er wie Gott sein. Das heißt, er will „wie Gott" selber sein und haben, ohne mit anderen zu teilen. Für den Menschen heißt das zunächst, dass er das, was er ist und hat, beansprucht, ohne es jemandem zu verdanken; so wie er sich Gott vorstellt als jemanden, der alles exklusiv aus sich hat, ohne sich jemandem zu verdanken, so will der Mensch nun selber sein. Im Folgenden heißt es, dass der Mensch das, was er ist und hat, nicht nur selbstherrlich beansprucht, sondern auch mit niemandem teilen will; so wie er von Gott annimmt, dass dieser die Baumfrüchte auch mit niemandem teilen will. Letztlich will der Mensch nicht nur auch wie Gott sein; er will exklusiv wie Gott sein. Damit legt der Griff nach der verbotenen Frucht den Grundstock für ein Leben in Rivalität: mit Gott und mit anderen Menschen.

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Gott ist aber nicht so! Wie wir gesehen haben, müssen wir uns den biblischen Gott so vorstellen, dass Er alles teilen und sich maximal verschenken will. Wir sollen wie Gott sein, aber wie dieser Gott. Das heißt, wir sind berufen zu einem Leben in maximaler Anteilgabe und Anteilnahme, zu einem Leben in Kreisen der Liebe. Denn die Erfahrung, dankbar zu empfangen, befähigt uns dazu, frei und absichtslos zu geben.

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* * *

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Aber stellt Gott mit seinem Projekt einer ermächtigenden Schöpfung den Menschen nicht zwangsläufig eine Falle? Der Mensch kann zwar frei geben, weil er auch Gott als frei gebend erfährt. Wie aber kann der Mensch frei empfangen, wenn er Gott nicht als empfangend erlebt? Wenn der Mensch dazu geschaffen ist, sich am Sein Gottes auszurichten, wird er dann durch das unverdankte Aus-sich-selber-Sein Gottes nicht zwangsläufig zum Griff nach dem verbotenen Baum der Unverdanktheit verführt? Enthält damit nicht die ganze göttliche Schöpfungsidee einen riesigen Haken? Muss es die Menschen nicht zerreißen, wenn sie als endliche Geschöpfe zugleich darauf angelegt sind, Gottes Ebenbild zu sein?

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Eine Überwindung dieses Problems kommt erst vom trinitarischen Gottesverständnis des Neuen Testaments in Sicht. Durch Jesus Christus offenbart sich Gott in der demütigen Gestalt eines Empfangenden:

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„Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich." (Phil 2,6f)

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Wörtlich übersetzt heißt es: „Er hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein." Damit verhält sich Jesus Christus im direkten Gegensatz zu Adam, der versuchte, die Gottgleichheit an sich zu reißen; er erweist sich als der exemplarisch heile Mensch, als der „Zweite Adam"82. Gerade dadurch aber offenbart sich in ihm ganz Gott, und zwar auch mit der Seite des dankbaren Empfangens: Jesus erweist sich als der Sohn, der alles dem Vater verdankt und Ihm den Dank dafür auch zuspricht. Er agiert nicht selbstherrlich aus seinem Eigenwillen heraus, sondern:

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„Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, wenn er den Vater etwas tun sieht. Was nämlich der Vater tut, das tut in gleicher Weise der Sohn. Denn der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er tut." (Joh 5,19)

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Durch den Heiligen Geist lässt er sich auf Schritt und Tritt den Willen des Vaters vorgeben. Das spätere Bekenntnis zum dreieinigen Gott beschränkt dieses Empfangen nicht auf den Menschen Jesus, sondern schreibt es dem göttlichen Sohn zu: Der Sohn empfängt sich in seinem Gezeugtwerden vom Vater; der Heilige Geist empfängt sich in seinem Gehauchtwerden vom Vater und vom Sohn. Und selbst der göttliche Vater empfängt durch sein freigebendes Zeugen und Hauchen den Sohn und den Heiligen Geist.83 Der Glaube an die göttliche Dreieinigkeit besagt: Gott ist nicht nur ganz selbstloses Geben, er ist zugleich ganz dankbares Empfangen. Und in beidem ist Er Vorbild für uns Menschen, die wir von Schöpfung an berufen sind, „vollkommen zu sein, wie es auch unser himmlischer Vater ist" (vgl. Mt 5,48).

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Schauen wir von diesem entfalteten Gottesverständnis zurück auf die Paradiesgeschichte, so wird noch deutlicher, wie pervertiert das Gottesbild ist, das die Schlange Eva einimpft. Durch diese Entstellung des Gottesbildes wird all das verdorben. Der Mensch will sein wie ein Gott, den er sich als egoistisch vorstellt; und so schneidet er sich nicht nur von Gott, sondern auch von anderen Menschen ab. Von nun an gründet er seine Identität darin, anders zu sein als die anderen und Dinge zu haben, die die anderen nicht haben.

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Wer war die Schlange?

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Damit es zum Sündenfall kommen konnte, wie ihn die biblische Paradiesgeschichte erzählt, brauchte es nicht nur den verbotenen Baum, sondern auch die Schlange. Ohne sie wäre Eva nicht in Versuchung geführt worden. Wofür steht die Schlange und woher kommt sie? Sie wird zwar als Gottes Geschöpf bezeichnet,84 aber woher kommt dann ihre bösartige List, wenn doch alle Geschöpfe gut geschaffen wurden? Das sind schwierige Fragen, mit denen uns die Paradiesgeschichte allein lässt. Um sie beantworten zu können, müssen wir uns erinnern, um welche Art von Wirklichkeit es sich handelt, wenn die Bibel vom Paradies und seinen Bewohnern spricht.85

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Wir sahen: Mit dem Sündenfall erzählt die Bibel keine isolierte Anfangsgeschichte über eine paradiesische Welt, die mit der unseren nichts zu tun hätte. Sie bündelt hier vielmehr in höchster Verdichtung Erfahrungen, wie die Menschen grundsätzlich und immer wieder von Gott abfallen. Solche Erfahrungen des Sündenfalls fanden wir an verschiedenen Stellen im Alten Testament. Hier zeigten sich durchwegs zwei Grundeinsichten, die zueinander in Spannung stehen: Einerseits muss der gefallene Mensch wie David bekennen: „Ich allein bin schuld". Anderseits gibt es immer auch etwas, das außerhalb vom fehlenden Menschen steht und die Verfehlung anstößt. Gewöhnlich sind das andere Menschen, die durch ihr Verhalten verführerisch wirken. Diesem Sog soll der versuchte Mensch Widerstand leisten. Wenn er daran scheitert, kommt es zum Sündenfall.

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Nun will die Paradiesgeschichte das Wesen des Sündenfalls für grundsätzlich alle Menschen behandeln, und sie tut dies, indem sie den allerersten Anfang menschlicher Schöpfung erzählt. Wie soll hier das Moment der verführerischen Vorgegebenheit für den Sündenfall noch ausgedrückt werden? Weil von den ersten Menschen die Rede ist, können keine anderen Menschen oder Völker genannt werden, die zum Fall verführen könnten. Hier behilft sich die Sündenfallgeschichte mit der Schlange als einer Symbolfigur, die einfach für die Vorgegebenheit einer Versuchung steht. Weil die Schöpfung durchwegs gut ist, muss die Schlange mit ihrer List irgendwie von außen kommen; und dennoch wird sie als Gottes Geschöpf bezeichnet, da es ja nichts außerhalb der Schöpfung gibt. Die Schlange steht an einem nicht näher definierten Rand der Schöpfung und agiert von dort aus mit jener Raffinesse, mit der Versuchungen eben nach alttestamentlicher Erfahrung verlaufen: als abgründige Verunsicherung eines vordem fraglosen Gottvertrauens.

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Die Frage, woher denn aus einer durchwegs guten Schöpfung ein Wesen mit so durchtriebener List entstehen konnte, dürfte für die Paradiesgeschichte, wie sie uns in der Bibel vorliegt, noch nicht brennend gewesen sein. Jedenfalls geht sie darauf nicht weiter ein. Aber es war ein Stachel, der im Fleisch steckte; und so kam es in den folgenden Jahrhunderten zwangsläufig zu Spekulationen über die Herkunft der Schlange.

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Die Frage, die die Sündenfallgeschichte aufwarf, ohne sie hinlänglich zu beantworten, lautete: Woher kommt das Böse in eine Welt, die ohne Ausnahme von einem guten und allmächtigen Gott geschaffen wurde? Durch die Annahme einer universalen und guten Schöpfung waren alle gängigen Antworten für die Herkunft des Bösen abgeschnitten:

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  • Das Böse konnte nicht von außerhalb der Schöpfung kommen, denn es gibt kein Außen: Alles was ist, ist von Gott geschaffen. So wird die Schlange auch als Geschöpf bezeichnet.
  • Das Böse konnte auch nicht von oben, also von Gott selber kommen, denn dieser ist eindeutig ein guter Gott.
  • Das Böse konnte auch nicht von innen, also von der Schöpfung selbst kommen, - zumindest nicht im Anfang der Schöpfung, denn alles was Gott schuf, war vom Ursprung an gut, ja sehr gut.
  • Das Böse konnte nur in einer ursprünglich guten Schöpfung entstehen; und zwar, indem Geschöpfe aus freier Entscheidung den guten Gott zurückweisen. Das ist gemeint mit dem Sündenfall. Die Frage nach der Herkunft des Bösen wird mithin durch das Ereignis des Sündenfalls erklärt.
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Aber dieser braucht einen äußeren Anstoß. Und so sagt es die Erzählung auch: Adam wird verführt durch Eva. Eva wird verführt durch die Schlange. Und die Schlange?

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Hier bleibt die Erzählung eine Antwort schuldig. Spätere Interpretationen der Sündenfallgeschichte haben den Erzählfaden an dieser Stelle weiter gesponnen. So wird der irdischen Sündenfallgeschichte eine himmlische vorangestellt: die Geschichte vom Engelsfall. Aus einem Sündenfall der Engel ist der Teufel entstanden; - auch er war also ursprünglich ein gutes Geschöpf. Und dieser Teufel bediente sich der Schlange, um die Menschen zu Fall zu bringen. Von solchen Erzählmotiven her kommt es, dass die Schlange mit dem Teufel in Verbindung gebracht wird. An einer einzigen Stelle wird das auch im Alten Testament ausdrücklich:

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„Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören." (Weish 2,24)

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Die Frage nach der Herkunft des Bösen wird damit allerdings nicht zufriedenstellend beantwortet, - sie wird nur um eine weitere Station verschoben. Der „Schwarze Peter" der Ursünde wurde weitergereicht von Adam zu Eva, von Eva zu der Schlange und von der Schlange zum Teufel, dem gefallenen Engel. Aber was brachte den Engel zu Fall? Die christliche Tradition denkt hier an Hochmut und Neid, - aber beides konnte ja nicht anfänglich im Erzengel Luzifer gesteckt haben, denn auch er muss ja als geschaffenes Wesen ursprünglich gut gewesen sein. Die Frage, wodurch der Teufel als ursprünglich guter Engel böse geworden ist, bleibt unbeantwortet. Auch der Teufel kann deshalb die Herkunft des Bösen nicht erklären, - zumindest nicht für ein jüdisch-christliches Schöpfungsverständnis.

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Wie kommt das Böse in eine gute Welt?

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Was hat die biblische Schöpfungsgeschichte zur Frage der Herkunft des Bösen dann zu sagen? Dennoch sehr viel:

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a) Sie löst zwar das Rätsel des Bösen nicht auf, aber sie balanciert die Problematik des Bösen in bemerkenswerter Weise: nämlich in einer Balance zwischen unabschiebbarer Eigenverantwortung - symbolisiert durch die klare Schuld Evas und Adams -, und einer verführerischen Vorgegebenheit, symbolisiert durch die Schlange.

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Diese Balance geht verloren, wenn man nur noch die menschliche Eigenverantwortung sieht und das Moment der Vorgegebenheit vernachlässigt (z.B.: Adam bzw. Eva fällt ohne die Schlange). Das Böse mit all seinen unbeabsichtigten Konsequenzen würde damit ganz dem Willen des Menschen zugeschrieben. Eine solche moralisierende Sicht legt dem Menschen eine Schuldlast auf, die ihn erdrückt. Diese Schuldlast ist untragbar und wird deshalb fast zwangsläufig abgeschoben auf andere Menschen, von denen man sich dann entrüstet distanziert; - wie es Adam mit Eva gehalten hat.

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In die andere Richtung geht die Balance verloren, wenn man einseitig die verführerische Vorgegebenheit des Bösen betont und darüber die menschliche Eigenverantwortung vernachlässigt. Für die Sündenfallgeschichte: Schuld wäre nur die Schlange, - der Mensch könnte nichts dafür. Mit einer solchen Sichtweise kippt man in einen Schicksalsglauben, der die menschliche Verantwortung entwertet.

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Zwischen diesen Extremen von Moralismus und Defätismus (eines resignierten Schicksalsglaubens) steuert die biblische Sündenfallgeschichte einen mittleren Kurs, der die Verantwortung des Menschen für das Böse in maximaler Weise wahrnimmt, ohne sie derart zu überspitzen, dass die Spitze bricht.

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Dieses Gleichgewicht zwischen Bösem, das von innen (dem frei böse gewordenen Herzen), und Bösem das von außen kommt, eröffnet einen balancierten Mittelweg zwischen den drei klassischen Alternativlösungen zur Herkunft des Bösen, von denen jede unakzeptabel wird, wenn man sie absolut setzt:

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  1. Das Böse kommt von innen (d.h. aus der böse gewordenen Schöpfung, dem zum Bösen entschiedenen Herzen des Menschen), aber nicht nur von innen
  2. Das Böse kommt auch von außen (von anderen), aber nicht nur von außen
  3. Das Böse kommt auch von oben (von Gott her), aber nicht nur von oben.
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Die Balance zwischen den ersten beiden Aspekten haben wir bereits besprochen. Der dritte Punkt bedarf noch der Erklärung: Ist Gott also doch verantwortlich für das Böse?

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Dass Gott Schöpfer der Welt ist, besagt für das biblische Verständnis nicht nur, dass Er die Welt anfänglich ins Dasein gesetzt hat, sondern auch, dass Er sie erhält und zur Vollendung führt. Anfang, Verlauf und Ende von allem Geschaffenen sind somit nach biblischer Auffassung in den Händen eines guten und allmächtigen Gottes. Wenn Mensch und Welt durch den Sündenfall böse geworden sind, dann kann das deshalb nicht bedeuten, dass eine ursprünglich gute Welt der wohlwollenden Macht Gottes entglitten ist. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Welt in jeder ihrer Phasen - auch in ihrer Bosheit - von Gottes Macht getragen ist. In diesem Sinn lässt ein später, reifer Text des Alten Testaments Gott sagen:

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„Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt." (Jes 45,7)86

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Unterliegt damit die ganze Weltgeschichte der Prädestination - d.h. dem schicksalhaften Vorsehungswillen - Gottes? Sind die Menschen die bloßen Marionetten eines abgekarteten göttlichen Spiels, - ohne Verantwortung und ohne Schuld? Mit einer solchen Annahme wäre die Balance in die eine Richtung verloren. Wenn aber Gott machtlos vor der Bosheit des Menschen resignieren müsste - Er hat es so nicht gewollt, Schuld war allein der Mensch - dann fährt man in den entgegengesetzten Straßengraben.

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Die Paradiesgeschichte hält hier die Balance zwischen „von innen", „von außen" und „von oben". Wie schwierig und wenig selbstverständlich diese Balance ist, zeigen die späteren Interpretationen und Umdeutungen der Sündenfallgeschichte, die fast durchwegs die Balance in die eine oder andere Richtung verloren. Da gab es in der frühjüdischen Literatur die Absolutsetzung der Schuld des Menschen, mit einem Adam, der mit geradezu gottgleicher Verantwortung durch seinen Sündenfall das Schicksal der gesamten Menschen besiegelt hat:

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„Ach Adam, was hast du getan! Als du sündigtest, kam dein Fall nicht nur auf dich, sondern auch auf uns, deine Nachkommen!"87

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Neben dieser Absolutsetzung der Antwort „das Böse kommt von innen, allein aus dem Menschen selbst", wurde das „Von außen" absolut gesetzt: In einer dualistischen Auffassung, die der Schlange, dem Teufel alle Macht und Verantwortung für den Sündenfall zuschrieb und damit den Menschen entlastete.88

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Schließlich gab es auch die absolutgesetzte Antwort „Das Böse kommt von oben": Es wird dem Gott aufgebürdet, der den Menschen mit dem verbotenen Baum eine Falle stellte. Diese Sicht, die von bestimmten gnostischen Strömungen vertreten wurde, gibt der Schlange ausdrücklich Recht. Sie wird zum Vorausbild eines Erlösergottes, der die Bosheit des missgünstigen Schöpfergottes überwindet. Im ersten Kapitel sind wir auf diese gnostische Umdeutung der Paradiesgeschichte bereits zu sprechen gekommen (vgl. S. 13).

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b) Die Bibel erklärt die Herkunft des Bösen durch eine Erzählung, in der das Böse sich beinahe aus nichts langsam hochschaukelt. Die Schlange übt zwar mit ihrer Verführungskunst einen hochwirksamen Einfluss aus, aber sie tut das mit so minimalen Impulsen, dass sie beinahe überflüssig sein könnte. Eva hätte auch selber darauf verfallen können, oder die Ideen der Schlange hätten sich im Gespräch zwischen Adam und Eva entwickeln können. So könnte die biblische Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Bösen durchaus lauten: Das Böse kommt nicht von außen (von einem außergeschöpflichen Bösen, etwa einem Teufel), auch nicht von innen (als immer schon vorhanden in einem bösen Herzen der Menschen) und auch nicht von oben (von einem Gott, der den Menschen eine Falle stellt), sondern es entsteht geradezu aus nichts: in einer Folge geradezu unmerklicher Verschiebungen von einem ursprünglich reinen Gottvertrauen hin zur Empörung gegen einen Gott, den man nur noch als missgünstig verstehen kann. Die Schlange wäre damit ein rhetorisches Mittel, das die Selbstorganisation des Bösen über viele kleine Schritte verkürzend darstellen kann. Wir werden auf diese Deutung zurückkommen, nachdem wir den Ablauf der Verführung durch die Schlange untersucht haben.

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Die Strategie der Schlange

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„Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte. Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?
2 Die Frau entgegnete der Schlange: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen;
3 nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen, und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.
4 Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben.
5 Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.
6 Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß.
7 Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren." (Gen 3,1-7)

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Die Versuchungsgeschichte ist ein Meisterstück psychologischer Verführungskunst. Unglaublich, dass ein so raffinierter Text fast dreitausend Jahre alt ist!89 Die Schlange setzt ein mit einer scheinbar vorsichtigen Frage, die das göttliche Verbot grotesk übertreibt. „Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?" Das ist die Sichtweise von jemandem, der an einem Verbot Anstoß nimmt. Man fixiert sich auf das Verbotene und übersieht das Erlaubte. Im Garten Eden stehen viele Bäume, für die allesamt gilt: Sie sind verlockend anzusehen, voller köstlicher Früchte (Gen 2,9), und stehen zur freien Verfügung der Menschen. Die scheinbar harmlose Frage der Schlange lässt das vergessen. In der Folge wird es nur noch um das Verbot gehen.

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Eva reagiert mit einer Richtigstellung; aber etwas von der Übertreibung der Schlange bleibt doch an ihr hängen. Zum Baum in der Mitte des Gartens erklärt sie: „Davon dürft ihr nicht essen, und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben." Verboten war aber gar nicht das Berühren, sondern nur das Essen der Früchte.

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Warum hat Eva nun ihrerseits das Verbot übertrieben? Eine psychologische Erklärung lautet:90 Die Fixierung auf das Untersagte hat ihre erste Wirkung getan. Der Baum übt den Reiz des Verbotenen aus, und aus Angst vor ihrer eigenen Begierde übertreibt Eva das Verbot. Sie tabuisiert den Baum, um seiner faszinierenden Anziehung zu entgehen. Von nun an ist es gefährlich, in seine Nähe zu kommen.

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Nach dieser Vorbereitung vollendet die Schlange ihr Werk der Verführung mit einem dreifachen Schlag: Sie stellt die tödlichen Folgen, vor denen Gott warnt, in Abrede; sie preist die verlockenden Wirkungen der verbotenen Früchte; und sie stellt Gott als missgünstigen Zensor dar. Jeder dieser drei Schläge ist durch die Vorarbeit abgesichert:

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  • Durch die Übertreibung des Verbots wird Gottes Warnung unrealistisch: Eva könnte den Baum berühren, und nichts würde passieren.91
  • Nur die Früchte vom verbotenen Baum erscheinen ihr als attraktiv. Sie wird blind für die Köstlichkeit der Früchte auf all den erlaubten Bäumen.
  • Dadurch, dass Eva das Verbot nicht mehr im Zusammenhang von der Freigabe der vielen Bäume sieht, erscheint ihr Gott nun tatsächlich als missgünstig.
  • Auch darin zeigt sich die List der Schlange: Nichts was sie sagt, ist einfach falsch. Und doch wird alles total verdreht. Die Schlange verführt zu einer etwas anderen Sichtweise der Dinge. An die Stelle der kindlichen Bereitschaft, alles von Gott als Geschenk zu empfangen, tritt eine raffinierte Perspektive, dergemäß der Mensch wie ein Gott sein will, der alles ausschließlich sich selbst verdankt. Es ist die Perspektive des Undanks, die an sich reißen und trotzig beanspruchen will, was Gott doch in der Weise des Geschenks den Menschen angeboten hat: Sein wie Gott als eine Seinsweise, die sich niemandem verdanken will; Erkenntnis von Gut und Böse als eine Erkenntnisweise unter Ausblendung der geschenkhaften Herkünftigkeit von Gott.
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Es geht auch ohne Schlange

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Evas Griff nach der verbotenen Frucht ist nur die Besiegelung eines Sündenfalls, der sich vorher schon in ihrem Herzen angebahnt hat: als verlorenes Vertrauen gegenüber Gott. Das hat die Schlange durch ihre Kunst der Debalancierung erreicht: zuerst bewegt sie Eva zur ängstlichen Übertreibung, dann zur Übertretung des nunmehr als übertrieben erscheinenden Verbots. Die skrupelhafte Gesetzestreue kippt um in den Gesetzesbruch.

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Beides wird durch die List der Schlange bewirkt; so erzählt es die Sündenfallgeschichte. Aber braucht es dazu überhaupt eine Schlange? Stellen wir uns zwei Menschen vor, - Adam und Eva. Irgendwann im Verlauf eines glücklichen Paradieslebens beginnt die Aufmerksamkeit beider um den verbotenen Baum zu kreisen. Im Reden darüber verengt sich ihr Gesichtsfeld: zuerst ein klein wenig, dann immer mehr. Allmählich sehen Adam und Eva die erlaubten Bäume immer weniger und dafür immer mehr den verbotenen Baum. Was sie in ihrer Welt wahrnehmen, wird immer mehr Verbot und immer weniger Freigabe. Immer mehr erscheint ihnen Gott als Verbietender und immer weniger als frei Gebender. Ein aufkeimendes Misstrauen lässt das Verbot gefährlich und das Verbotene verlockend erscheinen. Um dem gegenzusteuern, beginnen sie, das Verbot zu übertreiben. Im wechselseitigen Austausch korrigieren sie zwar die Übertreibungen, aber die anfängliche Zufriedenheit weicht immer mehr einem Pendeln zwischen Verlockung und Skrupeln. Das Verbot steigert die Lust, und die Lust bewirkt im Gegenzug die ängstliche Verschärfung des Verbots.92 In diesem Prozess dreht sich zunehmend alles nur noch um den verbotenen Baum. Bis der Griff danach geradezu unausweichlich wird.

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So können wir uns vorstellen, wie sich die Versuchung zwischen Adam und Eva aufschaukelt. Mehr und mehr wird der eine zum Versucher, - zur Schlange - für den anderen. Nehmen wir nun die Schlange als Symbol für diese vom anderen kommende Versuchung. Dann erweist sich die biblische Sündenfallgeschichte als treffende Veranschaulichung für diesen Prozess einer zunehmenden Verunsicherung und Verführung, der sich zwischen Menschen abspielt.

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Nach diesem Muster sind viele Sündenfälle gestrickt. Wir können uns David vorstellen, wie er auf seiner Dachterrasse herumspaziert (vgl. 2 Sam 11,2). Einmal sieht er eine fremde, schöne Frau, wie sie auf einem anderen Flachdach badet. Der erste zufällige Blick führt zu einem reflexhaft keuschen Wegschauen, dieses zu erneutem neugierigem Hingucken. Ein andermal auf dem Dach: Ist sie wieder da? Vielleicht die befriedigte Erkenntnis, dass sie regelmäßig zu bestimmten Zeiten dort badet. Irgendwann geht die anfänglich keusche Scheu völlig verloren, und das ungebremste Hinschauen entfesselt die Begierde. Ein beiläufiges Nachfragen, ein vorsichtiges Vorfühlen und zuletzt eine eindeutige Einladung. - „Was ist denn schon dabei? Ich bin doch der König!" - Gewiss, so genau steht es nicht in der Bibel, aber wir können uns vorstellen: So muss es sich abgespielt haben, - so oder so ähnlich.

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Seit dem ersten Sündenfall verlaufen die Sündenfälle nach diesem Muster,93 - weil die Logik des Sündenfalls den vielen Sündenfällen abgeschaut ist, die Israel durchlitten hat. Vieles, was wir tun, ist mehr oder weniger von solcher Sünde infiziert. Selbst das Lesen der Bibel, wie die verhängnisvolle Interpretationsgeschichte der Paradieserzählung zeigt. Da gibt es die Skrupelhaften, die das Verbot groß und den Menschen klein machen: Dass der Mensch aus sich selber heraus schaffen und um die Dinge selber wissen will, das gehört für sie bereits zu den Früchten des verbotenen Baums. Und da gibt es die Rebellen, die gegen Gott sie selber sein wollen. Sie fühlen sich in ihrer Empörung bestätigt durch die Skrupelhaften, die ihnen ja auf Schritt und Tritt vorrechnen, wie knausrig und mickrig Gott ist. Die skrupelhaften Gesetzesdiener versehen für sie den Dienst der Schlange, die ihnen zuflüstert: „Von keinem Baum lässt Gott euch essen!" Und umgekehrt erfahren sich die Skrupelhaften von den Aufbegehrern in ihrer Position bestätigt. Diese erscheinen ihnen als Schlange, die ihnen lockend zuflüstert: „Iss doch". Aber nein, sie werden nicht essen, sie wollen gehorchen. Und groß richten sie das Verbotsschild auf - für sich und für andere - vor dem verbotenen Baum und vor vielen anderen Bäumen, die dem verbotenen irgendwie ähnlich sehen: „Berühren verboten!". Dass es viele erlaubte Bäume gibt, alle „verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten" (Gen 2,9), das wird von den Skrupelhaften ebenso übersehen wie von den Rebellen. Darin stimmen sie trotz aller Gegensätze überein. Klein und mickrig ist ihr Gott, an den die einen sich ängstlich klammern und den die andern wütend verwerfen.

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5. SCHULD, SCHAM UND STRAFE: AUSWIRKUNGEN DES SÜNDENFALLS

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Die Folgen des Sündenfalls bestehen nicht nur aus den Strafen, die Gott über Adam, Eva und die Schlange verhängte. Zuvor beschreibt die Bibel eine Reihe von inneren Konsequenzen, die sich unmittelbar nach dem Genuss der verbotenen Frucht einstellen. Auf den ersten Blick mögen sie als geringfügig erscheinen. Bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als so gravierend, dass die Gott zugeschriebenen Strafen sich daraus geradezu von selber ergeben.

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Sie erkannten, dass sie nackt waren - und schämten sich

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Versprochen hat die Schlange eine gottgleiche Erkenntnis von Gut und Böse. Und was kam heraus, nach dem Genuss der lockend-verbotenen Frucht? „Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie wie Gott waren." - So würde man es erwarten, und so erwarten es Gnostiker und Esoteriker bis heute. Aber es kam anders:

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„Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren." Gen 3,7

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Erkenntnis von Nichtigkeit statt Erkenntnis von Göttlichkeit! Wir haben bereits gesehen, wie diese Nacktheitserkenntnis zustande kommt. Wer wie ein Gott sein will - aus eigener Selbstherrlichkeit heraus - der übernimmt sich komplett und stolpert über die totale Unzulänglichkeit seiner Existenz. Wer in die Abgründe seines Selbst hinabblickt, um zu entdecken, worin er abgesehen von Gott gründet, stößt auf ein großes Loch: nichts als Nacktheit und Nichtigkeit!

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„Sie erkannten, dass sie nackt waren."

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Der schlichte Satz bezeichnet die Tragödie des verlorenen Urvertrauens. Drei Dimensionen von Nacktheit sind damit angesprochen:

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  • Ich erkenne, dass ich selber nackt bin. Und so schäme ich mich vor dem anderen. Ich verhülle vor ihm meine Nacktheit.
  • Ich erkenne, dass der andere nackt ist. Und so schäme ich mich für den anderen.
  • Ich erkenne, dass sich der andere für mich schämt.94 Und das stößt mich erst richtig hinein in den Abgrund meiner Scham vor mir selbst.
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Im Vietnamfilm „Geboren am 4. Juli" spielt Tom Cruise den Marine-Soldaten Ron Kovic, der - noch als Jugendlicher - an einem Schülerwettbewerb im Ringen teilnimmt. Beim dramatischen Endkampf wehrt sich Ron verzweifelt im Hebelgriff seines Gegners. Die Kameraeinstellung wechselt zwischen der sich abzeichnenden Niederlage und dem Blick in die Zuschauerränge, wo Rons Eltern dem Sieg ihres Sohnes entgegenfiebern, bis sich zuletzt in ihren Gesichtern abgrundtiefe Enttäuschung abzeichnet. Voller Beklemmung spürt man: Die Eltern schämen sich für ihren Sohn. Die Filmszene ist eine Schlüsselstelle, die das spätere Zerbrechen eines Vorzeigeamerikaners vorwegnimmt.

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Stellen wir uns ein kleines Kind vor, das mitbekommt, wie seine Eltern sich seiner schämen; zum Beispiel bei einem Patzer in einer Schulaufführung. Das Urvertrauen des Kindes kann dadurch einen Riss erhalten. Das Kind wird den Eindruck bekommen, dass etwas an seinem Sein nicht gut ist. Und es wird lernen, dieses vermeintliche „Nicht-gut" zu verschleiern. Das Kind wird einsehen, dass es nicht genügt, einfach zu sein wie man ist, sondern dass man etwas leisten, vorzeigen und haben muss, um anerkannt und geliebt zu werden. Das Kind wird lernen, dass man Feigenblätter braucht, um seine existenzielle Nacktheit zu verdecken.

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Scham entsteht, wenn wir auf uns selbst oder auf andere ohne den bergenden Blick der Liebe schauen. Scham bedeutet, dass die Akzeptanz - des anderen oder meiner selbst - eine Grenze überschritten hat. Man kann einen Menschen nicht mehr annehmen, weil er eine wesentliche Bedingung nicht erfüllt. Damit beweist die Scham, dass es keine bedingungslose Liebe gibt.

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Im dritten Kapitel sahen wir, was es heißt, dass der Mensch Geschöpf Gottes ist. Eine unverwüstliche Schönheit, Gutheit und Würde eignen ihm, und sie gründen allein darin, dass er Gottes Geschöpf und Ebenbild ist. Die Zusage dieser Würde erfolgt durch Liebe. Und die Wahrnehmung dieser Würde geht verloren, wenn Menschen sich für das Dasein eines anderen oder für ihr eigenes Dasein schämen. So haben wir den Sündenfall beschrieben: Es ist der Blick in den Wurzelgrund des Seins - von einem selber, von einem anderen Menschen, oder von einer beliebigen Wirklichkeit - ohne Gott und ohne Liebe. Man erwartet, dass der Mensch wie ein Gott ist - selbstherrlich glänzend, ohne sich jemand zu verdanken. Und man schämt sich, wenn man merkt, dass er es nicht ist.

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* * *

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Nacktheit und Blöße - wenn jemand bloßgestellt wird - führen nicht zwangsläufig zur Scham. Es gibt auch eine Schamlosigkeit,

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  • wenn jemand es resigniert aufgegeben hat, sich um einen guten Eindruck zu bemühen: „Ist der Ruf erst ruiniert, dann lebt sich's völlig ungeniert";
  • oder wenn jemand bestimmten Menschen gegenüber bereits so gleichgültig geworden ist, dass er es gar nicht mehr für der Mühe wert hält, seine Schlechtigkeit ihnen gegenüber zu maskieren;
  • oder wenn jemand so tief in seinen Fehlern verstrickt ist, dass er alle Sensibilität verloren hat und so gar nicht mehr bemerkt, was er anderen eigentlich zumutet.
  • Es gibt aber auch eine ganz andere Alternative zur Scham. Wer in echter Liebe einer anderen Person begegnet, wird auch die Blößen, die sich an ihr zeigen, nicht als peinlich empfinden. Der Blick der Liebe umfängt den anderen auch in dessen Nacktheit. Dazu ist die Liebe fähig, weil sie tiefer in den Grund des Anderen sieht, - dahin, wo er trotz aller Entstellungen Gottes Ebenbild bleibt: gut, schön und würdevoll. Diese Würde, die sich nicht dem Glanz dieser Welt verdankt, kann dort sogar noch reiner und intensiver wahrgenommen werden, wo Menschen nichts mehr vorweisen können: in der Begegnung mit Armen, Gescheiterten oder Sterbenden.
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So beweist die Erfahrung der Liebe - des Liebenkönnens wie des Geliebtwerdens - , dass Nacktheit nicht zwangsläufig Scham hervorruft. Auf diese Weise beschreibt die Bibel das Paradies, wie es vor dem Sündenfall war, - als Ort, wo der Blick der Liebe regiert: „Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander." (Gen 2,25)

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Sündenfall und Sexualität

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Steht der Sündenfall für die Sexualität? Immer wieder wurde er auf diese Weise gedeutet, und manches scheint dafür zu sprechen:

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  • Verführung, Nacktheit und Scham kommen vor allem im sexuellen Zusammenhang vor.
  • Der Baum der Erkenntnis hat auch mit einem Erkennen zu tun, das in biblischer Sprache den geschlechtlichen Akt bedeutet: „Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain" (Gen 4,1).
  • Die traditionelle kirchliche Lehre nimmt an, dass die Sünde Adams durch den Akt der Zeugung auf alle Nachkommen übergeht.95
  • Spätestens hier sieht man das Problem dieser Deutung: Lange Zeit hatte die Kirche eine Sexualisierung des Sündenverständnisses und eine Neurotisierung der Sexualität zu verantworten. Der Schaden war ein doppelter: Andere Dimensionen der Sünde blieben infolge dieser Fixierung unterbelichtet, und das Gottesgeschenk der Sexualität wurde entwertet. Ein Gottesgeschenk ist die Sexualität nämlich gemäß der biblischen Schöpfungsgeschichte:
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„Gott, der Herr, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie heißen; denn vom Mann ist sie genommen. Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch. Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander." (Gen 2,22-25)

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„Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch", - Mit einem Jubelruf bestätigt Adam, dass Gottes Werk wunderbar ist! Dieses zutiefst bejahende Verständnis von Leiblichkeit bezieht sich auch auf die Sexualität. Es wird verraten, wenn man den Sündenfall auf die Sexualität fixiert.

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Und doch zeigt sich das Verheerende des Sündenfalls auch im Bereich der Sexualität, - nicht nur in diesem Bereich, aber auch dort, und zwar besonders drastisch. Sündenfall ist dabei nicht das Aufkommen der Sexualität, sondern ihr tragisches Abrutschen: Der stärkste Ausdruck menschlicher Gottebenbildlichkeit - in der Verschmelzung von Liebe und schöpferischer Kraft - pervertiert zur Verkörperung von Erbärmlichkeit.

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Stellen wir uns zwei Menschen vor, die sich auf reine, unschuldige Weise ineinander verlieben. Aneinander geht ihnen die Welt neu auf. Was sie erfahren, lässt sich nur poetisch ausdrücken. Das biblische Hohelied der Liebe verwendet dafür das Bild des Gartens:

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„Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut,
ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell.
Ein Lustgarten sprosst aus dir,
Granatbäume mit köstlichen Früchten, Hennadolden, Nardenblüten,
Narde, Krokus, Gewürzrohr und Zimt,
alle Weihrauchbäume, Myrrhe und Aloe, allerbester Balsam.
Die Quelle des Gartens bist du,
ein Brunnen lebendigen Wassers, Wasser vom Libanon.
Nordwind, erwache! Südwind, herbei!
Durchweht meinen Garten, lasst strömen die Balsamdüfte!
Mein Geliebter komme in seinen Garten
und esse von den köstlichen Früchten. "
(Hld 4,9-16)96

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Jeder Blick des Auges, jede Berührung mit der Hand, jedes Wort aus dem Mund des geliebten Anderen wird als eine Kostbarkeit erfahren. Wo die Liebe rein ist, sind das Werte in sich, die absichtslos gegeben und empfangen werden. Wer meint, all das würde nur das versteckte Drängen der Geschlechtslust bedeuten, hat nichts begriffen. Der Zauber zwischen den Liebenden gründet im Wechselspiel der reinen Gabe, welche Verzweckungen wie Investition und Bezahlung übersteigt.97 So wird alles zum Symbol für Schönheit und Gutheit, zuerst der geliebte Andere: „Es ist gut, dass es dich gibt". Aber auch die Dinge rund um die Liebenden werden verwandelt: „Es ist gut, dass essie gibt", über jeden Nutzwert hinaus. Die Liebenden finden nicht nur einander; staunend geht ihnen eine ganze Welt auf. Ein weiter Raum öffnet sich ihnen, in dem alles, was ist, eine ursprüngliche Schönheit und Gutheit offenbart.

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Diesen Reichtum beschreibt das Hohelied der Liebe als Garten. Mit seinen köstlichen Früchten gleicht er dem Garten Eden, den die beiden Liebenden wie Adam und Eva Hand in Hand durchschreiten. Staunend nähern sie sich seiner Mitte, ohne Eile und ohne gegenseitiges Drängen. Denn jede Frucht, jeder sinnliche Eindruck, jeder Augenblick offenbart ihnen einen unfasslichen Reichtum.

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Dass es dieses Paradies gibt, erahnen wir aus der Erinnerung glücklicher Stunden. Dass es vergänglich ist, wissen wir aus schmerzlicher Erfahrung. Es gibt ja auch das ganz andere: das rastlose Drängen des Triebes, das die Bäume des Gartens zum lästigen Anmarschweg entwertet, zum Vorspiel für das eine, das allein zählt: die Mitte, den Höhepunkt, die Ekstase. Wer sich so auf den Weg macht, missachtet und verwüstet den Garten. Verschlossen und vergiftet, weil zur Lüge entwertet erscheinen seine Früchte jenen Menschen, die von einem vorgeblich liebenden anderen verführt, missbraucht oder vergewaltigt wurden.

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Von solcher Entwertung spricht die Sündenfallgeschichte. Sie erzählt vom Verlust des Staunens und der Schönheit, der Anmut und der Achtsamkeit, der reinen Gabe und der Dankbarkeit. Dieser Verlust kann sich in allem Menschlichen ereignen, und deshalb auch in der geschlechtlichen Liebe. Deshalb kann der verbotene Baum auch für die Sexualität stehen, - nicht für die Sexualität an sich, denn die ist wesentlich gut, sondern für die unzeitige und deplatzierte Ausübung der Sexualität. Sie verwüstet den Garten.

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Die christliche Tradition beschränkt den Vollzug der Geschlechtlichkeit auf die Ehe. Das bedeutet, sie setzt dafür eine Lebensentscheidung für den Geliebten vor Gott und in aller Öffentlichkeit voraus. Das liebende „Es ist gut, dass es dich gibt", das der sexuelle Akt in höchster Intensität darstellen kann, wird damit an den Ernst der Ewigkeit gebunden: „bis dass der Tod uns scheidet." Dass solche Zusage auch scheitern kann, selbst wenn sie mit letztem Ernst vor Gott und anderen verkündet wurde, wissen wir heute besser denn je. Was geschieht aber, wenn man sich deshalb von vornherein illusionslos auf das greifbare kleine Glück arrangiert?

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Ein „Ich lieb dich bis auf Weiteres" verfehlt die Unbedingtheit, die wesentlich zur Liebe gehört. Eine „Liebe unter Vorbehalt" bindet die Erfahrung des Geliebtseins an bestimmte Leistungen und Vorzüge, von denen es abhängt, dass das gemeinsame Verhältnis andauert. Damit wird das Wesen der Liebe pervertiert.

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Liebe erweist sich daran als wahr, dass sie den Ichkern des Anderen erreicht: „Dich meine ich in meiner Liebe, - nicht deine tolle Figur oder dein Bankkonto". Das ist die alles entscheidende Unterscheidung der wahren Liebe. Sie wird durch eine „Liebe unter Vorbehalt" zumindest verwischt. Und diese Unterscheidung wird geschützt durch das „Bis der Tod uns scheidet" der Ehe. Nicht aufgrund einer bornierten Tradition, sondern im Sinn der wahren Liebe ist es gut, auf den Vollzug der Sexualität zu verzichten, wenn eine zeitlich unbegrenzte Zusage nicht oder noch nicht möglich ist.

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Sonst kann es passieren, dass man den Garten durcheilt und die Frucht der Mitte an sich reißt, nur um dann enttäuscht festzustellen: „War das alles?" Wo Menschen beim sexuellen Akt das passiert, erfahren sie genau das, wovon die Sündenfallgeschichte spricht: Zwei Menschen ziehen sich voreinander aus, buchstäblich und zugleich im übertragenen Sinn, das heißt: sie geben sich Blöße voreinander. Und wie sie so nackt beieinander liegen, am Ziel ihrer Begierden, da „gehen ihnen die Augen auf und sie erkennen, dass sie nackt sind". Vielleicht nur einen Augenblick, noch bevor sie das Feigenblatt der Höflichkeit darüber werfen kann, errät er es an ihrem verlegenen Blick: Er ist ihr peinlich. Wenn das passiert, dann trifft der Pfeil der Scham mitten ins Herz.

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So wird an der Sexualität nur besonders sichtbar, was grundsätzlich zum Wesen des Sündenfalls gehört: Verrat, Entwertung, Pervertierung von Gottes Gaben, die ursprünglich gut, ja sehr gut sind. „Corruptio optimi pessima" - Die Perversion des Besten ist das Allerschlimmste. Das ist die Logik des Sündenfalls.

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Was ergibt sich damit für die verbreiteten Deutungen, die den Sündenfall schlechthin mit menschlichen Grundvollzügen gleichsetzen: mit sexuellem Erwachen, mit Selbsterkenntnis (Blick in den Spiegel), mit kritischem Nachfragen und eigenständigem Urteil, mit autonomer Selbstentfaltung? Wer den Sündenfall so versteht, der verrät, entwertet und pervertiert diese göttlichen Gaben. Und damit tut er genau das, was das Wesen des Sündenfalls ausmacht. Er verfällt der Sünde und verführt andere zur Sünde.

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Feigenblätter überall

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„Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz" (Gen 3,7).

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Das Paradies besteht aus Bäumen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten. Liebende verstehen, was damit gemeint ist. Der Sündenfall degradiert die Welt zu einem Reservoir von Feigenblättern. Alles was ist, dient nur noch dazu, den Eigenglanz aufzumöbeln, die eigene Nacktheit zuzudecken, oder sie zumindest vergessen zu lassen.

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Die Feigenblätter der Sündenfallerzählung stehen für all die Mittel unserer Zivilisation, mit denen wir versuchen, unsere existentielle Nacktheit vor anderen zu verdecken und damit uns selbst und den anderen den Zugang zu Gott zu verstellen. Gott, der Schöpfer hat jeden Menschen zu einer Würde und Herrlichkeit berufen, die er in Transparenz auf den göttlichen Seinsgrund entfalten darf. Wo Gott aus dem Blick verloren ist, wird das Zeichen der Würde - die wurzelhafte Verdanktheit der eigenen Existenz - zum Zeichen der Schande. Es erscheint als Unselbständigkeit, Abhängigkeit und Heteronomie. Die wurzelhafte Fülle erscheint als wurzelhafte Blöße und muss verdeckt werden, - durch Feigenblätter. Feigenblätter verdecken damit genau jene Stelle, wo der Mensch in Gott gründet; sie verdecken Gott für den Menschen. So entsteht ein verhängnisvoller Kreislauf: Wer Gott verloren hat, braucht Feigenblätter, um seine Blöße zu verdecken. Und die Feigenblätter bewirken, dass Gott noch mehr verloren wird.

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Wer die ursprüngliche Herrlichkeit erahnt, die jedem Menschen und jedem Ding eignet, und die sich infolge dieser „Feigenblättereien" entzieht, der kann nur ausrufen wie einst ein chassidischer Rabbi:

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„Wehe, die Welt ist voll gewaltiger Lichter und Geheimnisse, und der Mensch verstellt sie sich mit seiner kleinen Hand."98

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An die Stelle der gewaltigen göttlichen Lichter und Geheimnisse, in denen er und all die Menschen und Dinge um ihn gründen, setzt der sündige Mensch - Feigenblätter. Das sind Dinge, zum Beispiel Besitz oder Ansehen, die auch sonst zum konkreten Erscheinungsbild eines Menschen gehören können, und die als solche gut sind; aber nun rücken sie an einen zentralen Ort, der ihnen nicht zusteht. Sie rücken an die Stelle Gottes und werden damit zu Götzen, - leblosen Dingen, denen ein unangemessener Wert zugeschrieben wird. Denn nun entscheiden sie über den Wert oder Unwert eines Menschen. Wer eine Person ist und was sie gilt, wird fortan am Vorhandensein dieser Ausstattungsmerkmale bemessen: welche Markenkleidung sie trägt, welches Auto sie fährt, was sie kann und geleistet hat.

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Nicht selten wird solch menschenverachtender Zynismus offen ausgelebt; noch häufiger aber bildet er ein ungeschriebenes Gesetz, das keiner offen zugibt, obwohl sich doch jeder danach richtet. Wer sich auch nur ein Stück weit darauf einlässt, sei es in einer kleinen Prahlerei oder in einem Anflug von Neid, dem man nachgibt, täuscht damit sich und andere. Er webt mit an einem Teufelskreis der Sündenverstrickung, der die Menschen von der Wiege bis zum Tod umfängt. Kinder werden hineingeboren in eine Welt, in der das durchscheinende Licht Gottes weithin verdeckt ist. Anstelle Gott in seiner lebenspendenden Herrlichkeit kennenzulernen - in Gestalt von unbedingter Liebe und dankbarem Staunen -, werden sie geblendet durch den Glanz von Menschen, die anmaßend auf sich selbst verweisen. Wo es ihnen gelingt, selber Glanz zu entfalten, werden sie gelobt und bewundert; wo sie solche Erwartungen nicht erfüllen, werden sie bestraft durch die missbilligenden Blicke von Menschen, die sich ihrer schämen. Von Kindesbeinen an lernen sie, Peinlichkeit zu vermeiden, sich aus Furcht vor Scham anzustrengen und, wenn das nicht reicht, zu blenden, um nicht durch ihre augenscheinliche Erbärmlichkeit das vernichtende Schamgefühl derer zu provozieren, von denen sie abhängen.

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Scham, Schein und Täuschung sind tief in unsere Kulturen hineingewoben. Weithin leitendes Prinzip ist: Unter keinen Umständen dürfen die anderen von der eigenen Nacktheit erfahren, die man beschämend am Grunde seines Seins erahnt. Also muss man sich hinter „Feigenblättern" - Masken und Fassaden - verstecken. Eine imposante Erscheinung, ausstaffiert mit Besitz, Macht und Brillanz soll helfen, ein schwelendes Minderwertigkeitsgefühl zu verhüllen, - vor anderen und vor einem selber. Wer damit durchkommt, erhöht zugleich den Druck auf die anderen. Wer nicht als „Loser" dastehen will, muss mithalten. Es kommt zum Konkurrenzkampf, in dem diejenigen mit der besten Ausstattung siegen: Ein aufwendiger Kampf um Prestigegüter beginnt. Hat der andere einen Sportwagen, brauche ich auch einen. Hat der andereeinen Spitzenjob, darf ich nicht zurückbleiben. Spielt der andere Golf oder fährt im Urlaub in die Karibik, so muss ich mithalten. Es ist leicht festzustellen, wie viel Problematisches unserer heutigen Welt in dieser wahnwitzigen Logik gründet: die Fortschrittsideologie, die Vermarktung aller Lebensbereiche, der Wettbewerbsdruck mit Rankings und Evaluationen, die gesundheitliche Stressüberlastung, die unsinnige Verschwendung von Ressourcen, die Klimakatastrophe. Wie viel braucht der Mensch wirklich, und wie viel verpulvert er im eitlen Bemühen um Ansehen?

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Und die großen Gewinner? Diejenigen, die es geschafft haben, die Kings und Queens der Unterhaltungsindustrie oder der Wirtschaftsjournale? In gewisser Weise haben sie es am teuflischsten erwischt. Ganz oben bleibt ihnen nichts mehr zu erringen, alles liegt ihnen zu Füßen. Was sie nur wünschen an materieller Ausstattung oder an Bewunderung von anderen, steht zu ihrer Verfügung. Und dermaßen vom Schicksal verwöhnt stellen sie fest: Trotz allem sind sie nicht glücklich. Sie fühlen sich ausgebrannt, leer und enttäuscht. Enttäuscht an der Welt, - denn offensichtlich ist sie nicht dazu gemacht, zufriedenzustellen; und enttäuscht über sich selber: Denn nach dem Rausch des rasanten Aufstiegs ist ihre Ahnung nicht verblasst, dass sie im Grunde ihres Wesens immer noch ein Nichts sind, dass sie das Entscheidende des Lebens verpasst haben. Im Spiel um den Platz an der Sonne zählen sie zwar zu den Gewinnern. Aber gerade dadurch haben sie umso schlimmer verloren, - nämlich die Hoffnung, dass die Erfüllung ihrer Wünsche sie glücklich machen könnte. Wer noch nicht ganz oben ist, kann wenigstens noch von den Segnungen des Erfolgs und des Konsumhimmels träumen. Wer aber ganz oben ist, wer alles was etwas gilt, an sich gerissen hat, stellt fest, dass es im Grunde wertlos ist. Gewiss: Das ist die Enttäuschung von einer trügerischen Hoffnung, und als solche enthält sie die Chance zur Umkehr, - in der Besinnung auf wahre Werte. Nur, das Teuflische ist: Gerade an den Spitzenpositionen ist die Chance zur Erfahrung echter Werte, - der nicht berechnenden Liebe, des absichtslosen Schönen - gering. Liebt sie mich oder nur mein Geld, fragt sich misstrauisch der Milliardär. Und wir müssen zugestehen: Er hat allen Grund zu diesem Misstrauen.

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Der sich beschleunigende Wettbewerb aller gegen alle produziert zunehmend Verlierer. Da sind jene, die nicht mehr mithalten können oder wollen: Menschen, die sich gerade noch mitschleifen lassen und ihr Heil in Konsum und Rausch suchen, - am Feierabend, im Urlaub und in länger werdenden Krankheitszeiten; dann die Aussteiger, „Dropouts", die von der Sozialhilfe leben. Und es gibt die Verlierer auf globaler Ebene: Staaten und Weltregionen mit Überschuldung und Wettbewerbsnachteilen. Ein eisernes Gesetz scheint zu lauten: Immer muss es welche geben, die die Zeche bezahlen für die rasanten Höhenflüge der Gewinner. Gewiss gibt es Bemühungen zum Ausgleich, zu mehr Gerechtigkeit. Das liegt schon allein im Interesse zur Selbsterhaltung von jenen, die ungestört von Aufruhr ihren Reichtum genießen wollen. Aber die Bemühungen um Gerechtigkeit müssen halbherzig bleiben. Verlierer wird es immer geben, es muss sie geben. Denn der Blick der Gewinner auf die Verlierer gehört zum System, - als Bestätigung für diejenigen, die sich die Seele aus dem Leib rackern, um jemand zu sein. Man sähe sich betrogen um seinen redlichen Gewinn, wenn andere ohne Mühe dasselbe erreichen: der Einwanderer mit dem aufgemotzten Sportwagen, die Aussteigerin mit der komfortablen Sozialwohnung. So bereiten die Horrormeldungen von der steigenden Zahl von Rauschgifttoten, von Kriminalität, von Katastrophen und Kriegen auch einen verstohlenen Genuss, solange es einen nicht persönlich bedroht. Das Unglück in der Nachbarschaft kann auch mit heimlicher Genugtuung erfüllen: „Zum Glück hat es nicht mich erwischt. Und im Vergleich zu denen stehe ich eigentlich noch ganz gut da." Irgendwie muss man sich doch entschädigen für diese Schinderei, mit der man Position und Wohlstand erreicht hat, die man doch nicht recht genießen kann. Wie viele Medienberichte zehren von solchem Verlierervoyeurismus.

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All das ist nur die traurige Entfaltung des Bibelverses:

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„Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz" (Gen 3,7).

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Das sind die Symptome einer Krankheit, die man als Trans-zendenzverstopfung bezeichnen könnte: Mittels „Feigenblätter" verstellen Menschen sich selbst und anderen genau jene Orte, an denen ihnen das verherrlichende Licht Gottes aufstrahlen würde (s. Abb 13).

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abb13

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— Abbildung 13 —

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Ein strafender Gott?

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Nach dem Wortlaut der Bibel bestehen die Folgen des Sündenfalls nicht nur aus Gottes Strafen, sondern auch als innere Konsequenzen der Übertretung: Adam und Eva erkennen ihre Nacktheit, sie werden von Scham erfüllt und verhüllen sich mit Feigenblättern. Verloren ist ihr Vertrauen zu Gott: Als sie Ihn im Garten einherschreiten hören, verstecken sie sich aus Furcht vor Ihm. Und untergraben ist auch das Vertrauensverhältnis untereinander. Adam schiebt seine Schuld auf Eva und auf Gott ab:

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„Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben, und so habe ich gegessen." (Gen 3,12)

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Eva ihrerseits wälzt die Schuld auf die Schlange ab. Darauf antwortet Gott mit Urteilssprüchen, zuerst über die Schlange, dann über Eva, zuletzt über Adam.

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„Zur Frau sprach er: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen.
Zu Adam sprach er: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln lässt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes musst du essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück." (Gen 3,16-19)

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Und zuletzt, als ultimative Strafe, vertreibt Gott beide aus dem Paradies:

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„Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt! Gott, der Herr, schickte ihn aus dem Garten von Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war. Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Kerubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten." (Gen 3,22-24)

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Wie kann man diese Strafsprüche verstehen? Im Verhältnis zur Übertretung wirken sie maßlos und ungerecht. Denken wir an Reimarus, der ätzte, Gott hätte den Engel mit dem Flammenschwert besser gleich vor dem verbotenen Baum aufgestellt statt nachher vor dem Paradies.99 Hatte die Schlange also Recht, als sie Gottes Güte in Zweifel zog? Tatsächlich scheint Gott die Unterstellungen der Schlange zu bestätigen. Diese hatte versichert: „Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse." - Und was ist passiert? Adam und Eva sind nicht gestorben, und nun bestätigt Gott selber: „Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse."

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Die Stelle ist schwierig. Sie als ironische Aussage zu bewerten, wie manche Exegeten vorschlagen, verbessert die Sache nicht. Ironie in Verbindung mit einem Akt herrschaftlicher Gewalt - der Vertreibung aus dem Paradies - lässt Gott als zynischen Tyrannen erscheinen.

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Müssen wir uns von diesem Vertreibungstext distanzieren, als einer alten Vorstellung, die noch archaischen Gottesbildern verhaftet ist? Kann es sein, dass dieser Text gar nicht auf ein tieferes Gottesverständnis zielt, sondern dass er nur eine „ätiologische"100 Erklärung geben will für gegenwärtiges Unheil? - so wie die Strafsprüche erklären, warum die Schlange am Boden kriecht, warum der Mensch mühsam den Acker bestellt und warum das Verhältnis zwischen Mann und Frau ein getrübtes ist? Das alles mag auch mit hineinspielen, aber wir können diesem feinsinnigen Text gewiss nicht unterstellen, dass er die Rolle Gottes beim Verlust des Paradieses überhaupt nicht reflektiert. Wir müssen uns dieser Frage stellen.

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Eine weitere Möglichkeit zur Entschärfung bietet sich an: Danach sind die Gottesstrafen nichts anderes als Umschreibungen für die inneren Konsequenzen des Sündenfalls: Die Entfremdung von Gott wirkt sich entstellend auf alle anderen Grundbezüge des Menschen aus; dadurch erscheint der Ackerboden verflucht und die Beziehung zwischen den Menschen beeinträchtigt. Es braucht also gar keinen Gott, um den Menschen aus dem Paradies zu vertreiben. Durch den Sündenfall hat der Mensch sich selber vertrieben.

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Aber warum steht dann trotzdem in der Bibel, dass Gott den Menschen vertrieben hat? Ist das eine bloße archaische Ausdrucksform, Menschenwort statt Gotteswort?

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Es geht hier um mehr als um gelegentliche irritierende Formulierungen. Immer wieder machen biblische Texte Gott direkt für erfahrenes Leid verantwortlich. „Warum hast du das getan?", schreit der alttestamentliche Beter zu Gott, ohne auf unsere subtilen Differenzierungen zurückzugreifen und zu fragen: „Warum hast du das zugelassen?" - Ist das ein primitives Denken, das die Verantwortung für Geschehenes einfach auf Gott abschiebt? Wir haben schon gesehen, dass das nicht so ist.101 Alttestamentliche Beter können Gott ganz verantwortlich machen und doch zugleich selber die Verantwortung übernehmen. Damit verstehen sie Gottes Handeln nicht schlechter, sondern besser als viele Heutige. Denn sie sehen, dass Gott die Menschen gerade auch in deren eigenem Tun trägt. Zumindest für das späte Alte Testament gibt es nichts, was sich ausschließlich auf den Menschen und nicht auch auf Gott zurückführen ließe. Gott hat überall Seine Hände im Spiel. Denn er ist Schöpfer nicht nur dadurch, dass er alles anfänglich ins Dasein gesetzt hat, sondern auch dadurch, dass er alle Dinge jeden Augenblick im Sein erhält.

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„Verbirgst du dein Gesicht, sind sie verstört; nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub der Erde. Sendest du deinen Geist aus, so werden sie alle erschaffen, und du erneuerst das Antlitz der Erde." (Ps 104,29f)

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Diese umfassende Mitwirkung bedeutet, dass Gott auch bei den Sünden der Menschen als Handelnder beteiligt ist: indem Er die Menschen auch dann noch leben lässt und zum Handeln befähigt, wenn dieses Handeln böse und zerstörerisch wird. „Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt" (Jes 45,7), - das ist kein archaisches Überbleibsel, sondern ein später und reifer Text des Alten Testaments.

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Als Selbstabschneidung von Gott ist der Sündenfall ein wurzelhaft zerstörerisches, auch selbstzerstörerisches Handeln. Würde Gott diese menschliche Entscheidung, ausschließlich aus sich sein zu wollen, restlos respektieren, dann fiele der Mensch sofort ins Nichts: „Nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub der Erde." Deshalb ist Gottes Warnung vor dem verbotenen Baum zutiefst berechtigt. Würde Gott hingegen die menschliche Entscheidung im Sündenfall einfach ignorieren, dann wäre der Mensch nicht mehr das Wesen der Freiheit, als das Er ihn geschaffen hat.

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Gott geht mit den Menschen einen Mittelweg: Ein Stück weit nimmt Er die fatale Entscheidung des Menschen an und trägt sie mit, und ein Stück weit leistet Er ihr Widerstand. Paradoxerweise zeigt sich Gottes Widerstand darin, dass Er den hilflosen Menschen schützend beisteht, - etwa wenn Er ihnen Röcke aus Fellen macht (vgl. Gen 3,21), die ihn besser bedecken als die Feigenblätter. Widerstand leistet Gott damit gegen des Menschen sündiges Ansinnen, Ihm nichts verdanken zu müssen. Und Gottes Nachgeben zeigt sich paradoxerweise in seinen Strafen. Darin gibt er ihrem Willen, sich ausschließlich aus sich selbst verstehen zu wollen, ein Stück weit nach und überlässt sie dem, was sie allein aus sich selber sind, - ihrer Nichtigkeit. Er gibt ihrem Wollen, sich von Gott und seinen Gaben zu emanzipieren, ein Stück weit nach und trägt sie auch in diesem Wollen. Und das heißt: Er vertreibt sie aus dem Paradies.

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Weil Gott dem sündigen Willen der Menschen nicht ganz nachgibt, ist der Tod nicht die unmittelbare Folge des Sündenfalls. Aber das Gesetz des Todes ist von nun an dem menschlichen Leben eingeschrieben. An den Kindern von Adam und Eva wird es offenbar: Nicht Gott erschlägt den Menschen als Strafe für den Sündenfall, sondern ein Mensch erschlägt den anderen als innere Konsequenz des Sündenfalls.

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Von diesen Überlegungen her können wir nun die Strafworte der Sündenfallgeschichte recht verstehen. Die Strafen, die Gott gegen Adam und Eva verhängt, beschreiben exemplarisch, wie alle Grundbezüge des Menschen beeinträchtigt werden. Beeinträchtigt ist der Bezug zum Mitmenschen, wenn die Frau den Mann begehrt, von ihm aber unterdrückt wird (Gen 3,16). Beeinträchtigt durch Schmerz, Krankheit und Tod ist der menschliche Selbstbezug (Gen 3,16.19). Beeinträchtigt ist der Weltbezug, wenn der Ackerboden verflucht und die Arbeit zur Mühsal wird (Gen 3,17-19). Beeinträchtigt ist der Gottbezug, wenn der Zugang zum Paradies - dem Ort, wo Gott vertraut im Abendwind wandelt (Gen 3,8) - versperrt ist (Gen 3,23f).

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Auch die Vertreibung aus dem Paradies lässt sich nun erklären:

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„Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse ..." (Gen 3,22)

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Was die Erkenntnis von Gut und Böse und das Sein wie Gott bedeuten, haben wir bereits ausführlich erklärt: Der Mensch will sich und seine Welt ohne verdankenden Rückbezug auf Gott verstehen. Was er so erkennt, ist seine Nacktheit und Nichtigkeit. Er nimmt sie wahr als ein unerträgliches „Böses", das heißt als ein „Nicht-gut", das er sofort durch eigene Verschleierungs- und Verbesserungsversuche, die ihm als gut erscheinen, zu beheben sucht. So öffnet sich dem Menschen eine Erkenntnis von Gut und Böse, die im Versuch einer von Gott losgelösten Autonomie gründet und auf diese Weise vollständig pervertiert ist. Das Beste im Menschen, - nämlich seine Offenheit auf den ihn gründenden Gott -, erscheint ihm als das Schlimmste, nämlich als Ausgesetztsein ins Nichts hinein. Und das Schlechteste, nämlich die Verschleierung und Verdeckung des gründenden Gottbezugs, erscheint ihm als das Beste.

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Dass der Mensch so geworden ist, stellt Gott in Gen 3,22 fest. Ein Stück weit gibt Er dieser Selbstbestimmung des Menschen nach und trägt sie mit. Das heißt, in Entsprechung zum sündigen menschlichen Wollen entzieht Gott dem Menschen den Zugang zu ihm, zum Reich seiner Gaben und zu seiner lebensspendenden Weisung. Symbolhaft für diese leben-spendende Weisung steht der Baum des Lebens:102

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„Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt!" (Gen 3,22-24)

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Stattdessen überlässt Gott die Menschen ein Stück weit der Erbärmlichkeit ihres Ausschließlich-aus-sich-selber-Seins:

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„Gott, der Herr, schickte ihn aus dem Garten von Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war." Gen 3,22-24

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Wenn Gott den Menschen aus dem Paradies vertreibt, so ist das also keine willkürlich verfügte Strafe, die Er gegen den Willen der Menschen verhängt. Damit setzt Er ihr eigenes Nicht-aus-Gott-sein-Wollen in Kraft. Die Vertreibung der Menschen aus dem Paradies ist nichts anderes als Gottes tätige Unterstützung von ihrer Selbstvertreibung.

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6. VOM MISSTRAUEN ZUM MASSENMORD: DIE DYNAMIK DER SÜNDE

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Die Geschichte vom Sündenfall ist nicht auf das dritte Genesiskapitel beschränkt. Die Erzählung von Adam, Eva und der Schlange markiert nur das erste Stück eines schwindelerregenden Bogens, der das anfängliche „Sehr gut" der Schöpfung mit dem „Verdorben und voller Gewalttat" am Vorabend der Sintflut verbindet. Die äußerlich kaum sichtbaren Verschiebungen hin zu Scham, Solidaritätsverlust und Gottesscheu bereiten den Grund für die späteren Kapitalverbrechen. „Wer Wind sät, wird Sturm ernten", - dieser biblische Spruch (vgl. Hos 8,7) gilt auch für die Logik des Sündenfalls. Wer diesen Zusammenhang verkennt, wird das Ausmaß der Sündenverstrickung unterschätzen. Bei sich wird er nur Windhauch finden, der doch noch keine Sünde ist; und mit dem Sturm der Kapitalverbrechen will er nichts zu tun haben, denn der findet sich bei den andern.

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Kain und Abel: Eine weitere Falle Gottes?

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Viele Bibelwissenschaftler lehnen es ab, bei Gen 3 überhaupt von einem Sündenfall zu reden. Sie verweisen darauf, dass das Wort Sünde im ganzen Abschnitt über Adam, Eva und die Schlange nicht vorkommt. Erst im darauffolgenden Kapitel über Kain und Abel spricht die Bibel von Sünde. Dann nämlich, wenn Gott den wutschnaubenden Kain warnt:

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„Warum überläuft es dich heiß, und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn." (Gen 4,7)

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Die Bibel beginnt erst von Sünde zu reden, wenn ein Kapitalverbrechen droht. Von solch ausgewachsener Sünde ist bei Adam und Eva natürlich nicht die Rede. Aber Lüge und Mord sind im Sündenfall der Paradiesgeschichte schon angelegt. Der Verlust ihrer Mitte entfesselt bei den Menschen eine Dynamik von Rivalität und Gewalt.103 So macht der begehrliche Griff nach der verbotenen Frucht das Drama von Kain und Abel erst verständlich. Wenn nicht ein Sündenfall vorausgegangen wäre, woher sollte Kain dann seinen Neid und seinen Jähzorn haben?

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„Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß, und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn! Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?" (Gen 4,3-9)

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Warum hat Kain hier überhaupt ein Problem? Zwar misslingt sein Opfer, das heißt sein Versuch, mit Gott Verbindung aufzunehmen. Aber neben ihm ist doch Abel erfolgreich! Warum lässt Kain also nicht seine Feldfrüchte liegen und schließt sich der Opferfeier seines Bruders an? Miteinander könnten sie Gottes Gegenwart genießen!

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Wer so fragt, erscheint als hoffnungslos naiv. Wir alle wissen, was Geschwisterrivalität ist. Wir wissen, was es bedeutet, wenn eine Mutter oder ein Vater das eine Kind bevorzugt und das andere zurücksetzt. Dass ein Kind sich am Erfolg des anderen freut und bereit ist, daran teilzunehmen, wäre zu schön um wahr zu sein. Wir leben schließlich nicht im Paradies!

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Die Frage, die sich uns heute im Blick auf die Kain-und-Abel-Geschichte aufdrängt, lautet vielmehr: Wie kann jemand so unverantwortlich handeln, wie es Gott in dieser Geschichte tut? „Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht." - Hat Gott damit nicht einen Keil hineingetrieben zwischen die beiden Brüder? Ist nicht Er damit letztverantwortlich für das Unheil, das daraus entstanden ist? Wieder erscheint Gott als ein Fallenstellergott.104

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Um zu einer anderen Sichtweise zu kommen, schauen wir uns jenen Zusammenhang näher an, von dem her wir die Kain-und-Abel-Geschichte spontan verstehen: die Geschwisterrivalität. Eine Mutter kann noch so sehr versuchen, gerecht zu sein: Hat sich bei einem Kind erst einmal der Verdacht eingeschlichen, dass es benachteiligt wird, kann keine Gerechtigkeit der Welt ihn mehr zerstreuen. „Mama, warum hat Anna das größere Kuchenstück bekommen als ich?" - So genau lässt sich der Kuchen gar nicht aufteilen, dass ein argwöhnisches Kind nicht diesen Eindruck bekommen kann.

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Das legt die Vermutung nahe: Kain wurde gar nicht wirklich von Gott benachteiligt, sondern es kam ihm nur so vor. Dass Gott auf Abel und sein Opfer schaute, nicht aber auf Kain und dessen Opfer, das wäre dann eine Beschreibung davon, wie sich die Dinge aus der Sicht Kains darstellen.

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Demnach läge das Problem nicht an Gottes Verhalten, sondern an der Weise, wie Kain die Situation wahrnimmt. Es handelte sich um ein Problem bei Kains Erkenntnis von Gut und Böse. Sein Eindruck, von Gott gegenüber seinem Bruder benachteiligt zu werden, ist für ihn eine abgrundtiefe Beleidigung, ein unerträgliches „Nicht-gut", das er um jeden Preis beseitigen muss. So erscheint es für ihn als gut, seinen Bruder zu erschlagen. Mit seiner pervertierten Erkenntnis von Gut und Böse erweist sich Kain als Erbe des Sündenfalls.

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Heißt das nun, dass die Unheilsgeschichte, die zu Abels Ermordung führte, ausschließlich Kain anzulasten ist? „Ein Scheit allein brennt nicht", sagt der Volksmund und legt den Verdacht nahe, dass auch Abel seinen Teil beigetragen hat. Wir kennen die unselige Rollenverteilung zwischen feindlichen Geschwistern, bei denen einer zum Rebell wird, immer mehr in die Rolle des schwarzen Schafes gedrängt durch den anderen, der am Rockzipfel seiner Mutter hängt und von dort aus ruft: „Ätsch, mich hat die Mama mehr lieb als dich." - Wir fanden dieses Muster schon bei der Verführung zum Sündenfall, welcher die zwei Typen des gerechten Gesetzestreuen und des Gesetzesbrechers hervorbringt, die sich gegenseitig polarisieren (vgl. S. 116). Auch sonst ist der Bibel dieses Muster nicht fremd. Anklänge finden wir bei Esau und Jakob (Gen 27) und bei den beiden Söhnen im Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lk 15). Auf Kain und Abel wendet die Bibel dieses Muster allerdings nicht an.105 Aber die Eskalation hin zu feindlichen Geschwistern ist selbst dann möglich, wenn einer schuldlos bleibt. Dieser kann für den anderen zunehmend in die Rolle des selbstgerechten Rockzipfelhalters hineinrutschen, auch wenn er es in Wirklichkeit nicht ist.106

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Und wie schaut es mit der Rolle Gottes in der Vorgeschichte zum Brudermord aus? Dass Gott den Kain durch gezielte Ungerechtigkeit zu seiner Gewalttat provozierte, haben wir ausgeschlossen. Aber dürfen wir annehmen, dass Gott dabei völlig unbeteiligt einfach „nichts getan" hat? Müssen wir, um Gottes Güte und Gerechtigkeit zu wahren, unterstellen, dass Gott seine Zuwendung zwischen Kain und Abel so gleichmäßig verteilt wie eine Mutter, die penibel den Kuchen bis aufs letzte Krümel genau zwischen den Kindern aufzuteilen versucht?

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Allerdings heißt es von Gott: „Auf Kain und sein Opfer schaute er nicht", und es heißt nicht: „Kain kam es so vor, dass Gott nicht auf sein Opfer schaute." Auch sonst erzählt die Bibel häufig davon, dass Gott ohne erkenntlichen Grund eine Person erwählt und die andere verwirft, - und zwar meist genau entgegen der gesellschaftlich vorgegebenen Rangordnung. So zieht Er den jüngeren Jakob seinem Bruder Esau vor,107 Jakobs Zweitjüngsten Josef gegenüber seinen zehn älteren Brüdern (Gen 37-50), Isais jüngsten Sohn David gegen seine sieben älteren Brüder (1 Sam 16), und Israel als das kleinste unter allen Völkern vor allen anderen, nur deshalb, weil Er es liebt.108 Folgt man unserem durchschnittlichen Gerechtigkeitsverständnis - „jedem das, was ihm nach Rang und Leistung zusteht" -, dann erweist sich der Gott der Bibel als notorisch ungerecht. Ist Er also doch ein Fallenstellergott, der Kain ins Verhängnis trieb?

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Wir haben schon gesehen, dass der Mensch keinen selbstverständlichen Zugang zu Gott hat. Selbst im Paradies ist Gott nicht einfach verfügbar. Gott hat die Menschen so geschaffen, dass sie sich gegenseitig den Zugang zu Ihm eröffnen können. Wir dürfen annehmen, dass Gott für alle Menschen das Heil vorgesehen hat;109 mit welcher Rollenverteilung Er dieses Heil erschließen lässt, müssen wir aber Ihm überlassen. Jedenfalls ist die Berufung zu einer heilsvermittelnden Rolle nicht gleichbedeutend mit der Berufung zum Heil. Und umgekehrt: Dass jemand nicht zu einer heilsgeschichtlichen Rolle auserwählt ist, bedeutet nicht, dass Gott ihm das Heil vorenthält.

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Für die Situation von Gen 4 hat Gott Abel dazu berufen, als „Opferpriester" die Verbindung zu Ihm herzustellen: nicht allein für sich, sondern gewiss auch für Kain. Und Kain war dazu gerufen, den Gotteszugang über Abel dankbar anzunehmen. Die Geschichte von Kain und Abel erzählt davon, wie diese zwischenmenschliche Vermittlung der Gottesbeziehung tragisch scheitert. Das ist die Situation des verlorenen Paradieses; es ist auch unsere Situation.

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Hat ein Dämon Kain zum Brudermord aufgestachelt? Die Warnung, die Gott dem Kain zukommen lässt - übrigens ein Hinweis, dass Gott sich keineswegs ganz vor Kain verborgen hat -, scheint dafür zu sprechen:

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„Warum überläuft es dich heiß, und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn!" (Gen 4,6f)

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Wir könnten uns hier einen Dämon vorstellen, der Kain Versuchungen zuflüstert, wie damals die Schlange seiner Mutter. Er könnte ihn auf die Bevorzugung Abels, seine eigene unerträgliche Demütigung und die Ungerechtigkeit Gottes hinweisen; und er könnte die Begierde an-stacheln, seine Wut durch eine aggressive Tat auszuagieren, die dann - gezielt oder unbeabsichtigt - den Tod seines Bruders bewirkte.

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Bei all dem hätte der Dämon eine metaphorische Bedeutung. Die Dynamik der Sünde ist hier so klar nachvollziehbar, dass wir einen selbständig agierenden Dämon nicht annehmen müssen, - weniger noch als eine Schlange in der Sündenfallgeschichte.110 Eine eigene dämonische oder teuflische Macht erklärt für die Mordtat Kains gar nichts; eher wird durch die Geschichte von Kain und Abel deutlich, wie wir uns das Wirken dämonischer Mächte vorstellen müssen: nämlich als Selbstauslieferung des Menschen an die Dynamik der Sünde.

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Kain hätte also dankbar teilnehmen sollen am Gottesverhältnis seines Bruders. Aber ihm ging es gar nicht um die Nähe Gottes. Gott und die Zeichen Seiner Zuwendung dienen hier der Aufmöbelung der eigenen Ich-Fassade. In den Augen Kains erscheint Abel als strahlender Sieger und er selbst als schmachvoll in den Schatten gestellt. Das Gefühl, von Gott benachteiligt zu werden, ist für ihn unerträglich. Er erfährt es als eine solche Demütigung, ein solches Zurückgestoßenwerden in Nacktheit und Nichtigkeit, dass er diese Schmähung mit Gewalt auslöschen muss. Es ist eine Eigenschaft von Neid und Eifersucht, dass sie weniger an der Verbesserung der eigenen Verhältnisse interessiert ist als an der Schädigung des bevorteilten anderen. Dass der Brudermord Kains angeschlagenes Gottesverhältnis noch weiter verschlechtern würde, zählt für ihn nicht. Hier geht es nicht um Gott! Es geht um Kains Selbstbild, das durch den Vergleich mit Abel Schaden genommen hat. So erschlägt er seinen Bruder. Und als Gott ihn fragt, wo sein Bruder Abel sei, antwortet er mit einer trotzigen Lüge: „Ich weiß es nicht, bin ich der Hüter meines Bruders?" ( Gen 4,9).

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Lüge und Mord als Früchte der Sünde

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Lüge und Mord zeigen sich im Tun Kains. Beides sind die ausgewachsenen Früchte von jener Sünde, deren Samen das selbstherrliche Wie-Gott-sein-Wollen der Sündenfallgeschichte war. Nacktheit war dessen unmittelbare Folge, und ein unerträgliches Gefühl des Bloßgestelltseins war es, das Kain zur Ermordung seines Bruders trieb.

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Das Neue Testament wird Lüge und Mord als Ausgeburten der Sünde benennen. Jesus gerät mit führenden religiösen Vertretern in einen Rivalitätskonflikt, der jenem von Kain und Abel ähnelt. Der Konflikt geht darum, wer sich mit Recht als Sohn Gottes bezeichnen darf und wer von Gott gesandt ist. Es geht um Geschwisterrivalität und Erwählungsneid.

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„Jesus sagte zu ihnen: Wenn Gott euer Vater wäre, würdet ihr mich lieben; denn von Gott bin ich ausgegangen und gekommen. Ich bin nicht in meinem eigenen Namen gekommen, sondern er hat mich gesandt. Warum versteht ihr nicht, was ich sage? Weil ihr nicht imstande seid, mein Wort zu hören. Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit; denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge." (Joh 8,42-44)

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Eine Zivilisation der Gewalt

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Gott reagiert mit einem Urteilsspruch auf Kains Untat:

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„So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein." (Gen 4,11f)

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Es ist leicht ersichtlich: Kains Rastlosigkeit ist keine willkürlich verhängte Gottesstrafe, sondern die innere Konsequenz seines Tuns. Dasselbe gilt auch für den Ackerboden, der keinen Ertrag mehr bringen wird. Wo Rivalität, Hass und Angst eine menschliche Gesellschaft prägen, wird eine effektive Zusammenarbeit unmöglich. Auch die Erde wird so ihre Früchte verweigern.

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Wir dürfen nicht übersehen, dass Kain nicht nur für eine individuelle Einzelperson steht. Er repräsentiert eine sich entwickelnde Gesellschaft. Im Vergleich zu Abels nomadischer Viehzucht steht Kain für die fortgeschrittenere Form einer Ackerbaugesellschaft (vgl. Gen 4,2), und später wird er als Städtebauer bezeichnet (Gen 4,17). Die biblische Urgeschichte bindet zwei Entwicklungen eng aneinander: kulturelle Entfaltung und Zunahme von Gewalt. Das darf nicht als Kulturpessimismus gewertet werden, als ob kulturelle Leistungen in sich schlecht wären und die Menschen zwangsläufig von Gott entfremden würden. Dass die Menschen sich entfalten und sich die Erde untertan machen, hat gemäß der Bibel Gott von Anfang an so vorgesehen (vgl. Gen 1,28). Das ist vom Ursprung her gut und kann deshalb auch in einer guten Form verwirklicht werden. Es ist aber ein Faktum, dass sich Böses und Gewalt immer tiefer in die werdende Zivilisation hineingraben. Heute haben wir dafür wieder einen Sinn gewonnen, wenn wir von struktureller Gewalt sprechen: einer Gewalt, die tief in Wirtschaft, Politik, Recht, Religion und Sprache eingewoben ist, mit der Konsequenz, dass wir sie nur schwer wahrnehmen und ihr kaum mehr entkommen können.

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Sintflut: Eskalation der Gewalt bis zur Selbstvernichtung der Welt

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Wir haben gesehen, dass Gottes Strafsprüche innere Konsequenzen von Kains Untat darstellen. Dennoch werden sie von Gott verfügt, in dem Sinn, dass Gott seine lebenserhaltende Hand nicht von Kain wegzieht und damit auch dessen problematische Entwicklung tätig mitträgt. In diesem Sinn respektiert Gott die sündige Freiheit des Menschen und gibt ihr in der von ihm gewählten Ausrichtung ein Stück weit nach.

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Als Kain Gottes Urteilsspruch bestätigt und seine Angst vor der entfesselten Gewalt ausdrückt („Rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen"), da setzt Gott ein Zeichen, um die Gefahr zu begrenzen:

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„Der Herr aber sprach zu ihm: Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde." (Gen 4,15)

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Das Kainsmal steht für ein System der Angst, das die Menschen vor maßlosen Übergriffen hindert. Gewalt wird begrenzt durch die Androhung von Rache. Das ist nicht einfach eine Maßnahme, mit der Gott von außen in die Welt eingreifen würde. Es ist der Versuch von Menschen und Gesellschaft, ihr Übel selber zu begrenzen, - ein Versuch, der von Gott mitgetragen wird. Dieser Versuch erweist sich auf lange Sicht als unzureichend.

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Kains Nachkomme in fünfter Generation ist Lamech. Er zeigt, wohin sich die Gesellschaft seit Kain entwickelt hat.

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„Lamech sagte zu seinen Frauen: Ada und Zilla, hört auf meine Stimme, ihr Frauen Lamechs, lauscht meiner Rede! Ja, einen Mann erschlage ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach." (Gen 4,24)

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Die Ordnung der Rache kann das Übel nicht begrenzen; es kommt zu einer Eskalation der Gewalt, die schließlich die gesamte Schöpfung überflutet.

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„Die Erde aber war in Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat. Gott sah sich die Erde an: Sie war verdorben; denn alle Wesen aus Fleisch auf der Erde lebten verdorben." (Gen 6,11f)

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Das ist der Punkt, an dem der biblische Gott beschließt, die Welt durch die Sintflut zu vernichten. Auch das ist wieder ein Urteilsspruch, der zugleich Feststellung und Strafverfügung ist: Gott bestätigt das Vorhandensein einer verderblichen Eigendynamik, die die Welt bis zur Selbstvernichtung überflutet111 und beschließt, diese dennoch tätig mitzutragen:

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„Da sprach Gott zu Noach: Ich sehe, das Ende aller Wesen aus Fleisch ist da; denn durch sie ist die Erde voller Gewalttat. Nun will ich sie zugleich mit der Erde verderben." (Gen 6,13)

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Zugleich damit beschreibt die Bibel ein gegenläufiges Tun Gottes: Er erwählt einige Menschen und einen kleinen Auswahl aus der Schöpfung, um sie aus der verderblichen Eigendynamik der Welt zu erretten.

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Was ist der Wirklichkeitsgehalt der Sintflutgeschichte? Es handelt sich hier um ein altes mythologisches Motiv, das den Verfassern der Bibel bereits in verschiedenen altorientalischen Varianten vorgelegen hat. Anhand dieses Motivs drückt die biblische Urgeschichte drastisch die innere Dynamik der gefallenen Schöpfung aus. Die Geschichte mündet in Gottes Feststellung:

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„Ich will die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen; denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an. Ich will künftig nicht mehr alles Lebendige vernichten, wie ich es getan habe. So lange die Erde besteht, sollen nicht aufhören Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht." (Gen 8,21)

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Damit drückt die Bibel Gottes Beschluss aus, die Welt vor der Eigendynamik zur Selbstvernichtung zu bewahren. Gott tut dies durch ein Erwählungshandeln, das mit Abraham seinen Anfang nimmt. Dieses zielt nicht bloß auf ein partikuläres Heil für wenige Auserwählte, sondern auf einen Segen, an dem die gesamte Menschheit und Schöpfung teilhat:

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„Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen." (Gen 12,1-3)

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Auch die äußerste Eskalation des Sündenfalls - bis an den Rand der Selbstvernichtung der Erde - sowie Gottes zulassende und schützende Begleitung dieser Vernichtungsdynamik sind Teil der biblischen Urgeschichte. Auch für sie gilt somit: Sie sind nicht die isolierte Beschreibung einer fernen Anfangszeit, sondern sie sagen Wesentliches zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Welt als Gottes Schöpfung. Und sie tun das nicht als Zustandsbeschreibungen von etwas geschichtslos stets Gültigem, sondern indem sie Dynamiken beschreiben, die unsere Welt zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich radikal betreffen: vom Familiendrama bis zur globalen Krise. Selbst die Völkermorde des 20. Jahrhunderts und die sich abzeichnenden wirtschaftlichen und ökologischen Katastrophen des 21. Jahrhunderts sind darin mit angesprochen. Die Dynamik menschlicher Selbstvernichtung und die Rolle Gottes in strafend-zulassendem Mittragen und unterbrechend-erwählender Initiative, wie wir sie aus der biblischen Urgeschichte erschlossen haben, ermöglichen eine Deutung auch jener Verhängnisse der modernen Welt, die uns an die Grenzen unserer Möglichkeiten treiben. In dieser erhellenden Kraft trifft sich die biblische Urgeschichte am Anfang der Bibel mit der Apokalypse an ihrem Ende.

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Bis jetzt haben wir die Dynamik des Sündenfalls ausgehend von der biblischen Urgeschichte beschrieben. Im folgenden Kapitel werden wir ihre innere Logik herausarbeiten. Damit wird sich deutlicher zeigen, wie sehr unsere Welt von den Folgen des Sündenfalls geprägt ist.

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7. MIMETISCHE BEGIERDE: WIE DER MENSCH OHNE GOTT TICKT

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Durch seine Verwurzelung in Gott ist der Mensch ein unergründliches Geheimnis. Von daher ist es unmöglich zu sagen, wie er „funktioniert". Aber in dem Maß, als Menschen sich von der Verbindung zu Gott abschneiden, werden sie berechenbar. Sie verfangen sich in Mechanismen, nach denen sie „ticken".

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Begehren ist ansteckend

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Als Geschöpf und Gottes Ebenbild ist der Mensch in einer dynamischen Weise auf Gott ausgerichtet. Er ist von Natur aus ein begehrendes Wesen, das allein in Gott seine Erfüllung findet. Gott ist aber keine selbstverständlich verfügbare Wirklichkeit, auch nicht im Paradies.112 Er hat die Welt so eingerichtet, dass die Menschen einander den Zugang zu Ihm erschließen.

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Einem Menschen, der Gott nicht im Blick hat, wird sein naturhaftes Begehren richtungslos. Er will, ohne zu wissen, was er will. Für ihn gilt in verschärfter Weise, was Augustinus in seinem berühmten Gebet ausgedrückt hat: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir." Wer begehrt, ohne zu wissen, was er begehren soll, richtet sein Begehren spontan am Begehren anderer aus. Wenn er auf Menschen trifft, deren Begehren eine klare Richtung aufweist, dann findet dadurch sein eigenes Begehren eine Orientierung. Spontan wird er das wollen, was sie wollen.113

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Mit René Girard, der diese Zusammenhänge umfassend erforscht hat, bezeichnen wir das Begehren, das sich am Begehren anderer orientiert, als nachahmendes Begehren oder - mit dem altgriechischen Wort für Nachahmung - als mimetisches Begehren oder Mimesis.114 Das mimetische Begehren lässt sich mit folgenden Grundsätzen beschreiben:

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  1. Der Mensch ist ein begehrendes Wesen.
  2. Der Mensch weiß aber nicht schon von Natur aus, was er begehren soll.115
  3. Deshalb richtet der Mensch sein Begehren spontan am Begehren anderer Menschen aus.
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Wir werden sehen: Mimetische Begierde ist ein zentraler Mechanismus der Sünde, der die Menschen von Gott weg und in gegenseitige Rivalität und Gewalt hinein treibt. Aber dass das so ist, ist selber erst eine Folge des Sündenfalls. Nachahmung, Begehren und mimetisches Begehren gehören zur Natur des Menschen, und als solche sind sie gut. Sie entspringen ihrer Gottebenbildlichkeit und dienen dazu, dass die Menschen einander den Zugang zu Gott eröffnen können.

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Der gute Kern des mimetischen Begehrens

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In ursprünglicher Gutheit verwirklichen sich Begehren, Nachahmung und mimetisches Begehren im Vollzug der Liebe. Einen Menschen lieben heißt, zum Ausdruck zu bringen: „Es ist gut, dass es dich gibt". Dieser Ausdruck gründet in einem Begehren, das sich auf den anderen richtet. Zum Unterschied von der Begierde, sich den anderen verfügbar zu machen, zielt das liebende Begehren zuerst darauf, dass es dem anderen von Grund auf gut geht. Von Grund auf gut geht es einem Menschen, wenn er geliebt (also in der unverfügbaren Mitte seines Seins, wo in Gott gründet, bejaht) und so befähigt wird, selber zu lieben. Liebe setzt Liebe frei. Und so kann zwischen Liebenden ein Kreis der Liebe entstehen, den sie miteinander als Gnadengeschenk erfahren. Im dritten Kapitel (S. 63) haben wir das mit einer Skizze und zwei symbolischen Sätzen ausgedrückt: „Danke, dass du mich so liebst" - „Danke, dass wir einander so lieben können."

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— Abbildung 14 —

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Wir haben herausgearbeitet: Die liebende Bejahung eines anderen Menschen richtet sich ganz auf diesen und zugleich über ihn hinaus, - auf Gott als ein Ziel des Staunens und der Dankbarkeit, welches sich im geliebten Anderen eröffnet und doch nicht mit ihm identisch ist. Der Vollzug der Liebe erschließt Gott im anderen Menschen, und so findet das eigene Begehren sein Ziel zugleich im Anderen und in Gott, - als Nächstenliebe und Gottesliebe in einem.

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An der Erfahrung, geliebt zu werden, kann sich das richtungslose Begehren eines Menschen orientieren. Mimetisches Begehren heißt hier: Weil ich mich als Ziel des liebend erfüllten Begehrens des Anderen wahrnehme, erfahre ich mich selbst als ein begehrenswertes Ziel; ich werde befähigt, mich selbst liebend anzunehmen. Und weil der Andere Gott in mir findet, werde auch ich dazu befähigt, Gott in mir zu finden. Zudem setzt mich die Liebe des Anderen dazu frei, meinerseits auch den Anderen zu lieben; dazu also, den Anderen um seiner selbst willen anzunehmen und Gott in ihm zu finden: Selbstliebe, Gottesliebe und Nächstenliebe in untrennbarer Einheit. Im Vollzug des Liebens eröffnen sich Menschen gegenseitig ein Ziel für ihr naturhaftes Begehren. Sie finden Gott im Anderen und zugleich über dem Anderen. So kommt die Unruhe ihres Herzens zur Ruhe und ihr Begehren zur Erfüllung.

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Darin besteht die höchste menschliche Begabung der Gottebenbildlichkeit: Vermittels des mimetischen Begehrens, einer ursprünglichen Verbindung von Begehren und Nachahmung, die naturhaft gut ist, können Menschen sich in liebende Resonanz zueinander bringen. Es ist eine dynamische Gottebenbildlichkeit, die sie begehrend zugleich auf Gott und auf andere Menschen ausrichtet und sie so dazu befähigt, einander den Gott, nach dem sie sich sehnen, zu offenbaren. Zu lieben ist ihre höchste Gabe und Aufgabe.

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Das Dreieck der Begierde: Was du hast, will ich auch haben

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Sündenfall bedeutet die Verderbnis der Liebe. Menschen, die Gott nicht im Blick haben, orientieren sich in spontaner Unmittelbarkeit - noch bevor sie es bewusst beabsichtigen - am Begehren anderer. Und dieses Begehren ist nicht mehr auf Gott hin offen. Es ist fixiert auf ein Selbst, das sich an die Stelle Gottes setzen will. Das heißt, das Begehren ist fixiert auf Dinge, die als Feigenblätter jene Mitte des Seins verdecken, wo der Mensch in Gott gründet.

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Diese Fixierung ist folgenschwer. Gott in einem Menschen zu finden bedeutet, diesen Menschen in einer unverfügbaren Tiefe - staunend und dankbar - zu würdigen. Einen Menschen an Stelle Gottes zu begehren bedeutet, die unverfügbare Tiefe in ihm zu missachten. Man greift nach ihm, als wäre er verfügbar. Man behandelt ihn wie einen Besitz. So kann man andere Menschen missbrauchen, und so kann man auch sich selber missbrauchen.

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Was passiert mit einer Person, die - unruhig nach dem Gott, der ihr nicht selbstverständlich zugänglich ist - gar nicht anders kann, als ihr Begehren am Begehren anderer auszurichten? Was passiert, wenn ich mit diesem Sehnen des Herzens an jemanden gerate, dessen Begehren auf Verfügbarkeit und Besitz fixiert ist? Mein eigenes Begehren wird dadurch nach unten gezogen, in die Richtung auf Fixierung, Verfügbarkeit und Besitz. Diesem Sog kann ich mich nur schwer entziehen. Der andere wird mir zum Verführer, zum Versucher, zur Schlange.

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Das Grundgesetz des mimetischen Begehrens, das den Menschen eigentlich auf Liebe ausrichtet, wird so vollständig pervertiert: Der Mensch, der begehrt ohne zu wissen, was er begehren sollte, wird durch die Begierden anderer spontan in eine Begierdedynamik hineingezogen, die auf Besitz und Verfügung fixiert ist. Anstelle von anderen Menschen zu Gott und damit zur staunend-dankbaren Würdigung von Mensch und Welt geführt zu werden, werde ich dazu verführt, mir die Dinge und Menschen als verfügbare Besitztümer anzueignen. Das Begehren der Liebe pervertiert zur Begierde des Habenwollens. Das mimetische Grundgesetz in seiner Gott-losen Form lautet:

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Ich will, weiß aber nicht, was ich will. Deshalb will ich haben, was auch die anderen haben.

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In wenigen Grundmustern und tausend Variationen untergräbt dieses Grundgesetz alle Bereiche des menschlichen Lebens. Das zentrale Grundmuster lässt sich als Dreiecksstruktur der Begierde bezeichnen (s. Abb. 15).

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— Abbildung 15 —

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Eine Person A - nennen wir sie Anna - begehrt einen Gegenstand x. Dieses Begehren kann sich ausdrücken im Bemühen, sich x anzueignen oder auch im Stolz, x zu besitzen. Eine Person B - nennen wir sie Bianca - , die mit Anna in Kontakt ist, wird durch deren artikuliertes Begehren dazu bewegt, x auch selber besitzen zu wollen.116

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Dass nun auch Bianca ein verstärktes Interesse an x zeigt, wirkt wiederum auf Anna zurück. Ihr Besitzerstolz wird gestärkt. Oder, wenn sie den Gegenstand x nur begehrt, ohne ihn zu besitzen, dann wird sie darin bestätigt, dass sich seine Anschaffung lohnt. Falls es den Gegenstand x nur ein einziges Mal gibt - zum Beispiel eine bestimmte Wohnung am Wohnungsmarkt, oder ein gemeinsamer Freund117 -, so wird sie sich anstrengen, ihn sich zu sichern, bevor Bianca ihn wegschnappt.

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Biancas Begehren verstärkt also rückwirkend das Begehren von Anna. Das wiederum heizt das Begehren von Bianca noch mehr an. Es kommt zu einem sich verstärkenden Rückkoppelungseffekt. Dieser führt nicht nur dazu, dass die Wertschätzung von x unverhältnismäßig ansteigt, sie bewirkt auch, dass Anna und Bianca aneinander gebunden werden. Immer mehr orientieren sie ihr Begehren aneinander, und immer mehr werden sie zu Rivalen.

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Ein Beispiel für diese unverhältnismäßige Wertsteigerung eines Objekts der Begierde ist eine Auktion, bei der zwei Bieter ihre Gebote gegenseitig in schwindelerregende Höhen treiben. Ein komplexeres Beispiel, das demselben Muster folgt, ist die Entstehung einer Immobilienblase durch das freie Wechselspiel von Angebot und Nachfrage am Aktienmarkt: Die Immobilien entwickeln Buchwerte, die in keinem Verhältnis mehr stehen zu deren realem Verkaufswert. Irgendwann platzt die Blase und es kommt zu enormen Verlusten bei Investoren und Firmen.

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Dinge - Positionen - Menschen: Alles kann zum Objekt der Begierde werden

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Das Objekt der wechselseitig gesteigerten Begierde kann ein Gegenstand sein, den es nur ein einziges Mal gibt. Dann entsteht eine verschärfte Konkurrenzsituation, weil jeder fürchtet, der andere könnte ihm den begehrten Gegenstand wegschnappen. Es kann sich aber auch um einen reproduzierbaren Gegenstand handeln, zum Beispiel um ein neu auf den Markt kommendes Sportauto. Dass Anna dieses Auto gekauft hat (oder zu kaufen beabsichtigt), erhöht dessen Attraktivität für Bianca - und umgekehrt. Es tut Anna gut, ihren Sportwagen zur Schau zu stellen. Die begehrlichen Blicke der anderen bestätigen sie darin, dass sie einen guten Kauf getätigt hat.

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Von diesen Zusammenhängen profitiert die Marktwirtschaft. Die technische Reproduktion von Gütern scheint zunächst ein Segen für die Menschheit zu sein: Die Rivalität um einmalige Güter wird durch deren Vervielfältigung zunächst entschärft. Vor hundert Jahren war es ein Unglück für Bernhard, dass Achim im Besitz eines wunderbaren Zuchthengsts war und ihn nicht hergab. Heute kann Bernhard zum Händler gehen und den gleichen Sportwagen kaufen. Das ist (vielleicht?) gut für Bernhard, sicher aber gut für den Händler und gut für den Automarkt. - Aber es ist nicht gut für Achim! Sein Besitzerstolz wird geschmälert. Wenn er sein Selbstwertgefühl daran aufgehängt hat, dass er etwas hat, was andere nicht haben, dann muss er sich nun nach einem anderen Statussymbol umsehen. Vielleicht kauft er sich nun eine Yacht. Das ist wieder gut für den Händler, und es ist gut für den Bootsmarkt. Ob es auch für Achim gut ist, ist fraglich; jedenfalls dann nicht mehr, wenn Bernhard ein weiteres Mal mitzieht.

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Die Segnungen der technischen Reproduktion und der Marktwirtschaft - Glück für viele und nicht nur für einen, für die breiten Massen und nicht nur für eine schmale Elite - sind also bestenfalls vordergründig. Konkurrenz und Neid werden nicht behoben, sondern laufend auf neue Produkte umgeleitet. Und sie werden angeheizt durch ein System von Werbung und Reklame, das die Menschen gezielt dazu verleitet, ihre Identität durch den Besitz von käuflichen Gütern aufzumöbeln.

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Zu den Gegenständen, die das Begehren von Menschen stimulieren, zählen nicht nur Dinge. Auch gesellschaftliche Positionen sind mimetisch hochwirksame Objekte der Begierde. Das kann ein angesehener Beruf sein, die Mitgliedschaft in einem exklusiven Club, oder das Image, dass man von angesagten Leuten zu angesagten Partys eingeladen wird.

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Auch Menschen können zu Objekten der Begierde werden. Eine Sonderform der Dreiecksstruktur der Begierde ist das erotische Dreiecksverhältnis. Dass sich daraus Kapital schlagen lässt, hat nicht erst eine gewisse Mineralwassermarke mit ihren Werbeplakaten erfunden.118 Bereits Jugendliche in der Schule lernen, dass es ihren Marktwert steigert, wenn sich andere in sie verlieben. Und zum geheimen Lehrplan unserer ökonomisierten Welt gehört die Einsicht, dass man seine Haut zu Markte tragen und sich gut verkaufen muss. In der Dreieckskonstellation A-B-x ist die Position x die attraktivste: Man will gefragt sein.

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Die Frucht der Begierde ist der Hass

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Das Dreieck der Begierde ist nur die Kernstruktur von zahllosen, zum Teil sehr komplizierten mimetischen Beziehungen, die unsere Welt untergraben. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie die Begierde anheizen und die Menschen in Konflikte gegeneinander treiben.

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Die Tendenz der rivalisierenden Mimesis, sich über die ganze Menschheit auszubreiten, hängt mit ihrer enormen Ansteckungskraft zusammen. Mimetische Dreiecke sind nicht nur Strukturen der Ansteckung, sie sind auch selber ansteckend. Sie erzeugen einen Sog, der weitere Subjekte und weitere Objekte in den Kreislauf der Begierde hineinreißt.

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Hineingerissen werden auch weitere Objekte: Menschen, die sich mimetisch in die Begierde nach einem Gegenstand hineinsteigern, werden auch dazu neigen, sich auf andere Gegenstände zu fixieren. Am Beispiel von Achim und Bernhard haben wir das gesehen: zuerst der Sportwagen und dann die Yacht. Das mimetische Dreieck A-B-x kann überspringen auf A-B-y und A-B-z. Und auch in diesen neuen Begierdedreiecken werden sich Achim und Bernhard gegenseitig hineinsteigern. So kommt es dazu, dass Achim und Bernhard ständig auf gemeinsame Interessen stoßen und miteinander konkurrieren. Es kann sein, dass sie auch um dieselben Freundinnen rivalisieren. Vielleicht sind beide darüber erstaunt, wie ähnlich ihr Geschmack ist. Dabei entgeht ihnen, dass es die Begierde des jeweils anderen ist, welche die Objekte ihrer Begierde festlegt.

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Von da aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zum Eindruck von Bernhard:

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„Was auch immer ich will, stets kommt mir Achim in die Quere."

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Und es ist nur ein weiterer kleiner Schritt zur „Einsicht" von Bernhard:

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„Ich weiß zwar nicht genau was ich will (da ich selbst bemerkt habe, wie oft ich meine Begehrensziele wechsle), aber eines weiß ich inzwischen ganz genau: Achim ist für mich das entscheidende Hindernis, dass ich meine Ziele erreiche."

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Was Bernhard übersieht: dass Achim nicht nur Hindernis, sondern auch Vorbild für sein Begehren ist; und dass er Hindernis ist, weil er Vorbild ist. Der gleiche verhängnisvolle Irrtum kann sich bei Achim in Bezug auf Bernhard zeigen. Und er wird sich in seinem Irrtum bestätigt finden. Denn er merkt, dass Bernhard, der doch sein bester Kumpan gewesen ist und mit dem er all seine Interessen geteilt hat, sich inzwischen zunehmend unfreundlich ihm gegenüber verhält. So beginnt sich ein Verhältnis der Feindschaft zwischen Achim und Bernhard aufzubauen. Zuletzt wissen beide, was sie als erstes wollen, ja wollen müssen, um das sich dauernd entziehende Ziel ihres Begehrens erreichen zu können: Erst einmal müssen sie ihren Rivalen ausschalten.

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In dieser Entwicklung von gemeinsamen Interessen über Konkurrenz und Rivalität bis hin zur gegenseitigen Feindschaft werden die Objekte der Begierde immer unwichtiger. Die Kontrahenten fixieren sich zunehmend auf einander. Das scheinbar unschuldige Begehren nach Objekten mutiert zum Begehren nach der Ausschaltung des anderen. Diese zwei Stationen der mimetischen Begierde werden in der Bibel durch die Adam-Eva-Geschichte (Gen 3) und die Kain-Abel-Geschichte (Gen 4) dargestellt:

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  1. Der Sündenfall entzündet sich am Begehren nach einem Gegenstand, nämlich der Frucht des verbotenen Baumes, dem Sein wie Gott, der Erkenntnis von Gut und Böse. Dieses Begehren wird mimetisch verstärkt. Adam übernimmt das Begehren von Eva, Eva lässt sich in ihrem Begehren von der Schlange anstecken, diese wiederum stellt Gott als Begehrenden dar: Gemäß ihrer Unterstellung will Gott die Früchte des Erkenntnisbaums exklusiv für sich sichern.
  2. Das darauf folgende Kapitel beschreibt die tödliche Mutation dieses Begehrens: Kain erliegt der Begierde nach der Ausschaltung seines Bruders.119
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Es gilt also: Die Frucht der Begierde ist der Hass, oder mit Paulus: „Der Sünde Sold ist der Tod" (Röm 6,23)120. Damit behält Gott Recht gegen die Schlange, die den Menschen versprach: „Ihr werdet nicht sterben."

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Spiele der Liebe - Spiele der Macht

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Das liebende Begehren in seiner reinen Form ist ein Zeichen der Fülle und des inneren Reichtums. In einer Welt, die Gott verloren hat, gilt das Begehren hingegen als Zeichen der Schwäche. Wer begehrt, beweist damit, dass er bedürftig, unvollkommen und nicht wie Gott ist. Deshalb ist es charakteristisch für die Logik des Sündenfalls, dass Menschen begehren, aber dieses Begehren zugleich verschleiern. Die Menschen präsentieren sich als Besitzende, aber nicht als Bedürftige. Das gilt auch für die Liebe zwischen Menschen: Um für andere zum Objekt der Begierde zu werden, muss man sich als attraktiv darstellen, und das heißt: als jemand, der hat und deshalb nicht begehren muss. Daraus ergibt sich als Gesetz für erfolgreiches Liebeswerben: Begehre (um das Begehren des anderen anzustacheln), aber verbirg dein Begehren. Wirb um den anderen, und tu gleichzeitig so, als wärst du uninteressiert.

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Liebe wird hier zum Kampf, in dem die Partner einander verführen, mehr an Begehren zu investieren und ihr Begehren einzugestehen, während man selber vorgibt, uninteressiert zu sein. Was man durch solche Koketterie erreicht, ist ein Ungleichgewicht: Der andere investiert in die Beziehung mehr als man selber, - und dieses Ungleichgewicht bindet ihn. Er wird alles versuchen, um die Liebe des anderen zu erregen, - wenigstens damit ein Ausgleich hergestellt wird. Wie ein Spielsüchtiger wird er immer mehr in die Beziehung investieren, - in der Hoffnung, nun doch endlich das Steuer herumzureißen und den anderen dazu zu bringen, wenigstens gleich viel oder mehr zu geben. Was wir früher als glücklichen Kreislauf der Liebe beschrieben haben, mutiert hier zu einem Machtkampf. Sein Gesetz lautet: Wer herrscht, ist begehrenswert; der Freundliche und Entgegenkommende ist uninteressant.

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Dem entspricht die Strafe, die in der Sündenfallgeschichte Gott über Eva spricht:

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„Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen." (Gen 3,16)

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Wir sehen: Das ist keine äußerliche Strafverfügung Gottes und schon gar keine Legitimierung einer Unterdrückung des weiblichen Geschlechts; es ist die innere Konsequenz des Sündenfalls. Wo die Begierde an die Stelle der Liebe tritt, sind Verachtung und Unterdrückung nicht fern.

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An Eva beschreibt die Bibel hier ein Verhängnis, das jeden Menschen betrifft: So herrscht der Mann über die begehrende Frau, aber auch die Frau über den begehrenden Mann. Wer einen anderen Menschen begehrt und dieses Begehren zugibt, der setzt sich der Herrschaft des anderen aus.

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Gott sei Dank gibt es Bösewichte

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Bisher haben wir gesehen,

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  • wie die Menschen durch Begehren und Nachahmung dazu geschaffen sind, sich gegenseitig Gott zu erschließen;
  • wie dieses naturhaft gute mimetische Begehren durch den Sündenfall zu einer Begierde pervertiert, die die Menschen in Konkurrenz und Rivalität zueinander bringt;
  • wie die rivalisierende Begierde Menschen dazu bringt, einander zu hassen und sich gegenseitig zu unterwerfen;
  • wie Menschen darauf verfallen können, Arroganz und Unterwerfung als Zeichen der Überlegenheit wertzuschätzen und nach arroganten und herrschsüchtigen Menschen in Begierde zu entbrennen.
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Daraus lässt sich eine Psychologie des gefallenen Menschen entwickeln, die uns verstehen lässt, wie Menschen sich in Paarbeziehungen und kleinen Gruppen das Leben zur Hölle machen können.121

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Die mimetische Begierde ist aber auch ein Phänomen, das Großgruppen und Gesellschaften mit ihren Strukturen untergräbt und zu Szenarien des Sündenfalls macht. Um das zu verstehen, müssen wir zunächst Folgendes berücksichtigen: Die Dreiecksstruktur der Begierde ist hoch ansteckend auch für weitere Subjekte. Wenn zwei Burschen in einer Clique um ein Mädchen rivalisieren, dann wird dieses Mädchen auch attraktiver für andere Mitglieder der Gruppe, wenn auch nicht automatisch für alle. Aber der Konkurrenzgeist, der von den beiden Konkurrenten ausstrahlt, unterstützt es, dass auch andere Menschen um andere Objekte rivalisieren. Nach und nach wird die Gruppe durch verschiedenste Plänkeleien destabilisiert werden, bis sie schließlich zu zerfallen droht. Das kann für eine Jugendgruppe ebenso gelten wie für eine Firma und für ganze Gesellschaften. Indem ihre inneren Reibereien überhand nehmen, laufen sie Gefahr, ineffektiv zu werden, sodass sie an den äußeren Herausforderungen scheitern, konkurrierenden Gesellschaften unterliegen oder sich im Kampf aller gegen alle selbst zerfleischen.

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Ein teuflisch wirksames Mittel gegen diesen Zerfall ist der von René Girard so genannte Sündenbockmechanismus: Durch eine einmütige Feindschaft gegen einen gemeinsamen Gegner kann die verlorene Einheit der zerstrittenen Gruppe wiedergefunden werden. Gegenüber anderen Formen der Friedensstiftung, die wegen der Uneinigkeit aller Beteiligten schnell zum Scheitern verurteilt sind, hat der Sündenbockmechanismus einen entscheidenden „Vorteil": In einer mimetisch polarisierten Gruppe kann er weitgehend automatisch entstehen und sich durchsetzen: Wir haben bereits gesehen, wie die Rivalität zweier Konkurrenten um wechselnde Begierdeobjekte in gegenseitige Feindschaft umschlagen kann. Auch diese destruktive Begierde ist ansteckend. Ein außerordentlich erfolgreicher Schlag eines Menschen gegen seinen Gegner beeindruckt andere Gruppenmitglieder; er übt auf sie einen Sog aus, das aggressive Begehren gegen den anderen mimetisch nachzuahmen. Die gemeinsame Aggression schweißt die Aggressoren zusammen. Mobbing kann von daher erklärt werden.122

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Auch wenn der Sog und die Ansteckungswirkung des Sündenbockmechanismus gegen bestimmte Menschen und Minderheiten beträchtlich sein kann, brauchen wir nicht anzunehmen, dass alle Menschen in dominierende Feindbilder einstimmen. Auch eine Gesellschaft aus „gefallenen Menschen"123 tickt komplizierter. Wo Sündenböcke gemacht werden, treten im Allgemeinen sofort Menschen und Gruppen auf, die die Opfer verteidigen. Das kann aufgrund von echtem Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn geschehen - denn keine Gesellschaft ist total verdorben, - aber auch als eine weitere Variante der Sündenbocklogik: Menschen solidarisieren sich gegen (vermeintliche) Verfolger und schlagen so aus ihrem Engagement zum Schutz anderer Kapital. Selten erzeugt der Sündenbockmechanismus einen „Frieden minus eins" (alle gegen einen), der dann einhellig wird, wenn das Opfer ausgelöscht ist. Häufiger bleibt es bei verschiedenen Spielarten eines „halbierten Friedens": Eine Partei stabilisiert sich in ihrer Feindschaft gegen eine Gegenpartei. Einhelligkeit gibt es deshalb in unseren heutigen Gesellschaften nicht einmal gegen - innere oder äußere - Feinde. Unsere Medienwelt dokumentiert vielmehr einen komplexen Konkurrenzkampf verschiedener „Sündenbock-Spiele", zwischen denen Antipathien und auch Sympathien hin und her geschoben werden: Kriminelle und Kriminalisierte, Kinderschänder und Drogensüchtige, Ausländerfeinde und Feinde von Ausländerfeinden, Abtreibungsbefürworter und Abtreibungsgegner. Die medial organisierten Feindseligkeiten segeln dabei meist im Namen hoher Werte. Selbst im Namen Gottes wurden immer wieder Gegner identifiziert und auf diese Weise Gegen-Solidaritäten hergestellt. So lässt sich für eine in Sünde verstrickte Gesellschaft als Überlebensprinzip formulieren: Gott sei Dank gibt es Bösewichte.

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8. ALLES SÜNDE?

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„Die Erde aber war in Gottes Augen verdorben, sie war voller Gewalttat. ... Sie war verdorben; denn alle Wesen aus Fleisch auf der Erde lebten verdorben." (Gen 6,11f) - Auf diese pessimistische Weltsicht läuft die biblische Urgeschichte nach dem Sündenfall zu. Ist diese Weltsicht nicht total einseitig? Die gleiche Frage könnte man an die vorhergehenden Kapitel in diesem Buch stellen: Wer Gott verloren hat, verliert alles. Echte Liebe hat in dieser Welt keinen Bestand. Wer ohne Gott in den Wurzelgrund seines Seins hinabblickt, verfällt einer Dynamik von Begierde, Angst und Tod. Ist das nicht alles einseitig und übertrieben?

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Die genau entgegengesetzte Kritik wird durch die biblische Schöpfungsgeschichte provoziert: Alles was ist, ist gut, ja sehr gut; und das Leben ein Paradies! Wie dieser rosige Auftakt der Bibel, so kann auch unser drittes Kapitel über Schöpfung und den Kreis der Liebe als blauäugig, romantisierend und abgehoben idealistisch erscheinen. Jeder Mensch im Grunde gut, schön und Gottes Ebenbild? Der Kreis der Liebe im reinen gegenseitigen „Danke, dass du mich so liebst"? Gott finden in allen Dingen?

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Das Bemerkenswerte an der Bibel ist, dass sie diese ideal positiven und desillusioniert negativen Sichtweisen der Welt zusammenspannt, - und zwar in einer Geschichte, die nicht bloß Abfallgeschichte ist.124 Vielmehr bleibt das ursprüngliche Schöpfungsgute durchgängig bestimmend, - in einem Wirken Gottes, der die Gnade immer neu aufblitzen lässt. So ist die Welt gemäß der Bibel beides zugleich: Ebenbild eines guten Gottes und abgrundtief verdorben. Selten erscheint eines dieser Extreme annähernd in Reinform, - meistens befinden wir uns in einem unentschiedenen Zwielicht. Kaum jemals leben Menschen ausschließlich nach der Logik des Tötens-um-zu-leben; und noch seltener leben sie ganz das Gesetz Christi, zu lieben bis in den Tod. Zuallermeist leben sie in einer Doppeldeutigkeit, - im Übergangsbereich zwischen wahrem und falschem Kreis der Liebe.

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In dieses Zwielicht bringt die Bibel Einsicht, indem sie idealtypisch die positiven und die negativen bestimmenden Kräfte herausarbeitet. Diesem Weg der Einsichtsfindung sind wir im vorliegenden Buch gefolgt. Wenn es heißt: „Wer Gott verloren hat, verliert alles", dann ist damit nicht gemeint, dass alle Menschen total Gott verloren haben und deshalb alles in der Welt nichtig ist. Es bedeutet vielmehr: Insoweit die Beziehung zu Gott blockiert ist, wird den Menschen das, was sie haben, hohl und unbefriedigend.

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Welt im Zwielicht

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Die Welt von Schöpfung und von Sündenfall her zu verstehen, bedeutet die Bereitschaft, überall in ihr Gott zu finden und zugleich damit zu rechnen, dass ihr Gotteszugang zutiefst gebrochen ist, - zutiefst gebrochen, weil die Perversion des Besten das Schlimmste ist. Hätte der Mensch nicht eine unendliche Tiefe, in der er in Gott gründet, dann könnte er auch nicht so abgrundtief böse werden. Im Vergleich zur jüdisch-christlichen Perspektive sieht eine nichtreligiöse Weltsicht sowohl das Gute als auch das Böse zumeist flacher.

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Alles, was ist, ist von Gott geschaffen und verweist deshalb von innen heraus auf Gott. Man könnte auch sagen, es ist Symbol, - Symbol für Gott. Das heißt, wer sich wahrhaftig darauf einlässt, dem öffnet sich darin ein Zugang zu Gott. Wir haben aber auch gesehen, dass Dinge den Zugang zu Gott verstellen können, - man kann sie als Feigenblätter oder Ruhmesblätter missbrauchen. Dann behindern sie nicht nur den Zugang zu Gott, sondern lenken von ihm ab. Als Objekte der Begierde verwirren sie die Menschen und bringen gute Ordnungen durcheinander. Verwirrend und durcheinanderbringend, - das ist die Bedeutung des Wortes „diabolisch". „Diabolos" oder Durcheinanderbringer ist das bibelgriechische Urwort für unser Wort Teufel. Von daher kann man mit einer treffenden Wortschöpfung sagen: Alle Dinge können Symbol oder Diabol sein: sie verweisen auf Gott oder verwirren den Zugang zu Ihm.

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Diese Doppeldeutigkeit trifft auf alle Dinge der Schöpfung zu, vor allem aber auf den Menschen. Er ist geschaffen als Ebenbild oder Symbol für Gott: Wer ihm wirklich begegnet, begegnet damit Gott. Sündenfall ist jenes Urereignis, durch welches der Mensch das göttliche Licht in sich verstellt und mit einem falschen Glanz überdeckt. Wer einem solcherart gottlosen Menschen begegnet, begegnet nicht Gott, sondern wird von Ihm abgelenkt.

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Abstrakt betrachtet ist kein größerer Gegensatz denkbar, als jener zwischen Symbol und Diabol, zwischen Gottesverweis und Gottverstellung. In der konkreten Welt finden wir aber durchwegs nur Mischformen, die es im Einzelnen geradezu unentscheidbar machen, ob ein Mensch nun auf Gott verweist oder in sündiger Weise auf sich selber. Stolz gilt als Wurzelsünde und ist die zentrale Eigenschaft eines diabolischen Menschen. Aber auch eine Person, die ganz rein von Gott her lebt, wird sich in hohem Maße selber wertschätzen. Da sie frei von falscher Bescheidenheit ist, wird sie leicht als stolz missverstanden werden. Das zeigt sich am deutlichsten bei Jesus: Die Vollmacht, in der er ganz von Gott her lebte, führte jüdische Autoritäten zum Urteil, er sei von einem Dämon besessen und mache sich selber zu Gott.125

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Diese Doppeldeutigkeit macht christliche Ethik und christliches Leben so anspruchsvoll. Ginge es nur darum, Gott zu lieben und die Welt zu hassen, Gott groß und sich selber klein zu machen, dann wäre das vielleicht anstrengend, aber wenigstens in einfache Rezepte formulierbar. Man wüsste immer, was man tun muss, und es wäre nur eine Frage der Willenskraft, ob man es verwirklicht. Von der Bibel her aber gilt es, Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe ursprünglich miteinander zu verbinden, mit einer Priorität der Gottesliebe, von der her uns alles andere dazugegeben wird. Was das im Einzelnen bedeutet, kann nicht in starre Regeln und Rezepte gegossen werden. Christliche Ethik ist nicht einfach eine Frage der Willenskraft, sondern der Einsicht, des rechten Maßes und letztlich der Gnade. Zwischen den Straßengräben von anmaßendem Stolz und Selbstentwertung ist ein Mittelweg zu finden, der in einer sündenverstrickten Welt oft unauffindbar und ungangbar ist; es bedarf der unverfügbaren Wegweisung von Gottes Gnade, damit wir ihn dennoch finden und gehen können.126 Auch der Mitmensch darf weder verabsolutiert noch entwertet werden, so dass Gott in ihm gefunden und sich doch „über ihm", als von ihm unterschieden offenbart. Für den Umgang mit den Dingen der Welt gilt: Sie sind nicht nur respektlos zu benutzen, sondern als Symbole Gottes dankbar und staunend wertzuschätzen; wir dürfen sie weder verwerfen noch ihnen verfallen. Und schließlich ist Gott selber so zu lieben, dass dadurch alles andere mehr und nicht weniger geliebt wird. Keinesfalls darf die Welt klein gemacht werden, um Gott groß werden zu lassen. So gilt: „Das Tor, das zum Leben führt, ist eng, und der Weg dahin ist schmal, und nur wenige finden ihn." (Mt 7,14). Wir können ihn nicht aus uns selbst heraus finden, auch nicht durch peniblen Gehorsam gegenüber Geboten und Gesetzen. Wir müssen einen Weg selber finden, indem wir ihn uns immer neu von Gott zeigen lassen, - im fortgesetzten Achten auf Seine Führung. In diesem Sinn hatten wir den Baum des Lebens gedeutet (vgl. S. 88-94). Der Zugang zu ihm ist aber blockiert, als Folge des Sündenfalls.

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Erbsünde: Kann denn Sünde erblich sein?

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Mit dem Sündenfall begründet die kirchliche Tradition die Lehre von der Erbsünde. Ihre Deutung ist ein dorniges Problem, das wir hier nicht übergehen dürfen. Lassen wir uns also in diesem Kapitel auf eine der größten Herausforderungen des Katholizismus127 ein.

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Traditionell gehören zur katholischen Lehre der Erbsünde folgende Aussagen:128

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  1. Die Erbsünde ist keine persönliche Sünde, sondern ein Zustand der Entfremdung von Gott; von diesem Zustand sind aufgrund der Sünde Adams alle Menschen (ausgenommen Jesus und Maria, siehe Punkt 4) betroffen.
  2. Die Erbsünde wird nicht bloß durch Nachahmung, sondern durch Zeugung übertragen, - sodass bereits die Kinder im Mutterschoß davon betroffen sind.
  3. Durch das Sakrament der Taufe werden die Menschen von der Erbsünde grundsätzlich befreit; aber in der Weise einer „Neigung zum Bösen" (Konkupiszenz) wirkt sie dennoch weiter.
  4. Ausgenommen von der Erbsünde sind nur zwei Personen: Jesus und Maria. Von Anfang an waren sie frei nicht nur von der Erbsünde, sondern auch von ihrer Folge, der Neigung zum Bösen.
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Seit dem Beginn der Neuzeit wurde die kirchliche Erbsündenlehre als intellektuelle und moralische Zumutung massiv angegriffen. Immanuel Kant kritisierte den inneren Widerspruch einer Sünde, die vererbt sein solle. Sünde und Schuld seien Verbindlichkeiten, die jeder Mensch für sich allein zu verantworten habe, und die deshalb nicht übertragen werden können. Erbsünde im Sinne einer erblichen Sünde sei deshalb ein hölzernes Eisen, ein Widerspruch in sich: Entweder es handelt sich um etwas, das erblich ist, dann ist es keine Sünde; oder es handelt sich um Sünde, dann kann es nicht erblich sein.

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Weiters wurde eine ideologische Verkoppelung von negativem Menschenbild und kirchlicher Macht kritisiert: Jeder Mensch müsse als Sünder von Geburt an die Hölle fürchten, es sei denn, er lasse sich kirchlich taufen und empfange auch sonst die Sakramente; die Sakramente könnten aber von der Kirche auch verweigert werden.

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Kritisiert wurde schließlich auch die auf Augustinus zurückgehende Verbindung der Erbsünde mit der Zeugung: Wenn wir nicht durch Nachahmung, sondern durch Zeugung sündig werden, rückt dann nicht der Akt der Zeugung, die Sexualität, selber in die Nähe der Sünde?

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* * *

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Die heutige Theologie erklärt die Erbsünde meistens als eine menschheitliche Schuldverstrickung, die sozial und kulturell verankert ist. Die Sünden der Menschen verdichten sich in Gemeinschaftssituationen und Gesellschaftsstrukturen, die es den Menschen wiederum schwer oder sogar unmöglich machen, das Gute zu tun und die Teufelskreise des Negativen zu durchbrechen. Damit sieht die christliche Erbsündenlehre den Menschen auf realistische Weise und kann so auch Verständnis für sein Versagen aufbringen. Wer meint, den Menschen die Erbsünde nicht zumuten zu müssen, sieht sie nur scheinbar positiver. Moralisierend wird er sie für das faktische Böse, in das sie verstrickt sind, restlos verantwortlich machen. Wer optimistisch annimmt, jeder Mensch könne mit Einsicht und gutem Willen das Gute tun, wird das von Menschen bewirkte Schlechte ohne Abstriche auf Dummheit und Bosheit zurückführen.

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Wer die Erbsünde mit sozialer Schuldverstrickung erklärt, wird von der heute durchgängigen Erfahrung bestätigt, dass wir in kollektive, globale Unheilsmechanismen verfangen sind. Jeder sieht heute das Problem der Verarmung von großen Teilen der Menschheit, der Klimakatastrophe oder der Weltfinanzprobleme, aber niemand scheint daran wirklich etwas ändern zu können. Selbst die Spitzenmanager und Spitzenpolitiker sind in Sachzwänge verstrickt, die ihnen weitgehend die Hände binden. Von daher leuchtet die soziale Deutung der Erbsündenlehre ein. Aber kann diese Deutung die Einwände gegen die Erbsündenlehre wirklich beantworten? Spricht sie nicht eher von einem universalen Verhängnis, für das die Begriffe Schuld, Sünde und Verantwortung fehl am Platz sind? Und wie kann von der sozialen Deutung der Erbsündenlehre her die traditionelle Lehre von der Überwindung der Erbsünde begriffen werden? Wenn die Erbsünde ein universaler, sozial und kulturell vermittelter Schuldzusammenhang ist, wie soll es dann möglich sein, dass sie durch die Taufe aufgebrochen wird? Und wie ist es dann vorstellbar, dass Jesus und auch Maria davon ausgenommen waren? Müssten sie dann nicht völlig außerhalb aller sozialen Kontakte gestanden sein?

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Eine alte, aber oft vernachlässigte Erklärung zur Erbsünde hilft hier weiter: Erbsünde darf nicht verstanden werden als positiv vorhandener Makel, der über die Zeugung weitergegeben würde. Sie bedeutet vielmehr einen Ausfall der heiligmachenden Gnade, die den Menschen eigentlich von Schöpfung an mitgegeben wurde.129 Dieser Gnadenverlust wurde durch die Sünde Adams verschuldet und betrifft seitdem den Menschen vom ersten Anfang seines Seins, also von Zeugung an.

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Wenn wir diesen Gnadenverlust als Ausfall einer zwischenmenschlichen Gnadenvermittlung verstehen, dann entspricht das ganz der Sicht vom Menschen als gottebenbildlichem Geschöpf, wie wir sie in diesem Buch entfaltet haben: Die Menschen stehen nicht einfach in einer naturhaft selbstverständlichen Gottesbeziehung, sondern sind daraufhin geschaffen, dass sie sich gegenseitig die Gnade der Gottesbeziehung erschließen, - zum Beispiel im Kreis der Liebe, wie wir ihn im dritten Kapitel entwickelt haben. Die Wirkung des Sündenfalls ist, wie wir gesehen haben, dass der Prozess dieser Vermittlung gestört wird. Menschen erschließen sich nicht mehr Gott, sondern verstellen Ihn sich gegenseitig.

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Wenn wir die Erbsünde auf diese Weise verstehen, dann lassen sich alle anfangs genannten Aspekte der traditionellen Erbsündenlehre erklären:

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  1. Die Erbsünde ist keine persönliche Sünde, sondern ein Zustand der Entfremdung von Gott; von diesem Zustand sind aufgrund der Sünde Adams alle Menschen (ausgenommen Jesus und Maria) betroffen: Wir haben den Sündenfall Adams und Evas als exemplarische Geschichte eines Gottesverlusts beschrieben, der immer wieder vorkommt und sich, wo er vorkommt, weiträumig in einer Störung der menschlichen Beziehungen auswirkt. Beeinträchtigt ist damit auch die Möglichkeit, dass Menschen sich gegenseitig die Erfahrung der Gottesnähe vermitteln. Wenn wir Erbsünde so verstehen, dann erweist sie sich als eine Wirkung der sich immer und überall wiederholenden Sündenfälle der Geschichte, - so weit, dass die ganze Welt und die ganze Geschichte davon betroffen ist: Immer und überall in der Menschheit, wenn auch in jeweils unterschiedlichem Ausmaß, ist die Weitergabe von Gnade über die menschlichen Beziehungen behindert.
  2. Die Erbsünde wird nicht bloß durch Nachahmung, sondern durch Zeugung übertragen, - sodass bereits die Kinder im Mutterschoß davon betroffen sind. Heute weiß man, dass verschiedenste Einflüsse - Wohlbefinden ebenso wie Stresssymptome - bereits die Embryos in der Gebärmutter erreichen. So wird nachvollziehbar, dass die mitmenschliche Vermittlung von Liebe und Gottbezug auch schon vor der Geburt folgenschwer ausfallen kann: zwar nicht durch die Zeugung, aber von Zeugung an. - Mit der Formulierung „Nicht durch Nachahmung, sondern durch Zeugung" zielt das kirchliche Lehramt mittels einer Anfangsaussage auf eine universal durchdringende Wirkung der Erbsünde: Grundsätzlich und nicht nur anfänglich wird die Erbsünde - das heißt, der Ausfall der zwischenmenschlichen Vermittlung einer gelingenden Gottesbeziehung - in einer abgründigen und unkontrollierbaren Weise von Mensch zu Mensch weitergereicht. Die Erbsünde beeinträchtigt die menschlichen Grundbezüge - zu Gott, zu den Mitmenschen, zur Welt und zu sich selbst - viel tiefer als bloß durch ein oberflächlich verstandenes Nachahmen, dem ich mich durch willentliche Verweigerung entziehen könnte.130
  3. Durch das Sakrament der Taufe werden die Menschen von der Erbsünde grundsätzlich befreit; aber in der Weise einer „Neigung zum Bösen" (Konkupiszenz) wirkt sie dennoch weiter. Die Taufe ist das Sakrament der Eingliederung in die Kirche, also idealerweise in eine Gemeinschaft, die von Jesus Christus her zur zwischenmenschlichen Vermittlung der Gnade neu befähigt ist. Von daher wird den Menschen durch die Taufe der Schlüssel gegeben, den erbsündigen Ausfall der zwischenmenschlichen Gottesvermittlung zu überwinden. Das geschieht über Kirche und Sakramente allerdings erst in einer anfangshaften und gebrochenen Form. Angst und Begierde, die beiden Hauptsymptome des Sündenfalls, wirken also weiter und halten den Menschen in einer „bösen Begierlichkeit", wie die Konkupiszenz auch übersetzt wird, gefangen.
  4. Ausgenommen von der Erbsünde sind nur zwei Personen: Jesus und Maria. Von Anfang an waren sie frei nicht nur von der Erbsünde, sondern auch von ihrer Folge, der Neigung zum Bösen. Unter Erbsünde verstehen wir den Ausfall der Gottesvermittlung, welche den Menschen in einer Situation des verlorenen Gottes gefangen hält. Das trifft für Jesus Christus so nicht zu: Nach christlichem Verständnis steht Jesus als Sohn Gottes131 und „wahrer Gott" von Anfang an und auf unvergleichliche Weise in einem innigen Austausch mit dem göttlichen Vater. Als „wahrer Mensch" ist er allerdings auch dem Gesetz menschlicher Natur unterworfen, dass er nicht selbstverständlich über die Gottesbeziehung verfügt, sondern dass er sie vermittels anderer Menschen immer neu empfangen muss. Wir müssen also annehmen, dass Jesus von Anfang an einen völlig unbeeinträchtigten Gottesbezug durch andere Menschen empfangen hat, - so, dass sein unvergleichlich reines Gottesverhältnis, das er von (seiner göttlichen) Natur her hatte, durch Beziehungen reiner Liebe „geweckt" oder wirksam gemacht wurde. Dem wird die katholische Lehre dadurch gerecht, dass sie auch für seine Mutter Maria annimmt, dass sie frei von Erbsünde war. So konnte Jesus von Maria her ein ungebrochener Gottesbezug zufließen. Umgekehrt kann Maria den reinen Gottesbezug immer wieder von Jesus her empfangen. Was wir im dritten Kapitel als Kreis der Liebe beschrieben haben, wäre damit in idealer Weise zwischen Jesus und Maria verwirklicht gewesen.132

    Aber wie konnte Maria dann vor der Geburt Jesu frei von der Erbsünde gewesen sein? Müsste man dazu nicht annehmen, dass auch unter ihren Bezugspersonen (Mutter, Vater oder andere Menschen) jemand von der Erbsünde befreit war und auch für diesen wieder andere, bis tief hinein in die Anfänge der Geschichte Israels und der Menschheit? Tatsächlich beschreibt das Alte Testament immer wieder Inseln des Heils, in denen Menschen - nie isoliert, sondern immer auch in heilen Sozialzusammenhängen - , mehr oder weniger aus dem Sündenzusammenhang herausgenommen worden sind. In der biblischen Urgeschichte geschah das modellhaft an der Figur Noahs, der zusammen mit einigen Wenigen aus der Sintflut der Sünde gnadenhaft herausgerissen wurde. In der jüdischen Heilsgeschichte galt das dann für Abraham und viele andere, bis hin zu Maria, die mit Josef, ihrer Verwandten Elisabet und gewiss auch anderen Frommen einen heiligen Rest133 Israels repräsentierten. - Waren all diese damit aus der Erbsünde herausgenommen? Wir dürfen uns hier nicht irritieren lassen durch einen schematisch reduzierten Erbsündenbegriff, der nur zwei Zustände kennt: erbsündig und frei von Erbsünde, - das heißt nach unserem Verständnis: blockierte oder völlig freie zwischenmenschliche Gottesvermittlung. Dazwischen gibt es viele Übergänge, vor allem auch eine lange alttestamentliche Tradition einer kraftvollen zwischenmenschlichen Gottesvermittlung. Maria steht in dieser alttestamentlichen Tradition,134 die sie dank der Menschwerdung Gottes fortführt und zur Vollendung bringt.

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Eine Hülle über Mensch und Nationen

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Als Folge des Sündenfalls und Wesen der Erbsünde zeigte sich: Die Menschen schauen auf sich und andere mit der Frage, was sie aus sich selbst ohne Gott sind. Was sie derart entdecken, ist Nichtigkeit, die sie in Scham stürzt. Sie versuchen, diese Scham aus eigener Kraft zu überwinden. Das führt zu Selbstheilungsversuchen, die die Krankheit nur verschlimmern. Das Wesen dieser Krankheit ist Gottesverlust, und die Menschen versuchen, deren Symptome - Scham, Angst und Begierde - zu kurieren, indem sie den Zugang zu Gott noch mehr verstellen. Die Feigenblätter, mit denen sie sich umgeben, erweisen sich als alles andere denn als Ruhmesblätter. Ansehnlicher Besitz wird mit Unfrieden und Ungerechtigkeit erkauft. Eigener Glanz kommt zustande durch die Unterdrückung anderer. Die Folgen zweifelhafter Selbstheilungsversuche müssen nochmals verborgen werden. Es genügt nicht, als erfolgreicher Strahlemann oder Strahlefrau zu erscheinen; man muss sich auch noch den Anschein von Humanität und Solidarität verleihen. Jesus hat das angeprangert, als er die Pharisäer und Schriftgelehrten übertünchte Gräber nannte.135 Wir sprechen von Leichen im Keller.

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Von daher können wir den von Gott entfremdeten Menschen als ein Wesen mit drei Schichten beschreiben. Außen umgibt er sich mit einer strahlenden, attraktiven Hülle, mit der er sich und andere zufriedenstellt und blendet. Darunter befindet sich eine dicke Schicht von unschönen und verdrängten Anteilen. Zuinnerst, doppelt verdeckt durch diese beiden Schichten, verbirgt sich die Herrlichkeit der gottgegebenen Gottebenbildlichkeit: eine Herrlichkeit, die der Mensch während seines Lebens verstellen und entstellen, aber niemals ganz auslöschen kann (siehe Abbildung 16).

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abb16

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— Abbildung 16 —

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Ein besonderes Verhängnis der Sünde besteht in der Dynamik von Selbstheilungsversuchen, die das Übel nur verschlimmern.136 Soweit ein Mensch von Gott entfremdet ist, steht er beständig unter dem Druck, seine Fassade für sich und andere aufzupolieren. Was er damit erreicht, ist einerseits mit üblen Nebenwirkungen verbunden, die wieder verdrängt werden müssen, anderseits hat es auch in sich keinen Bestand. Was eben noch glänzte, verrät seine Hohlheit und muss mit weiteren Glanzschichten überzogen werden. So wächst die zweite, unattraktive Schicht immer weiter und macht weitere Übertünchungsversuche nur noch dringlicher. Die verborgene, authentische Strahlkraft der verdankten Gottebenbildlichkeit wird immer mehr verstellt.

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Der Mensch bildet auf diese Weise eine glänzende, harte, und zugleich hohle Schale, die seine Seele - den tiefsten Grund seines Seins, in dem er an Gott grenzt und so eine unverwechselbare Identität empfängt - verkrustet.

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Was wir so an uns selber und an anderen wahrnehmen, ist manchmal Glanz, - dann sind wir stolz, fasziniert oder neidisch. Und manchmal entdecken wir die darunter verborgene dunkle Tiefenschicht. Dann sind wir enttäuscht, ernüchtert, mitunter aber auch befriedigt. Denn nun haben wir eine Wurzel des allgemeinen Unheils entdeckt. Wir können es öffentlich anprangern und ausreißen mit Stumpf und Stiel, indem wir diesen Unmenschen entlarven, abservieren, zum Rücktritt zwingen. Die Entdeckung solcher Abgründigkeit in einem selber, ohne die begleitende Wahrnehmung der unverlierbaren Gutheit und Würde des eigenen Wesenszentrums, ist hingegen unerträglich. Um nicht in Ekel und Selbsthass zu verfallen, muss man den Blick davon abwenden; und das gelingt am effektivsten, indem man sich ablenkt mit den wohlfeilen Enthüllungsangeboten in Bezug auf andere, die zweifellos noch viel schlechter sind.

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Diese wachsende, starre Hülle, die den Menschen ihr Schönstes und Wertvollstes verstellt, liegt nicht nur über Einzelpersonen, sondern über den Menschen in ihren gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen. Mächtige und attraktive Strukturen werden errichtet, mit Nebenwirkungen und unschönen Seiten, die durch aufwendige Verschleierungsmechanismen und Propagandaapparate kaschiert werden. Die Folge ist, dass Gott in der Öffentlichkeit nicht mehr vorkommt; die Wege der Vermittlung einer authentischen Gottesbeziehung sind hier hoffnungslos verstellt.137 Religion kommt dann allenfalls noch als Privatsache vor, in heimeligen Gruppen, wo das verunsicherte wahre Selbst sich noch traut, aus den Ritzen seiner Verkrustungen hervorzulugen.

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Eine Kruste liegt also nicht nur über Einzelmenschen, sie blockiert auch die Kanäle der öffentlichen Kommunikation. Das gilt nicht erst für das multimediale 21. Jahrhundert, sondern war schon zu biblischen Zeiten so. In den Evangelien heißt es, dass sogar von den führenden Männern viele zum Glauben an Jesus gekommen waren, „aber wegen der Pharisäer bekannten sie es nicht offen, um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden" (Joh 12,42). Und im Alten Testament ist die Öffentlichkeit häufig der Ort, wo Gläubige verfolgt werden. Die Psalmen singen nicht nur ein Lied davon.138

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Angesichts dieser Unheilsmächte wuchs im alttestamentlichen Israel die Hoffnung auf eine gewaltige Selbstoffenbarung des wahren, herrlichen Gottes, - eine Selbstoffenbarung, die die Hülle über den Menschen und Nationen zerreißt:

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„Der Herr der Heere wird auf diesem Berg für alle Völker ein Festmahl geben mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit erlesenen Weinen, mit den besten und feinsten Speisen, mit besten, erlesenen Weinen. Er zerreißt auf diesem Berg die Hülle, die alle Nationen verhüllt, und die Decke, die alle Völker bedeckt. Er beseitigt den Tod für immer. Gott, der Herr, wischt die Tränen ab von jedem Gesicht. Auf der ganzen Erde nimmt er von seinem Volk die Schande hinweg. Ja, der Herr hat gesprochen. An jenem Tag wird man sagen: Seht, das ist unser Gott, auf ihn haben wir unsere Hoffnung gesetzt, er wird uns retten. Das ist der Herr, auf ihn setzen wir unsere Hoffnung. Wir wollen jubeln und uns freuen über seine rettende Tat. Ja, die Hand des Herrn ruht auf diesem Berg." (Jes 25,6-10)

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Das ist einer jener Bibeltexte, die uns befreit durchatmen lassen, bis uns die folgenden Verse die Kehle zuschnüren:

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„Moab aber wird an Ort und Stelle zerstampft, wie Stroh in der Jauche zerstampft wird. Wenn Moab darin auch mit den Händen rudert wie der Schwimmer beim Schwimmen, so drückt er den Stolzen doch nieder, auch wenn seine Hände sich wehren. Deine festen, schützenden Mauern werden niedergerissen; der Herr stürzt sie zu Boden; sie liegen im Staub." (Jes 25,10-12)

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Ist denn das Heil für die Völker nur möglich in Verbindung mit der Verdammnis von Feinden? Verfällt auch die Bibel der teuflischen Versuchung, Einheit auf Kosten von Sündenböcken zu schaffen?

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Eine eigenartige Spannung im Text sollte uns mit dem Urteil zögern lassen: Wenn der Herr für alle Völker ein Festmahl bereitet, dann doch wohl auch für Moab! Müssen wir also hier vom Kontext her korrigieren: natürlich für alle Völker außer Moab? Dann hätten wir das Sündenbockdenken. Oder wird Moab einerseits zerstampft und anderseits zum Festmahl geladen? Der dritte, späteste Teil des Jesajabuchs (Jes 56-66) ergibt eine ähnliche Antwort: Ein Teil Moabs wird zerstampft und ein Teil zum Festmahl geladen. Aus allen Völkern wird Gott gerechte Menschen berufen und die Feinde Gottes vernichten. Das gilt selbst für Israel: Zum Teil wird es vernichtet,139 und zum Teil wird es gerettet werden, auserwählt zum eigenen Heil und dazu, anderen das Heil zu bringen. Solche Auserwählung gilt aber auch für Teile aus allen Völkern:

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„Ich ... komme, um die Völker aller Sprachen zusammenzurufen, und sie werden kommen und meine Herrlichkeit sehen. Ich stelle bei ihnen ein Zeichen auf und schicke von ihnen einige, die entronnen sind, zu den übrigen Völkern: nach Tarschisch, Pul und Lud, Meschech und Rosch, Tubal und Jawan und zu den fernen Inseln, die noch nichts von mir gehört und meine Herrlichkeit noch nicht gesehen haben. Sie sollen meine Herrlichkeit unter den Völkern verkünden. Sie werden aus allen Völkern eure Brüder als Opfergabe für den Herrn herbeiholen auf Rossen und Wagen, in Sänften, auf Maultieren und Dromedaren, her zu meinem heiligen Berg nach Jerusalem, spricht der Herr, so wie die Söhne Israels ihr Opfer in reinen Gefäßen zum haus des Herrn bringen. Und auch aus ihnen werde ich Männer als Priester und Leviten auswählen, spricht der Herr" (Jes 66,18-21)

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Berufen werden also Menschen aus allen Völkern, - auch aus Israel! Jeder Erwählungsvorrang Israels ist in dieser endzeitlichen Vision eingeebnet. Und selbst für Moab, dem die Alttestamentliche Prophetie noch öfters schlimmste Strafgerichte ansagt (Jer 48), heißt es zuletzt: „Aber in ferner Zukunft wende ich Moabs Geschick - Spruch des Herrn" (Jer 48,47).

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Keineswegs verfällt die Bibel also einem Sündenbockdenken nach dem Motto: „Heil für uns von unserem Gott und Vernichtung über die Feinde." Von allen Völkern wird es also Gerettete und Verworfene geben, von Israel ebenso wie von Moab. Diese universale Perspektive ergibt sich nicht erst aus dem Neuen Testament; wir finden sie bereits in den jüngeren Teilen der Prophetenbücher. Allerdings ist die Heilserwartung nicht wirklich universal. Feinde Gottes gibt es in allen Völkern - auch in Israel. Und der Vernichtung, die Gott über sie verhängt - d.h. die Selbstvernichtung, in die Gott sie laufen lässt, vermögen sie nicht zu entkommen. So mündet die abschließende universale Heilsverheißung des Jesajabuchs in eine Höllenvision, - ein grauenhafter Abschluss dieses an Tröstungen reichen biblischen Buches.

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„An jedem Neumond und an jedem Sabbat wird alle Welt kommen, um mir zu huldigen, spricht der Herr. Dann wird man hinausgehen, um die Leichen derer zu sehen, die sich gegen mich aufgelehnt haben. Denn der Wurm in ihnen wird nicht sterben, und das Feuer in ihnen wird niemals erlöschen; ein Ekel sind sie für alle Welt." (Jes 66,23f)

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Im Neuen Testament wird Jesus diese Höllenbilder als Warnung aufgreifen,140 aber sein Weg ans Kreuz eröffnet eine Heilshoffnung selbst für die Feinde Gottes.141 Wenn wir von dieser neutestamentlichen Perspektive zu unserem Verheißungstext aus Jes 25 zurückkehren,142 dann ergibt sich als Schlüssel: Auch Israel ist Moab. Für Moab gilt beides: Gericht und Heil. Es wird zuerst zerstampft und dann zum Festmahl geladen. Und nicht anders ist es für Israel: Durch das Zerbrechen hindurch wird es für das Heil bereitet.

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Zerstampft und zum Festmahl geladen: Der Gedanke ist nicht so absurd, wie er auf den ersten Blick scheint. Gott „zerreißt auf diesem Berg die Hülle, die alle Nationen verhüllt, und die Decke, die alle Völker bedeckt". Wir müssen uns nur vorstellen, dass diese Hülle und Decke so eng mit den Menschen aus den Völkern und Nationen verwachsen ist, dass ihr Zerreißen ihnen zwangsläufig wie ein Zerschlagen vorkommt. Gott erlöst die Menschheit von den lähmenden und knechtenden Strukturen, damit Tod und Tränen beseitigt werden und ein Festmahl für alle stattfinden kann. Aber das geht nicht anders als durch ein Zerreißen, das den Menschen und Völkern wie ein zerstörerisches Zorngericht erscheinen muss.

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Jes 25 macht an dem feindlichen Moab nur jene Mächte und Gewalten drastisch sichtbar, die auch Israel selber lähmen: als Nebenwirkung jener fatalen Selbstheilungsversuche, mit denen die Menschheit Schicht um Schicht über ihr wahres Selbst aufträgt und sich durch solche Panzerung vom wahren Gott und authentischer Identität immer unerbittlicher abschneidet. Erlösung kann nicht anders geschehen, als dass Gott die Schichtenwerke dieser Entfremdung zerbricht. Das ist ein höchst bedrohlicher Vorgang, der nicht anders denn als Zorngericht empfunden werden kann. Wurden diese Schichten doch aufgebaut, um die eigene Nacktheit zu verbergen. Und nun sollen sie weggerissen werden! Wenn der wahre, heilvolle Kern der wurzelhaften Gottebenbildlichkeit wieder frei werden soll, muss Schicht um Schicht abgetragen werden. Damit wird nicht gleich die verborgene Herrlichkeit freigelegt; zunächst zeigen sich die ängstlich verdrängten dunklen Anteile. Die Menschen, denen ihre attraktiven Verhüllungen weggezogen werden, haben zunächst allen Grund, sich zu schämen. Sie können diese Scham nur ertragen, wenn ihnen zugleich die Würde und Schönheit ihres innersten Selbst zugesagt wird. Wie aber kann sie solch liebende Zusage erreichen, - und wer ist so hellsichtig, diese Zusage aufrichtig geben zu können -, wenn der Zugang zu ihrem wahren Selbst durch eine böse Panzerung verrammelt ist? Erlösung - im Sinn einer Befreiung von Schuldverstrickung auf neue Beziehungsfähigkeit hin - scheint unmöglich zu sein. Und doch kommt sie immer wieder vor. Wie und mit welchem Preis sie möglich ist, wird das Thema eines eigenen Buches sein.143 Hier gilt es, das Bedrohliche der erlösenden Demaskierung wahrzunehmen; denn auch das ist eine dunkle Seite von Sündenfall und Erbsünde: Sie versperrt den Rückweg ins Paradies.

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Schauen wir uns diesen Zusammenhang von Erlösung und Bedrohung nochmals genauer an: Die für das Heil unerlässliche „Ent-Hüllung" erscheint dem Sünder zwangsläufig als totale Vernichtung, und zwar genau so, wie es unser Jesaja-Text über das feindliche Volk Moab sagt:

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„Moab aber wird an Ort und Stelle zerstampft, wie Stroh in der Jauche zerstampft wird. Wenn Moab darin auch mit den Händen rudert wie der Schwimmer beim Schwimmen, so drückt er den Stolzen doch nieder, auch wenn seine Hände sich wehren. Deine festen, schützenden Mauern werden niedergerissen; der Herr stürzt sie zu Boden; sie liegen im Staub."

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Moab steht für eine strahlende, harte und hohle Identität, die ganz Schale ist. Damit das wurzelhafte Heil wieder freiwerden kann, muss diese Identität aufbrechen. Sie muss zerbrochen und zerstampft werden. Es ist unmöglich, sie sanft wegzuziehen, denn der Mensch, der auf sie gebaut hat, meint ohne sie nicht leben zu können. Wird sie ihm entzogen, wird er „rudern wie der Schwimmer beim Schwimmen." Damit die wahre Würde des Gotteskindes zutage treten kann, muss der Stolz zerbrochen werden: „So drückt er den Stolzen doch nieder, auch wenn seine Hände sich wehren." - Nicht anders können die Schichten der Gottentfremdung entfernt werden: „Deine festen, schützenden Mauern werden niedergerissen; der Herr stürzt sie zu Boden; sie liegen im Staub."

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Alles wird missverstanden und pervertiert, wenn man diese Worte für die Feinde reserviert, die Gott zertreten wird, um die Seinen unbehelligt zu lassen! Was hier beschrieben wird, trifft nicht die anderen, sondern gerade jene, die Gott retten will. Auch Israel ist Moab!

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Wir sehen das deutlicher, wenn wir diesen Text vergleichen mit dem zentralsten Geschehen der Gottesübergabe, die das Neue Testament kennt: der Taufe. In ihren Ursprüngen ist sie ein rückwärtiges Untergetauchtwerden ins Wasser, ein archetypisch bedrohliches Geschehen, für das es begreiflich ist, dass der Täufling „mit den Händen rudert wie der Schwimmer beim Schwimmen", sodass er niedergedrückt wird, „auch wenn seine Hände sich wehren". Wie Paulus betont hat, ist die Taufe ein Tod, sie ist Taufe auf den Tod (Röm 6,1-14);144 sie ist Tod des „alten Menschen",145 das heißt, der glänzenden, harten und hohlen Identität, auf dass der neue Mensch aufleben kann in seiner ursprünglichen Schönheit und Herrlichkeit, von der Paulus sagt:

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„Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn" (2 Kor 3,18).

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Der Rückweg in das Paradies ist versperrt

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Kehren wir ein letztes Mal zurück zur biblischen Erzählung und zu den Folgen des Sündenfalls, von denen die Bibel spricht. Versteht man die Texte recht, dann erscheint Gott an keiner Stelle als knausriger Tyrann, der den Menschen etwas vorenthält oder gar Fallen stellt. Nirgends zeigt er sich als Despot, der den Menschen willkürlich straft. Gott hat den Menschen die Fähigkeit verliehen, in verdankter Herrlichkeit „wie Gott zu sein" und ihnen verboten, „ohne Gott wie Gott sein zu wollen". Er hat ihnen alle Möglichkeiten zur Weltgestaltung und -erkenntnis eröffnet, aber sie vor dem Versuch gewarnt, unter Absehung von Gott „Gut und Böse zu erkennen". Denn der Versuch, zu sein und zu erkennen, ohne dass dies in einem dankbaren Bezug auf Gott hin geschieht, reißt den Menschen zwangsläufig in eine abgrundtiefe Entfremdung, - nicht nur von Gott, sondern zugleich von den anderen Menschen, der Welt und einem selber. Die ganze Schöpfung wird so unwirtlich und feindlich. Der Mensch muss dann hart arbeiten, denn er muss der Welt nicht nur den Lebensbedarf, sondern all die Mittel für seine immer anspruchsvolleren Feigenblätter entringen, - und das in ständiger Konkurrenz mit anderen Menschen, die den Boden längst schon zur eigenen Selbstverherrlichung ausbeuten. So erweist sich die Strafe, die Gott gegen Adam verfügt, als innere Konsequenz seines Abfalls von Gott. Sie ist Selbstgericht:

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„Zu Adam sprach [Gott]: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln lässt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes musst du essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück" (Gen 3,17-19).

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Dass der Mensch Staub ist und zu Staub zurückkehrt, bezieht sich nicht erst auf ein hoffnungsloses Lebensende. Bereits während des Lebens kennzeichnet es die fortgesetzte Frustration im Versuch einer eigenmächtigen Herrlichkeitsgewinnung. Wonach der Mensch gierig greift, um das Loch seiner Transzendenz zu stopfen, erweist sich, wenn er es erreicht hat, als unzulänglich, um den Hunger zu stillen. Nichtiger Staub ist, was er selbstherrlich schafft; und Staub ist, was er ohne Gott zu werden meint: verurteilt zum Untergang und zur Vernichtung. Auch wenn diese Vernichtung eine Vernichtung zur Rettung ist: Vernichtung der Schale harter Identität, damit die verdeckte Herrlichkeit zum Vorschein kommt und sich neu entfalten kann.

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Von daher erweist sich schließlich auch die Vertreibung der Menschen aus dem Paradies als Selbstaustreibung. Nicht Gott verbannt den Menschen, sondern der Mensch verbannt Gott. Er tut das, weil Gott ihm als feindlich erscheint. Denn der Ort, wo Gott sich dem Menschen offenbaren kann, ist genau jener, wo der auf sich allein verwiesene Mensch in unerträglicher Weise mit seiner Nacktheit konfrontiert wird. Gott erscheint so als demütigend, als peinigend und - wo Menschen ihn dennoch bezeugen - als peinlich.

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Und der Engel mit dem Flammenschwert, über den sich Reimarus und Heinrich Heine so erregt haben?

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„Gott der Herr, schickte [den Menschen] aus dem Garten von Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war. Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Kerubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten" (Gen 3,23f).

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Reimarus hatte ja gelästert, Gott hätte besser daran getan, die Engel vor den verbotenen Baum zu postieren als vor den Eingang des Paradieses. Wir sind nun in der Lage, die Kerubim mit dem Flammenschwert zufriedenstellend zu deuten:

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Nicht Gott vertrieb den Menschen aus dem Paradies; der Mensch hat sich selber ausgetrieben.146 Immer wieder reichte Gott dem Menschen die Hand, um ihm neu das Paradies zu öffnen, - das heißt eine Welt, die rückhaltlos und ganz in Gott gründet: im Alten Testament durch die Bundesschlüsse mit seinem Volk, im Neuen Testament durch Jesu Ankündigung des Gottesreichs.

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Dass diese Heilsangebote den Menschen auch erreichen, ist allerdings an eine Bedingung geknüpft: Er muss bereit sein, sich von seinen Schalen, die er aus Stolz und Angst über seine existenzielle Nacktheit aufgeschichtet hat, zu lösen. Diese Loslösung ist, wie wir gesehen haben, ein höchst bedrohlicher Prozess, der mit Untergang und Tod zu vergleichen ist. Wie das Sakrament der Taufe symbolisiert: Ohne Bereitschaft zu diesem Tod kann das Reich Gottes nicht betreten werden. So erscheint dem in Sünde verstrickten Menschen der Zugang ins Paradies tatsächlich verstellt durch Kerubim mit einem lodernden Flammenschwert. Wir alle leben an der Schwelle zum Paradies, und das Tor ist offen. Doch der Durchgang scheint tödlich zu sein. Erst wer es trotz dieser Todesdrohung wagt hindurchzugehen, erfährt, dass es ein Tod zum neuen, wahren Leben ist. Was aber hilft das dem in Sünde verstrickten Menschen, der ängstlich vor dem Tor steht und dem Tod ins Auge schaut? Wie lässt sich Gott wiederfinden, wenn er verloren ist?

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Wer kann dann noch gerettet werden?

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Was es mit dem Sündenfall auf sich hat, - das war das Thema dieses Buches. Es ist das Mittelstück der großen christlichen Erzählung,147 die wir als Trilogie verstehen können:

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  1. Schöpfung: Gott hat die Menschen gut und in Herrlichkeit geschaffen.
  2. Sündenfall: Durch die Sünde haben sie die Herrlichkeit verloren und sich in den Fesseln der Sünde verfangen.
  3. Erlösung: Gott hat sich der sündigen Menschen erbarmt und ihnen einen Weg der Erlösung eröffnet, - zunächst durch Gesetze und Propheten, schließlich, indem er seinen eigenen Sohn sandte.148 Dieser wurde von der Macht der Sünde zerbrochen, aber gerade durch das Kreuz hat er die Macht der Sünde besiegt. Durch das Kreuz und die Auferstehung Jesu Christi wurden wir aus der Sündenmacht befreit, herausgelöst, erlöst.
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Ohne diesen dritten Teil ist die ganze christliche Erzählung unvollständig und unbefriedigend. Wir würden um die Krankheit wissen, nicht aber um ihre Heilung. Das ist die Situation, in der wir uns am Ende dieses Buches befinden. Es ist die Ausgangssituation für ein weiteres Buch, das von Erlösung handeln muss.149

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Der lange Vormarsch war notwendig. Man muss den Ernst der Krankheit kennen, um die mitunter drastischen Heilmittel zu verstehen. Wir müssen die Macht der Sünde begreifen, damit wir sehen: Ein Rückweg aus eigener Kraft ist dem Menschen nicht möglich. Das umfassendste Wissen und der beste Wille reichen hier nicht aus; auch gute Vorbilder nicht. Entweder sie bleiben so äußerlich, dass sie uns unverändert lassen. Oder sie gehen uns so an den Nerv, dass wir sie nicht ertragen können, - dann fügen wir ihnen das Schicksal zu, das Jesus erlitt: „Es ist besser, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht" (vgl. Joh 11,52).

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Das ist das Gewicht der Sünde150 oder der Gottesentfremdung, die zugleich eine Entfremdung der Menschen voneinander, von der Welt und von sich selbst ist. Zwar ist nicht alles Sünde; vieles ist auch gut, - aber die Sünde ist eine Macht, die alles durchzieht und das Gute beständig ins Zwielicht taucht. Über weite Strecken kann man auch in diesem Zwielicht recht und schlecht leben, - aber es gibt kritische Zeiten, in denen das Unentschiedene zu schwach ist und zwangsläufig ins Zerstörerische abdriftet. Die Epoche des Nationalsozialismus war so eine Zeit. Weltfinanzkrise und drohende Klimakatastrophe könnten Vorzeichen dafür sein, dass wir uns erneut Zeiten nähern, in denen alles Laue und Halbherzige unzureichend ist (vgl. Offb 3,15f). „Wer kann dann noch gerettet werden?" (Mk 10,26) - Diese Frage der Jünger an Jesus stellt sich auch uns heute. Und es ist nicht nur die Frage von Christen.

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Anhang: Biblische Texte

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1. Der Mensch, geschaffen als Gottes Ebenbild: Genesis 1,26-28

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26 Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land.

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27 Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.

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28 Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.

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2. Der verbotene Baum: Genesis 2,9.16-17

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9 Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. [...]

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16 Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen,

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17 doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben."

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3. Die Erzählung vom Sündenfall: Genesis 3,1-24

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1 Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte. Sie sagte zu der Frau: Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?

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2 Die Frau entgegnete der Schlange: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen;

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3 nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen, und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.

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4 Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben.

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5 Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.

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6 Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß.

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7 Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz.

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8 Als sie Gott, den Herrn, im Garten gegen den Tagwind einherschreiten hörten, versteckten sich Adam und seine Frau vor Gott, dem Herrn, unter den Bäumen des Gartens.

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9 Gott, der Herr, rief Adam zu und sprach: Wo bist du?

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10 Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich.

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11 Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe?

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12 Adam antwortete: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben, und so habe ich gegessen.

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13 Gott, der Herr, sprach zu der Frau: Was hast du da getan? Die Frau antwortete: Die Schlange hat mich verführt, und so habe ich gegessen.

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14 Da sprach Gott, der Herr, zur Schlange: Weil du das getan hast, bist du verflucht unter allem Vieh und allen Tieren des Feldes. Auf dem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens.

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15 Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse.

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16 Zur Frau sprach er: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen.

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17 Zu Adam sprach er: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens.

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18 Dornen und Disteln lässt er dir wachsen, und die Pflanzen des Feldes musst du essen.

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19 Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.

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20 Adam nannte seine Frau Eva (Leben), denn sie wurde die Mutter aller Lebendigen.

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21 Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen und bekleidete sie damit.

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22 Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt!

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23 Gott, der Herr, schickte ihn aus dem Garten von Eden weg, damit er den Ackerboden bestellte, von dem er genommen war.

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24 Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Kerubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten."

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Anmerkungen:

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1 Isabel Allende, Der unendliche Plan, Frankfurt 2004, 104f.

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2 Gnosis ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl sehr unterschiedlicher geistlicher Strömungen. Sie kommen darin überein, dass sie der Erkenntnis eine zentrale Bedeutung für die menschliche Erlösung zuschreiben (daher der Name Gnosis, der griechisch Erkenntnis bedeutet). Sie werten die körperliche Welt gegenüber dem Bereich des Geistigen ab und neigen zu einer dualistischen Aufspaltung der Wirklichkeit.

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3 Alice Miller, Evas Erwachen. Über die Auflösung emotionaler Blindheit, Frankfurt a.M. 2001, 17f.

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4 Alice Miller, ebd. 20.

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5 Zur Gnosis siehe oben, Anm. 2.

736
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6 Testimonium veritatis 48, nach der Übersetzung in: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt 2001, 1028. Ähnliche gnostische Tendenzen werden von Kirchenvätern bezeugt. Hippolyt, Irenäus und Augustinus erwähnen gnostische Gruppierungen - Naassener und Ophiten -, für welche die Verehrung der Schlange eine zentrale Rolle spielt.

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7 Leitend für die Identifizierung von Christus mit der Schlange ist Joh 3,14: „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden." Vgl. dazu im Alten Testament: Num 21.

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8 Schmälen ist ein heute nicht mehr verwendetes Wort, das bedeutet: sich bitter über etwas oder jemanden beklagen.

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9 Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, herausgegeben von G. Alexander, Frankfurt 1972, Bd. 2, 463f. Das Werk wurde von Reimarus zwischen 1735 und 1758 verfasst und knapp zwanzig Jahre später (nach seinem Tod) in Ausschnitten von Gotthold Ephraim Lessing anonym veröffentlicht. Diese Publikation löste den berühmten Fragmentenstreit aus, der unter anderem dazu führte, dass Lessing ein Publikationsverbot zu religiösen Themen auferlegt bekam.

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10 Reimarus, ebd., Bd. 1, 461.

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11 Siehe Anm. 9.

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12 Vgl. Immanuel Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. In: Kants gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Band 8. Abhandlungen nach 1781. Berlin - New York 1923.

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13 Vgl. Immanuel Kants Essay „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung" (1784). Der Spruch „Sapere aude" geht auf den lateinischen Dichter Horaz zurück.

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14 Kant selber verstand sich allerdings nicht als Religionskritiker, sondern als Verfechter einer vernunftgeleiteten Religion. Den Spannungen zur biblischen Gottesrede ging er aus dem Weg, wie bei der Sündenfallgeschichte, die er nacherzählte, ohne dass Gott darin vorkam.

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15 Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae"; sowie zur positiven Bewertung der Autonomie die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr. 20, 36.

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16 Friedrich Schiller, Etwas über die erste Menschengesellschaft, in: ders., Sämtliche Werke. Vierter Band. Historische Schriften, München 1958, 767-783, hier: 769.

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17 Heinrich Heine, Adam der erste, in: ders., Sämtliche Schriften, hrsg. von K. Briegleb, München 1971, Bd. 4, S. 412f.

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18 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Augsburg 1979, 70 (= Zweiter Teil: Auf den glückseligen Inseln).

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19 Das Bild eines Schlangenbisses im Zusammenhang mit dem Sündenfall wurde von Irenäus von Lyon verwendet. Vgl. ders., Gegen die Häresien V,16,2.

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20 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, ebd. 75 (= Zweiter Teil: Von den Priestern).

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21 Vgl. Irenäus von Lyon, Gegen die Häresien, III,20,2.

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22 Vgl. Paul Ricoeur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Freiburg i. Brsg. 1971.

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23 Vgl. Paul Ricoeur, Symbolik des Bösen (siehe vorige Anmerkung). Ricoeur unterscheidet vier Grundtypen von Mythen, die sich mit dem Bösen befassen. Den vierten Typ, den Mythos von der verbannten Seele, können wir in unserem Zusammenhang übergehen.

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24 Persönliche Fürwörter, die sich auf Gott beziehen, werden in diesem Buch groß geschrieben. Diese von der amtlichen Rechtschreibung abweichende Konvention soll den wesentlichen Unterschied zwischen Gott und menschlichen Personen einschärfen. Inhaltlich wird dieser Unterschied im dritten Kapitel ausgearbeitet. Viele unnötige Irritationen entstehen dadurch, dass wir uns Gott in unangemessener Weise wie einen Menschen vorstellen.

755
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25 Weitere Beispiele finden sich in: Norbert Lohfink, Die Ursünden in der priesterlichen Geschichtserzählung. In: Die Zeit Jesu. Festschrift für Heinrich Schlier. Freiburg 1970, 38-57.

756
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26 In der Übersetzung durch die revidierte Elberfelder Bibel.

757
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27 Die Frage, ob mit dem verbotenen Baum nicht doch ein Mangel im Paradies besteht, wird uns später beschäftigen. Siehe das Kapitel „Was Gott dem Menschen nicht geben kann, selbst wenn er wollte", S. 78.

758
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28 Für ein richtiges Verständnis der Erbsünde vgl. das Kapitel „Kann denn Sünde erblich sein", unten S. 169.

759
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29 Berühmt-berüchtigt war die Aussage des katholischen Bibeltheologen Herbert Haag aus dem Jahr 1970: „Nachdem die abendländische Kirche 1500 Jahre einer durch Augustinus irregeleiteten Tradition gehuldigt hat, kommt heute der Abschied von der ‚Erbsünde' wahrlich nicht zu früh - eher viel zu spät." Ders., in: Urs Baumann, Erbsünde? Ihr traditionelles Verständnis in der Krise heutiger Theologie. Freiburg - Basel - Wien 1970, 6. Haag hat in zahlreichen Publikationen diese kritische Sichtweise verfochten.

760
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30 Vgl. vor allem Eugen Drewermann, Strukturen des Bösen, 3 Bände, Paderborn 1978.

761
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31 Vgl. dazu das Kapitel über Erbsünde, unten S. 169.

762
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32 Außer Tob 8,6, wo auf die Sünde Adams nicht eingegangen wird, vgl. Weish 10,1 und Sir 25,24. Bemerkenswert ist Weish 2,24, in der die Paradiesschlange mit dem Teufel in Verbindung gebracht wird: „Durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt, und ihn erfahren alle, die ihm angehören." Vgl. dazu unten, S. 108. - Vergleiche auch die Bezüge zu Dtn 30 und Sir 24, wie sie unten S. 90-94 entfaltet sind.

763
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33 Früher wurde die Entstehung der Paradiesgeschichte auf die Zeit Salomos, im 10. Jahrhundert vor Christus, angesetzt. Inzwischen überwiegt die Annahme einer nachexilischen Entstehung, also nach dem 6. Jahrhundert. Außerdem wird der Endredaktion des Gesamttextes von biblischer Urgeschichte, ja sogar der gesamten fünf Bücher Mose, eine viel größere Bedeutung als früher zugesprochen. Damit wird der Gesamttext viel mehr als bisher als eine Einheit betrachtet. Vgl. Georg Fischer, Zur Lage der Pentateuchforschung. In: Zeitschrift für Alttestamentliche Wissenschaft 115 (2003), 608-616.

764
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34 Manche Exegeten bestreiten, dass die Vorstellung von einem allmächtigen Gott, der alles ohne Ausnahme geschaffen hat, bereits im ersten Schöpfungsbericht zu finden ist (z.B.: Walter Groß, Creatio ex nihilo - Alttestamentliche Anmerkungen zu einem alten dogmatischen Lehrsatz. In: Studien zur Priesterschrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern. Stuttgart 1999, 55-63). Vorausgesetzt sei ja die Urflut, und Gott hätte nach dortigem Verständnis nicht „aus nichts geschaffen", wie die spätere dogmatische Spekulation von Gott aussagt, sondern verschiedene bereits bestehende Bereiche voneinander geschieden. Demgegenüber möchte ich zugestehen: Tatsächlich dürfte die Feststellung, dass alles, was ist, von Gott geschaffen ist, in der biblischen Urgeschichte noch nicht voll entfaltet sein; deutlicher finden wir sie in späteren Schriften (z.B. in Jer 24,4-7; 2 Makk 7,28; dann im Neuen Testament: Röm 4,7). Aber die biblische Urgeschichte ist auf dem Weg dorthin. Entscheidend für ihren Kontext ist, dass sie keine handelnden Akteure kennt, die nicht von Gott geschaffen sind.

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35 Vgl. die vorige Anmerkung.

766
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36 Die historisch-kritische Exegese hat den Blick auf diesen Gesamtzusammenhang nicht selten verstellt, indem sie den Text auf verschiedene Schichten aufteilte, die sie getrennt voneinander untersuchte. Quellenscheidungen wie jene zwischen Priesterschrift (1. Schöpfungsbericht) und Jahwist (2. Schöpfungsbericht) sind nicht unberechtigt, dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Textgruppen von einer Endredaktion mit Bedacht zu einer Einheit zusammenkomponiert wurden, und dass es diese Gesamteinheit war, die als kanonischer Text sowohl für die jüdische als auch für die christliche Bibel bestimmend werden sollte. Die Bedeutung des Endtextes in seinem Gesamtzusammenhang wird in der neuesten exegetischen Forschung viel stärker berücksichtigt als noch vor einigen Jahrzehnten. Der Bogen von der anfänglich guten Schöpfung bis zu ihrer Verdorbenheit in Gen 6 wird damit auch für die heutige Bibelwissenschaften wieder deutlicher wahrnehmbar.

767
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37 Dass es faktisch oft anders ausschaut, hängt mit zwei Dingen zusammen: mit einem unauthentischen Gottesbezug, der für Gott hält, was nicht Gott ist; und mit einer schuldverstrickten Welt, die eine authentische Gottes- und Nächstenliebe als bedrohlich erfährt. Vgl. dazu das letzte Kapitel in diesem Buch.

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38 Vgl. Augustinus, Bekenntnisse 3,11.

769
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39 Ich gebe manchen Skizzen griffige Namen, um mich später einfach darauf zu beziehen zu können. Von „Trichter-Skizze" spreche ich hier, weil die Skizze äußerlich wie ein Trichter aussieht. Das hat also nichts mit der Funktion eines Trichters zu tun.

770
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40 Im Gefolge seiner Auseinandersetzung mit dem idealistischen Philosophen Johann Gottlieb Fichte schrieb der deutsche Philosoph Dieter Henrich von einer „ursprünglichen Selbstvertrautheit, die ihrer selbst nicht mächtig ist." Vgl. dazu Willibald Sandler, Subjektivität und Alterität. Vorsichtige Brückenschläge zwischen den Welten von Dieter Henrich und Emmanuel Levinas, ausgehend von einer Kontroverse zwischen Klaus Müller und Thomas Freyer. Im Internet-Leseraum der Theol. Fakultät Innsbruck http://theol.uibk.ac.at/itl/736.html

771
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41 Zitiert nach Romano Guardini, Die Annahme seiner selbst. In: Ders., Gläubiges Dasein - Die Annahme seiner selbst (Romano Guardini Werke), Mainz/Paderborn 1987, 7-31, hier: 11.

772
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42 Unter Paradox verstehe ich hier einen scheinbar unauflöslichen Widerspruch, - in dem Sinn, wie Henri de Lubac vom „Paradox des Menschen" gesprochen hat. Vgl. ders., Die Freiheit der Gnade, II. Band: Das Paradox des Menschen. Übertragen von Hans Urs von Balthasar. Einsiedeln 1971.

773
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43 Karl Rahner hat eine Theologie von Gott als Geheimnis entwickelt, die auch den Blick die Geheimnishaftigkeit des Menschen schärft. Vgl. dazu: Klaus Fischer, Der Mensch als Geheimnis. Die Anthropologie Karl Rahners, Freiburg 1974.

774
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44 Das zeigt sich daran, dass sowohl im Alten Testament wie auch im Neuen Testament beim Wort Geist (bzw. hebräisch ruah oder griechisch pneuma) oft schwer zu unterscheiden ist, ob gerade von menschlichem oder von göttlichem Geist die Rede ist.

775
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45 Vgl. Lk 12,6f: „Verkauft man nicht fünf Spatzen für ein paar Pfennig? Und doch vergisst Gott nicht einen von ihnen. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen."

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46 Immanuel Kant hat das als ethische Grundnorm oder kategorischen Imperativ (in einer von mehreren Formulierungen) so ausgedrückt: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" (Akademie-Ausgabe IV, 444). Um nicht in uneinlösbare Idealvorstellungen zu geraten, ist die Formulierung „niemals bloß als Mittel" bzw. oben im Haupttext „auch um seiner selbst willen" wichtig. Dass wir andere Menschen gebrauchen, ist weder vermeidbar noch unmoralisch. Es geht darum, dass wir die Beziehung zu anderen Menschen (und auch zu uns selber!) nicht auf den Gebrauchsaspekt reduzieren.

777
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47 Gerade im Hinblick auf negative Eigenschaften bewährt sich Liebe. Im Bezug auf sie gilt nicht einfach nur: „Ich liebe dich trotzdem", sondern auch diese Eigenschaften sind in die Liebe mit hineingenommen: „Ich liebe dich mit diesen Eigenschaften." Das zeigt sich konkret daran, dass im Licht der wirklichen Liebe auch unattraktive Eigenschaften sich verändern. Sie können eine liebenswerte Färbung gewinnen, die einem Außenstehenden unbegreiflich bleiben wird.

778
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48 In dieser Formulierung, die bei Ignatius von Loyola ausdrücklich vorkommt, stehen die „Dinge" im weitesten Sinn für alles, was geschaffen ist, - also auch für Menschen.

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49 Das hat vor allem dann eine große Bedeutung, wenn diese äußeren Erscheinungsformen und Verhaltensweisen sündig entstellt sind, - worauf wir später eingehen werden.

780
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50 Allerdings besteht ein Unterschied zwischen dem hier von uns Aufgewiesenen und 1 Joh 3,24. Für diese ist das „In-Gott-Sein" und das „Gott-in-uns-Sein" keine selbstverständliche Gegebenheit, sondern an das Halten der Gebote gebunden. Wir aber haben hier von einer Wirklichkeit gesprochen, die jedem Geschöpf eignet. Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn wir das Faktum der Sünde berücksichtigen. Dadurch kann eine Person ihrer innersten Wirklichkeit widersprechen. Gott ist dann zwar weiter in ihr, aber das wirkt sich nicht mehr in einer heilvollen Weise aus. Johannes spricht von einem In-Gott-Sein, das vom Menschen in reiner Weise zugelassen wird, - indem er Gottes Gebote hält.

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51 Augustinus, Bekenntnisse 3,11.

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52 Skizzen haben den Vorteil, dass sie bestimmte Teilaspekte von komplizierten Zusammenhängen wirkungsvoll veranschaulichen. Das geschieht durch starke Vereinfachungen, wobei vieles weggelassen wird. Deshalb ist es möglich, die gleiche komplexe Wirklichkeit mit sehr unterschiedlichen Skizzen zu beschreiben. Ich habe bis jetzt den eher ungewohnten Weg gewählt, den Gottesbezug durch die Grundrichtungen unten und innen zu beschreiben. Gewöhnlich gehen wir den umgekehrten Weg: Wir beten „Ehre sei Gott in der Höhe" und nicht „Ehre sei Gott in der Tiefe". Beides schließt sich aber nicht aus. In vielen Formulierungen ist „hoch" und „tief" geradezu austauschbar. Zum Beispiel kann man eine Aussage, die sehr tief ist, zugleich als „hoch" bezeichnen, - manchmal negativ, wenn ich sage: „Das ist zu hoch für mich". Entsprechend kann im Lateinischen das Wort „altus" sowohl hoch als auch tief bedeuten.

783
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53 Damit ist Jesus Christus zugleich mit allen Menschen und der gesamten Schöpfung im Innersten verbunden. Die Skizze kann so auch anschaulich machen, was der Kolosserbrief über Christus als Mittler der Schöpfung aussagt: „Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand" (Kol 1,16).

784
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54 Lässt sich der Satz auch umkehren? Ist also auch die größere Weite die größere Tiefe? Idealerweise schon, aber in unserer schuldverstrickten Welt nicht ohne weiteres. Wer wie Don Giovanni in die Weite strebt und mit tausend Frauen ein Verhältnis beginnt, wird vom Wesen der Liebe weniger kennenlernen, als ein Mann, der in der lebenslangen Treue zu einer Frau an einer Stelle die unergründliche Tiefe kennenlernt und sie so für alle Frauen zu achten lernt. Ähnliches lässt sich im Verhältnis zu verschiedenen Religionen sagen. Hier gilt jeweils: Die größere Tiefe ist die größere Weite, aber nicht umgekehrt.

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55 Siehe oben S. 43f.

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56 Im Folgenden entwerfe ich in skizzenhafter Weise eine Phänomenologie glückender Liebe. Wieweit diese Ausführungen plausibel sind, kann der Leser bzw. die Leserin auf der Grundlage eigener Liebeserfahrung oder auch der Sehnsucht nach gelingender Liebe beurteilen.

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57 Dass Menschen diese Frage nicht beantworten können, entwertet deshalb keinesfalls den Wert ihrer Dankbarkeit.

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58 Was ich für die zwischenmenschliche Liebe aufgezeigt habe, lässt sich grundsätzlich auch für den Bezug zu nichtpersonalen Gegenständen zeigen. Auch sie sind von Gott geschaffen, - was auch für vom Menschen gefertigte Kunstgegenstände gilt, insofern sie Manipulationen geschaffener „Materie" darstellen; sie gründen deshalb in Gott und verweisen auf Ihn. Das heißt, es wohnt ihnen ein Geheimnis inne, das im Hinblick auf schöne Natur- und Kunstdinge von Dichtern immer wieder besungen wurde.

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59 Vgl. Joh 15,19; 17,14-16; Röm 12,2; 2 Kor 10,3.

790
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60 Über die Grenzen des irdischen Lebens hinaus wäre hier die Möglichkeit der Hölle zu erörtern. Wir müssen sie verstehen als äußerste Möglichkeit einer sich gegen Gott verstockenden menschlichen Freiheit, - eine Möglichkeit, von der wir im Blick auf Gottes Heilswillen (vgl. 1 Tim 2,4) und das erlösende Engagement Jesu Christi hoffen dürfen, dass sie für niemanden Wirklichkeit werden wird. Vgl. dazu Hans Urs von Balthasar, Kleiner Diskurs über die Hölle. Einsiedeln 22007.

791
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61 Vgl. oben das Kapitel „Nicht nur ein Mythos, sondern exemplarische Geschichte", S. 26.

792
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62 Zum Verständnis von Erlösung habe ich einen Folgeband geplant. Siehe unten, Anm. 149.

793
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63 Mit dieser Grundhaltung der Dankbarkeit kann ich nicht nur danken für das, was mir gelungen ist, sondern auch für Erfahrungen des Scheiterns. Der Glaube, dass ich von Gott getragen bin, äußert sich hier in der vertrauenden Hoffnung, dass auch das, was zunächst negativ ausschaut, sich letztendlich von Gott her als etwas Gutes erweisen wird.

794
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64 In diesem Sinn stellt der populäre Philosoph Rüdiger Safranski fest: „Indem Gott dem Menschen freistellte, das Verbot zu akzeptieren oder zu übertreten, hat er ihm das Geschenk der Freiheit gemacht." Ders., Das Böse oder das Drama der Freiheit. München/Wien 1997, 23.

795
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65 Vgl. Thomas von Aquin: „Was immer also keinen Widerspruch einschließt, fällt unter jene möglichen Dinge, bezüglich derer Gott allmächtig heißt. Was aber einen Widerspruch einschließt, fällt nicht unter die göttliche Allmacht, weil es nicht den Charakter des Möglichen haben kann." Ders., Summa Theologica I, Quaestio 25, Artikel 3. In der Übersetzung der Deutschen Thomas-Ausgabe, 2. Band, Salzburg-Leipzig 1934, 287.

796
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66 Die Parabel wird dem dänischen Schriftsteller Jens Johannes Jörgensen zugeschrieben. Vgl. Karl-Heinz Menke, Handelt Gott, wenn ich ihn bitte? 2000, Regensburg 103. - Wie bei Fabeln üblich, geht auch diese Geschichte frei mit der biologischen Realität um. Zoologisch richtig ist, dass die Spinnen ihr Netz in der Regel an einem Blindfaden „aufhängen", von dem ausgehend sie ihr Netz spinnen.

797
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67 Die Rede von einem Paradies kommt erst in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments vor. Der hebräische Urtext spricht ausschließlich vom Garten Eden.

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68 Vgl. die berühmte Aussage von Johannes Duns Scotus aus dem 13. Jahrhundert: „Gott will Mitliebende" (Opus Oxoniense III d.32 q.1 n.6.)

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69 Vgl. Augustinus, Predigten über den 1. Johannesbrief 7,8; z.B. in: Aurelius Augustinus, Unteilbar ist die Liebe. Predigten des heiligen Augustinus über den 1. Johannesbrief, eingeleitet und übersetzt von H.M. Biedermann. Würzburg 1986, 119f: „Liebe, und tu was du willst. Schweigst du, so schweig aus Liebe; wirst du laut, tu es in Liebe; weisest du zurecht, weise zurecht in Liebe; übst du Nachsicht, tu es in Liebe. Lass dieWurzel der Liebe in deinem Inneren verbleiben: Aus dieser Wurzel kann nur Gutes aufwachsen."

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70 Lk 6,5. Es handelt sich hier um eine Ergänzung, die nur in einer einzigen biblischen Handschrift (Codex D) überliefert ist. Wegen der damit gegebenen geringeren Verlässlichkeit wird sie in Bibelübersetzungen gewöhnlich ausgelassen.

801
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71 Lk 6,5 lässt sich in diesem Sinn folgendermaßen interpretieren: Du kannst auch am Sabbat arbeiten, wenn es nur aus einer Haltung der Ehrfurcht und Dankbarkeit Gott gegenüber geschieht. Dann weißt du, was du tust und bist deshalb selig. Wenn du aber den Sabbat, der ein Zeichen der Dankbarkeit Gott gegenüber ist, aus bloßer Gleichgültigkeit Gott gegenüber brichst, dann bist du verflucht und dem Gericht verfallen. - Für ein rechtes Verständnis dieser Stelle ist allerdings auch zu berücksichtigen, was im folgenden Haupttext zum Gehorsam Gott gegenüber ausgeführt wird. Es geht hier nicht bloß um eine gute Absicht und um ein reines Gewissen. Die „Haltung der Ehrfurcht und Dankbarkeit Gott gegenüber" zeigt sich gerade in der Bereitschaft, Gottes Weisung zu folgen. Diese kann unter Umständen auch im Gegensatz zum verbrieften Gottesgebot (hier: dem Sabbatgebot) stehen.

802
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72 Der zitierte Text aus dem Deuteronomium ist selber eine späte Reflexion Israels auf seine Bundesgeschichte. Durch die heute sich durchsetzende Spätdatierung der Paradiesgeschichte rücken beide Texte zeitlich nahe aneinander.

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73 Vgl. dazu oben, S. 26-30.

804
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74 Exemplarische Sünde als Ungehorsam gegenüber Gottes besonderen Ruf zeigt sich besonders deutlich in der so genannten Kundschaftergeschichte in Num 13f. Gott verlangt, dass Vertreter Israels das ihnen verheißene Land erkunden. Diese bestätigen zwar, dass es von Milch und Honig fließt, erzeugen aber auch eine Panik vor den riesenhaften Einwohnern. Das Volk meutert und will zurück nach Israel. Gott antwortet mit einer scharfen Bestrafung. Nach dieser Geschichte der Verweigerung eines göttlichen Rufs passiert das Umgekehrte: Das Volk will seinen Fehler wieder gutmachen, zieht nun allerdings in den Kampf ohne den Auftrag Gottes dazu, obwohl Mose sie davor warnt. Es erlebt eine Bestrafung in der Weise einer schlimmen Niederlage.

805
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75 Die Aussage von Gen 3,22 scheint diesem Verdacht vom missgünstigen Gott die letzte Bestätigung zu geben: „Dann sprach Gott, der Herr: Seht, der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse. Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt!" Vgl. dazu unten, S. 136.

806
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76 Die Deutung des Baums der Erkenntnis im Sinn eines aktiv-urteilenden Erkennens wird deshalb auch von zahlreichen Exegeten zurückgewiesen.

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77 Dieser logische Widerspruch wird von einigen Kritikern der Sündenfallgeschichte angelastet. So stellt Rüdiger Safranski zum verbotenen Baum fest: „Das Merkwürdige an diesem Verbot ist nun, dass es, wie man heute sagen würde, einen pragmatischen Selbstwiderspruch enthält. Das Verbot schafft die Erkenntnis, die es verbietet. Mit dem verbotenen Baum der Erkenntnis verhält es sich wie mit jenem Hinweisschild, darauf steht: ‚Diesen Hinweis bitte nicht beachten!' Diesem Hinweis gegenüber kann man nur ‚schuldig' werden, denn hat man ihn beachtet, kann man ihn nicht mehr nicht beachten. Vom verbotenen Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gilt dasselbe: Indem dieser verbotene Baum unter allen anderen Bäumen steht, ist dem Menschen die Erkenntnis des Guten und Bösen bereits zuteil geworden. Er weiß jedenfalls, dass es etwas Böses ist, von diesem Baum der Erkenntnis zu essen. Noch ehe er also vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen hat, ist er durch das Verbot bereits in die Unterscheidung von Gut und Böse eingewiesen worden." Rüdiger Safranski, Das Böse oder das Drama der Freiheit, München/Wien 1997, 23.

808
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78 Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst. Hrsg. von H. Rochol. Düsseldorf 1984, 64.

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79 Vgl. Eugen Drewermann, Strukturen des Bösen, Band III. Die jahwistische Urgeschichte aus philosophischer Sicht, Paderborn. Paderborn, Wien u.a. 1978, 438-441.

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80 Das wird beklemmend deutlich in Heinrich von Kleists Erzählung „Über das Marionettentheater". Darin ist von einem anmutigen Jüngling die Rede, der durch den Blick in den Spiegel seine Anmut unwiederbringlich verliert. Kleist versteht diese Episode als ein Gleichnis für den Sündenfall.

811
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81 Nach der Übersetzung von Claus Westermann, Genesis. Biblischer Kommentar Altes Testament I/1. Neukirchen-Vluyn 1974, 250.

812
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82 Paulus spricht von Christus als dem „Letzten Adam" und - gegenüber Adam - Zweiten Menschen. Vgl. 1 Kor 15,45-47.

813
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83 Dass auch der göttliche Vater empfangend ist, ist ein in der klassischen Trinitätstheologie noch unentfalteter Aspekt. Wir finden ihn bei Hans Urs von Balthasar: „... erst durch das Zeugen empfängt der Vater einen Sohn, erst durch die gemeinsame Hauchung empfangen Vater und Sohn den Heiligen Geist." Ders., Theodramatik. Band IV: Das Endspiel. Einsiedeln 1983, 75. Daraus ergibt sich das für uns hier wichtige Resultat: „Das Empfangen und Geschehenlassen ist für den Begriff der absoluten Liebe ebenso wesentlich wie das Geben, das ohne das empfangende Geschehenlassen ... gar nicht zu geben vermöchte" (ebd.).

814
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84 „Die Schlange war schlauer als alle Tiere des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte" (Gen 3,1). Vom Urtext her ist klar, dass die Schlange damit als eines der Tiere des Feldes bezeichnet wird.

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85 Vgl. oben, das 2. Kapitel.

816
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86 Vgl. dazu Walter Gross / Karl-Josef Kuschel, "Ich schaffe Finsternis und Unheil!" Ist Gott verantwortlich für das Übel? Mainz 1992.

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87 4. Esrabuch, nach Klaus Koch, „Adam, was hast Du getan?" Erkenntnis und Fall in der zwischentestamentlichen Literatur. In: U. Gleßmer / M. Krause (Hg.), Vor der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur. Neukirchen-Vluyn 1996, 181-217, hier: 244.

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88 So im frühjüdischen Text „Leben Adams und Evas"; vgl. Koch, ebd. 233-235.

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89 Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde die Paradiesgeschichte von Exegeten mehrheitlich in die Zeit des König Salomo, in das 10. Jahrhundert v. Chr., datiert. Inzwischen gibt es immer mehr Forscher, die diesen Text viel später ansetzen. Siehe oben, Anm. 33.

820
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90 Vgl. Eugen Drewermann, Strukturen des Bösen, Band I. Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer Sicht. Paderborn 1978, 53-75.

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91 In der rabbinischen Literatur wird die Sündenfallgeschichte so erzählt, dass die Schlange den Baum berührt, um zu zeigen, dass das ohne Folgen ist: „Darauf ging die Schlange hin und berührte den Baum; dieser aber schrie: Frevler, rühre mich nicht an, denn es heißt (Ps 36,12f.): Nicht komme der Fuß des Hochmuts zu mir, und der Gottlosen Hand vertreibe mich nicht; dort fallen die Übeltäter. - Da ging die Schlange und sprach zum Weibe: Siehe, ich habe den Baum berührt, ohne zu sterben; berühre auch du ihn, du wirst nicht sterben." Rabbi Eliezer, nach: Hermann Strack / Paul Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. Band 1, München 1926, 137f.

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92 Paulus hat diese Dynamik im Römerbrief glänzend beschrieben: „Ich hätte ja von der Begierde nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren. Die Sünde erhielt durch das Gebot den Anstoß und bewirkte in mir alle Begierde, denn ohne das Gesetz war die Sünde tot. Ich lebte einst ohne das Gesetz; aber als das Gebot kam, wurde die Sünde lebendig, ich dagegen starb und musste erfahren, dass dieses Gebot, das zum Leben führen sollte, den Tod bringt. Denn nachdem die Sünde durch das Gebot den Anstoß erhalten hatte, täuschte und tötete sie mich durch das Gebot" (Röm 7,7-11).

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93 Wo das Böse ohne Zögern gewählt wird, geschieht es deshalb, weil die Barriere schon früher niedergerissen wurde.

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94 Diese Dimension der Scham kommt allerdings erst zur vollen Entfaltung in der Anwesenheit Dritter.

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95 Zur kirchlichen Erbsündenlehre vgl. unten das Kapitel „Erbsünde. Kann denn Sünden erblich sein?", S. 168.

826
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96 Das Hohelied der Liebe wurde als Gleichnis für die Liebe zwischen Gott und dem Menschen bzw. zwischen Gott und seinem Volk verstanden. Von daher dürfte es begreiflich sein, dass dieses hoch erotische Buch in den Kanon der Bibel aufgenommen wurde. Heißt das nun, dass wir das Hohelied nicht auf die Liebe zwischen Mann und Frau anwenden dürfen? Das Gegenteil ist der Fall. Die Liebe zwischen Mann und Frau - mit ihren leiblichen und erotischen Anteilen - erschließt sich hier als Königsweg, um das heile Verhältnis zwischen Gott und Mensch zu beschreiben.

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97 Wird damit ein Verhältnis reiner Liebe automatisch gestört, wenn Zweckbeziehungen - wie z.B. ein Sichrevanchieren für eine empfangene Gabe - vorkommen? Nein, das wäre eine unrealistisch romantisierende Sicht der Dinge. Entscheidend ist, dass sich Gaben nicht auf Zweckverhältnisse reduzieren.

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98 Rabbi Israel Ben Elieser, genannt Baalschemtow, nach: Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949, 161.

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99 Vgl. oben, S. 15. Eine Antwort auf diese Kritik von Reimarus erfolgt unten, S. 184f.

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100 Eine Ätiologie ist ein in antiken Texten häufig vorkommendes literarisches Mittel, das einen gegenwärtigen Tatbestand durch ein Ereignis der Vergangenheit begründet und legitimiert.

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101 Das haben wir oben S.28, am Beispiel von David gesehen.

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102 Zum Baum des Lebens vgl. oben S. 93f.

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103 Diese Dynamik von Gier und Gewalt beschreibt das Kapitel „Wie der Mensch ohne Gott tickt". Siehe unten S. 150.

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104 Vgl. die Fragen von Alice Miller: „Weshalb hat Gott Kain abgelehnt, als dieser Eifersucht zeigte? Hat Gott nicht in ihm diese Missgunst geradezu hervorgerufen, indem er eindeutig Abel bevorzugte?" Dies., Evas Erwachen (s. Anm. 3) 18.

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105 Der neutestamentliche Hebräerbrief sieht Abel als Gerechten: „Aufgrund des Glaubens brachte Abel Gott ein besseres Opfer dar als Kain; durch diesen Glauben erhielt er das Zeugnis, dass er gerecht war, da Gott es bei seinen Opfergaben bezeugte, und durch den Glauben redet Abel noch, obwohl er tot ist" (Hebr 11,4).

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106 So beschreibt besonders das Johannesevangelien einen eskalierenden Konflikt zwischen Jesus und jüdischen Autoritäten, wobei Jesus als frei von aller Schuld angenommen wird. Siehe unten das Kapitel „Lüge und Mord als Früchte der Sünde", S. 144f.

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107 Vgl. Gen 25,23; Mal 2f; Röm 9,13.

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108 „Nicht weil ihr zahlreicher als die anderen Völker wäret, hat euch der Herr ins Herz geschlossen und ausgewählt; ihr seid das kleinste unter allen Völkern" (Dtn 7,7).

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109 Vgl. in Gottes Segen für Abraham: „Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen." Im Neuen Testament: „Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" (1 Tim 2,4). Vgl. auch unten die Auslegung von Jes 25, S. 177-182.

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110 Vgl. oben, S. 114. Unserer metaphorischen Deutung entspricht auch die Bibelstelle Gen 4,7, von der wir ausgegangen sind. Im Urtext spricht sie gar nicht ausdrücklich von einem Dämon, sondern in einer personal anmutenden Form von der Sünde, die vor der Tür lagert. Daher dürfte die ungewöhnlich freie Übersetzung von „Sünde als Dämon" in der Einheitsübersetzung motiviert sein.

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111 Die Sintflut kann als Selbstgericht begriffen werden, wenn wir sie als Bild für die Fluten einer überhandnehmenden Gewalt begreifen. Vgl. in diesem Sinn Jes 17,12: „Weh, welch Getöse von zahlreichen Völkern; wie das Tosen des Meeres, so tosen sie. Man hört das Toben der Nationen; wie das Toben gewaltiger Fluten, so toben sie", sowie in zahlreichen Psalmen: Ps 32,6; 69,16; 88,18; 93,3. Eine solche Deutung der Sintflut wurde von Raymund Schwager unternommen. Vgl. ders., Erbsünde und Heilsdrama. Im Kontext von Evolution, Gentechnologie und Apokalyptik (BMT 4). Thaur/Münster 1997, 32-37.

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112 Das zeigt sich auch in der Logik der Sündenfallerzählung: Wo war Gott, während Adam und Eva von der Schlange versucht wurden?

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113 Spontan zu wollen was die anderen wollen, ist nur die einfachste Form, sein Begehren am Begehren der anderen zu orientieren. Es gibt viele weitere Spielarten, von denen die negative Abhängigkeit wohl die häufigste ist: Weil die anderen etwas Bestimmtes wollen, will ich es gerade nicht. Denn ich will mich von den anderen unterscheiden.

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114 Zur Theorie René Girards vgl. Wolfgang Palaver, René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen (Beiträge zur mimetischen Theorie 6). Münster 32008. Beispielgebend zur biblisch-theologischen Einbindung der Theorie Girards siehe: Raymund Schwager, Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften. Thaur 31994.

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115 Selbst wenn der Mensch weiß, dass er Gott begehren soll, so ist ihm dieser Gott nicht selbstverständlich verfügbar. Der Mensch weiß nicht schon automatisch, wie er es konkret anstellen soll, dem Begehren nach Gott zu folgen.

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116 Wir arbeiten hier mit vereinfachenden Schemata. Das Begehren von Bianca kann durch andere Begehrensziele - entweder im Sinne mimetischer Begierde oder auch echt liebenden Begehrens - bereits so weit in Anspruch genommen sein, dass die Anzeichen von Annas Begehren für sie ohne Wirkung bleiben. Wenn Bianca bereits in einem Verhältnis der Rivalität zu Anna steht, kann sich die mimetische Wirkung auch geradezu umkehren: Der Umstand, dass Anna X besitzt oder begehrt, kann für sie zum Grund dafür werden, X keinesfalls haben zu wollen. Sie will nämlich anders und besser sein als Anna.

847
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117 Vgl. dazu das folgende Unterkapitel. Menschen als Objekte der Begierde zu beschreiben, ist zumindest frivol. Eine solche Beschreibung entspricht aber in vielen Fällen der sündigen Realität.

848
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118 Vgl. Bernadette Wegenstein, Freizeit, Lust und Sinnlichkeit: wie Werbung die Sinne belebt. Abgerufen am 26. Jan. 2009 von http://www.univie.ac.at/Schroedinger/3_96/time23.htm

849
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119 Zu Kain vgl. oben S. 138-144.

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120 In der Übersetzung von Martin Luther.

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121 Beklemmend anschaulich wird das in Jean Paul Sartres Drama „Geschlossene Gesellschaft". Es gipfelt in dem berühmten Satz: „Die Hölle, das sind die andern." Ders., Geschlossene Gesellschaft. Reinbek 422005, 59.

852
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122 Vgl. Axel Bödefeld, „... und du bist weg!" Bullying in Schulklassen als Sündenbock-Mechanismus (Beiträge zur mimetischen Theorie 21). Münster u.a. 2006.

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123 Dass Menschen immer auch unter dem Einfluss ihrer geschaffenen Gutheit sowie der befreienden Gnade handeln, bleibt in diesem Abschnitt außer Betracht. Wir werden es im folgenden Kapitel berücksichtigen.

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124 Das wäre nicht neu. Wir finden es in den kulturpessimistischen Mythologien vom goldenen, silbernen und bronzenen Zeitalter, - bei Hesiod und später bei Ovid. Und seit Menschengedenken neigen vor allem ältere Menschen dazu, die Vergangenheit zu idealisieren und die Gegenwart zu entwerten.

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125 Vgl. Joh 8,48-52.

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126 Vgl. Ps 1,6: „Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten, der Weg der Frevler aber führt in den Abgrund."

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127 Ich beschränke mich hier auf die katholische Lehre. Von Martin Luther her ist die protestantische Lehre von der Erbsünde noch schärfer, indem sie eine totale Korruption der guten menschlichen Natur durch die Sünde annimmt.

858
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128 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 388-421.

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129 Vgl. im Katechismus der Katholischen Kirche die Nr. 417: „Adam und Eva haben ihren Nachkommen die durch ihre erste Sünde verwundete, also der ursprünglichen Heiligkeit und Gerechtigkeit ermangelnde menschliche Natur weitergegeben. Dieser Mangel wird ‚Erbsünde' genannt."

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130 Die mimetische Begierde, die wir im 7. Kapitel (S. 150ff) entfaltet haben, beschreibt eine Form der Nachahmung, die wesentlich tiefer reicht als jene imitatio (Nachahmung), die am Konzil von Trient als ungenügend für ein Verständnis der Erbsünde abgelehnt wurde.

861
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131 Wir können ein angemessenes Verständnis von Jesus als Sohn Gottes hier weder entwickeln, noch einfach voraussetzen. Für die hier geführte Argumentation genügt es allerdings, Jesus so wie das Neue Testament eine unvergleichlich intensive Gottverbundenheit zuzusprechen.

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132 Das wäre ein Kreis der Liebe, der allerdings nicht exklusiv ist, sondern „inklusiv": indem er auf viele andere Menschen ausstrahlt, und von ihnen her auch mit getragen wird.

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133 Vgl. Zef 3,12f; Jes 4,3.

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134 Diese Verwurzelung von Maria in einer alttestamentlichen Tradition, die bereits ansatzweise die Freiheit von Erbsünde vorwegnimmt, wird deutlich herausgearbeitet in: Gerhard Lohfink / Ludwig Weimer, Maria - nicht ohne Israel. Eine neue Sicht der Lehre von der Unbefleckten Empfängnis. Wien 2008, 221-252.

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135 „Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz" (Mt 23,27f).

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136 Das ist eine zentrale Einsicht in Eugen Drewermanns Interpretation des Sündenfalls. Vgl. ders., Strukturen des Bösen (s. Anm. 90), Band 1, XLIV; Band 3, 124.

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137 Erbsünde, wie wir sie im vorigen Kapitel als Ausfall von Gnadenvermittlung verstanden haben, erweist sich hier als ein gesellschaftliches und globales Phänomen, - als eine Wirklichkeit „dieser Welt" (vgl. Joh 3,13; 17,14.)

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138 Vgl. Ps 25,19; 38,20; 55,19: 56,3; 63,10; 119,157. - Anderseits ist ein öffentliches Bekenntnis ein Heilszeichen, das immer wieder angesprochen wird: Ps 9,12-15; 18,50; 22,23.26; 35,18; 40,10f; 57,9f; 96,3.10; 105,1; 107,3; 108,4; 109,30f.

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139 „Euch aber, die ihr den Herrn verlassen, meinen heiligen Berg vergessen, dem Glücksgott den Tisch gedeckt und dem Gott des Schicksals den Weinkrug gefüllt habt, überantworte ich dem Schwert: Ihr müsst euch alle ducken und werdet geschlachtet. Denn ihr gabt keine Antwort, als ich euch rief, als ich zu euch redete, hörtet ihr nicht, sondern ihr habt getan, was mir missfällt, und habt euch für das entschieden, was ich nicht will" (Jes 65,11f).

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140 Wörtlich in Mk 9,47f: „Und wenn dich dein Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus; es ist besser für dich, einäugig in das Reich Gottes zu kommen, als mit zwei Augen in die Hölle geworfen zu werden, wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt."

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141 Vgl. Röm 5,10: „Da wir mit Gott versöhnt wurden durch den Tod seines Sohnes, als wir noch (Gottes) Feinde waren, werden wir erst recht, nachdem wir versöhnt sind, gerettet werden durch sein Leben."

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142 Wir lesen hier also einen alttestamentlichen Text im Licht des Neuen Testaments. Damit gewinnen wir eine Deutung, die allein von Jes 25 und auch vom ganzen Jesajabuch her noch nicht abgeleitet werden kann. Von der Heilshoffnung des Neuen Testaments her können wir das Verständnis des Textes aber auf diese Perspektive hin öffnen.

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143 Vgl. unten, Anm. 149.

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144 Vgl. Röm 6,1-14.

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145 Vgl. Eph 4,22: „Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben, und erneuert euren Geist und Sinn! Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit" (Eph 4,22). Vgl. auch Kol 3,9.

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146 Weiter oben (S. 130-136) haben wir schon festgestellt, dass Gottes strafende Aktivität damit nicht einfach ausfällt, sondern in der Unterstützung eines verhängnisvollen Handelns der Menschen besteht.

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147 Wir müssten hier auch von einer jüdischen großen Erzählung sprechen, mit der die christliche engstens verbunden ist. Die Rede von einer „großen Erzählung" geht zurück auf Jean-François Lyotard. Vgl. Willibald Sandler, Christentum als große Erzählung. Anstöße für eine narrative Theologie, im Internet-Leseraum der Theologischen Fakultät Innsbruck: http://theol.uibk.ac.at/itl/315.html

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148 Vgl. Röm 8,3; Gal 4,4; Hebr 1f.

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149 Ich arbeite zurzeit an einem Fortsetzungsband mit dem vorläufigen Titel „Der Weg zurück ins Paradies. Was Erlösung mit dem Kreuz zu tun hat".

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150 So Anselm von Canterbury im 11. Jahrhundert an seinen fiktiven Gesprächspartner Boso, der meinte Gott könne durch einen bloßen Akt der Barmherzigkeit alle Sünde tilgen. Vgl. Ders., Warum Gott Mensch geworden, Darmstadt 1956, 75.

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