Peter Goller
August Geyer (1831-1885). Strafrechtsprofessor in Innsbruck. Ein Gegner der Todesstrafe[1]
Am 20. April 1871 nennt die Münchner Juristenfakultät für eine vakante Strafrechtslehrkanzel primo loco Adolf Merkel und August Geyer an zweiter Stelle. Adolf Merkel wird wegen seiner 1862 veröffentlichten Habilitationsschrift „über das fortgesetzte Verbrechen“ und seiner 1867 erschienenen „Kriminalistische Abhandlungen“ empfohlen.
August Geyer wird wegen seiner Fähigkeit, zusätzlich auch die Rechtsphilosophie und das Völkerrecht zu vertreten, nominiert. Im Einzelnen verweist die Münchner Fakultät auf Geyers 1862 erschienene „Erörterungen über den allgemeinen Thatbestand der Verbrechen nach österreichischem Recht“ und seine „in Bd. 12 der Krit. Vierteljahresschrift enthaltenen Ausführungen eines Entwurfs eines Strafgesetzbuchs für den norddeutschen Bund.“ [in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 12 (1870), 161-227, Innsbruck, im November 1869][2]
Adolf Merkel und August Geyer waren beide schon 1868 in Prag nach Eduard Herbst nominiert. Geyers Rückkehr in seine böhmische Heimat war politisch aber unerwünscht, wie Leopold Hasner, Minister für Cultus und Unterricht, dem Kaiser vortrug, da die in einer Innsbrucker „Festrede in demonstrativer Weise prononcirte Feindseligkeit Geyers gegen die cechischen Nationalbestrebungen“ den Universitätsfrieden gefährdet und von der „cechischen Partei“ als Provokation aufgenommen würde.[3]
Im Juli 1872 wechselte Merkel als Glaser-Nachfolger kurz nach Wien. Der dort vorgereihte Geyer war zum 1. Mai 1872 nach München berufen worden. In München kooperierte Geyer vor allem mit seinem engeren Fachkollegen Franz Holtzendorff, dem Herausgeber großer rechtswissenschaftlicher Sammelwerke.[4]
Nach kurzer Wiener Zeit siedelte Merkel 1874 an die neue „Reichsuniversität“ Straßburg über. Merkels Weggang aus Österreich traf sich im Motiv wohl mit jenem von Geyer. Moritz Liepmann, Merkels Biograph meint 1897: „Seine nationaldeutsche Gesinnung, (…) trug ihm auch in Österreich mancherlei Feindschaft ein und war letztlich entscheidend für seinen Entschluss, die glänzende Position in Wien aufzugeben und am 14. Februar 1874 einem Ruf nach Straßburg zu folgen.“
Nach Liepmann wurde Merkel 1893 „von der Berliner Akademie der Wissenschaften zum korrespondierenden Mitgliede gewählt als ‚Begründer einer positiven Rechtsphilosophie‘, an Stelle Jherings“. Merkel ergänzte 1890 die vom mittlerweile verstorbenen Geyer „verfasste ‚Übersicht über die Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie‘ in Holtzendorffs Encyclopädie der Rechtswissenschaft, 5. Auflage 1890, namentlich S. 71ff.“[5]
Geyers herbartianische Rechtsphilosophie mag Merkel fremd gewesen sein. In vielen kamen beide zu identen Schlussfolgerungen, so etwa in Merkels „Kriegserklärung gegen das Naturrecht“, dessen vermeintliche Axiome und „deduktiven Schlüsse“ in Wirklichkeit „nichts als Postulate“ seien, je nach weltanschaulicher und politischer Haltung des „betreffenden Philosophen“ breit – bis ins Gegenteil – schwankend.[6]
Zu Geyer als liberalem Innsbrucker „Kulturkämpfer“ (1860-1872)
Zurück zu Geyers Innsbrucker Anfängen: Universitätsreformer Leo Thun-Hohenstein hat 1859/60 am Ende seiner Amtszeit als Minister für Cultus und Unterricht der zögerlichen Innsbrucker Juristenfakultät den Prager Dozenten August Geyer nahegelegt, sodass dieser im April 1860 zum Professor des Strafrechts und der Rechtsphilosophie ernannt werden konnte.[7]
Im sich abzeichnenden Tiroler „Kulturkampf“ (Kampf um/gegen „Tiroler Glaubenseinheit“) waren August Geyer und sein liberales Innsbrucker Professorenumfeld vor dem Hintergrund der Sonderstellung des 1857 wieder errichteten Theologiestudiums und des scharf antimodernistischen Kurses der römischen Kurie („Syllabus errorum“ 1864) in Konflikt mit der „Jesuitenfakultät“ geraten. Geyer protestierte in der Senatssitzung vom 25. Jänner 1866 gegen die Verleihung des Promotionsrechts an die Theologen, da diese dem Universitätsverband nur äußerlich angegliedert, in Wirklichkeit aber „ein innerlich durchaus fremdartiger Körper seien, „ein Körper, für welchen man das Haupt nicht in dem Rector der Universität, sondern in dem Rector eines geistlichen Ordens zu suchen hat. Es scheint unzukömmlich, einer Facultät das Recht, Doctoren zu promoviren, zu ertheilen, solange sie nicht in derselben Weise organisirt wie die übrigen theologischen Facultäten anderer Universitäten, solange insbesondere für die Anstellung der Professoren nicht die allgemeinen Normen betreffs der Vorbedingung des erworbenen theologischen Doctorgrades usw. gelten.“[8]
Seit den 1880er Jahren versuchte Theodor Maria Kathrein, Reichsratsabgeordneter, später Haller Bürgermeister, Tiroler Landeshauptmann, als Exponent des Tiroler Konservativismus den liberalen Professorenflügel an der Universität zurückzudrängen. Kathrein strebte ein antiliberales Revirement, ein personalpolitisches Roll-Back im konservativ katholischen Sinn an. In einem im Frühjahr 1887 Kathrein vorliegenden Papier heißt es: „Seit den Tagen des [Zivilrechtsprofessors Peter] Harum und Geyer ist die Universität der Eckturm des Liberalismus in Deutschtirol und wird von diesem wie sein Augapfel gehütet und bewacht. Die Professoren standen dem ‚Tagblatt‘ nahe und an der Spitze des konstitutionellen Vereins (in späterer Zeit z.B. [der Nationalökonom Karl Theodor] Inama [-Sternegg], Ullmann).“
Peter Harum war wie Geyer für die „Staatsgrundgesetze“ eingetreten. Konkret verteidigte er 1868/69 die Aufkündigung des „ultramontanen“ Konkordats von 1855 durch das verfassungsliberale Regime. Er forderte die (Wieder-) Unterstellung von Katholiken unter das Eherecht des ABGB, sowie die Einführung der obligatorischen Zivilehe.[9]
Im Herbst 1872 scheiterte ein Versuch, den liberalen Einfluss an der Universität Innsbruck zu dämpfen. Vergeblich wollte die konservative Landtagsmehrheit die Angelobung des Strafrechtlers Emanuel Ullmann auf sein ihm als Rektor der Universität vom Amt her zustehendes Landtagsmandat verhindern („Ullmann-Affäre“). Wie Vorgänger Geyer war der aus Prag berufene Ullmann ein liberaler „1867er“.[10] Geyer war ein Exponent des Innsbrucker Konstitutionellen Vereins, orientiert auf die fortschreitenden Verfassungszugeständnisse seit 1860, schlussendlich auf die „Dezemberverfassung“ von 1867.
Im Zeichen der Deutschen „Reichseinigung“ angesichts der französischen Niederlage kam es während der Innsbrucker „Verfassungsfeier“ Ende 1870 zu Differenzen über die Stellung Österreichs im „gesamtdeutschen“ Komplex. Während Hermann Ignaz Bidermann, Professor für Staatsrecht und Statistik, im konstitutionellen Verein für eine halbkoloniale, kulturchauvinistische Mission eines „Deutschösterreichertums“ Richtung der slawischen Völker im Osten der k.k. Reichshälfte plädierte, hatte der borussisch gesinnte August Geyer – fast in Vorwegnahme der späteren „Anschluss“-Modelle – eine enge Verbindung zum neuen Deutschland im Blick, „damit sich in Mitteleuropa ein Reich des Friedens und der Freiheit bilde“: „Der Blick auf das, was die deutsche Nation in diesem Jahr geleistet hat, kann auch uns, die wir ja Angehörige dieses Volkes sind, nur stählen in unserem Kampfe für die Verfassung. Mit erhöhter Kraft werden wir so einstehen für das deutsche Recht in Oesterreich (Bravo.) Ich fordere Sie darum auf, nicht obwohl Sie Verfassungsfreunde in Oesterreich sind, sondern gerade weil Sie dies sind, mit mir ein Hoch auszubringen auf das neuerstandene deutsche Reich. Hoch Deutschland! (Bravo! Großer Beifall.)“[11]
Ein halbes Jahrzehnt später stellte Geyer – nun schon von München aus – 1875 den gerade aktuellen Entwurf zur Reform des österreichischen Strafgesetzes – in eine gesamtdeutsche Linie: „Der österreichische Justizminister hat das Versprechen ausgelöst, das er gegeben, indem er seinen Entschluss aussprach, für Oesterreich ein neues Strafgesetzbuch vorzubereiten, welches so eng als möglich sich anschließen solle an das Strafgesetzbuch des national verwandten und durch die Ueberlieferung der gemeinsam gepflegten Wissenschaft wie durch mächtige gemeinsame politische Interessen mit Oesterreich verknüpften deutschen Reichs.“[12]
1926 begründet Theodor Rittler, einer von Geyers Innsbrucker Nachfolgern, die Zurückstellung des Strafgesetzentwurfs von 1912 – analog unter variierten geschichtlichen Verhältnissen – mit Blick auf die österreichisch deutsche Rechtsangleichung: „Nach dem Weltkrieg lässt die Regierung der Republik Österreich den Entwurf fallen. Zwar war er allgemein als ausgezeichnetes Werk anerkannt worden. Aber einem höheren Ziele zuliebe wollte man ihn zum Opfer bringen: der Rechtseinheit mit dem Deutschen Reich. War Österreich – vorläufig wenigstens – der Anschluss an das Deutsche Reich versagt, so sollte um so mehr die Volksgemeinschaft auf kulturellem Gebiete hergestellt werden.“[13]
August Geyer, seit den späten 1860er Jahren offener Gegner eines habsburgisch österreichischen „schwarz-gelben“ Verfassungsliberalismus, und eigentlich auch nicht mehr Anhänger des „Schwarz-Rot-Gold“ von 1848, sondern des „Schwarz-Weiß-Rot“, verfiel im März 1871 in offenen Bismarck’schen Reichschauvinismus - so gegen die „Neue Freie Presse“ gerichtet am 16. März 1871 im Verfassungsverein: „Es mag [die Würdigung der ‚Reichseinigung‘] vielleicht nicht ganz überflüssig sein, da gerade von deutschösterreichischer Seite weit häufiger eine ungehörige schiefe und einseitige als eine richtige und umfassende Würdigung dieser für das deutsche Volk so ruhmeichen und bedeutungsvollen Zeit zu Tage getreten ist und namentlich das bekannte Wiener s.g. deutschliberale tonangebende Blatt seine wetterwendische Gesinnungslosigkeit auch in seiner Stellung zu dem deutschen Krieg bewährt hat.“
Geyer beklagt maßgebliche Tendenzen, einer österreichischen „Kriegspartei“ in verräterischer Weise durch ein Bündnisprojekt mit Frankreich versucht zu haben, „Rache für Königgrätz/Sadowa“ zu nehmen. Gleich seinem Gegenspieler Rudolf Jhering verabscheut er 1870 die österreichische Neutralitätspolitik. Geyer verurteilt süddeutsche separatistische Tendenzen: „Dazu kam die Niedertracht der Ultramontanen und der demokratischen Partei in Süddeutschland, welche auf die gemeine Selbstsucht und die blasse Furcht ihrer vaterlandsverrätherischen Plane bauend, bei dieser Lage der Dinge umso mehr Aussicht auf Erfolg hatten, wenn sie für die Neutralität im bevorstehenden Krieg eintraten (…).“
Der militärische Erfolg Preußens habe Ende 1870 die Franzosenfreundlichkeit weiter österreichischer Kreise kuriert, wie Geyer in üblem Ton anmerkt. Am von „den Alpen bis zum Meer“ erschallenden Ruf: „Deutschland, Deutschland über Alles!“ sind auf eine „Zerspaltung Deutschlands“ setzende Pläne der „Kriegspartei in Oesterreich“ zerbrochen: „Eine halbsympathetische Kaltwasserkur hatte an dieser schnellen Genesung den Hauptantheil. Auf die Fieberhitze unserer Pseudofranzosen wirkten nämlich die Hiebe, welche die wirklichen Franzosen bekamen, erstaunlich gut.“
Massiv denunzierte Geyer den nationalen „Volkskrieg“, den Volkswiderstand, den Partisanenkampf der Franktireurs als „völkerrechtswidrigen Kampf der Nicht-Kombattanten“ als Aufruf zum „Meuchelmorde“.
Im Licht des Anfang 1871 offensichtlichen „Bürgerkriegs in Frankreich“ (Marx/Engels), der Ende März proklamierten Pariser Kommune geißelte Geyer die „vaterlandsfeindliche Gesinnung“ der Sozialdemokraten August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Vertreter der revolutionären 1848er-Demokratie, wie Ferdinand Freiligrath oder Friedrich Hecker, die nun 1871 ihre „Freude über das neue deutsche Kaiserthum“ ausgedrückt hatten, nahm Geyer aus.[14]
Geyers Haltung in Fragen des Völkerrechts ist mehrdeutig. Einerseits zählt er nicht zu jenen Leugnern, die dem Völkerrecht Rechtscharakter absprechen. Er zeigt 1866 in einer Rektorsrede Sympathie für Kants „zum ewigen Frieden“ (1795). Geyer erkennt auch die Gefahren des Wettrüstens: „Dürstet nicht das heutige Geschlecht mehr nach Vervollkommnung menschenvernichtender Mordwerkzeuge, als nach Vervielfältigung der Handhaben und Werkzeuge für die Ausbreitung höherer Civilisation und Bildung?“ Wird nicht ständig nach neuen Rechtstiteln für Eroberungskriege gesucht?[15]
Geyer hat schon zuvor 1863 in seiner „Rechtsphilosophie“ [229f.] betont, dass es zu einem menschlichen Fortschritt zählt, „dass man überhaupt ein Kriegsrecht anerkennt“. Er hat 1863 – so wie später sein Innsbrucker Nachfolger Heinrich Lammasch das Recht der Neutralen hervorgehoben: „Dass man im Krieg noch Rechte des Gegners und umso mehr der Unbetheiligten (der Neutralen) zu achten habe“, dass dieser Grundsatz „doch unendlich höher steht als der frühere: dass im Krieg kein Recht und Gesetz existire.“
1863 fordert Geyer noch dezidiert das „Nicht-Interventions-Princip“ ein und klagt, Kriege mit China und Japan werden „angeblich nur aus sittlichen Gründen, wirklich aber nur im Interesse des Handels“ geführt: „Am tiefsten in der Barbarei steckt auch noch heutzutage das Seerecht und die Colonialpolitik, aus leicht begreiflichen Ursachen. (…) Lug und Trug, Raub und Meuchelmord gelten für entschuldigt oder gar für bewundernswerth, wenn die ‚edlen‘ und ‚ritterlichen‘ Völker dazu greifen.“
1866 scheint Geyer Kolonialkriege im ideologischen Interesse der Zivilisation, der Menschenrechte, der vorgetäuschten humanitären Intervention nicht mehr so entschieden abzulehnen, wenn er „in die fernen Prärien und Urwälder des Westens“ blickt, wo „uns das blutgierige Jauchzen der Indianer entgegen tönt, welche ihre Kriegsgefangenen in der entsetzlichsten Weise martern“.[16]
Geyers völkerrechtswissenschaftliche Haltung ist nicht so elaboriert, wie jene seines Freundes und Nachfolgers Emanuel Ullmann, der in späteren Münchner Jahren ein großes „Lehrbuch des Völkerrechts“ vorgelegen wird. Im Lichte von Geyers martialischer Rhetorik vom März 1871 fällt der Widerspruch zu Ullmanns pazifistischer Haltung im Vorfeld des imperialistischen Weltkriegs auf. 1910 hat Ullmann mit Georg Jellinek, Max Weber, Ernst Troeltsch, Franz Liszt, Otfried Nippold, Walther Schücking, Hermann Cohen oder u.a.m. mit Adolf Harnack angesichts der drohenden Kriegsgefahr in der „Friedenswarte“ zur Gründung eines „Verbandes für internationale Verständigung“ aufgerufen: Die „politische Organisation der Kulturwelt“ ist „bei dem Nebeneinander unverbundener Einzelstaaten“ weit hinter dem technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritt zurückgeblieben. „Die Zeit drängt. Wenn die Rüstungen der großen Mächte in dem jetzigen Tempo fortschreiten, so bedeuten sie ein Wettlaufen zum Verderb. (…) Sind nicht die Ansätze zu einer Versöhnung zwischen Nationalismus und Internationalismus auf den Haager Konferenzen schon längst gemacht worden.“ (Die Friedens-Warte 12/5, Mai 1910, 84f.)
Geyer gegen die Todesstrafe (1869)[17]
Als für die Gegenwart ungebrochen aktuell, als brillant – nicht nur rechtspolitisch, sondern auch rein juristisch – ist Geyers Einsatz gegen die Todesstrafe zu werten. Die vollständige Beseitigung der Todesstrafe ist für Geyer ein Gebot der Gerechtigkeit, nicht diffus pragmatisch sozialethischer, populistischer Überlegungen: „In der That, für eine Forderung der Gerechtigkeit sehe ich die Abschaffung der Todesstrafe an. Nicht unbestimmte, mit dem Bedürfniß des Augenblicks wechselnde Gründe der Zweckmäßigkeit, des Nutzens, der sogenannten Billigkeit, welche gern sich vorlaut zuerst herandrängen auf dem Markt des Lebens, sie mögen hier bescheiden zurücktreten, den ersten Platz einräumend der hehren Gerechtigkeit selbst.“
Geyer wendet sich gegen Tendenzen, die Gegner der Todesstrafe in das Eck einer schwachen „Humanitätsduselei“ zu rücken: „Alles Gewicht liegt auf der Frage: ob die Todesstrafe der Gerechtigkeit widerspreche oder nicht. Spricht die Gerechtigkeit ihr Verdammungsurtheil über jene Strafe aus, so muss sie fallen, wird sie als gerecht befunden, so giebt es keinen Einspruch gegen sie, denn das wahrhaft Gerechte ist zuletzt auch das Nützliche und Zweckmäßige. Und der Sieg des wahrhaft Gerechten wird zugleich ein Sieg des Fortschrittes und der Menschlichkeit sein.“
Nach Geyer führen die Befürworter der Todesstrafe „die Unvergleichlichkeit, Unverletzbarkeit, die ‚Heiligkeit‘ des menschlichen Lebens“ an. Um dieses gegen Straftäter zu schützen, sei der Staat genötigt, „zu seinem Bedauern“ auf dieses „äußerste Mittel, der Todesstrafe“ zu rekurrieren.
Und hier antwortet Geyer unter Rückgriff auf Cesare Beccaria „Von den Verbrechen und den Strafen“ (1764): „Seltsam in der That, dass diejenigen, welche auf die Unverletzlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Lebens so großes Gewicht legen, dennoch dem Staate das Recht und die Pflicht zuschreiben, das menschliche Leben zu zerstören. Ihnen möchte ich ins Gedächtniß rufen jenes Wort des unsterblichen Beccaria: ‚Wenn die Leidenschaften oder die unabweisbare Nothwendigkeit des Krieges den Menschen gelehrt haben, das Blut von Menschen zu vergießen, so dürfen wenigstens die Gesetze, deren Aufgabe es ist Milde und Menschlichkeit einzuflößen, nicht die Beispiele dieser Barbarei vervielfältigen. Beispiele, die um so entsetzlicher sind, als die gesetzliche Tödtung mit feierlichen Zurüstungen und Förmlichkeiten verübt wird. Es scheint mir widersinnig zu sein, dass die Gesetze, welche nur der Ausdruck des öffentlichen Willens sind, der die Menschentödtung verabscheut und bestraft, selbst solche Tödtungen begehen und dass sie, um die Staatsbürger vom Mord abzuschrecken, einen öffentlichen Mord androhen.“[18]
Da die „Anhänger des Schaffotes“ nicht in der Lage sind zu belegen, dass es der Gerechtigkeit entspricht, „einen Verbrecher hinzurichten“, zögen sie sich in die Sphäre des politisch Opportunen, der moralischen Empörtheit zurück. Als letztes juristisches Rückzugsfeld reklamieren sie das Begnadigungsrecht, das Geyer als Ausdruck willkürlicher Kabinettspolitik zulasten der Strafrechtspflege ablehnt: „Wenn man [die Begnadigung] zu einem regelmäßigen und nicht bloß zu einem nur ganz ausnahmsweisen Auskunftsmittel macht, so verlegt man den Schwerpunct der Gerechtigkeitspflege in die von Actenstößen umdämmerten Bureaux der Referenten und gibt die Justiz preis den unberechenbaren Einflüssen eines fürstlichen Cabinets oder einer republicanischen souveränen Versammlung.“
Auch Julius Glaser hatte 1862 zu bedenken gegeben, dass hier die hehre Idee der „Wiedervergeltung“ oft in die „Rache“ abgleitet, dass „die Staatsgewalt“ an Legitimität verliert, wenn deutlich wird, dass „ihr Abscheu vor der Tödtung eines Menschen kein unbedingt unüberwindlicher“ Wert ist. Wie Geyer sieht Glaser, dass „das Gesetz durch systematischen Gebrauch des Begnadigungsrechts zum todten Buchstaben“ gemacht wird.[19]
Kriminalpolitisch fügt Geyer den möglichen Justizirrtum gegen die Todesstrafe an, und auch ein kriminalstatistisches Argument: „Noch ist aber die Furcht weit verbreitet, dass die Abschaffung der Todesstrafe die Zahl der Verbrechen vermehren werde, weil jene Strafe eine ganz besonders abschreckende Kraft besitze. (…) Und hier erinnere ich zunächst daran, dass in jenen Zeiten als die Todesstrafe etwas Alltägliches war, trotzdem viel mehr Verbrechen begangen wurden.“[20]
Schon im August 1867 hat Geyer im Vorwort zur „Besprechung eines Entwurfs eines Strafgesetzes über Verbrechen und Vergehen für die nicht-ungarischen Länder Oesterreichs vom Jahre 1867“ gefordert: „Um so inniger muss ich bedauern, dass unser Abgeordnetenhaus einen entschiedenen Schritt nach vorwärts scheuend ein Votum für die Todesstrafe abgegeben hat, obwohl doch wahrlich für die Argumentationen der Anhänger der Todesstrafe im höchsten Grade hinfällig waren. Mit Recht hat übrigens [Eduard] Herbst ausgeführt: dass der Abschaffung der Todesstrafe die Zukunft gehöre. Die Sonne des neu anbrechenden Zeitalters, an dessen geheimnißvoller Schwelle wir stehen, wird mit ihrem Morgenstra[h]l – deß bin ich sicher – neben vielen anderen Ruinen auch die Trümmer des Schaffotes beleuchten!“
Theodor Rittler spricht 1926 im „Lammasch-Rittler“ von „metaphysischen Gesichtspunkten“, die in der Frage der Todesstrafe vorgebracht werden, so etwa, „dass sie von transzendentem Inhalt sei, in ihren Wirkungen über die Welt der Erfahrung hinausgreife, dass sie an eine endliche Tat eine unendliche und deshalb mit ihr inkommensurable Folge knüpfe (Johann Nepomuk Berger [in „Allgemeine Gerichtszeitung“ 1864/Nr. 52 und 53]).“
Rittler listet weitere Argumentationslinien gegen die Todesstrafe auf, staatsrechtliche, „wonach der Staat kein Recht hat, über das Recht seiner Bürger zu verfügen“, also das naturrechtliche Beccaria-Vorbringen, wonach die Todesstrafe nie Teil eines Gesellschaftsvertrages gewesen ist und auch nicht hätte sein können, in prozessualer Hinsicht den möglichen irreversiblen Justizirrtum. Ferner bringt Rittler – wie ein halbes Jahrhundert zuvor Emil Wahlberg – „kulturpolitische“ Bedenken vor. Befürworter würden im Sinn der Abschreckungstheorie aber sogar noch besonders marterhafte, auch „extramurale“ Hinrichtungsweisen pseudophilosophisch begründen.[21]
Während August Geyer oder der Prager Strafjurist Wolfgang Wessely das philosophische Denken (etwa von Herbart bzw. Hegel) in ihre Strafrechtsdogmatik einfließen lassen, geht etwa ein Wilhelm Emil Wahlberg – im Streit über die Abschaffung der Todesstrafe - auf „induktivem Weg“ auch von sozialen und kulturellen Entwicklungstendenzen aus, weshalb Reinhard Moos 1968 vom „sozialen Positivismus“ von Wahlberg spricht.[22]
Wahlberg nennt die Gegner der Todesstrafe 1872 inkonsequent, sie müssten auch die Beseitigung der schlimmsten lebenslangen Freiheitsstrafen verlangen, da auch diese als „Vernichtungsstrafen“ wirken: „Die lebenslange Strafe hat nicht nur die meisten heillosen Gebrechen der Todesstrafe, sondern auch specifische Nachtheile der schlimmsten Art. Wenn die Mehrheit der maßgebenden Stimmen der Ansicht wäre, dass der Augenblick gekommen sei, die Todesstrafe wenigstens auf die schwersten Fälle des vollbrachten Mordes zu beschränken, so sollte von den Gegnern der Todesstrafe im ordentlichen Strafverfahren für dieses Zugeständniss mindestens die gänzliche Abschaffung der lebenslangen Strafe gefordert werden, die irrationell und antiökonomisch ist wie Todesstrafe. Beide Strafarten stigmatisirt der allein praktisch erreichbare Zweck der mechanischen Unschädlichmachung, (…).“[23]
August Geyer über Paul Johann Anselm Feuerbach. Zum Feuerbach-Zentenarium 1875
Geyer, ein Gegner der Theorie von den „angeborenen Rechten“, sieht den jungen Feuerbach der „ersten selbständigen Schrift: ‚Ueber die einzig möglichen Beweisgründe gegen das Dasein und die Gültigkeit der natürlichen Rechtes‘“ (1795) der Kantschen Idee der Menschenrechte verpflichtet, die er nach „den Principien der kritischen Philosophie“ zu beweisen versuchte: „Im Jahre darauf unternahm [Feuerbach] es, in einer ‚Kritik des natürlichen Rechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft der natürlichen Rechte‘ für die Rechtslehre ein selbständiges, von der Moral unabhängiges Princip aufzustellen.“
Feuerbachs „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des peinlichen Rechts“ (1799) und das „Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts“ (1801) würdigt Geyer als „vollständige Umwälzung auf dem Gebiet der strafrechtlichen Theorie und Praxis“. Gewisse Zweifel äußerte Geyer bezüglich „der Begründung der Zurechnung auf die Unfreiheit statt auf die Freiheit“: „Es ist hier nicht am Ort den Werth der Feuerbach’schen Strafrechtstheorie ausführlich zu prüfen. Sie ist eine eigenthümlich modificirte Abschreckungstheorie, welche aus dem Zwecke des Staats, die Rechtsordnung aufrecht zu erhalten, zunächst Recht und Pflicht folgert, den Bürgern des Staats als möglichen Rechtsverletzern durch Strafdrohungen entgegenzutreten. Diese müssen ein Gegengewicht schaffen gegen die Macht der sinnlichen Triebfedern, die allein die Menschen zu Verbrechen anreizen können.
Der sinnliche Mensch wählt nothwendigerweise von zwei Uebeln das kleinere. Erscheint es ihm als ein Uebel, das Verbrechen, zu welchem er sich getrieben fühlt, zu unterlassen, so wird er dennoch nach jenem Gesetz seiner Natur psychologisch gezwungen sein, die verbrecherische Neigung zu unterdrücken, wenn ihm, falls er dies nicht thäte, ein größeres Uebel als Strafe in sicherer Aussicht steht. Das Strafgesetz übt in solchem Fall also einen psychologischen Zwang.“
Geyer sieht diesen Ausgangspunkt als wenig begründet an, wäre dies nämlich der Fall, „so müßten, falls die Strafgesetze nur richtig abgefasst wären, alle Verbrechen unterbleiben. Nun zeigt uns aber schon die Erfahrung, dass niemals, auch unter der Herrschaft der härtesten Strafgesetze, ein solcher utopischer Zustand eintritt. Jener angebliche psychologische Zwang, den Strafdrohungen ausüben sollen, beruht eben auf einer falschen psychologischen Voraussetzung.“
Nach Geyer hat Feuerbach später selbst „die Consequenzen“ seiner Theorie relativiert , indem „er bei Gelegenheit ganz richtig bemerkt hat: ‚dass grausame Strafen, indem sie die Gemüther abstumpfen, vielmehr eine Ursache von Verbrechen als ein Mittel sind wider dieselben, und dass ein Gesetzgeber seine unbedachtsame Strenge in immer wachsender Progression zum Extrem aller möglichen Grausamkeiten hinaufsteigern muss, damit der vorige Stachel, gegen welchen sich immer die Gemüther abstumpfen, eine neue schneidende Spitze bekomme.‘“
Von dieser Skepsis gegen Feuerbachs Strafrechtstheorie geht Geyer zur Anerkennung über. Wie Gustav Radbruch Jahrzehnte später sieht er in Feuerbach den großen Denker der „Tatstrafe“ gegen Karl Ludwig Wilhelm Grolmans „Täterstrafe“, den Durchbruch „des Strafgesetzes“:[24] „Der wahrhaft epochemachende Grundgedanke der beiden Hauptwerke, mit welchen er damals hervortrat, der Revision und des Lehrbuchs, ist vielmehr der: dass der Strafrichter der Diener des Gesetzes sei, dass er nicht erst nach angeblich philosophischen Grundsätzen prüfen dürfe, ob das Gesetz wohl gerecht und darum anwendbar sei. ‚Das Strafgesetz ist gültig durch sich selbst für alle in demselben enthaltenen Fälle. Es braucht, um für die besonderen Fälle gültig zu sein, nicht erst unter höhere Principien subsumirt zu werden, sondern man darf nur unter das Strafgesetz subsumiren. Es legt den Staatsbeamten die vollkommene Verbindlichkeit auf, die Verbrechen nach ihm zu strafen, und lässt sich insofern in zwei Propositionen auflösen: 1) Kein Verbrechen soll ohne die gesetzliche Strafe sein oder das Strafübel ist die Bedingung des Verbrechens (nullum crimen sine lege poenali). 2) Die gesetzliche Strafe soll nicht ohne das Verbrechen sein oder: die Bedingung (der nothwendige Grund) der Strafe ist allein das Verbrechen (nulla poena legalis sine crimine).‘
Diese Sätze, die Grundpfeiler unseres heutigen Strafrechts, hat Feuerbach mit unwiderlegbaren Gründen nachgewiesen und dadurch die Herrschaft richterlicher Willkür gebrochen, gegen die man bis dahin nur in fast schüchterner Weise mit halber Kraft, halb widerwillig angekämpft hatte.“[25]
August Geyer über Notwehr/Notstand. Konflikt mit Julius Glaser (1857/58)
Ausgehend vom herbartianischen Prinzip von „der Streit missfällt“ versucht August Geyer 1857 in seiner „Lehre von der Notwehr“ zu belegen, dass der einzelne kein Recht hat, in der Not Unrecht zu tun, da dadurch der Streit „verewigt“ würde. Die Notwehr konnte trotzdem straflos bleiben, fiel unter die Gründe für den Ausschluss der Strafbarkeit einer an sich rechtsverletzenden Handlung. Auch für den Notstand behauptete Geyer, dass es kein Recht gibt, in der Not in die Willenssphäre eines anderen einzugreifen.
Geyer führt in seiner Prager Habilitationsschrift unter Berufung auf Johann Friedrich Herbart aus: „Dass der Nothstand kein Recht giebt, Unrecht zu thun, bedarf nach dem, was eben über das Nothrecht gesagt wurde, keines Beweises. Eine andere Frage ist die, ob die Handlungen im Nothstande, wenn auch an sich unrechtlich, überall strafbar sind. Die Grundlage der Strafbarkeit auf subjectiver Seite ist die Zurechenbarkeit. (…) Die ganze Frage über Strafbarkeit oder Unstrafbarkeit einer im Nothstande begangenen Rechtsverletzung reducirt sich also darauf, ob in einem gegebenen Falle psychischer Zwang, besser gesagt, psychische Unfreiheit vorhanden war, und in welchem Grade sie vorhanden war, (…).“
Geyer referiert vergleichend Immanuel Kants Haltung: „Kant [Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre] beschränkt den Begriff des ‚vermeinten Nothrechtes‘ auf den Fall der Collision zwischen Leben und Leben, und nennt die That der gewaltthätigen Selbsterhaltung zwar nicht unsträflich (inculpabile) aber unstrafbar (impunibile), weil ein Strafgesetz in einem solchen Falle die beabsichtigte Wirkung gar nicht haben könne. Es könne keine Noth geben, welche ‚was unrecht ist, gesetzmäßig macht‘, aber die Gerichte könnten in einem solchen Falle keine Sentenz fällen, weil eben hier die Strafe nichts wirken könne. (…) Wir stimmen damit überein, dass hier (wenigstens in der Regel) ein factum impunibile vorliegt, aber nicht wegen der Unwirksamkeit der Strafe, denn damit stünden wir auf dem Felde der Abschreckungstheorie, sondern wegen des Mangels der Zurechenbarkeit.“
Geyers ambivalente Haltung zu Feuerbach findet sich schon 1857. Feuerbach findet in seinem „Lehrbuch des peinlichen Rechts § 91“ im „Nothstande die mögliche Wirksamkeit des Strafgesetzes auf das Begehren ebenfalls ausgeschlossen (…). Feuerbach zieht aber auch noch die vis compulsiva herein, in deren einem Falle, wenn nämlich der Vergewaltiger den Andern zum Gegenstande einer Rechtsverletzung macht, das Nothrecht identisch erscheint mit der Nothwehr. Hiedurch tritt also auch noch eine schädliche Begriffsvermengung ein, sowie die Forderung, dass der Nothstand unverschuldet sei, denselben von ganz falscher Seite betrachtet.“
Johann Gottlieb Fichte, dem Geyer (verdeckte) sozialistische Tendenzen unterstellt, wird von Geyer schon in seiner Prager Frühschrift abgelehnt: „Fichte (Grundlage des Naturrechts) hat das Nothrecht als das Recht erklärt, sich als gänzlich exemt von der Rechtsgesetzgebung zu betrachten, weil diese Gesetzgebung die Möglichkeit eines Zusammenbestehens freier Wesen voraussetzte, folglich wegfalle, wo diese Möglichkeit wegfällt. Wo aber die Rechtsgesetzgebung wegfällt, da stehen wir eben gar nicht auf rechtlichem Boden, folglich kann in einem solche Falle doch nicht wieder von einem Rechte die Rede sein.“[26]
In Julius Glaser findet Geyers Notwehr-Theorie 1858 einen scharfen Kritiker. Glaser lehnt das herbartianisch „ästhetische-ethische Urtheil“ vom „Der Streit missfällt!“ als eine leere „Zauberformel“ ab. Geyer komme von seinem „falschen Rechtsbegriff und einer ungenügenden Deduction des Strafrechts ausgehend“ zu „einer Vorstellung von Nothwehr“, die sogar mit die mit „wohl zu rechtfertigenden Forderungen des Rechtsgefühls“ in Konflikt gerät: „Wenn er es nun unternimmt, nachzuweisen, dass seine Ansicht: die Nothwehr sei eben nur straflos, aber nicht rechtmäßig, auch positiv immer anerkannt, oder doch wenigstens so weit wirksam gewesen, dass das Recht der Nothwehr durch den Maßstab der Vergeltung eingeschränkt wurde; so wollen wir mit ihm nicht darüber rechten, daß er so eingestandenermaßen mit einer vorgefassten Meinung mit der Aufstellung eines Thema probandum an die Darstellung des geschichtlichen Stoffes geht.“[27]
Die Notstandslehre fasst Geyer in einer These zusammen: „Die allein richtige Grundlage für die Lehre vom Nothstand bildet nach unserer Ansicht ein Satz, welcher so evident zu sein scheint, wie die allgemeine Formel, dass a nicht non a ist. Wir meinen damit den Satz: Es gibt kein Recht Unrecht zu thun, (…).“
Die „communistischen“ Folgen der Lehre vom „Nothstand“ sind nach Geyer unübersehbar: „Hat der in Lebensgefahr Befindliche ein natürlich erzwingbares Recht – denn das meint man doch wohl mit dem Gegensatz zur bloßen Straflosigkeit seines Handelns – fremde Rechte zu verletzen, so ist mindestens jeder rechtlich verpflichtet, sobald jener ihn dazu auffordert, ihm sein Eigenthum zu Gebote zu stellen. Die Fichtesche Zwangsarmentaxe, das Recht auf Arbeit, auf einen ‚Kraftort‘, um mit Krause zu reden, das ist ungefähr der bedenkliche Gedankenkreis, in welchen wir uns hiemit verirren.“[28]
Geyer spricht scharf ablehnend Johann Gottlieb Fichtes naturrechtliche Thesen von der würdelos machenden Not an, weiters Fichtes Deduktion aus reinen Rechtsbegriffen, wonach das Privateigentum der Reichen angesichts hungernder Massen sistiert ist, wonach der Arme im Notstand „ein absolutes Zwangsrecht auf Unterstützung“ hat, sowie Fichtes Andeutungen über ein sozialistisches Glück, auf Fichtes Kritik der (Adam Smithschen) marktliberalen „Harmonie der Interessen“: „Von dem Augenblick an, da jemand Noth leidet, gehört keinem derjenige Theil seines Eigenthums mehr an, der als Beitrag erfo[r]dert wird, um einen aus der Noth zu reissen, sondern er gehört rechtlich dem Nothleidenden an.“[29]
Mit dem „Kraftort“ bezieht sich Geyer auf den theosophische Züge tragenden „Panentheismus“ Karl Christian Friedrich Krauses, - im Keim ebenfalls ein ethisch utopisches sozialistisches Programm enthaltend. Krause spricht 1831 von einem „Menschheitsbund“, in dem „der Noth und Verlaßenheit der Kinder, der Greise, der Wittwen“ abgeholfen wird, in dem schuftende Diener, Taglöhner versorgt werden, damit sie nicht „schmählich und in äußerem Schimpf dahin darben und langsam verhungern müssen“.[30]
An vielen Stellen seiner kleineren Schriften warnt Geyer weiter vor angeblich sozialistischen Folgen: „Das Motiv der Selbsterhaltung kann demnach ja auch nicht straflos machen, wenn es nicht zu einer solchen psychischen Macht anwächst, dass es die That zu einer unfreien, d.h. einer unzurechenbaren macht. – Es bleibt an sich immer eine Rechtsverletzung, wenn ich dem Anderen ohne seine Einwilligung das Leben nehme; der Andere hat nicht ein Titelchen seines Rechts dadurch eingebüßt, dass ich mich in Noth befinde; die gegentheilige Sicht führt zur Todtschlagsmoral des Communismus und stempelt die Begierden des Egoismus zu einem Rechtstitel. Auch der Communismus argumentirt vom Recht der Noth aus und verwandelt die Ansprüche des Wohlwollens und der ausgleichenden Vergeltung in Rechtsansprüche, das Eigenthum aber in aber in Diebstahl.“[31]
In seiner „Geschichte und [und dem] System der Rechtsphilosophie“ wendet sich Geyer 1863 (144f.) gegen die Idee der „Gütergleichheit“, verweist auf die „Irrthümer des Socialismus“, der die „Bedeutung des Privateigenthums für die Cultur (Vollkommenheit)“ nicht erkennen kann. Den „Communismus“ qualifiziert er als „ebenso widernatürlich wie unsittlich“ ab. Dieser ist nach Geyer „nur haltbar auf einer sehr niedrigen Culturstufe und bei höchst unvollkommener Entwicklung des Selbstbewusstseins des Einzelnen (selbst da aber nicht in vollständigem Umfang).“ Einschränkungen des Privateigentums seien notwendig, aber nicht im revolutionären Weg, sondern nur „von Staatswegen“, so Geyer unter Berufung auf den sozialkonservativen Nationalökonomen Wilhelm Roscher.
Rechtsphilosophische Positionierung
Georg Jellinek hat den ideengeschichtlichen Zusammenhang der Jahre vor und nach der Revolution von 1848 pointiert dargestellt: „Was unter dem Namen Philosophie an den österreichischen Hochschulen gelehrt wurde, waren mehr oder weniger die kirchlich approbierten Doktrinen.“
Um den Anschluss der katholischen Universitäten an den (natur-, aber auch geistes-) wissenschaftlichen Fortschritt nicht zu verlieren, ein Anliegen des aufgeklärt konservativen Minister Leo Thun-Hohenstein, war die Suche nach einer säkularen Ansprüchen genügenden Grundlagenphilosophie wichtig. Weder naturrechtliche Deutungen, noch die idealistische Spekulation (Hegels), noch „vulgärmaterialistische“ Strömungen (Vogt, Moleschott, L. Büchner) eigneten sich hierfür, galten sie doch auch als „staatsgefährlich“. So hat – nach Jellinek – schon vor der Revolution von 1848 in Prag „die Herbartsche Philosophie einen Vorkämpfer gefunden in Franz Exner,[32] einem Manne, der die größten Verdienste um die Hebung des philosophischen Geistes und des gesamten Unterrichtswesens in Österreich hat“: „Auf den [österreichischen] Kathedern begann [seit den 1840er Jahren] die Herbartsche Schule zu herrschen, und sie hat auf denselben tüchtige, sogar bedeutende Vertreter gefunden insbesondere [Robert] Zimmermann in Wien[33] und [Wilhelm Fridolin] Volkmann in Prag, der erstere auf dem Gebiete der Ästhetik, der letztere auf dem der Psychologie bekannt.“
Jellinek erklärt den österreichischen Erfolg des Herbartianismus mit dessen politischer Neutralität und harmloser „Farblosigkeit“: „Mag es auch hauptsächlich nur die Farblosigkeit ihrer Religionsphilosophie gewesen sei, welche dieser Lehre die Gunst der Regierung sicherte, mag sie von letzterer nur als die unschädlichste Form des ketzerischen Geistes betrachtet worden sein, sie hat dennoch die bedeutendsten, wenn auch unbeabsichtigten Wirkungen gehabt. Was an wirklicher philosophischer Bildung in Österreich zu finden ist, muß größtenteils ihr zugeschrieben werden, die durch ihre eingehende Behandlung der Psychologie den steten Kontakt zwischen der exakten Wissenschaft und der Spekulation zu erhalten bestrebt ist.“[34]
So hat auch August Geyer als Strafrechtler den Kontakt zur „exakten Wissenschaft“ gepflegt. Der in herbartianischem Sinn gehaltene „Grundriss der Psychologie“ seines für ihn wichtigen Prager Lehrers Wilhelm Fridolin Volkmann war steter Leitfaden, so in den Streitfragen von Determinismus/Indeterminismus, „absoluter Freiheit“ oder „geminderter psychischer Freiheit“, von „Graden der Freiheit“, von „Graden der Schuld“, von „Graden der Zurechnungsfähigkeit“: „Es ist möglich, dass wir den Anhängern der ‚absoluten Freiheit‘ ein mitleidiges Lächeln entlocken, wenn wir von ‚geminderter psychischer Freiheit‘ reden. (…) Aber ob alle freien Handlungen gleich frei sind?“
Die meisten Strafrechtler würden – so Geyer 1862 – die „Resultate der neueren Psychologie“ ignorieren: „Die Ergebnisse des absoluten Idealismus sind auf dem Feld der Psychologie in neuester Zeit eben immer mehr, namentlich durch die nüchternen Forschungen der Herbartschen Schule, [Hermann] Lotzes, der bedeutendsten Physiologen, Pathologen und Psychiater, wie z.B. [johannes] Müller’s [‚Gesetz der spezifischen Sinnesenergien‘], [Carl Reinhold] Wunderlich‘s, [Johann] Spielmann‘s usw. in ihrer Unwahrheit und Dürftigkeit aufgezeigt worden, was freilich die meisten Juristen ignoriren.“[35]
Geyer begrüßt die von Herbart oder Volkmann entwickelte „neuere wissenschaftliche Psychologie“, die „nachgewiesen“ habe, „dass die Vorstellungen in der Seele des Menschen aufeinander wirken nach Gesetzen, welche mit mathematischer Genauigkeit aufgestellt werden können“: Vorstellungen, „die sich hemmen und verschmelzen, in Reihen und Reihegeweben verbinden und einem Zustand des Gleichgewichtes entgegenstreben, welchen sie nie vollkommen erreichen“! Geyer folgte Herbarts Glauben an die mathematische Darstellbarkeit einer „Vorstellungsmechanik“, einem Modell, das einer Elementen- bzw. Assoziationspsychologie nahekam.[36]
Geyer geht insgesamt von Herbarts realistisch erkenntniskritischer Philosophie aus. Opponenten wie Julius Glaser oder Rudolf Jhering sahen gerade darin eine verfehlte strafrechtsdogmatische Orientierung. Quelle für Geyers Rechtskonzeption waren u.a.:
- Herbart, „Allgemeine praktische Philosophie“ (1808)
- Herbart, „Psychologie als Wissenschaft neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik“, „Einleitung in den analytischen Theil der Psychologie als Wissenschaft“ (1824/25)
- Herbart, „Analytische Beleuchtung des Naturrechts und der Moral“ (1836, etwa § 55: „Dass vom Mis[s]fallen am Streit die Rechtslehre ausgehn muss, […].“)
Thesenhaft formuliert Geyer 1863 in seiner „Rechtsphilosophie“ Lehrmeister Herbart folgend
- „Die Philosophie besteht also in reiner Bearbeitung der Begriffe. Zuvörderst wird sie daher die Begriffe klar und deutlich machen müssen.“
- „Je deutlicher indessen manche Begriffe gemacht werden, desto mehr kommen innere Widersprüche in ihnen zum Vorschein.“ - beide Punkte Herbarts Ablehnung der (Hegelschen) Dialektik entsprechend.
- Nach Herbart die Ethik als Teil der Ästhetik und das Recht als Teil der Ethik: „Das Recht dient zur Verwirklichung einer allgemeinen praktischen (ethischen) Idee, welche sagt: Der Streit der Willen (Unfriede, Zank, Hader, Zwietracht) missfällt.“ (1863, 1-3)
Unter dem Abschnitt „die Rechtsphilosophie als Theil der Ethik“ erklärt Geyer programmatisch:
- „Die Folgen der Trennung von Recht und Moral sind verderblich für die Rechtsphilosophie selbst, diese muss verkümmern und ausarten, wenn sie von der Ethik losgelöst wird.“
- „Ist das Recht durch seinen Zwangscharakter bestimmt, dann ist die Rechtsgesellschaft nur eine Zwangsanstalt, ein ‚absolut zwingender unfehlbar wirksamer Mechanismus‘. Der Zwang setzt eine überwältigende Macht voraus, die ihn ausübt. Wenn sie nun Unrecht thut, was schützt gegen sie? Eine zweite höhere Macht -und gegen diese?“
- „Das von der Ethik losgerissene Naturrecht kann den Staat bloß als Rechtsstaat auffassen, als eine Anstalt zur Sicherung der Rechte mit einer zwingenden Macht ausgerüstet.“
- „Jede von der Ethik getrennte Rechtsphilosophie birgt in sich das Princip der Revolution.“ (1863, 111f.)
Im historischen Teil der „Rechtsphilosophie“ verdeutlicht Geyer seine Position in kritischer Abgrenzung:
- Geyer gegen den im 20. Jahrhundert etwa von Ernst Bloch gewürdigten Christian Thomasius: „Er scheidet zuerst Recht und Moral strenge; ein verhängnißvoller Schritt! Motiv für ihn: Beseitigung des Zwanges (gegen die Pietisten) auf religiösem Gebiet.“
- „Pufendorf und die Socialisten [!]“: Geyer wirft Pufendorf vor, das Naturrecht als „Glückseligkeitslehre“ gefasst zu haben: „Das Naturrecht hat den eudaimonistischen Charakter seitdem nie wieder ganz abgestreift. Die Glückseligkeitslehre führt aber sehr leicht zum [flachen] Theologisiren. So auch bei Pufendorf.“ Auch der „ächte Rationalist“ Leibniz verfalle in den „Eudaimonismus“. (1863, 34, 37)
- Konsequenzen nach Geyer offenkundig radikalisiert bei Rousseau: „Ein falsches Wohlwollen (Glückseligkeitsprincip) führte diesen zu der Lehre von der unveräußerlichen Freiheit, der wahren Grundlage aller revolutionären Anschauung. (…) Darum Rousseaus Satz: Es ist die Pflicht des Menschen und des Volkes frei zu sein. (Polemik gegen Grotius). Es kann also auch nur Einen rechtlich gültigen Staatsvertrag geben, denjenigen nämlich, in welchem die Freiheit des Einzelnen nicht veräußert wird.“
- Kant „verwirft mit herber Energie alle gröberen und feineren Arten der Glückseligkeitslehre. Alle ‚materialen‘ Principien, d.h. solche, welche ein Object des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, eignen sich nicht zu praktischen Gesetzen, weil das ‚Angenehme‘ und ‚Unangenehme‘ subjectiv und individuell ist. Auch der Lasterhafte strebt nach Glückseligkeit, ist er deßhalb tugendhaft? Ist es nach eudaimonistischen Begriffen ein Verbrechen, seiner Glückseligkeit Abbruch zu thun, so würde eine Handlung erst durch die Strafe zum Verbrechen. (Krit. der prakt. Vernunft § 8). Diese und andere Widersprüche der Glückseligkeitslehre deckt Kant schonungslos auf.“ (1863, 47-49)
- Aber seine formale im kategorischen Imperativ endende Gleichsetzung „Sittlichkeit = Autonomie“ (äußere „Freiheit aller“) hat nach Geyers Herbart-Anhänglichkeit (auch) Kant auf die „verhängnißvolle Bahn der Trennung von Recht und Moral“ geführt: „Kant sucht die Trennung des Rechts und der Moral auch auf die geforderte Autonomie des Willens zu stützen.“ Bei Kant schleicht sich nach Geyer der „Eudaimonismus“ durch die Hintertür wieder ein, er habe den „Keim der Feuerbachschen Strafrechtstheorie“ gelegt: „Billigkeits- und Nothrecht sind nur ‚vermeinte Rechte‘, denn sie fallen eben außerhalb des Gebietes der Zwangsgesetze. Ansprüche der bloßen Billigkeit können nämlich wegen ihrer Unbestimmtheit nicht vor Gericht geltend gemacht werden, und ebenso ist eine Strafdrohung gegenüber dem im äußersten Nothstand Befindlichen fruchtlos und darum unzulässig.“ (1863, 51)
- Gegen die dialektische Methode Hegels meint Geyer wieder mit Rückgriff auf Herbart: „Die Methode ist verfehlt. Der sich selbst widersprechende Begriff des absoluten Werdens bildet ihre Grundlage. Das Fortschreiten des ‚dialektischen Processes‘ durch seine 3 Momente – abstractes, dialektisches und speculatives – ist durchaus willkürliches. Es soll eine Analysis der obersten – ganz leeren Begriffes sein, aber aus dem Allgemeinen kann das Besondere nie begründet werden, wenn man nicht zur Synthesis greift; und das thut auch Hegel durch willkürliches Hinzunehmen des empirisch Gegebenen, (…).“
- Nicht zufällig habe sich die Hegel-Schule in die gegnerischen Lager der Rechts- und Linkshegelianer gespalten: „Betrachtet man die Hegel’sche Ethik näher, so zeigt sie ein bedenkliches Schwanken zwischen der Pflicht bloßer Legalität und dem Recht zur Revolution. Die Anhänger Hegels haben sich deßhalb auch in eine Rechte und eine Linke geschieden, deren jede behauptet, die ächte Lehre des Meisters zu haben.“ (1863, 79)
- Im Herbart’schen Sinn tritt Geyer auch gegen die „theologisirende Restaurationsphilosophie“ eines Karl Ludwig Haller oder jene des Thun Beraters Karl Ernst Jarcke und dessen „Verherrlichung des ‚christlich-germanischen‘ Staates“, aber auch gegen Friedrich Julius Stahls religiöse Sublimierung der rechtshistorischen Schule auf: Geyer erklärt auch 20 Jahre später [in Holtzendorff-Enyclopädie I, Seite 42] die „ganze theologisirende Richtung“ für „unwissenschaftlich, weil sie insbesondre den Vorzug des Guten und Rechten nicht in seinem inneren Werth, sondern in seiner Abstammung aus Gottes Willen setzt.“ (1863, 91)[37]
- Geyers Kritik der „Volksgeist“-Theorie der rechtshistorischen Schule bezieht sich auf Friedrich Carl Savignys „vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ (1814) und dessen „System des heutigen römischen Rechts“ (1840ff.), sowie auf Georg Friedrich Puchtas „Gewohnheitsrecht“ (1828/37) und dessen „Einleitung zum Cursus der Institutionen“ (1841): „Der Grundgedanke der historischen Schule ist also im Wesentlichen: Das anfänglich absichtslose Entstehen des Rechts aus der opinio necessitatis (dem Volksgeist) und die Stetigkeit der Fortbildung als hieraus folgendes Postulat. (Die unglückselige theologisirende Beimengung Puchtas in seiner Einleitung lassen wir füglich bei Seite.)“
- Nach Geyer ist dieser Grundgedanke „nicht unwahr“, genügt aber für keine Rechtsphilosophie: „Es ist gewiß überall, so weit die Geschichte zurückreicht, schon unabsichtlich entstandenes Recht vor dem absichtlich errichteten da. Allein woher das Recht, gleichviel ob ohne oder mit Reflexion entstanden, seinen sittlichen Charakter ableitet, warum es die Menschen sittlich bindet, ist damit nicht nachgewiesen.“ Savigny und Puchta bewegen sich in einem Zirkel, in dem das „Erklärende in der Erklärung selbst“ vorkommt. Der „Begriff des Rechts“ bleibt dabei „im Dunkeln“: „Die Rechtsphilosophie forscht auch nicht nach dem historischen, sondern nach dem sittlichen Anfangspunkt des Rechtes.“ (1863, 96-99)
1863 legt auch Geyers Innsbrucker Fakultätskollege Peter Harum eine Programmschrift vor, in der er vom Naturrecht als einer erledigten Strömung spricht: „Die Vernunftgemäßheit kann nicht das Kriterium des Rechts sein.“ Harum hebt Verdienste der rechtshistorischen Schule hervor, spricht sich aber gegen deren „Volksgeist“-Theorie aus. Gegen Savigny hält Harum am Wert der (ABGB-) Kodifikation fest.[38]
„Kampf ums Recht“: Die Geyer/Herbart- wider Glaser-Debatte (1858) fortgesetzt als Jhering gegen Geyer/Herbart-Konflikt (1872/73)
August Geyer wirft Ihering vor, den „Darwin’schen Kampf um’s Dasein“ aus der Sprache der Zeitungschreiber als „Kampf um’s Recht“ in die Sprache der Rechtswissenschaft transformiert zu haben. Nach Jhering ist der Kampf dem Recht immanent: Der Streit gefällt, wird holzschnittartig dem Herbart-Geyerschen „Der Streit missfällt“ entgegengesetzt: „‘Das Recht ist kein logischer, sondern ein Kraftbegriff.‘ [Jhering] Geharnischte Worte, apodiktisch gesprochen, dass sie uns fast einschüchtern können.“ Geyer nennt Jhering „den neuen Hobbes“, der ein neues „fortdauerndes bellum omnium contra omnes“ verkündet hat.
Geyer sieht im Recht ein friedenstiftendes Kompromissangebot, bei Savigny und Puchta klingt „die Entstehungsgeschichte des Rechs wie ein Kapitel aus der [evolutionär organischen, sich selbst genügenden quietistischen] Naturgeschichte“. Bei Jhering tritt sie „fast wie ein Abschnitt aus der Kriegsgeschichte auf“.
Während für Geyer dem Denken Herbarts folgend das Recht vor allem ein Friedensangebot ist, bezichtigt Jhering im März 1872 in seinem Wiener Vortrag „Der Kampf um’s Recht“ diese Schulrichtung der „Feigheit“. Jhering will nicht verstehen, dass Geyer/Herbart die „Preisgabe des eigenen Rechts, die feige Flucht vor dem Unrecht zur Rechtspflicht erheben“ konnten. Was würde passieren, „wenn der Geist der Feigheit und apathischen Erduldung des Unrechts auch die Geschicke der Nation bestimmte?“
Im Licht der ein Jahr zurück liegenden Geyerschen Kriegsrhetorik von 1871 scheint es paradox widersprüchlich, wenn Jhering diese „Friedenstheorien“ einem „Sumpf eines politisch und rechtlich verkommenen nationalen Lebens“ zuschreibt: „Mit der soeben entwickelten Theorie der Feigheit, der Verpflichtung zur Preisgabe des bedrohten Rechts im Recht habe ich den äußersten wissenschaftlichen Gegensatz zu der von mir vertheidigten Ansicht berührt, welche letztere umgekehrt den Kampf um’s Recht zur Pflicht erhebt. Nicht ganz so tief, aber immerhin tief genug unter der Höhe des gesunden Rechtsgefühls liegt das Niveau der Ansicht eines neuern Philosophen, Herbart, über den letzten Grund des Rechts. Er erblickt denselben in einem, man kann nicht anders sagen, ästhetischen Motiv: dem Missfallen am Streit.“ Jhering beruft sich auf seinen Freund Julius Glaser, der dies 1858 in der Kritik an Geyers Notrechtslehre ausgeführt hat.
August Geyer polemisiert gegen Iherings missverständlich plumpe Fiat iustitia et pereat mundus-Überhöhung, gegen dessen [Shakespeare/Kleist] Shylock-Kohlhaas-Pathos [„Denken wir nur dabei wieder einmal an jenen Shylok, welchen Jhering in sehr verwunderlicher Weise als einen idealen Vorkämpfer und Märtyrer des Rechts preist. (…) Wer möchte in dem zähen und hartnäckigen Kampf, welchen Shylok für sein blutiges Recht führt, eine Pflichterfüllung, etwa Ausübung eines Gesetzeswächteramts erblicken?“
Für Jhering ist Kohlhaas zwar zum „Verbrecher“ geworden, aber auch zum „Märtyrer seines Rechtsgefühls“, für Geyer ist Kohlhaas vor allem eine sozialpathologische Figur.
Der Prozess süchtige Klein-Bauer wird zum Ideal hochstilisiert. Der flüchtende Apfeldieb verdient in Jherings hermetischer Gedankenwelt eine Kugel in den Rücken: „In der Regel ist, was sich aus jener derben prosaischen Anschauung ergibt, nichts als derbe Prosa des Egoismus, und nicht das, was wir den Idealismus des Rechtssinnes nennen würden.“, wendet Geyer ein.
Der Plantagenbetreiber nimmt den Kampf um den Erhalt der Sklaverei pflichtbewusst als Rechtskampf auf, Geyer dagegen sozialpazifistisch, gerade wenn dies mit dem kriegshetzerischen Geyer vom Frühjahr 1871 verglichen wird. Abschreckend für Geyer ist die Jheringsche Heroisierung des Plantagenbesitzers: „Ein bekanntes Beispiel ist die Sklaverei. Sie verthiert nicht bloß die Sklaven, sondern in nicht geringerem Maße die Herren, vergiftet deren Anschauungen und Neigungen, reizt sie an zu Verschwendung und Ausschweifung, zu Uebermuth und Grausamkeit. Kaum wird es uns wie ‚Poesie des Charakters‘ anmuthen, wenn der Plantagenbesitzer allen Emancipationsbestrebungen den hartnäckigsten Widerstand entgegensetzt.“
Der Kampf um das subjektive Recht ist nach Geyer differenziert zu betrachten: 1) Unter gewissen Umständen Pflicht, 2) unter gewissen Umständen zulässig, 3) unter gewissen Umständen stellt er eine schwere Rechtsverletzung dar.
Jhering karikiere Herbarts „ästhetischen Standpunkt“ („Der Streit missfällt!“). Er habe Herbart offenbar nie gelesen und kenne ihn nur aus „einer von J. Glaser verfassten, zuerst in der allgemeinen österreichischen Gerichtszeitung erschienenen Recension meiner Schrift über die Nothwehr“. Auch Glaser verzeichne die „Herbart’schen Anschauungen“: „Nicht Quietismus, Bequemlichkeit, Feigheit und Ehrlosigkeit aber ist im Sinne jener Auffassung, die wir für die wahre halten, sondern gewissenhafte Behutsamkeit gegenüber den Trieben und Lockungen der Selbstsucht und Tapferkeit nicht bloß im Festhalten und Feststehen, sondern auch in Selbstbeschränkung und Entsagung.“[39]
Ausblick auf Emanuel Ullmann (1872-1885)
Ullmann prüft in seiner staatsrechtlichen Prager Habilitationsschrift 1867, in welchen Fällen die politische Ministerverantwortlichkeit ausreichend ist, in welchen Fällen eine öffentlich richterliche Prüfung von Verwaltungsakten notwendig, ob eine richterliche Überprüfung der Verfassungskonformität von Gesetzen opportun ist. Ullmann diskutiert dies im Licht von Rudolf Gneists „Soll der Richter auch über die Frage zu befinden haben, ob ein Gesetz verfassungsmäßig zu Stande gekommen? Gutachten für den vierten Deutschen Juristentag erstattet“ (Berlin 1863).[40]
In einer Innsbrucker Festrede nahm Ullmann 1873 das Anliegen mit Blick auf die dann 1876 erfolgte Errichtung des Verwaltungsgerichtshofs wieder auf: „Endlich soll in dem ohne Zweifel schon in nächster Zeit zu aktivirenden Verwaltungsgerichtshof für jene Fälle ein nach Rechtsgrundsätzen entscheidendes Tribunal errichtet werden, in welchen Jemand behauptet, durch eine Entscheidung oder Verfügung einer Verwaltungsbehörde in seinen Rechten verletzt worden zu sein (Art. 15 Abs. 2 StGG vom 21. December 1867, No. 144 RGBl.).“[41]
Für die Innsbrucker Strafrechtslehrkanzel nach Geyer hat sich Ullmann 1872 mit seiner Prager Schrift „Ueber den Dolus beim Diebstahl“ (1870, 6) qualifiziert, mit der sich von der „älteren Theorie“ abgrenzenden These: „Der Diebstahl kann nur dolos begangen werden“: „Für den Begriff des Diebstahls ist vom Standpunkte der subjectiven Erfordernisse dieses Verbrechens aus, zunächst in negativer Beziehung, wesentlich, dass dasselbe nicht culpos begangen werden kann.“ Ullmann berücksichtigt im Stil der historisch-systematischen Methode die römisch (-gemeinrechtliche), aber auch die „ältere, mittlere“ Tradition nach „gemeinem deutschen Recht“.
Im Licht des (Glaser’schen) Strafprozess-Reformentwurfs (zum Gesetz erhobener Entwurf einer Strafprozess-Ordnung für Österreich, für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder – Gesetz vom 23. Mai 1873, Nr. 119 RGBl, publiziert mit 30. Juni 1873, wirksam vom 1. Januar 1874) beleuchtet Ullmann ein Jahr nach seinem Innsbrucker Amtsantritt Fragen wie die Stellung der Verteidigung im Vorverfahren (Akteneinsicht), der Parteiöffentlichkeit, der Mündlichkeit, die freie Beweiswürdigung, die Geschworenengerichte, das Verhältnis Richter/Staatsanwalt, Wirksamkeit der Staatsanwaltschaft, systematische Trennung der Justiz von der Verwaltung.[42]
[1] Vgl. durchgehend Gerhard Oberkofler: Die Lehrkanzeln für Strafrecht und für gerichtliches Verfahren an der Innsbrucker Rechtsfakultät, in derselbe: Studien zur Geschichte der österreichischen Rechtswissenschaft (Rechtshistorische Reihe 33, hrg. von Wilhelm Brauneder), Frankfurt 1984, Frankfurt 1984, 173-289.
[2] Universitätsarchiv München (UAM), Y-XV-14, Bd. 1. Vgl. Emmanuel Ullmann: August Geyer (1831-1885). Nekrolog, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Neue Folge 10/1 (1887), 4-16.
[3] Zitiert nach Peter Goller: Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Zur Geschichte der Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten 1848-1945 (Rechts- und sozialwissenschaftliche Reihe 18, hrg. von Wilhelm Brauneder), Frankfurt 1997, 94.
[4] Vgl. Felix Stoerk: Franz von Holtzendorff. Ein Nachruf, Hamburg 1889.
[5] Auf Initiative von Franz Liszt verfasst von Moritz Liepmann: Die Bedeutung Adolf Merkels für Strafrecht und Rechtsphilosophie, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtwissenschaft 17 (1897), 638-711, hier 642, 654, 661. Dazu auch Monika Frommel: Adolf Merkel, in: Juristen in Österreich 1200-1980, hrg. von Wilhelm Brauneder, Wien 1987, 193-199.
[6] Dazu auch Adolf Merkel: Über das Verhältniss der Rechtsphilosophie zur „positiven“ Rechtswissenschaft und zum allgemeinen Theil derselben, in: [Grünhuts] Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 1 (1874), 1-10 und 402-421, sowie Adolf Merkel: Ueber den Begriff der Entwicklung in seiner Anwendung auf Recht und Gesellschaft. I. Savigny und Darwin – II. Die „historische Ansicht“, in: Grünhuts Zeitschrift 3 (1876), 625-632 und 4 (1877), 1-20.
[7] Vgl. Christof Aichner: Die Universität Innsbruck in der Ära der Thun-Hohenstein’schen Reformen 1848-1860, Aufbruch in eine neue Zeit, Wien 2018, 319-327.
[8] UAI, Reihe Senatsprotokolle, Beilage zum Protokoll vom 25. Jänner 1866. Vgl. Hugo Rahner: Die Geschichte eines Jahrhunderts 1857-1957, in: Zeitschrift für katholische Theologie 80/1 (1958), 1-65. (Sonderheft zum Hundertjahrjubiläum) und Gerhard Oberkofler: Die Petitionen der drei weltlichen Fakultäten um Aufhebung der Jesuitenfakultät 1873, in: Tiroler Heimat 37 (1973), 77-91.
[9] Zitiert nach Theodor Freiherr von Kathrein (1842-1916). Landeshauptmann von Tirol. Briefe und Dokumente zur katholisch-konservativen Politik, hrg. von Richard Schober, Innsbruck 1992, 269f.
[10] Zum „Rektorenstreit“ im Tiroler Landtag („Ullmann-Affäre“) vgl. Sibylle Terzer: Rektoren im Tiroler Landtag (1861-1914), phil. Diplomarbeit, Innsbruck 2003.
[11] Vgl. Thomas Götz: Bürgertum und Liberalismus in Tirol 1840-1873. Zwischen Stadt und „Region“, Staat und Nation, Köln 2001, 410, 428, 453, 471-475, 500-503, hier Geyer zitiert nach 501f.
[12] August Geyer: Der neueste Entwurf eines Strafgesetzes über Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen für die im Reichsrathe vertretenen Länder Oesterreichs, in: [Grünhuts] Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 2 (1875), 318-386, zwei Fortsetzungen in ebenda 3 (1876), 1-58 und 201-226.
[13] Theodor Rittler (1926), in: Heinrich Lammasch, neu bearbeitet von Theodor Rittler, Grundriss des Österreichischen Strafrechts, fünfte Auflage, Wien 1926, 19. Rittlers Lehrer, der 1920 verstorbene Heinrich Lammasch, war übrigens ein scharfer Gegner des österreichisch-deutschen Militärbündnisses. Im „Ungeist von Potsdam“ sah Lammasch das Unglück Österreichs.
[14] Vgl. August Geyer: Ein Rückblick auf den Deutsch-französischen Krieg. Ein Vortrag gehalten im konstitutionellen Verein zu Innsbruck in der Versammlung vom 16. März 1871, Innsbruck 1871.
[15] August Geyer: Ueber die neueste Gestaltung des Völkerrechtes. Rede [des Rectors] bei Gelegenheit der Kundmachung der Preisaufgaben, Innsbruck 1866, 27f.
[16] Vgl. über den „humanitären Krieg“ und den „Imperialismus der Menschenrechte“ oder den „Straffeldzug im Namen der Zivilisation“ Domenico Losurdo: Nietzsche. Der aristokratische Rebell II, Berlin 2009, 943-945, oder Thoralf Klein und Frank Schumacher (Hrg.): Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006.
[17] Hans R. Klecatsky (1920-2015), Bundesminister für Justiz 1966-1970, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck, hat amnesty international im Kampf gegen die Todesstrafe unterstützt. So schreibt er am 21. März 1994 an das österreichische ai-Büro wegen Abschaffung der Todesstrafe in den USA, dass er sich in „verschiedenen Figurationen an amerikanische Stellen mit der Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe gewendet“ hat. Wichtig war für Hans Klecatsky auch der Hinweis, „dass während meiner Amtsführung als Justizminister in Österreich der letzte Rest der Todesstrafe, das standgerichtliche Verfahren wie die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Ausnahmegerichten überhaupt abgeschafft wurde (Bundesverfassungsgesetz BGBl 1968/73 BGBl 1968/74“. 2006 hat Klecatsky seinen bereits dem Universitätsarchiv übergebenen ministeriellen Handakt „Aufhebung Todesstrafe 1967/68“ entlehnt, um mit seinen Studierenden hierüber zu sprechen. Im Februar 2007 hat er diesen Akt mit dem Bemerken, dass auch unter jungen JuristInnen Vorstellungen von Anwendung von Folter, vom Sinn der Todesstrafe aus so genannten pragmatischen Gründen zirkulierten. Dies bereite ihm Sorge und müsste schon im Ansatz aus juristischem Denken verbannt werden, weshalb er am 6. Februar 2007 dem Akt handschriftlich beifügte: „von großer historischer Bedeutung“. (UAI, Wissenschaftlicher Nachlass Hans R. Klecatsky)
[18] Vgl. Reinhard Moos: Der Einfluss Cesare Beccarias auf das österreichische Strafrecht, in: Juristische Blätter 113 (1991), 69-85. Vgl. zum Tiroler Umfeld Geyers – 1861 letzte öffentliche Hinrichtung unter barbarischen Begleitumständen – Elisabeth Dietrich: Übeltäter. Bösewichter. Kriminalität und Kriminalisierung in Tirol und Vorarlberg im 19. Jahrhunderts, Innsbruck-Wien 1995, 59-61.
[19] Julius Glaser: Todesstrafe und Ehrenfolgen [1862/64], in derselbe: Kleine Schriften über Strafrecht und Strafproceß. Gesammelte kleinere juristische Schriften. Erster Theil, Wien 1883, 151-168, weiters Georg Jellinek: Moralstatistik und Todesstrafe (1874), in derselbe: Ausgewählte Schriften und Reden I, Berlin 1911, 69-75.
[20] August Geyer: Ueber die Todesstrafe. Ein Vortrag gehalten in der Versammlung des constitutionellen Vereins zu Innsbruck am 13. Juli 1869, in derselbe: Kleinere Schriften strafrechtlichen Inhaltes, hrg. von Heinrich Harburger, München 1889 (=Geyer 1889), 385-405, hier 387f., 393, 402.
[21] Nach Heinrich Lammasch: Grundriss des österreichischen Strafrechts, fünfte Auflage, neu bearbeitet von Theodor Rittler, Wien 1926, 180f. Vgl. auch Abschnitt „Todesstrafe“ in Theodor Rittler: Lehrbuch des österreichischen Strafrechts. Erster Band: Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Wien 1954, 303-308.
[22] Vgl. Gerhard Oberkofler: Wolfgang Wessely (1803-1870), ein orthodoxer Jude als österreichischer Universitätslehrer, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 6/1996, 515-523.
[23] Vgl. Wilhelm Emil Wahlberg: Die gesetzliche Herrschaft der Todesstrafe und die Begnadigungs-Praxis (1872), in derselbe: Gesammelte kleinere Schriften und Bruchstücke über Strafrecht, Strafprocess. Gefängnisskunde, Literatur. Erster Band, Wien 1875, 177-183, hier 179 und Wilhelm Wahlberg: Neuere Praxis und Geschichte der Todesstrafe in Oesterreich, in: Juristische Blätter 5 (1876), Nr. 53 vom 31. Dezember 1876 und 6 (1877), Nr. 1 und 2 vom 7. und 14. Jänner 1877.
[24] Vgl. zum Grolman/Feuerbach-Streit Gustav Radbruch: Paul Johann Anselm Feuerbach. Ein Juristenleben, Wien 1934, 44-46: „Ein junger strafrechtlicher Denker – Grolman – tritt auf und behauptet, die Strafe sei bestimmt, den Rechtsbrecher abzuschrecken, den nicht abschreckbaren Rechtsbrecher aber unschädlich zu machen, kurz auf den Rechtsbecher selbst im Sinne der Verhinderung weiterer Missetaten einzuwirken. Wenn die Strafen vorher in einem Gesetze angedroht würden, so sei das gewiss zweckmäßig, um schon zum Rechtsbruch Geneigte von seiner wirklichen Begehung abzuschrecken, aber nicht notwendig für das Wesen der Strafe.
Nein, sagt ein andrer junger Strafrechtsdenker – Feuerbach – gerade das Strafgesetz, durch das zum Verbrechen Geneigte abgeschreckt werden sollen, ist der Ausgangs- und Endpunkt des gesamten strafrechtlichen Denkens. Der Strafvollzug im Falle des einzelnen Rechtsbruchs hat nur die Aufgabe zu beweisen, dass es mit dem Strafgesetz Ernst war.
Das Strafgesetz ist nur eine Nebenerscheinung des Strafrechts, sagt der eine [Grolman], der entscheidende Zweck des Strafrechts verwirklicht sich im Strafvollzug. Das Strafgesetz ist gerade die Hauptsache, sagt der andere [Feuerbach], der Strafvollzug ist nur um des Strafgesetzes willen da.“ Grolmans Niederlage – fügt Radbruch an – sei ein knappes Jahrhundert später revidiert worden, als „unter Liszts Führung die schon von Grolman vertretene Täterstrafe über die von Feuerbach ausgehende Tatstrafe“ siegte.
[25] August Geyer: Paul Anselm von Feuerbach (1877), in: Geyer 1889, 552-584, hier 554-557. Aus der Reihe der zahlreichen (österreichischen) Würdigungen vgl. Julius Glaser: Anselm Ritter von Feuerbach (1858), in derselbe: Kleine Schriften über Strafrecht und Strafprocess I, zweite Auflage, Wien 1883, 17-51
[26] August Geyer: Lehre von der Nothwehr. Eine strafrechtliche Studie, Jena 1857, 5f. Referiert nach dem Grundlagenwerk von Reinhard Moos: Der Verbrechensbegriff in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert. Sinn- und Strukturwandel, Bonn 1968, 354-415, hier 378-380.
[27] Julius Glaser: Über Nothwehr (Allgemeine österreichische Gerichtszeitung 1858), in derselbe: Gesammelte kleinere juristische Schriften. I. Kleine Schriften über Strafrecht und Strafprocess, Wien 1883, 187-204, hier 198. Zur Julius Glaser’schen Ablehnung der Hegelschen Strafrechtstheorie, hier aber besonders „der Herbartschen Lehre der Begründung der Strafe durch den (…) Gedanken des Missfallens am Streit“ durch Julius Glaser vgl. Hugo Sinzheimer: Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, Frankfurt 1953, 131.
[28] August Geyer: Zur Lehre vom Nothstand (1863) in Geyer 1889, 297-315, hier 298-301.
[29] Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Zweiter Theil oder Angewandtes Naturrecht (1797), in: J.G. Fichte-Gesamtausgabe. Werkband 4, hrg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, 1-149, hier 22f. Vgl. Ernst Bloch: Prinzip Hoffnung II, Frankfurt 1973, 637-647.
[30] Referiert und zitiert nach Siegfried Wollgast: Karl Friedrich Christian Krause 1781-1832, Berlin 1990, 63.
[31] August Geyer: Betrachtungen aus dem Gebiete des Strafrechts (1861), in: Geyer 1889, 1-64. hier 21.
[32] Über Exner als antihegelianischer Herbart-Vermittler Barbara Otto: Der sezessionierte Herbart – Wissenschaftsrezeption im Staatsinteresse zur Zeit Metternichs, in: Verzögerter Humanismus – Verzögerte Aufklärung III. Bildung und Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus. Philosophie in Österreich (1820-1830), hrg. von Michael Benedikt, Reinhold Knoll, Josef Rupitz, Agsbach 1995, 141-155, hier 150: „Der polemische Einsatz der Psychologie Herbarts gegen die Psychologie Hegels kann in Exners Schrift ‚Die Psychologie der Hegel’schen Schule“ (2 Bände, Leipzig 1842-44) nachgelesen werden.“
[33] Edgar Morscher: Robert Zimmermann – ein Vermittler von Bolzanos Gedankengut? Zerstörung einer Legende, in: Bolzano und die österreichische Geistesgeschichte, hrg. von Heinrich Ganthaler und Otto Neumaier, St. Augustin 1997, 145-236.
[34] Georg Jellinek: Die deutsche Philosophie in Österreich (1874), in derselbe: Ausgewählte Schriften und Reden I, Berlin 1911, 54-68, hier 58-60. Über den „Herbartianismus als Staatsphilosophie“ vgl. Rudolf Haller: Gibt es eine österreichische Philosophie?, in derselbe: Fragen zu Wittgenstein und Aufsätze zur österreichischen Philosophie, Amsterdam 1986, 31-43, weiters johannes Feichtinger: Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848-1938, Bielefeld 2010, 146-151, sowie unter „Wirkungskreise in der Reaktionsperiode 1849-1865: Schopenhauer oder Herbart?“ Klaus Christian Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt 1986, 109-121.
[35] August Geyer: Erörterungen über den allgemeinen Thatbestand der Verbrechen nach österreichischem Recht, Innsbruck 1862, 9. Vgl. besonders zu Hermann Lotze Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt 1983, 206-218.
[36] Vgl. Ludwig J. Pongratz: Problemgeschichte der Psychologie, München 1984, 87-89.
[37] Über so unterschiedliche Ministerialberater wie Karl Ernst Jarcke und Franz Exner vgl. Hans Lentze: Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien 1962, 30-44, 81-85.
[38] Vgl. Peter Harum: Von der Entstehung des Rechts. Ein Vortrag bei Gelegenheit der feierlichen Kundmachung der diesjährigen Preisaufgaben und Preisarbeiten gehalten, Innsbruck 1863. – Dazu Leopold Pfaff: Nachruf auf Peter Harum, in: Grünhuts Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart 2 (1875), 659f. – Vgl. Peter Goller: Geschichte des Fachs „Österreichisches Privatrecht“ an der Universität Innsbruck bis zur Berufung von Franz Gschnitzer (1816-1927) [2024] – https://www.uibk.ac.at/universitaetsarchiv/geschichte-des-fachs-zivilrecht/
[39] August Geyer: Der Kampf um’s Recht. Aus Anlass von Jhering’s gleichnamiger Schrift, in: Der Gerichtssaal. Zeitschrift für Strafrecht und Strafprozess 25 (1873), 1-38, hier 16, 26f., 38. Vgl. Hermann Klenner: Deutsche Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert. Essays, Berlin 1991, 180-191.
[40] Emanuel Ullmann: Zur Frage des richterlichen Prüfungsrechtes hinsichtlich der inneren Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 24/2 (1868), 333-405.
[41] Vgl. Festrede aus Anlass des fünfundzwanzigjährigen Regierungs-Jubiläums Seiner Majestät Kaiser Franz Josef I., gehalten am 2. Dezember 1873 im großen Saale der k.k. Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck, von Prof. Dr. Emanuel Ullmann, d.z. Rector, Innsbruck 1876, 24.
[42] Vgl. Emanuel Ullmann: Über die Fortschritte in der Strafrechtspflege seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Rede gehalten bei Gelegenheit der feierlichen Kundmachung der Preisaufgaben, Innsbruck 1873. 1885 folgte dem nach Wien berufenen Ullmann in Innsbruck für vier Jahre Heinrich Lammasch nach. Vgl. Gerhard Oberkofler – Eduard Rabofsky: Heinrich Lammasch (1853-1920). Notizen zur akademischen Laufbahn des großen österreichischen Völker- und Strafrechtsgelehrten, Innsbruck 1993. Martin Schennach: Der Strafrechtswissenschaftler Heinrich Lammasch und der „Schulenstreit“ in der österreichischen Monarchie, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 42 (2020), 202-233.