Wohnen morgen
subject_05: Wohnen | Wohnen als Luxus? Flucht aus der Stadt? Räume neu denken? Im Alter ins Heim? Der Homo habitans auf der Suche nach dem Glück.
News-Redaktion der Uni Innsbruck
Februar 2018
Im 20. Jahrhundert wurde das Recht auf Wohnen in zahlreichen internationalen Rechtsordnungen verankert. Durch Immobilienspekulationen, steigenden Flächenbedarf und zunehmende Ungleichheit wird Wohnen heute für viele Menschen immer mehr zum Luxusgut. Auch ökologische Folgen und die soziale Desintegration rufen nach neuen Modellen des Zusammenlebens. Wie lässt sich Wohnraum so gestalten, dass er leistbar, nachhaltig und sozial verbindend ist? Expertinnen und Experten der Universität Innsbruck haben Antworten auf diese Frage.
Die kluge Zukunftsstadt?
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung unserer Erde lebt in Städten und Prognosen gehen von einer weiteren Zunahme des Zuzugs in städtische Gebiete aus. (Groß-)Städte wachsen also ungebrochen, Agglomerationen sind ein weltweit zu beobachtendes Phänomen. Urbane Räume sind aufgrund verschiedenster Aspekte – etwa Arbeitsplätze, Bildungsmöglichkeiten, kulturelles Angebot, um nur einige wenige zu nennen – ein attraktiver Lebensraum. Gleichzeitig stehen Städte angesichts des Bevölkerungswachstums, des demographischen Wandels oder der Wohnraum- und Ressourcenknappheit vor großen Herausforderungen – insbesondere im Hinblick auf die Planung und Gestaltung des Zusammenlebens auf verschiedenen Ebenen.
Das Konzept der so genannten „Smart City“ wird häufig als möglicher Lösungsansatz für viele dieser Probleme angesehen. „In der ‚Smart City’ sollen die Potenziale digitaler Technologien für die möglichst effiziente Gestaltung des Lebens in Städten genutzt werden, beispielsweise in der Planung von Mobilität, Verwaltung oder Stadtplanung generell“, erklärt der Wirtschafts- und Rechtswissenschaftler Leonhard Dobusch vom Institut für Organisation und Lernen. Unter dem Begriff lassen sich verschiedene Strategien für eine Digitalisierung von Städten zusammenfassen, die bereits seit den 2000er Jahren in Pläne für städtische Gebiete einfließen und zahlreichen Digitalisierungsstrategien zu Grunde liegen. Angesichts des raschen technologischen Fortschritts in den letzten Jahren wurde das Thema Digitalisierung für viele große wie kleine Städte zu einem zentralen Anliegen.
Dobusch beschäftigt sich mit Offenheit in Zusammenhang mit Digitalisierung und sieht die in vielen Städten beobachtbaren Entwicklungen eher skeptisch: „Häufig wird davon ausgegangen, dass eine Stadt – wenn man nur über genug Daten verfügt – perfekt planbar ist. Viele Konzepte zeichnen sich durch eine starke Technologiegetriebenheit aus und münden in eine Art technokratische Steuerungsutopie. Das hatten wir schon einmal in den 60er Jahren, als eine starke Technologiegläubigkeit vorherrschte, die blutleere Retortenstädte entstehen ließ – Brasilia wäre dafür etwa ein Beispiel.“ Für Dobusch stellt der Smart-City-Diskurs eine digitalisierte Stadt in einer geschlossenen Vision in den Mittelpunkt. „Nicht alle Probleme in Städten lassen sich technisch lösen. An der Stelle sollten auch andere Aspekte berücksichtigt werden: Was bedeutet Urbanität eigentlich? Was macht städtische Lebensräume aus? In einer Stadt sollte auch das Unplanbare Platz haben. Auch unbeobachtete Räume müssen erhalten bleiben. Gute Stadtplanung sollte Unvollständigkeit aushalten und mit dem Ungeplanten umgehen können. Offenheit kann der Digitalisierung auch in städtischen Kontexten Richtung geben“. Als Beispiel nennt Dobusch die viel diskutierte Frage der Mobilität gerade in städtischen Räumen: „Ist das Problem des Individualverkehrs – Stichwort Stau und Parkplätze – wirklich ein Problem, das sich aus zu wenigen Daten darüber ergibt? Oder steht der Individualverkehr vielleicht im Gegensatz zur Urbanität?“ Der große Vorteil der genannten Probleme für Städte: Es gibt lokale, politische Entscheidungsmöglichkeiten. „In etwa 20, 30 Jahren werden wir sehen, welche Städte die Digitalisierung gut gemeistert haben. Meiner Ansicht nach werden das die besonders lebenswerten Städte sein.“
Wohnort im Alltagscheck
Energieeffizienz spielt in Bezug auf Wohnen eine immer größere Rolle. Dass die Ökobilanz dabei aber weit über eine energiesparende Bauweise hinausgeht, zeigen aktuelle Forschungsprojekte am Arbeitsbereich für Intelligente Verkehrssysteme am Institut für Infrastruktur der Uni Innsbruck.
Wohnen und Mobilität hängen eng zusammen. Aus diesem Grund beinhalten zukunftsorientierte Wohnbauprojekte auch immer öfter eigene Verkehrskonzepte. Der Verkehrsexperte Markus mailer ist in zwei Tiroler Vorzeigeprojekte in Sachen Wohnen eingebunden: „Wir arbeiten derzeit an Mobilitätskonzepten sowohl für das Campagne-Areal in Innsbruck sowie auch für das Neubau-Projekt der bestehenden Südtiroler-Siedlung in Wörgl“, erklärt der Wissenschaftler. Beide Smart-City-Projekte haben neben einer hohen Energieeffizienz im Gebäudebereich auch das Ziel, autoreduzierte Siedlungen zu werden. „Wir arbeiten an einem Konzept, das es den Bewohnerinnen und Bewohnern ermöglichen soll, ihre Mobilität mit geringerem Energieeinsatz zu bewerkstelligen und so dazu beizutragen, dass die Gesamtenergiebilanz der Siedlung positiv ist.“ Neben attraktiven Fuß- und Radwegverbindungen und guter Anbindung an den Öffentlichen Verkehr sind Car-Sharing-Angebote und Fahrrad-Verleihsysteme ebenso Maßnahmen, die bereits in der Planungsphase der Bauprojekte beachtet werden, wie die frühzeitige Bewusstseinsbildung bei den künftigen Mieterinnen und Mietern.
Entscheidungshilfe
Denn gerade im Hinblick auf die Energiebilanz ist es laut Markus mailer besonders wichtig, auch die Mobilität im Blickfeld zu haben.
„Tatsächlich kann jemand, der in einem Passivhaus im Grünen lebt, eine schlechtere Energiebilanz haben, als jemand, der in einer schlecht isolierten Altbauwohnung im Stadtzentrum lebt, wenn er für jeden Weg im Alltag das Auto nutzen muss.“
Markus mailer
Auch die steigenden Wohnkosten in städtischen Gebieten, die vor allem junge Familien immer öfter in das städtische Umland ausweichen lässt, relativiert der Wissenschaftler. „Ein ehrlicher Kostencheck zeigt, dass die eingesparten Wohnkosten oft durch die Mobilitätskosten aufgewogen oder überschritten werden.“ Als Beispiel nennt Markus mailer den Kostenfaktor Auto, bei dem der Wertverlust häufig nicht in die Berechnungen mit einbezogen wird: „Wenn eine Familie aufgrund ihres dezentralen Wohnortes ein zweites Auto benötigt, schlägt dieser Posten inklusive jährlichem Wertverlust für das Fahrzeug mit einer Summe von durchschnittlich deutlich über 400 Euro pro Monat – bei kostenintensiveren Fahrzeugen oft noch wesentlich mehr – zu Buche“, so der Experte für Verkehrswesen. Um nachhaltige Wohnstandortentscheidungen zu unterstützen hat die Arbeitsgruppe um Markus mailer in einem Interreg-Projekt die Entwicklung eines Wohn- und Mobilitätskostenrechner für Tirol und Oberbayern initiiert, der als Entscheidungshilfe nicht nur einen transparenten Kostencheck bietet, sondern auch den Faktor Zeit mit einbezieht. „Natürlich steht hinter allen Daten des Rechners auch eine Ökobilanz, wir wollten mit dem Wohnstandortrechner aber auch aufzeigen, was der jeweilige Wohnstandort für den Einzelnen oder für Familien im Alltags-Check konkret für die Erreichbarkeit von Arbeits-, Schul-, Versorgungs- und Freizeitgelegenheiten bedeutet.“
Raumplanung
Wenn es um das große Ziel geht, Energie zu sparen und letztendlich energieautonom zu werden, spielen laut Markus mailer neben der persönlichen Wahl des Wohnortes der Einzelnen vor allem auch raumstrukturelle Entwicklungen eine große Rolle. „Viele Ortschaften sind heute bereits zu sogenannten Schlafdörfern geworden, was natürlich eine Zunahme des motorisierten Verkehrs zur Folge hat“, beschreibt mailer. „Hier sind auch politische Entscheidungen in Bezug auf Raumplanung und Siedlungsentwicklung gefragt. Es ist zu definieren, was der Erhalt dezentraler Strukturen wert ist und es sind entsprechende Rahmenbedingungen schaffen.“
Die Gründe für steigende Wohnungspreise in Innsbruck und Tirol sind aus Sicht des Holzbauingenieurs Michael Flach vom Arbeitsbereich Holzbau der Uni Innsbruck vielfältig:
„Immobilien werden als Wertanlagen genutzt, stehen teilweise leer, Baugründe sind knapp und auch Plattformen wie Airbnb tragen dazu bei, dass der freie Wohnungsmarkt heute nicht mehr funktioniert. Wie leistbar Wohnraum auch in Zukunft bleibt, hängt davon ab ob wir den Wohnflächen, die jährlich pro Kopf um 0,5 m² steigen, weiterhin freien Lauf geben und wie viel Platz wir dem Auto zugestehen“.
Michael Flach setzt beim Bau auf Holz in Verbindung mit Energieeffizienz. „Tirol hat weltweit die höchste Dichte an Passivhäusern. Das ist ein Verdienst der Landespolitik, die die Wohnbauförderung in Bezug auf den Energiestandard gewährt, so dass Mehrkosten für bessere Energieeffizienz weitgehend kompensiert werden. Für eine langfristige Lösung sind aber weitere Maßnahmen notwendig“, betont Flach. „Es reicht nicht, nur im Neubau einen hohen Energiestandard zu erzielen, es müssen auch bestehende Gebäude saniert werden, um den Heizwärmebedarf von Altbauten drastisch zu senken. Gerade bei sozial schwächeren Gesellschaftsschichten, die in schlecht gedämmten Wohnungen leben, ergeben sich die Wohnkosten stark aus den Betriebskosten“, so Flach weiter.
Eine weitere Maßnahme für leistbaren Wohnraum sieht der Ingenieur in der Verdichtung von Wohnraum und somit auch im Bauen in die Höhe. Dazu entwickelt sein Arbeitsbereich innovative Bauweisen, die dem mehrgeschossigen Holzbau neue Dimensionen verleihen. So hat sein Mitarbeiter DI Roland Maderebner etwa einen Systemverbinder mit dem Namen SPIDER konzipiert, der punktgestützte Flachdecken aus Holz an Stützen anschließt und so flexible Grundrisse mit unerreicht schlanken Decken ermöglicht. Wie hoch der Holzbau derzeit in den Himmel wächst, sieht man an dem 84 Meter hohen Holzhochhaus HoHo, das mit insgesamt 24 Stockwerken in der Seestadt Aspern bei Wien errichtet wird. Trotz dieser Rekordleistungen sieht Michael Flach den wesentlichen Beitrag des Holzbaus für eine nachhaltige Stadtentwicklung im Bereich von Drei- bis Sechsgeschossern, die der Lebensqualität eines Einfamilienhauses näherkommen. Im Rahmen des von ihm initiierten Forschungsprojekts INTENSYS, für nachhaltige und leistbare Wohnformen der Zukunft, wurde an ganzheitlichen Konzepten gearbeitet, die durch kollektive Nutzung noch weniger Energie verbrauchen und dabei das Zusammenleben in der Gemeinschaft fördern.
Mehr als nur Wohnen
Gemeinschaftlich und flexibel genutzte Quadratmeter bieten interessante Perspektiven. Raumgestaltung, die sich an die jeweiligen Lebensphasen einer Familie anpasst, ließe sich mit verstellbaren Wänden ermöglichen. Dazu wurden von Flachs Forschungsteam Systemverbinder entwickelt, die ein rasches Versetzen einer Wohnungstrennwand möglich machen. So könnte beispielsweise ein Raum an die Nachbarfamilie abgegeben werden, wenn die eigenen Kinder ausziehen. Voraussetzung dafür ist selbstverständlich ein gutes Nachbarschaftsverhältnis. Soziale Strukturen in Wohnhäusern können laut Flach durch die gemeinsame Nutzung von Wohnraum geschaffen werden. Auch in Mehrgenerationenhäusern, wie er es selbst bei der Sanierung eines alten Bauernhofs und beim Ausbau einer Scheune mit seinen Kindern betreibt, sieht er Potential für leistbares und gemeinschaftliches Wohnen: „Wie es aussieht könnten Wohnraumnot, wuchernde Wohnungspreise und die Notwendigkeit einer nachhaltigen Raum- und Stadtentwicklung unsere Wohnkultur sogar positiv verändern“.
Wohnbaukonzepte der Zukunft
Die Impulse für das Wohnen von morgen kommen meist von den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst. Nicht selten schließen sich junge Familien und alleinstehende Pensionierte auf der vergeblichen Suche nach leistbarem Baugrund oder bezahlbaren Wohnungen zu sogenannten Baugruppen zusammen, um ein Gemeinschaftsprojekt selbst in die Hand zu nehmen. In Ländern wie Kanada und den USA hat dieses Konzept unter den Begriffen Cohabitat bzw. Cohousing schon eine lange Tradition. In Frankreich bieten immer häufiger Städte und Gemeinden ihren Baugrund Gruppen an, die sich für partizipatives Wohnen entscheiden. Oft handelt es sich dabei um Projekte mit hohen ökologischen Anforderungen, so dass der Holz-, Holzstroh- und Holzlehmbau einen guten Nährboden findet. Durch die damit verbundene Umstellung auf integrierte Fertigung mit hohem Vorfertigungsgrad entwickelte sich in wenigen Jahren eine neue Baukultur. Für Michael Flach war das Anlass, um computergesteuerte Planung und Fertigung zum Schwerpunkt des Fortbildungsprogramms COMSYSBAU zu machen.
Ein besonders vorbildhaftes Beispiel stellt das Züricher Modell der 2000 Watt Gesellschaft dar. Dabei handelt es sich um ein energiepolitisches Modell, entwickelt von der ETH Zürich, das als Antwort auf den zunehmenden Energieverbrauch und die Anzeichen des Klimawandels gilt. 2008 wurde es bei einem Volksentscheid aufgegriffen, bei dem sich 75% der Befragten für eine nachhaltige Stadtentwicklung ausgesprochen haben. Gemeinnützige Baugenossenschaften wurden gegründet und immer häufiger ist der Einzug in genossenschaftliche Wohnungen mit der Bereitschaft verbunden, auf ein persönliches Auto zu verzichten.
Wie Gebäude und Wohnformen der Zukunft aussehen können, untersucht Michael Flach mit seinen Kollegen derzeit in Frankreich. Ausgehend von dem Umbau eines Supermarkts entstand eine Baukooperative, die neben dem Bio-Laden auch ein Bio-Restaurant, ein Yogazentrum, ein Theater, ein Ingenieurbüro für ökologisches Bauen, eine Kinderkrippe und diverse Büros und Sozialwohnungen vorsieht. Dafür soll ein siebengeschossiger strohgedämmter Holzbau entstehen, der hinsichtlich Energieversorgung aus dem eigenen Wasserstoffgenerator, eigener Abwasseraufbereitung über hausinterne Fisch- und Gartenteiche und einem unabhängigen Datenverarbeitungszentrum völlig autark sein soll. Neben dem emissionsfreien Wagenpark bietet das „Energie plus“-Gebäude hauseigenen Salat-, Gemüse-und Obstanbau an. Der Spatenstich für das 18 Millionen Euro schwere Gebäude soll noch in diesem Jahr erfolgen.
Denken in Kubikmetern statt Quadratmetern
Auch die Architektin Verena Rauch und der Architekt Walter Prenner vom ./studio3 am Institut für experimentelle Architektur der Uni Innsbruck beschäftigen sich mit neuen, alternativen Wohnformen. Bei ihren Überlegungen stehen Nachhaltigkeit, Minimalismus und auch die soziale Komponente im Mittelpunkt. „Neue Wohnsiedlungen sollen tagsüber nicht wie ausgestorben sein. Eine Art Grätzlkultur mit vielen Gemeinschaftsräumen, in der sich die Nachbarschaft als eine Art kulturelle Gemeinschaft sieht, wäre wünschenswert“, so Walter Prenner. Die beiden Mitglieder von columbosnext – einer Plattform für Architektur, Gesellschaft sowie der Initialisierung und Inszenierung kultureller, sozialer und urbaner Aktivitäten – planen Gebäude nach dem Motto „Weniger ist mehr“, ohne dabei Abstriche bei der architektonischen Qualität zu machen. Die beiden Prototypen, der Gartenzwerg und die SpielRäume, die sie gemeinsam mit Studierenden der Uni Innsbruck entworfen und umgesetzt haben, zeigen eindrucksvoll, dass ihre Visionen realisierbar sind.
Flucht in die Berge
Manchen Menschen wurde es in den Städten zu eng, zu schmutzig, zu teuer. Die ersten Städter zogen ins Umland, ab den 1960er-Jahren auch in Innsbruck - angestoßen durch die ersten Olympischen Winterspiele 1964, blickt der Geograph Ernst Steinicke in die Vergangenheit. Heute wird auch in den Umlandgemeinden stark verdichtet, viele Bewohner zieht es deshalb noch weiter hinaus aufs Land. Immer größere Distanzen zum Arbeitsplatz müssen die Pendler überwinden. Manche zieht es soweit hinaus, dass auch tägliches Pendeln nicht mehr möglich ist. Das hat Ernst Steinicke in Amerika zum ersten Mal beobachtet. In den abgelegenen Regionen der kalifornischen Sierra Nevada fand er Einwohner, die aus Städten wie San Francisco hierhergezogen waren. Diese Menschen suchten schöne Landschaften, Ruhe und Sicherheit.
Sie suchen ihre Wohnstandorte nach Kriterien wie landschaftlicher Attraktivität, klimatischer Gunst und interessantem sozialen und kulturellen Umfeld aus.
Ernst Steinicke
Die neuen Bewohner der Sierra Nevada hatten ihr Standbein in der Stadt aber nicht völlig aufgegeben. „Diese Menschen leben an zwei sehr unterschiedlichen Orten, oft über Wochen und Monate, und meist fällt es ihnen schwer zu sagen, wo sie eigentlich wirklich zuhause sind“, schildert Geograph Steinicke. „Das Heim in den Bergen ist also kein Freizeitwohnsitz im engeren Sinn.“
Aus der Stadt in die Berge
Dieses Phänomen wird als „Amenity Migration“ bezeichnet – was sich ins Deutsche etwas sperrig als „Wohlstandsmigration“ übersetzen ließe. Steinicke brachte diesen Begriff mit nach Europa, wo er im Rahmen von drei weiteren FWF-Projekten ähnliche Entwicklungen in den Alpen dokumentiert hat. Auch in die abgelegenen Gebirgsregionen der Alpen, geprägt von Abwanderung, niedriger Geburtenrate und Überalterung, dringen neue Bewohnerinnen und Bewohner vor. Sie ziehen aus den Städten hierher in die Berge. „Zum Beispiel steigt in Frankreich mit wenigen Ausnahmen in allen Alpengemeinden die Bevölkerungszahl wieder an“, schildert Steinicke. „Gerade in den südlichen Alpen gibt es überall Neuzugänge.“ Die große Ausnahme bildet der Osten der österreichischen Alpen, in Niederösterreich, der Steiermark und Kärnten kennt man dieses Phänomen kaum. Die verlassenen Häuser werden hier von Abwanderern nur noch als Freizeitwohnsitze genutzt.
Die neuen Bergbewohner
Ganz anders agieren die „New Highlanders“, wie Steinicke sie nennt. Sie ziehen ins Gebirge, um hier zu leben und arbeiten. Und einige betätigen sich als Landwirte und tragen mit dazu bei, die alten Kulturlandschaften wiederaufleben zu lassen. „Das ist enorm wichtig, weil nur durch die Pflege der Kulturlandschaft können die Naturgefahren im Gebirge eingedämmt werden“, sagt Steinicke. „Schon ein einzelner Bauer kann ein ganzes Dorf vor dem Niedergang retten.“
Auch wenn der Zustrom aus den großen Städten die Abwanderung nicht zur Gänze kompensieren kann, können schon einzelne Zuzügler durch ihre Impulse und Innovationen ein Dorf nachhaltig wiederbeleben. Die neuen Zuwanderer zeigen oft besonderes Interesse an den alten Kulturen einer Region und starten oft Initiativen zu deren Pflege. „Obwohl sie als Zuwanderer natürlich einen Assimilierungsdruck verursachen, tun sie auch sehr viel für den Erhalt und die Revitalisierung von alten Traditionen“, resümiert Steinicke.
Modellgemeinde Dordolla
Die Gemeinde Dordolla im friulanischen Aupatal haben Ernst Steinicke und sein Team sehr detailliert untersucht. Hier hat sich zum Beispiel der Kärntner Kaspar Nickles mit seiner Frau angesiedelt. Er begann mit Ackerbau und Schafzucht und hat so die Landschaft um Dordolla wieder urbar gemacht. Ein anderer Zuzügler ist der Brite Christopher Thomson, der gemeinsam mit Michael Beismann aus dem Steinicke-Team dieErfahrungen der Neuzuwanderer in dem Film „The New Wild - Life in the Abandoned Lands " dokumentiert hat. Daneben sind viele ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner von Dordolla aus Frankreich wieder zurückgekehrt, wo sie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gelebt und gearbeitet hatten. Auch aus den oberitalienischen Städten erlebt das Dorf einen Zuzug.
In all diesen Fällen handelt es sich meist nicht um eine tatsächliche „Counter-Urbanisierung“, also eine Gegenbewegung zu Urbanisierung. „Diese Menschen leben multilokal, sie haben neben dem Haus im Gebirge auch noch eine Wohnung in der Stadt“, sagt Steinicke. In Italien leben sie oft sogar an drei Orten gleichzeitig, in den Alpen, in einer der oberitalienischen Städte und im Sommer am Meer. „Natürlich können sich das nicht alle Menschen leisten, in den USA sind es vor allem die sehr Wohlhabenden, in Europa kommen viele aber auch aus der Mittelschicht“, bilanziert Steinicke. Durch niedrige Grundstückspreise ist diese Form der Stadtflucht für vielen Menschen leistbar.
Glossar
Amenity Migration: Wohlstandsmigranten suchen ihre Wohnstandorte nach unterschiedlichen Kriterienwie landschaftlicher Attraktivität, klimatischer Gunst und interessantem sozialen und kulturellen Umfeld aus.
New Highlanders: Die neuen Alpenbewohner sind offen und fasziniert von alten Kulturen, sie bringen neue Impulse in vormals weitgehend verlassene Regionen. Viele von ihnen haben neben dem Wohnsitz im Gebirge auch einen in der Stadt.
New Farmers: Jung, ohne Erfahrung, auf der Sinnsuche, bringen sie neue Impulse in verlassene Gebirgsregionen und tragen durch die landwirtschaftliche Nutzung zum Wiedererstehen und Erhalt der Kulturlandschaft bei.
Altersgerecht Altern
Mitten im Leben stehend wird der Gedanke an das Altern häufig verdrängt. „Die Alten“ als eine undefinierte Gruppe, noch weit von der persönlichen Lebenswelt entfernt. Jemand wird sich um sie kümmern, irgendwo werden sie wohnen. Die Frage, wie man selbst „im Alter“ leben möchte, drängt sich noch lange nicht auf. Und doch soll es eine Frage sein, deren Antwort schon frühzeitig vorbereitet werden kann und soll. Bernhard Weicht vom Institut für Soziologie plädiert für einen breiteren Diskurs über das „Alter“, um so auch der individuellen Angst vor dem Tod von Angehörigen, vor Abhängigkeiten oder dem Verlust der Selbstbestimmung entgegenzuwirken. In einer Lebenswelt die geprägt ist von Vitalität und Leistung drängt sich die Frage auf, ob man überhaupt noch altern darf. „Das Alter wird häufig als Problem diskutiert. Auch in politischen oder gesellschaftlichen Diskussionen geht es oft darum, wer die Pensionen zahlen und wer die Sorgearbeit übernehmen soll. Außer Acht wird dabei häufig das Netz an Beziehungen gelassen, in dem sich jeder Mensch befindet“, erklärt Weicht, der eine Verschiebung des Fokus weg vom individuellen Menschen, hin zu seinem Geflecht an Beziehungen vorschlägt. Dieser Ansatz soll auch in den individuellen Wohnsituationen verfolgt werden. Denn nicht der konkrete Ort sei ausschlaggebend für das altersgerechte Wohnen, sondern die Art und Weise in der man Beziehungen leben darf.
Beziehungen leben
Weicht stellt sich dabei die Frage, wie ein gutes und erfülltes Leben in den persönlichen Beziehungen möglich ist. „Personen so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden zu halten, finde ich einen fragwürdigen Ansatz. Denn, wer ist schon gerne allein daheim? Wichtiger sind doch die Beziehungen zu den Mitmenschen, die das Leben prägen. So kann ein Leben im Alter im eigenen Haus natürlich möglich sein, muss es aber nicht. Auch im institutionellen Wohnen können die Beziehungen zu Pflegekräften und zu Angehörigen, ein schönes Leben ermöglichen“, ist sich der Soziologe sicher. Mit dem demographischen Wandel stehen Gesellschaft und Sozialpolitik vor tiefgreifenden Entscheidungen und Diskussionen. Da immer mehr Menschen immer älter werden, müssen neue Wohnkonzepte für das Leben im Alter geschaffen werden. „Eine der großen Herausforderungen ist, dass die Bewohnerinnen und Bewohner in Pflegeheimen auch immer älter werden immer weniger noch relativ fitte Menschen dort wohnen. Daher müssen zukünftig unterschiedlich, auch kreative Ansätze für neue Wohnmodelle ausprobiert werden“, verdeutlicht Weicht.
WGs oder Leben auf dem Bauernhof
Mobilität, die Entfernung zum Wohnort der Großeltern und Eltern oder die Erwerbstätigkeit von Frau und Mann verändern Familienkonzepte und es ist nicht mehr für alle möglich, die Angehörigen im eigenen Haus zu pflegen. Individuelle aber auch politische Lösungen müssen daher neu erarbeitet werden. Neben dem Leben im eigenen Haus oder in institutionellen Arrangements können Wohngemeinschaften, intergenerationales Wohnen oder das Modell greencare, das integrierte Leben auf dem Bauernhof, Möglichkeiten zum Leben im Alter sein. Welche Wohnform für jeden individuell möglich ist, hängt natürlich auch von den Bedürfnissen ab. Jeder Mensch benötigt im Alter mehr oder weniger physische Betreuung. Brauchen manche einen erhöhten Pflegeaufwand oder Unterstützung im täglichen Leben, reicht für andere bereits ein offenes Ohr für ein Gespräch oder die Begleitung bei einem Spaziergang. „Mit zu den sinnvollsten Entwicklungen zählen für mich die integrierten Wohnformen – und das in unterschiedlichen Bandbreiten. Wichtig wäre es, die unterschiedlichen Stufen des Betreuungsaufwandes in einer Wohnsituation zu kombinieren“, erläutert Weicht. Auch das kombinierte Leben von Jung und Alt sei eine attraktive Möglichkeit. „Ältere Menschen könnten auf Kinder aufpassen, ihnen vorlesen oder mit ihnen spielen, während Jüngere beispielsweise beim Einkaufen unterstützen können“, führt der Soziologe aus. Nicht zu fragen, wo ende ich, wenn ich alt bin, sondern, wie will ich wohnen und leben, wenn ich alt bin, ist die zentrale Frage.
Respekt vor Bedürfnissen
Eigentlich ist das Ziel von den meisten Menschen, auch im Alter noch zuhause zu bleiben. Doch ist dies aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr für alle möglich. „Für die, die das nicht mehr können oder wollen, müssen andere Optionen geschaffen werden. Das sind Formen, die die vielen Wünsche, die Menschen haben, auch berücksichtigen können“, so Weicht. Eine Veränderung des Lebens im Alter muss nicht sofort einen Umzug in eine abgeschirmte Institution bedeuten. „In allen Lebensphasen haben wir unterschiedliche Bedürfnisse und Wünsche. Es ist an uns, diese zu respektieren und das diverse menschliche Leben anzunehmen. Daran angepasst ist es auch wichtig, neue Wohnformen zu schaffen und nicht nur Generallösungen wie beispielsweise die 24h-Pflege anzubieten“, betont der Soziologe. Damit auch alte Menschen noch mitten im Leben Platz haben und die Angst vor Pflegeheimen aufgebrochen wird, muss darüber gesprochen und diskutiert werden. Auch ist es schön zu wissen, dass es Alternativen gibt – denn ein betreutes Wohnen gemeinsam mit jungen Menschen oder am Bauernhof scheint doch verlockender als im Alter allein zu sein. Zum Glück darf man noch altern und das soll altersgerecht ermöglicht werden.
Senioren wohnen smart
Älteren Menschen sollen länger mobil und selbstständig im individuellen Wohnumfeld leben. Unterstützen werden sie in Zukunft durch smarte Anwendungen, die ihnen das Leben erleichtern und mehr Sicherheit bieten. Mit innovativen Anwendungen wird auf die kommenden Herausforderungen des demographischen Wandels, vor allem im Gesundheits- und Pflegewesen, reagiert.Felix Piazolo vom Institut für Strategisches Management, Marketing und Tourismus arbeitet mit seinem Team an Smart Home-Lösungen, die in Tirol in 70 Testhaushalten implementiert werden sollen. „Gemeinsam mit dem Projektpartner Freiwillige Rettung Innsbruck (Rotes Kreuz) testen wir die Funktionskette zwischen dem Erkennen eines Notfalls bis hin zur Hilfeleistung“, erläutert Piazolo. Die Wohnungen sind mit einer Sturzerkennung durch 3D-Infrarotsensoren und ein mobiles Notrufsystem ausgerüstet. „Die Kamera erkennt, wenn eine Person im Raum gestürzt ist und über eine smarte Notrufuhr wird der Kontakt zur Leitstelle hergestellt. Wenn die Person Hilfe zum Aufstehen braucht oder sich verletzt hat, wird ein Rettungseinsatz eingeleitet“, so der Experte, der sich freut, dass das System bereits erfolgreich getestet werden konnte. Das individuelle Sicherheitsempfinden und die Steigerung des Komforts zu Hause sind Ziele des Projekts, um Menschen so lange wie möglich ein Leben an dem Ort zu ermöglichen, an dem sie sich wohl und heimisch fühlen.
„Auch für die Angehörigen bietet eine Smart Home-Lösung mehr Sicherheit. Es können unterschiedliche Szenarien programmiert werden, wie beispielsweise ein automatischer Alarm an Angehörige, wenn seit mehr als 24 Stunden die Kaffeemaschine nicht eingeschaltet oder keine Bewegung in der Wohnung erkannt wurde“, erklärt Piazolo. Solange Angehörige in diesem Fall keine Benachrichtigung bekommen, geht es der älteren Person gut. „Natürlich passiert es aber auch, dass sich Menschen durch den Einsatz von neuen Technologien eher beengt fühlen. Es ist wichtig, auch hier auf die unterschiedlichen Geschmäcker und Vorlieben einzugehen“, so Piazolo, der mit seinem Team noch an der Optimierung der Systeme arbeitet, damit Smart-Home-Lösungen in Kombination mit innovativen Assistenzsystemen schon bald breiter zum Einsatz kommen können.
Klar geschnittene Wohnungen, nicht verschachtelt, die Stiegenhäuser nach außen orientiert und hell, man soll sich dort begegnen können, gemeinsam spielen und leben: Geht es nach Maria Schneider vom Institut für Städtebau und Raumplanung, sieht so die ideale Wohnsiedlung aus. „Alles das ist ja nicht neu und wird auch immer wieder geplant, zum Beispiel gibt es schon Generationen-Wohnhäuser für Menschen unterschiedlichen Alters mit Gemeinschaftsküchen im Erdgeschoss, in denen die älteren Bewohner für die Kinder im Haus kochen, wenn deren Eltern in der Arbeit sind“, beschreibt die Architektin. Auf alles das hat die städtische Raumplanung Einfluss, wenn auch oft nur begrenzt: In alpinen Städten wie Innsbruck ist die bebaubare Fläche knapp, Verdichtung der einzige Ausweg, um Wohnraum für die wachsende Bevölkerung zu schaffen.
Regionalisierung
Eine Chance, der Verstädterung zu begegnen, sieht Maria Schneider darin, Stadt aufs Land zu bringen: Etwa durch den gezielten Ausbau von Infrastruktur. „In vielen ländlichen Gebieten wäre es möglich, hier mit geschickten Initiativen komplett Neues auszuprobieren: Im Mobilitätsbereich durch gezielte Carsharing-Angebote und durch ausgebauten öffentlichen Verkehr, durch den zielgerichteten Ausbau von Bildungs- und Wohn-Infrastruktur. Dadurch käme etwas Urbanität in den ländlichen Raum, der ohnehin von Abwanderung geplagt ist“, sagt sie.
In Tirol sind nur knapp elf Prozent der Landesfläche als Dauersiedlungsraum ausgewiesen, der Rest kann nicht dauerhaft besiedelt werden. Und diese Dauersiedlungsraum-Definition umfasst auch derzeit landwirtschaftlich genutzte Flächen, außerdem zum Beispiel Straßen und Parkplätze. Und gerade die letzten beiden nehmen Raum für mögliche Wohnhäuser: „Wenn man sich in einer Stadt ansieht, wie viel Platz wir eigentlich für Autos reservieren – ein Parkstreifen, zweispurige Straßen, noch ein Parkstreifen –, müsste man eigentlich schnell auf den Punkt kommen: Das könnte besser gehen. Auch in Innsbruck gibt es Gegenden, wo Siedlungshäuser in einer Straße einen kleinen, nicht nutzbaren Grünstreifen vor dem Haus bekommen haben, dann kommt ein Gehsteig, eine Allee aus Bäumen, ein Parkstreifen und dann die Straße und auf der anderen Straßenseite wiederholt sich das“, sagt Maria Schneider. Sie plädiert bei Neuplanung von Siedlungen dafür, öffentlichen Raum als solchen zu begreifen, ihn für die Bevölkerung nutzbar zu machen - und Autos nach Möglichkeit entweder zu verbannen, ihnen aber zumindest nicht so viel Platz einzuräumen wie bisher.
Smarte Urbanität
Den Trend der „Smart Cities“, bei denen heute meist Energieeffizienz im Vordergrund steht, erweitert die Architektin um soziale Smartness: Die durchgeplante Stadt muss auch auf soziale Durchmischung achten und darauf, Urbanität entstehen zu lassen. „In einer umfassenden Stadtplanung muss Augenmerk darauf liegen, dass Infrastruktur vorhanden ist. Reine Wohnsiedlungen oder Gewerbegebiete bringen wenig, und wenn ein Wohnhaus geplant wird, braucht es im Erdgeschoss Platz für Läden, Restaurants oder zum Beispiel Werkstätten“, betont Maria Schneider. Zentraler Punkt von Urbanität ist für die Architektin die gemeinsame Nutzung des öffentlichen Raums, das Aufeinander-Achten: „Die niederländische Stadt Drachten hat schon vor über zehn Jahren alle Ampeln und sogar Verkehrsschilder entfernt, inzwischen gibt es weltweit Nachahmer-Städte. Die Verkehrsteilnehmer achten aufeinander, die Unfallzahlen sind zurückgegangen – dass so etwas funktionieren kann, sieht man ja auch, wenn in Innsbruck an einer großen Kreuzung einmal die Ampel ausfällt: Alle fahren langsamer und sind gezwungen, zu schauen, wer sich noch auf der Straße bewegt.“ Die Stadt der Zukunft ist smart, aber auch sozial - und Urbanität beschränkt sich nicht nur auf Städte, sondern die gibt es auch im ländlichen Raum.
© News-Redaktion der Universität Innsbruck 2018
Mit Beiträgen von: Melanie Bartos, Christian Flatz, Stefan Hohenwarter, Lisa Marchl, Daniela Pümpel, Susanne Röck
Sujetfotos/-videos: colourbox.de, Eva Fessler (SpielRäume), Valentine Troi (Gartenzwerg), pixabay.com/Susanne Pälmer (Senioren)