Was die Deutschen lasen, während die "Gruppe 47" diskutierte
Christian Adam: Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945. Berlin: Galiani-Verlag, 2016. 441 S. ISBN: 978-3-86971-122-5. Preis [A]: € 28,80.
Vor sechs Jahren hat Christian Adam in seinem Buch Lesen unter Hitler einen instruktiven Überblick über „Autoren, Bestseller [und] Leser im Dritten Reich“ vorgelegt. Auch wenn vor dem Hintergrund der reichhaltigen Forschungsergebnisse, die im Verlauf der letzten rund zweieinhalb Jahrzehnte sowohl in der Germanistik als auch in den historischen Fächern und in der Buchwissenschaft zum Themenkomplex ‚Literatur und Literatursystem im NS-Staat‘ erzielt werden konnten,[1] die Behauptung etwas vollmundig klingt, Adam habe mit seinem populär geschriebenen Sachbuch „erstmals einen Blick auf ein vergessenes Kapitel deutscher Mentalitätsgeschichte“ geworfen, ist dem Autor doch das Verdienst schwerlich abzusprechen, über die Syntheseleistung für ein breiteres Publikum hinaus die Perspektive der Forschung um einen durchaus originellen Ansatz erweitert zu haben: Seine Methode nämlich, anhand einer „virtuellen Bestsellerliste“ das Panorama jener Bücher zu entfalten, die in den Jahren 1933 bis 1945 nicht etwa nur geschrieben, sondern „tatsächlich in großer Zahl gedruckt, gekauft und gelesen wurden“, hat immerhin erhellende und auch empirisch hinlänglich fundierte Schlaglichter auf die Welt der populären Lesestoffe vom Sachbuch bis zum Heftroman und damit auf die deutsche Alltagskultur unter dem NS-Regime geworfen.
Mit seinem neuen Buch Der Traum vom Jahre Null, das sich laut Untertitel mit Der Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945 beschäftigt, knüpft Adam nun sowohl chronologisch als auch methodisch unmittelbar an das Vorgängerbuch an, um sein Projekt einer veritablen „Bestsellerforschung“ über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus bis etwa in die Mitte der 1960er Jahre fortzuführen. Einmal mehr also ist es sein Ziel, weniger Literatur- als vielmehr Lektüregeschichte zu schreiben und dafür genau jene Teilmengen der Buchproduktion in den Fokus zu rücken, die die Deutschen – frei nach Walter Benjamin – tatsächlich lasen, während ihre modernen ‚Klassiker‘ von Günter Grass bis Christa Wolf schrieben.
Wie Titel und Untertitel von Adams neuem Buch bereits andeuten, ist diese gleichsam als roter Faden durch den Text gelegte Frage nach den Bestsellern und ihren Autorinnen und Autoren freilich nicht ohne notwendige Kontextualisierungen zu beantworten, die angesichts des gewählten Berichtszeitraums vor allem zweierlei darzustellen haben: Zum einen die personellen und institutionellen Rahmenbedingungen für die Produktion, Distribution und Rezeption von Büchern in einem literarischen Feld, das sich durch die politische Teilung Deutschlands spätestens ab 1949 in zwei grundsätzlich voneinander unterschiedene Teilsysteme mit denkbar divergierenden Voraussetzungsverhältnissen für die Herstellung und Verbreitung literarischer Produkte auseinanderentwickelt hat; und zum anderen die unter den genannten Bedingungen auf der inhaltlichen Ebene dieser Produktion geleistete bzw. vielmehr unterbliebene Auseinandersetzung mit den Geschehnissen der Jahre vor 1945 und ihren Protagonisten – wobei beide Aspekte, wie Adam eindrücklich vor Augen führt, natürlich aufs engste miteinander verzahnt sind. Es geht also ganz konkret um die Verbindungslinien und die Brüche, die die ersten beiden Jahrzehnte des deutsch-deutschen Literaturbetriebs zu den Jahren der NS-Diktatur in Beziehung setzen.
Nun ist Adam zweifellos darin Recht zu geben, dass dieses Thema bislang noch kaum „anhand der massenhaft verbreiteten, viel gelesenen Bücher“ (S. 17) abgehandelt worden ist; in Bezug auf die Darstellung der Kontexte (die Adam eben auch zu leisten versucht) sind solche Fragen in Germanistik und Buchwissenschaft freilich alles andere als neu. Insbesondere der Blick für die Kontinuitäten, die über die Demarkationslinien der politischen Geschichte hinweg das literarische Geschehen der Jahre 1933 bis 1945 sowohl nach rückwärts mit dem der Weimarer Republik als auch nach vorwärts mit demjenigen in BRD und DDR verbinden, ist in letzter Zeit durch einschlägige wissenschaftliche Studien über exemplarische Einzelaspekte – nicht zuletzt zum Verlagswesen – erheblich geschärft worden. Zu nennen wären hier etwa die Untersuchungen von David Oels zu Rowohlts Rotations-Routine aus dem Jahr 2013, die schon in den 1990er Jahren veröffentlichten Arbeiten von Bernd R. Gruschka über den Aufstieg des Verlegers Kurt Desch im Kontext der US-amerikanischen Kommunikationspolitik während der Besatzungszeit[2] oder auch die wiederholte Auseinandersetzung verschiedener AutorInnen mit Person und Karriere von Joseph Kaspar Witsch in seinen wechselnden Rollen als Funktionär des nationalsozialistischen Volksbüchereiwesens auf der einen Seite und als Gründungsverleger von Kiepenheuer & Witsch auf der anderen.[3]
Seinen Stoff geschickt kompilierend, weiß Adam diese und weitere Arbeiten dankbar zu benutzen und bisweilen auch recht ausführlich zu referieren; er arbeitet in sein groß angelegtes Panorama des deutsch-deutschen Literaturbetriebs aber auch die Erträge eigener Archivrecherchen und Zeitzeugeninterviews ein. So zitiert der Verfasser etwa aus zahlreichen bislang noch unausgewertet gebliebenen Spruchkammerurteilen und Verlagskorrespondenzen, die sich in den Archiven in Ost und West erhalten haben und bringt darüber hinaus die Ergebnisse seiner Gespräche mit dem Kommunikationswissenschaftler Wolfgang R. Langenbucher (dem Sohn des nationalsozialistischen „Literaturpapsts“ Hellmut Langenbucher) oder mit der Bestseller-Autorin Elfriede Brüning ein. Von solchen Basispunkten ausgehend, spannt Adam einen denkbar weiten Bogen über ein gleichermaßen unübersichtliches wie vielschichtiges Terrain, das thematisch von den bibliographischen Verbots- und Aussonderungslisten der Alliierten zur Entnazifizierung der Literaturlandschaft in Ost und West über die (erfolgs-)literarische Behandlung von Kriegs- und Lagererfahrungen im Spannungsfeld von „Schreiben“ (S. 79) und „Schweigen“ (S. 137) bis hin zur systemkompatiblen Anpassung einstiger Sachbucherfolge aus der Nazizeit an die veränderten Lesererwartungen der Nachkriegsjahre reicht. Adams weithin schweifender Blick erfasst die vielfältigen Kontakte deutscher Beststellerautoren zu den Geheimdiensten des Kalten Krieges oder die Bemühungen des Ostberliner „Verlags der Nation“ um reumütige Autoren mit NS-Vergangenheit ebenso wie den Einfluss von ehemaligen Kriegsberichterstattern auf die Produktion von Bestsellererfolgen nach Kriegsende oder das berufliche Überleben brauner Literatur-Funktionäre in den Chefetagen westdeutscher Buchklub-Unternehmen, deren erheblicher Einfluss auf die Versorgung bundesrepublikanischer Wohnzimmer-Schrankwände mit eingängigem Lesestoff nicht zu unterschätzen ist.
Was nun den Kern von Adams Arbeit – die einzelnen Positionen auf seiner „virtuelle[n] ‚Bestsellerliste‘“ (S. 18) – betrifft, so wird man mit einem bunten Reigen von AutorInnen, Büchern und Figuren konfrontiert. Hans Helmut Kirsts 08/15-Romane, Josef Martin Bauers So weit die Füße tragen, Annemarie Selinkos Désirée und Hugo Hartungs Ich denke oft an Piroschka finden ebenso ihren Platz, wie der vielen LeserInnen im Westen wohl bis heute auch namentlich unbekannt gebliebene „Konsalik des Ostens“, Harry Thürk, mit seinen Romanen Die Stunde der toten Augen und Der Gaukler, Dieter Nolls Die Abenteuer des Werner Holt und Die Dame Perlon, oder auch vollständig verschollene Protagonisten der „Heimatliteratur“ in der DDR wie Benno Voelkner mit seinem Bauernkriegsroman Jacob Ow, der vermutlich ohne weiteres auch schon vor 1945 hätte erscheinen können.
Wie schon in Lesen unter Hitler legt Adam seiner Darstellung einen weiten Literaturbegriff zugrunde, der selbstverständlich auch Heftchenromane – etwa in der besonders unappetitlichen Ausprägung der Landser-Kolportage aus dem Pabel-Verlag – sowie populäre Sachbücher wie C. W. Cerams Götter, Gräber und Gelehrte, Werner Kellers Und die Bibel hat doch recht oder Ferdinand Sauerbruchs Memoiren-Bestseller Das war mein Leben integriert (wobei er am Beispiel des letzteren offenlegt, wie schon in den 1950er Jahren Ghostwriter an der Konstruktion öffentlichkeitswirksamer Legenden mitgewirkt haben. So wurden denn auch die fragmentarischen Erinnerungen des berühmten, aber bereits erheblich verkalkten Halbgotts in Weiß marktgängig um- und auffrisiert, ohne dass man es dabei mit der biographischen Faktenlage sonderlich genau genommen hätte).
Sichtlich um Korrektheit bemüht, klopft Adam jedes dieser Bücher daraufhin ab, wie es darin um die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit bestellt ist, was angesichts der ebenso redundanten wie erwartbaren Ergebnisse auf die Dauer freilich etwas ermüdend wirkt und bisweilen auch übers selbst gesteckte Ziel des Autors hinauszuschießen scheint (so darf man sich etwa fragen, ob es wirklich überraschen kann, dass in Cerams „Roman der Archäologie“ Hitler „nur an einer einzigen Stelle explizit genannt“ wird, wie der Verfasser vorrechnet). Das Ergebnis seiner Erhebungen zur literarischen ‚Vergangenheitsbewältigung‘ jedenfalls wird von Adam schon auf S. 83 seines 440 Seiten starken Buches vorweggenommen: Was die Behandlung der Nazi-Verbrechen und insbesondere des Holocaust betrifft, wurde eben nicht nur in der Hochliteratur, sondern gerade auch in der literarischen Trivial- und Unterhaltungsware oder im populären Sachbuch bereitwilligst verdrängt, verzerrt, beschönigt und ausgeklammert; kurzum: es wurde „genreübergreifend geschwiegen“. Ein anderer Befund wäre denn auch eine Sensation gewesen.
Freilich, Ausnahmen bestätigen die Regel, und so hält Adam mit seiner Analyse von Hans Scholz‘ Roman Am grünen Strand der Spree doch noch eine kleine Sensation bereit, wenn er darstellt, wie in diesem (von Fritz Umgelter erfolgreich für das West-Fernsehen verfilmten) Geschichtenreigen aus dem Jahr 1956 nicht nur ganz offensiv der Holocaust zur Sprache gebracht, sondern darüber hinaus auch gleich noch auf der Metaebene das „Bilderverbot der Täter“ (S. 88) und die fortgesetzte Tabuisierung des Themas in der sich selbst entlastenden Nachkriegsgesellschaft erzählerisch eindrücklich verhandelt werden – nämlich am Beispiel eines Tagebuchs des fotografierenden Wehrmachtssoldaten Jürgen Wilms, das buchstäblich Leerstellen aufweist, da aus ihm nachträglich eben jene Fotos entfernt worden sind, die Wilms während eines Judenpogroms aufgenommen hat. Nicht nur an solchen Stellen weckt Christian Adam die Lust zur Relektüre vergessener oder vorschnell als seichte Unterhaltungsware abgetaner Literatur, die sich im Falle des Tagesspiegel-Redakteurs Hans Scholz mit dem nachdrücklichen Appell zu einer Kanonrevision verbinden lässt: „Bisweilen wurde sein Buch als ‚geschickt und mit Humor erzählter Roman einer Bar-Runde, die sich an Abenteuern der Kriegs- und Nachkriegszeit gütlich tut‘ abgetan und damit gründlich missverstanden. Sein Text und auch die Fernsehadaption allerdings hätten es dringend verdient, dem Vergessen entrissen zu werden“, wie Adam meint (S. 89 f.) – und dem ist denn auch nichts hinzuzufügen.
Letzteres – dass nämlich nichts hinzuzufügen sei – kann für Adams eigenes Buch in Gänze leider nicht behauptet werden, zumal es in seiner Gesamtheit betrachtet deutlich unausgewogener und uneinheitlicher wirkt als sein Vorgängerband Lesen unter Hitler, der mit seiner Aufteilung nach zehn unterschiedlichen „Buchtypen“ und deren sukzessiver Abhandlung anhand exemplarischer Einzelanalysen eine bedeutend stringentere Gliederung aufweist. Wenn demgegenüber Der Traum vom Jahre Null weit weniger aus einem Guss erscheint, ist dies zuallererst freilich der erheblich größeren Stoffmenge sowie der Heterogenität des behandelten Materials aus Ost und West zuzuschreiben und insofern wohl weder vermeidbar gewesen noch dem Autor zum Vorwurf zu machen. Allerdings ist der etwas unbefriedigende Eindruck, den das Buch hinterlässt, nicht allein auf die gliederungstechnisch schwerer zu handhabende Faktenfülle zurückzuführen, sondern auch auf die nicht immer gleich gründliche und sorgfältig durchgearbeitete Behandlung des Materials selbst.
So wirkt manches etwas allzu schnell hingeschrieben, ohne vor Drucklegung noch einmal ausreichend überprüft worden zu sein – hier wäre wohl durch ein genaueres Lektorat der Eindruck zu vermeiden gewesen, dass der zweifellos versierte Autor nicht immer die volle Souveränität über sein aufgestapeltes Material behalten hat. Dieser Vorwurf an das Lektorat schließt im Übrigen auch unterbliebene stilistische Korrekturen ein, wie sie etwa gegenüber der antiquierten Manier des Verfassers angezeigt erschienen wären, die Nachnamen erfolgreicher Autorinnen mit einem vorangestellten bestimmten Artikel als „die Seghers“, „die Selinko“ oder „die Hueck-Dehio“ zu adressieren – so als schriebe Adam selbst noch in den 1950er Jahren. Derlei dürfte heutige LeserInnen nicht zu Unrecht um einiges mehr stören als die sachlich falsche Behauptung, die typische Umschlagfarbe von Reclams Universalbibliothek sei auch damals schon gelb gewesen (wie Adam auf S. 68 f. meint). Ohne allzu beckmesserisch vorgehen zu wollen, sei darüber hinaus zumindest noch auf die folgenden Punkte hingewiesen, die für den bisweilen etwas oberflächlichen Umgang des Autors mit seinen Quellen charakteristisch erscheinen:
So war zum Beispiel Josef Martin Bauer, der Verfasser des mehrfach verfilmten Kriegsheimkehrer-Romans So weit die Füße tragen von 1955, auf dem literarischen Parkett der Nachkriegszeit keineswegs ein mit Hans Hellmut Kirst vergleichbarer „Neuling“ (S. 152), dessen „Entwicklung als Schriftsteller“ insofern „exemplarische Züge“ tragen würde (S. 158), als seine Karriere im Wesentlichen erst im Zweiten Weltkrieg mit einer Tätigkeit als „Kriegsberichter“ der Wehrmacht bzw. als Verfasser jener einschlägigen Erlebnisbücher von der Ostfront begonnen hätte, denen Adam eine erhellende Analyse widmet (S. 145–156). Denn während der Nullachtfünfzehn-Schreiber Kirst tatsächlich erst in der Nachkriegszeit als Romancier debütierte, zählte Bauer schon lange vor seinem propagandistischen Kriegseinsatz an der Ostfront zu den aufstrebenden Nachwuchsautoren der 1930er Jahre: Bis zum Jahr 1940 konnte er neben einigen Dramen und Hörspielen für den Reichsrundfunk immerhin schon ganze zwölf Bücher mit Romanen und längeren Erzähltexten bei durchwegs renommierten Verlagen vorweisen – wobei drei dieser Romane sogar noch auf die Jahre 1931 und 1932 datieren, also schon vor der nationalsozialistischen Machtübernahme auf den Markt gekommen waren (der Roman Achtsiedel von 1931 sogar mit einem Geleitwort von Oskar Loerke). Der Parteieintritt Bauers von 1937 diente also nicht etwa nur dazu, eine „journalistische Tätigkeit abzusichern“ (S. 150), sondern vielmehr ein veritables literarisches Schaffen, das freilich von Anfang an mit der Blut-und-Boden-Ideologie kompatibel gewesen war (vgl. S. 148).
Die LeserInnen, die von Christian Adam lediglich eine auf Bauers Kriegstexte fixierte Darstellung angeboten bekommen, werden über den tatsächlichen Karriereverlauf dieses Autors also ebenso im Unklaren gelassen wie etwa über die Tatsache, dass die 1946 von Gunter Groll für den Desch-Verlag zusammengestellte Lyrikanthologie De profundis keineswegs „ausschließlich […] die inneren Emigranten“ vorgestellt hat (S. 126). Denn dass der in mancher Hinsicht problematische Band, bei dessen Vorstellung Adam weitestgehend den Forschungen von Bernd R. Gruschka folgt, immerhin auch Texte von Erich Mühsam enthält, der als linkssozialistischer Anarchist und Jude 1934 im KZ Oranienburg ermordet worden war und definitiv nicht unter die „Inneren Emigranten“ gerechnet werden kann, bleibt schlichtweg unerwähnt.
Sind damit einerseits Simplifizierungen angesprochen, die um plakativer Zuspitzungen willen der Komplexität des dargestellten Stoffes nicht immer ganz gerecht werden, fallen andererseits auch manche Lücken auf, die man in einem Buch über Bestseller nach 1945 kaum vermuten würde. So hätte man sich wenigstens auch einige Absätze, wenn nicht gar ein eigenes Kapitel über johannes Mario Simmel erwarten dürfen, der doch – wie Adam schreibt – zusammen mit Heinz G. Konsalik „zu den bestverkauften deutschsprachigen Autoren überhaupt“ zu rechnen ist (S. 160). Allerdings ist diese beiläufige Bemerkung im Wesentlichen dann auch schon alles, was Adams Buch über Simmel zu sagen weiß, obwohl dieser schon 1947 mit dem Erzählungsband Begegnung im Nebel bei Zsolnay in Wien debütierte und darüber hinaus mit seinem auch publikumswirksam verfilmten Theaterstück Der Schulfreund von 1958 einen zumindest erwähnenswerten Beitrag zum unterhaltungsliterarischen Diskurs über die NS-Zeit, einschließlich der expliziten Thematisierung von Bombenkrieg und Judenverfolgung zu Papier gebracht hat.
Eine Begründung für diese eklatante Lücke liefert Adam nicht, obschon er die langjährige Ignoranz der Literaturwissenschaft gegenüber Konsalik und Simmel beklagt (vgl. S. 160) und unter der Überschrift „NS-Vergangenheit auf der Bühne“ sogar ein eigenes kurzes Kapitel für das Thema Schauspieltexte reserviert hat (vgl. S. 106–112). Letzteres hätte also durchaus Raum für Simmels Schulfreund geboten, bringt stattdessen aber nur andere interessante Hinweise, etwa auf Stefan Andres' vergessenes Drama Sperrzonen von 1957. Ohne dass es somit zu einer kontrastierenden Gegenüberstellung des auch qualitativ deutlich differierenden Dioskurenpaars des westdeutschen Nachkriegsbestsellers – Simmel und Konsalik – kommen würde, bietet Adam lediglich eine nähere Durchleuchtung des letztgenannten Autors am Beispiel seines stereotypen Trivialschinkens Der Arzt von Stalingrad, der freilich vor dem Hintergrund bemerkenswerter Quellenfunde wie dem ganzseitig abgebildeten Fragebogen aus Konsaliks Entnazifizierungs-Verfahren analysiert wird (vgl. S. 159).
Gerade diese Präsentation von Konsaliks Fragebogen, der sich laut Quellenangabe in Christian Adams „Privatarchiv“ befindet, scheint im Kontext der gleichzeitigen Ausblendung Simmels symptomatisch für die Grundstruktur des ganzen Buches zu sein: Wo sich der Autor an der einen Stelle akribisch in Details versenkt, tippt er anderes allenfalls leichthändig an, ohne überall gleich tief zu schürfen;[4] Rückgriffe auf die Ergebnisse intensiver Grabungsarbeiten in den Archiven wechseln sich so in bunter Folge mit der oberflächlichen Nacherzählung der Sekundärliteratur ab, die manchmal auch nur in einem FAZ-Artikel von Volker Weidermann über den „Fall Frenzel“ bestehen kann (vgl. S. 319–322).
Der Abschnitt, in dem Adam die spätestens seit Weidermanns Beitrag in der FAZ vom 11.5.2009 hinlänglich bekannte Skandalgeschichte über den NS-Ballast in Elisabeth und Herbert A. Frenzels einstmals weit verbreitetem ‚Standardwerk‘ Daten deutscher Dichtung noch einmal aufrollt,[5] gehört zu einem Kapitel, das sich mit der Riege all jener „Literaturvermittler“ beschäftigen möchte, welche „jenseits der Verleger zwischen Autor und Leser als Transmissionsriemen zu verstehen sind“ (S. 313). Adam will darunter vor allem „Literaturhistoriker, Schulbuchautoren, Lektoren“ (ebd.) verstehen, von denen er allerdings nur einige recht willkürlich und isoliert herausgegriffene Fälle in den Blick bekommt. Mit gerade einmal 20 Seiten Umfang zählt dieser Teil nicht nur zu den schmälsten, sondern auch zu den inhaltlich schwächsten des ganzen Buches. Das liegt vor allem daran, dass Adam hier auf engstem Raum ein viel zu breites Spektrum an professionellen Tätigkeitsfeldern der Literaturvermittlung zusammenzudrängen versucht und die einigermaßen beliebig aufgerufenen Einzelfälle zu keinem Zeitpunkt auf befriedigende Weise in die jeweils größeren Gesamtzusammenhänge – etwa die Situation der Nachkriegsgermanistik, ihre Berufspolitik und ihre Methodendiskussionen – zu stellen vermag. Ein hinlänglich orientierender Überblick, wie er zu Beginn des Buches noch für das Verlagswesen einigermaßen gelingt, wird hier nicht mehr hergestellt, stattdessen steht allzu Unterschiedliches völlig unverbunden nebeneinander – und bleibt noch dazu weitestgehend auf die Behandlung bundesrepublikanischer Fallgeschichten beschränkt, ohne wie sonst auch die DDR vergleichend mit in den Fokus zu nehmen. So fragt man sich etwa, nachdem man die Traditionslinien zwischen „völkischer Literaturgeschichtsschreibung“ und „westdeutsche[m] Schulbuch“ am Beispiel von Arno Mulots bedenklicher Literaturgeschichte für den Bayerischen Schulbuch-Verlag detailliert vorgeführt bekommen hat, wie es sich denn zeitgleich mit den entsprechenden Inhalten von DDR-Schulbüchern zum Literaturunterricht verhalten haben könnte. Und nachdem diese Frage unbeantwortet bleibt, darf man sich weiter fragen, warum die angesprochenen „Transmissionsriemen“ des Literaturbetriebs lediglich durch die Werkstätten von Literaturwissenschaftlern, Schulbuchbearbeitern und Lektoren laufen, während die Profession der Literaturkritiker vollständig unterbelichtet bleibt. Dabei spricht Adam den Kritikern einleitend noch größtmögliche Machtbefugnisse zu, wenn er etwa schreibt, dass sie „die Diskurse im Feuilleton“ steuern und buchstäblich „Bestseller machen“ könnten (S. 313). Gerade letzteres nun hätte einen Autor, der sich explizit mit der Geschichte der Bestseller im Kontext der „Bücherwelt“ nach 1945 beschäftigt, doch auf entscheidende Weise interessieren müssen – möchte man als gleichfalls interessierter, aber rasch enttäuschter Leser meinen. Denn tatsächlich bleibt auch das Terrain der journalistischen Literaturkritik nur ein weiterer weißer Fleck in Adams Kartierungsversuch der deutsch-deutschen Literaturlandschaft nach 1945: Von den zahlreichen einschlägigen Namen wie Curt Hohoff oder Hans-Egon Holthusen, Günter Blöcker oder Friedrich Sieburg – die jeder für sich genommen eindrückliche Fallstudien zur Darstellung von Kontinuitäten und Brüchen über das Jahr 1945 hinaus erlaubt haben würden – wird kein einziger genannt.
Platz für die Erörterung der von Adam zwar implizit aufgeworfenen, aber dann weder ausgeführten noch beantworteten Frage nach der Marktmacht der Literaturkritik in Sachen Bestseller-Produktion wäre jedenfalls ausreichend vorhanden gewesen, wenn Autor und Verlag stattdessen auf das abschließende Kapitel zu einigen wenigen kanonisierten Großautoren der Nachkriegszeit wie Erwin Strittmatter, Günter Grass, Wolfang Koeppen, Heinrich Böll und Alfred Andersch verzichtet hätten (vgl. S. 333–356) . Notwendig erscheinen Adams denkbar lieblos und unambitioniert angeklebte Ausführungen über diese Schriftsteller jedenfalls weder in Hinblick auf die Themenstellung des Buches mit seiner prononcierten Fokussierung auf die Massenliteratur jenseits des Höhenkamms, noch in Hinblick auf das Informationsbedürfnis der Leserschaft, die hier außer anzitierten Banalitäten und der üblichen Grass-Schelte in Sachen Zwiebelhäutung buchstäblich nichts mitgeteilt bekommt, was sich nicht auch anderswo hundertmal präziser und ausführlicher nachlesen ließe. Um etwa zu erfahren, dass man es bei der „Gruppe 47“ mit „dem berühmtesten Dichtertreffen der Nachkriegszeit“ zu tun hatte (S. 354) oder dass es sich beim Titel von Wolfang Koeppens Roman Der Tod in Rom um „eine bewusste Anspielung auf Thomas Manns Tod in Venedig“ handelt (S. 349), muss man nicht erst zu Adams Buch greifen. Hier wäre weniger eindeutig mehr gewesen.
Richtig ärgerlich wird es in diesem Zusammenhang aber dann, wenn von den knapp vier Seiten, die laut Überschrift „Hans Werner Richter und der Gruppe 47“ gewidmet sein sollen (vgl. S. 344–348), nach einem völlig unmotiviert eingeschobenen Absatz etwa ein Drittel von etwas gänzlich anderem handelt – nämlich von Heinrich Gerlachs Roman Durchbruch bei Stalingrad. Dieser ist (wie Adam deutlich genug herausstreicht) vor Kurzem erst von Carsten Gansel auf Grundlage des wiederaufgefundenen Originalmanuskripts neu herausgegeben worden – und so wird er denn auch auf den unpaginierten Werbeseiten im Anhang von Adams Buch großflächig angezeigt, erscheinen doch beide Bände bei Galiani, was eindeutig mehr über verlegerische Praktiken im Jahr 2016 aussagt, als über solche in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Eindruck eines etwas zwanghaften ‚product placements‘ wird jedenfalls noch dadurch verstärkt, dass Adam offensichtlich wenig über Gerlachs Roman zu sagen hat und zum Verkaufserfolg des seinerzeit medienwirksam unter Hypnose rekonstruierten Manuskripts lediglich Gansels Nachwort zur Neuausgabe zitiert: „Zehn Jahre nach dem Ersterscheinen sollen bereits mehrere Auflagen verkauft worden sein“ (S. 348) – eine reichlich unpräzise und im Grunde wertlose Angabe für eine Studie, die sich erklärtermaßen die Ermittlung von Auflagenzahlen zum Ausgangspunkt für ihr Darstellungsinteresse nimmt.
Indes soll auch kein falscher Eindruck entstehen: So wenig es sich lohnt, ein Pferd von hinten aufzuzäumen, so wenig sollte man Adams Buch von seinen letzten beiden Kapiteln her beurteilen, zumal bei sukzessiver Lektüre tatsächlich der Eindruck entstehen muss, dass die Qualität des Bandes erst gegen Ende zu rapide abnimmt. Aufs Ganze gesehen zerfällt das Buch – das sich offensichtlich an manchen Stellen einen zu hohen Anspruch zumutet, den es nicht einlösen kann – in ein buntes Mosaiktableau: es bietet dem Leser eine wimmelnden Fülle von Einzeldarstellungen im Umfang von jeweils meist nur wenigen Seiten an, deren Informationsgehalt von durchaus schwankendem Wert ist. Immerhin ist die Masse des Dargebotenen aber groß genug, um auch für Experten zahlreiche neue Details bereitzuhalten, die das Buch letztendlich mit Gewinn lesbar machen. All jene dagegen, die mit der Materie weniger vertraut sind, dürften nicht nur einen ersten breiten Überblick, sondern auch Anregungen genug erhalten, um sich anhand der reichlich aufgeführten Sekundärliteratur weiter kundig zu machen. Und das ist jedenfalls nicht der schlechteste Effekt, den ein populäres Sachbuch hervorrufen kann.
Michael Pilz, 16.05.2016
Anmerkungen:
[1] Diese schließen insbesondere auch Studien zur literarischen und medialen Populärkultur respektive zur Unterhaltungsindustrie im „Dritten Reich“ ein, wie nicht zuletzt drei einschlägige Publikationen der Zeitschrift für Germanistik belegen, vgl. Walter Delabar, Horst Denkler und Erhard Schütz (Hrsg.): Banalität mit Stil. Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im Nationalsozialismus. Bern: Lang, 1999. (Publikationen der Zeitschrift für Germanistik, N. F. Bd. 1); Erhard Schütz und Gregor Streim (Hrsg.): Reflexe und Reflexionen von Modernisierung 1933–1945. Bern: Lang, 2002. (Publikationen der Zeitschrift für Germanistik, N. F. Bd. 6) sowie Carsten Würmann und Ansgar Warner (Hrsg.): Im Pausenraum des Dritten Reiches. Zur Populärkultur im nationalsozialistischen Deutschland. Bern: Lang, 2008. (Publikationen der Zeitschrift für Germanistik, N. F. Bd. 17). – Noch immer einschlägig und für Adams Arbeit zweifellos grundlegend ist zudem Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewußtsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945. München: Hanser, 1981, zuletzt erschienen in einer grundlegend überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe u. d. T: Das gespaltene Bewusßsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen fünfziger Jahren. Göttingen: Wallstein, 2009.
[2] Vgl. Bernd R. Gruschka: Der gelenkte Buchmarkt. Die amerikanische Kommunikationspolitik in Bayern und der Aufstieg des Verlages Kurt Desch 1945 bis 1950. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens, 44 (1995), S. 1–186 sowie [Ders.]: Reeducation als US-Verlagspolitik. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 162 (1995), Nr. 35, S. 10–14.
[3] Vgl. Angelika Hohenstein: Joseph Kaspar Witsch und das Volksbüchereiwesen unter nationalsozialistischer Herrschaft. Wiesbaden: Harrassowitz, 1992; Birgit Boge: Die Anfänge von Kiepenheuer & Witsch. Joseph Kaspar Witsch und die Etablierung des Verlags (1948–1959). Wiesbaden: Harrassowitz, 2009 sowie Frank Möller: Das Buch Witsch. Das schwindelerregende Leben des Verlegers Joseph Caspar Witsch. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014.
[4] Dies zeigt zum Beispiel auch das kurze Kapitel über Dinah Nelken (S. 297–299), deren auch paratextuell origineller Vorkriegsbestseller Ich an Dich. Ein Roman in Briefen bereits ausführlich in Lesen unter Hitler vorgestellt worden ist. In Adams neuem Buch nun erhalten die LeserInnen außer Hinweisen auf die Tatsache, dass sich Nelkens Liebesbriefroman auch nach 1945 in den Bestsellerrängen habe halten können, nur noch betont vage Informationen über das Schaffen einer Autorin, die im Dritten Reich „eher zu den kritischen Köpfen“ (S. 298) gehört habe, während sie nach 1945 „eher im Osten“ (S. 299) buchhändlerische Erfolge verbuchen konnte und zeitlebens „eine Grenzgängerin“ (ebd.) geblieben sei, was immer darunter auch konkret zu verstehen ist. Auf Inhalte und Schreibweisen ihres Nachkriegsschaffens, von dem lediglich einige Romantitel mitgeteilt werden, geht Adam im Gegensatz zu seinen Porträts anderer AutorInnen nicht (mehr) ein.
[5] Vgl. Volker Weidermann: Ein grotesker Kanon. Standardwerk mit Lücken. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.5.2009.