Programm
Donnerstag, 5. Dezember 2024
9:30 Uhr: Anmeldung
10:00 Uhr: Begrüßung und Organisation
Moderation: Gundula Ludwig
Abstract:
Ausgehend von einer Kartierung unterschiedlicher Theorielinien, Traditionen und Ausrichtungen feministischer Materialismen, an dem ich derzeit mit Verónica Gago arbeite, möchte ich im Rahmen des avisierten Vortrags und für den Diskussionskontext der Tagung, gerne zwei Linien besonders kontrastieren: eine in Folge operaistischen Denkens, insbes. Federici, Gago/Cavallero, und eine in Folge der Kritischen Theorie, insbes. Becker-Schmidt/Knapp. Ich werde zunächst erstens Hintergrund und Ausrichtung dieser beiden Linien skizzieren und dabei Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede herausstellen. Dabei spielt auch die je unterschiedliche Situierung eine Rolle, von der aus sich das operaistische Denken „von den Kämpfen aus“ entfaltet und das spezifisch Kritisch-Theoretische Projekt einer Herrschaftskritik, die von gesellschaftlichen Vermittlungen aus denkt. Im zweiten Schritt möchte ich darlegen, inwiefern sich aus diesen beiden Theorielinien, m.E. verschiedene Perspektivierungen geschlechtsbezogener Gewalt respektive verschiedene Fragen an den Themenkomplex Geschlecht und Gewalt stellen und möglicherweise auch verschiedene Gewaltbegriffe resultieren. Mein Beitrag läuft im dritten und letzten Teil auf einen programmatischen Vorschlag zur Theoretisierung geschlechtskonstitutiver Gewalt zu.
Abstract:
Die Art und Weise wie Gewalt gegen trans Femininität innerhalb von queertheoretischen und feministischen Ansätzen behandelt wird, gleicht dem, was Viviane Namaste unter der “Transgender Question” fasste: Die Auseinandersetzung mit trans Feminität dient keiner theoretischen Annäherung an ihre Lebensbedingungen, sondern als Proxy für eine Diskussionen von geschlechtlichen Verhältnissen. So diskutiert beispielsweise Judith Butler nicht die Spezifität transmisogyner Gewalt, sondern situiert deren Ursache in einer Überschreitung von naturalisierten Geschlechtergrenzen. Ein solcher instrumenteller Bezug auf Gewalt gegenüber transfemininen Subjekten verkennt nicht nur deren materielle Lebensrealitäten, sondern auch die Funktion, die der Figur der trans Frau und ihrer Normierung für die Ordnung von Gesellschaft zukommt. Mit “Transfeminisierten Beziehungsweisen” schlagen wir ein Konzept vor, das diesen toten Winkel beleuchtet. Es umfasst sowohl eine Spezifizierung der konkreten materiellen Lebensbedingungen transfeminisierter Subjekte als auch eine Reflektion auf die konstitutive Funktion von trans Femininität und transmisogyner Gewalt für gesellschaftliche Ordnung. Das Konzept greift auf Gill-Petersons (2024) Verständnis der Transfeminisierung zurück; also dem sozialen Prozess, der transmisogyne Gewalt überhaupt erst ermöglicht. Es verdeutlicht den kolonialen Ursprung von Transmisogynie, welche bis heute unterschiedliche Subjekte ähnlichen Lebenslagen und Gewalterfahrungen aussetzt. Mit Bini Adamczaks (2017) Begriff der Beziehungsweisen möchten wir hervorheben, dass transmisogyne Gewalt einen relationalen Modus darstellt, der kolonial-kapitalistische Verhältnisse konstituiert und reproduziert. Die Linse der transfeminisierten Beziehungsweisen erlaubt uns also, die Bedingungen zu fokussieren, die unterschiedliche transfemininisierte Subjekte über verschiedene geografische und geschichtliche Grenzen hinweg durch systematische Gewalt in ähnliche materielle Bedingungen bringen. Aus dem Konzept der transfeminisierten Beziehungsweisen formulieren wir drei Thesen in Bezug auf vergeschlechtlichte Gewalt: Erstens agiert Gewalt jenseits von Identitätskategorien. Transfeminisierte Beziehungsweisen verdeutlichen, dass Selbstverständnisse in der Erfahrung und Ausübung von Gewalt keine Rolle spielen. Zweitens wird Gewalt selektiv ausgeübt und dient dennoch als universelle Drohung. Misogynie fungiert als Prekarisierungsmodus, der zusammen mit anderen kolonial-kapitalistischen Abwertungslogiken, unterschiedliche Gewaltpotenziale gleichzeitig generiert und impliziert. Drittens ist Gewalt inhärent relational: Transmisogyne Gewalt stellt ein für gesellschaftliche Ordnung konstitutives Geschlechterverhältnis dar. Sie (re-)produziert eine Reihe an Beziehungsweisen, die sowohl zwischenmenschlich als auch systemisch verschiedene Subjekte entlang von Transfeminisierung ins Verhältnis zueinander setzt, anordnet und hierarchisiert. In der Ausübung von transmisogyner Gewalt manifestiert sich eine Einschreibung in bestehende kolonial-kapitalistische Gesellschaftsverhältnisse, die diese ideologisch definieren und rechtfertigen
Abstract:
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die These von Gewalt als Produktivkraft, die zunächst maßgeblich Maria Mies und Silvia Federici im gegenseitigen Lesen aufstellen und in den letzten Jahren vor allem Verónica Gago und Luci Cavallero aktualisieren. Im Gegensatz zu Konzeptionen von Gewalt als Verhinderung, fokussiert Gewalt als Produktivkraft eher das, was durch Gewalt freigesetzt wird und somit kapitalistischen Strukturen dienlich ist. Im Anschluss an ein wissenschaftliches Gespräch mit Gago und Cavallero (Gago, Cavallero, Hümmler 2024), möchte ich diese produktive Verbindung materialistisch-queerfeministischer, antikolonialer und ökologischer Ansätze über das Konzept von Gewalt als Produktivkraft weiter vertiefen. In einer Re-Lektüre von Marx, Mies und Federici sollen erstens die feministischen Erweiterungen marxistischer Theorie ausgeführt werden. In einem zweiten Schritt beziehe ich mich maßgeblich auf die Aktualisierungen und Situierungen von Gago und Cavallero mit Blick auf Hyperinflation, Verschuldung und dem Erstarken antifeministisch-faschistischer Ideologien im gegenwärtigen Argentinien. Ich schließe drittens mit einem Vorschlag Gewalt als Produktivkraft für die Analyse geschlechtsbezogener Gewalt in Deutschland fruchtbar zu machen.
12:00 - 13:30 Uhr: Mittagspause
Moderation: Friederike Beier
Abstract: wird noch veröffentlicht
Abstract:
Zerstörerische Umweltveränderungen im Rahmen der Klimakrise scheinen eine globale Herausforderung der aktuellen und zukünftigen Weltgesellschaft zu sein. Was aber haben diese Herausforderungen mit Gewalt zu tun? In diesem Vortrag möchte ich nicht nur die gewaltvollen Verhältnisse aufzeigen, die in aktuellen Umweltveränderungen begründet sind und damit zentrale gesellschaftliche Bereiche wie Arbeit, Ernährung, Sicherheit sowie unser demokratisches Zusammenleben strukturieren. Vielmehr argumentiere ich dafür, dass wir in dem Zusammenspiel von (post)kolonialen Staaten, Natur und Gewalt zentrale Begründungen für die Normalisierungen von Gewaltverhältnissen im Kontext eines kolonial-rassistischen und hetero-patriarchalen Kapitalismus finden können. Hierfür bieten Konzepte wie Nekropolitiken (Mbembe, 2019), biopolitische staatliche Vernachlässigung (Kim, 2023), Mensch-Natur-Binaritäten (Walsh, 2023) und die verkörperte Kolonialität von Klimawandel (Sultana, 2022) wichtige post-dekoloniale und (queer)feministische Ansatzpunkte. Diese Perspektiven wende ich auf den geopolitischen Kontext Frankreichs an. Denn während das nationale französische Selbstverständnis geprägt ist von der Republik als Wiege europäischer Gleichheit und Freiheit, zeigen kritische Stimmen, dass französische gesellschaftspolitische Strukturen historisch wie aktuell von multiplen Gewaltverhältnissen durchzogen sind. Die Bedeutung von Mensch-Umwelt-Beziehungen bleibt dabei aber oft implizit. Aufbauend auf intersektional-feministischen theoretischen und aktivistischen Interventionen zeige ich, welche Rolle Natur in der Normalisierung von Gewalt in Hinblick auf Versklavung, Kolonialismus, Bevölkerungs- und Klimapolitiken spielen. Dabei gehe ich insbesondere auf die Verflechtung von materialistischen und epistemischen Dimensionen dieser Gewaltverhältnisse ein. Der Vortrag kommt schließlich zu der Schlussfolgerung, dass Mensch-Natur-Verhältnisse mehr Beachtung in intersektional feministischen Theoretisierungen von Gewalt finden müssen.
Kim, N. Y. (2023). Refusing Death: Immigrant Women and the Fight for Environmental Justice in LA. Stanford University Press.
Mbembe, A. (2019). Necropolitics. In Necropolitics. Duke University Press. https://www-degruytercom.uaccess.univie.ac.at/document/doi/10.1515/9781478007227/html
Sultana, F. (2022). The unbearable heaviness of climate coloniality. Political Geography, 102638. https://doi.org/10.1016/j.polgeo.2022.102638 Walsh,
C. E. (2023). Rising Up, Living On: Re-Existences, Sowings, and Decolonial Cracks. Duke University Press.
Abstract:
Angesichts der multiplen Krise im neoliberalen Kapitalismus (Bader et al. 2011) ist das Bedürfnis nach Sicherheit und Eindeutigkeit groß. Eine Reaktion auf die Verunsicherungen ist die Anrufung einer scheinbar präpolitischen und vorgesellschaftlichen ‚natürlichen Ordnung‘ (u.a. Siri 2015: 252; Hark/Villa 2015; Lang/Peters 2018). Diese Ordnung ist auf Naturbilder zentriert, wodurch die ‚selbstverständliche‘ Einteilung der Menschen entlang binärer Geschlechter, Race und Klassen so naturalisiert wird, dass sie als etwas Unveränderbares erscheint (Stögner 2017: 139) und zur Legitimation tradierter Macht- und Herrschaftsverhältnisse genutzt wird (Daston 2018).
In unserem Beitrag möchten wir unsere Überlegungen zum Verhältnis von Gewalt und dem Phantasma einer ‚natürlichen Ordnung‘ vorstellen und damit zur Erweiterung einer materalistisch-(queer)feministischen Konzeptualisierung von Gewalt beitragen. Unter der ‚natürlichen Ordnung‘ verstehen wir die Materialisierung der Verwobenheit von Sexismus, Klassismus, Rassismus, Abelismus und Kapitalismus. Die ‚natürliche Ordnung‘ ist als Konzept verflochten mit den gesellschaftlichen Institutionen Staat, Familie und Ehe, die sich wechselseitig bedingen. Was die genannten Institutionen und Herrschaftsverhältnisse eint, ist ihr Verhältnis zu Gewalt. Wir denken das Verhältnis von Gewalt und der ‚natürlichen Ordnung‘ als ein dreifaches und zwar über die Dimensionen der Konstitution, der Kontinuität und der Kontestation:
Konstitution: Zum einen kann die ‚natürliche Ordnung‘ nur über Gewalt konstituiert werden: Die ‚natürliche Ordnung‘ basiert in ihrer Ordnungsfunktion u.a. auf Kolonialität (Lugones 2023), Kapitalismus (Federici 2015), sowie Cis-Heteronormativität (Butler 1991) und findet ihr Negativ im Antisemitismus (Salzborn 2010). Sie bringt eine binäre Hierarchisierung hervor und schließt über ihre Ordnungsform gewaltvoll all Jene(s) aus, die die ‚natürliche Ordnung‘ ins Wanken bringen (könnten) (Stögner 2014).
Kontinuität: Zum anderen muss die ‚natürliche Ordnung‘ auch immer wieder auf Gewaltformen zurückgreifen, um sich selbst aufrecht zu erhalten: Nicht nur Kontinuität, sondern auch Stabilisierung gelingen ihr durch einen Rückgriff auf die oben genannten Gewaltverhältnisse, die sich u.a. entlang von folgenden gewaltvollen Praktiken konstituieren: Sexualisierte Gewalt, vergeschlechtlichende Gewalt, wie die Zuweisung eines binären Geschlechts bei der Geburt, TSG/Selbstbestimmungsgesetz, Racial Capitalism, die kapitalistische Ausbeutung der Natur, ...
Kontestation: In gesellschaftlichen Krisenkonstellationen kann die ‚natürliche Ordnung‘ und die darin eingelagerten konstitutiven und kontinuierlichen Gewaltverhältnisse sichtbar(er) als brüchige Gewaltverhältnisse hervortreten. So zeigen sich Politisierungen von Gewalt durch feministische Bewegungen in der Gegenwart u.a als Kämpfe um eine fortgesetzte De-Naturalisierung, während rechte und konservative Kräfte um eine Re-Naturalisierung des Geschlechterverhältnisses bemüht sind.
Das Anliegen unseres Beitrags ist, die Beziehung zwischen der Anrufung einer ‚natürlichen Ordnung‘ und den Praktiken, Normen und Wissensformationen denen die Gewaltverhältnisse unterliegen, näher zu beleuchten. Dazu legen wir einen Fokus auf den Naturalisierungsmoment von Gewalt sowie den sich daran entzündenden Kämpfen um De- oder Re-Natualisierung der vermeintlich ‚natürlichen Ordung‘ der Geschlechter in ihrer intersektionalen Verwobenheit.
15:00 - 15:30 Uhr: Kaffeepause
Moderation: Laura Volgger
Als Autor*innenkollektiv Biwi Kefempom (Bis wir keinen Femi(ni)zid mehr politisieren müssen) möchten wir uns mit zwei Themen für die Konferenz “Materialistisch-(queer)feministische Perspektiven auf Gewalt” an der Universität Innsbruck bewerben. Bei beiden Schwerpunkten handelt es sich um Argumentationen aus dem Buch “Femi(ni)zide. Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen” (2023), die aus der Reflexion einer gemeinsamen politischen Praxis bei Claim the Space in Wien entstanden sind. Claim the Space ist eine im Sommer 2020 initiierte autonome feministische Vernetzung in Wien, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, keinen Femi(ni)zid unbeantwortet zu lassen. Biwi Kefempom sind Judith Goetz (Universität Innsbruck), Cari Maier (Goethe-Universität Frankfurt), Kyra Schmied (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien), Marcela Torres Heredia (Universität Wien)
Abstract 1:
Femi(ni)zide im Kontinuum patriarchaler Gewalt bekämpfen In Anlehnung an Verónica Gago begreifen wir den Feministischen Streik als Linse in einem analytischen Sinn, da der Streik erkennen lässt, wie bestimmte Formen der Arbeit und Wertproduktion unsichtbar gemacht werden und mit patriarchaler Gewalt zusammenhängen. Und in einem praktischen Sinn, weil sich im Streik die Weigerung ausdrückt, diese Unsichtbarkeit zu akzeptieren und “die Schranken dessen, was wir sind, was wir tun und was wir uns wünschen, zu hinterfragen und zu überwinden” (Gago 2021, 14). Die Politisierung von Femi(ni)ziden stellt dabei eine analytische und praktische Möglichkeit dar, Verbindungen zwischen den verschiedenen, isoliert erscheinenden und vielfältigen Formen von Gewalt in gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen herzustellen und sie in ihrer Verwobenheit zu bekämpfen. Dieser Möglichkeit möchten wir im Rahmen des Beitrags nachgehen. Femi(ni)zid benennt Morde, die im Kontext von binär-hierarchischen Geschlechterverhältnissen verübt werden – in Verhältnissen, in denen Gewalt als Modus der Vergesellschaftung als “Normalität” erscheint. Als politisches Konzept verweist Femi(ni)zid auf die strukturellen Gemeinsamkeiten der Taten und auf das Kontinuum von Gewalt, das Femi(ni)ziden vorausgeht und selbige ermöglicht. Es dient dazu, Gewalt in seiner gesellschaftskonstituierenden Funktion zu verstehen, die nicht nur historisch, sondern auch aktuell eine bestimmte binär-hierarchische Geschlechterordnung (mit)herstellt. 1 Um Femi(ni)zide zu stoppen, braucht es also mehr als die analytische und politische Fokussierung auf die äußerste Zuspitzung, den Mord, und damit einhergehende karzerale Forderungen (Vergès 2021). Die Sträke des Konzepts liegt darin, ausgehend von Femi(ni)ziden Kontroll- und Besitzvorstellungen in hegemonialen Beziehungsformen, familialistische Gesellschaftsorganisation, vergeschlechtlichte Arbeitsteilung und dazu gehörende heteronormative Subjektivierungsweisen zu hinterfragen. Dazu gehört die unterschiedliche Wertigkeit von Menschenleben nach rassistischen, ableistischen, transfeindlichen und antisemitischen Logiken, die dazu führen, dass Menschen weniger vor Gewalthandeln geschützt werden. Im Anschluss an Celia Amorós Puente folgen wir dem Postulat “konzeptualisieren heißt politisieren” (Amorós Puente 2008), in dem Sinne, dass wir versuchen, die Gewaltförmigkeit von aktuellen Geschlechterverhältnissen zu benennen und den Begriff so für einen politischen Kampf zu nutzen (Bejarano/Fregoso 2010, 3), ohne Gewalt und Femi(ni)zide klassistisch oder rassistisch auf ‘Andere’ zu projizieren. Wir fragen danach, wie Gewalt – als femi(ni)zidale Gewalt in einem Beziehungsgeflecht – in einem von intersektionaler Ungleichheit konstituierten Gewaltverhältnis verstanden werden kann. Wir möchten aber auch reflektieren, welche andere Konzepte es braucht, differente Erfahrungen mit Gewalt in ihrer Spezifität zu konkretisieren (wie beispielsweise durch die Etablierung des Begriffs “Transizid” oder “Femi(ni)zid-Suizid”). Innerhalb der gemeinsamen Politisierung in Wien dient uns Femi(ni)zid also als konzeptionelles Werkzeug, um Gewalt in ihren vielfältigen Erscheinungsformen zu begreifen, mit dem Ziel sie zu bekämpfen. Der kollektive Widerstand ergibt sich dann nicht per se in/aus der gemeinsamen Erfahrung der Gewalt, “sondern das Gemeinsame entsteht durch das situierte und transversale Infragestellen von Gewalt.” (Gago 2021, 42)
Abstract 2:
Emotionen im Kontext der Politisierung von Femi(ni)ziden und patriarchaler Gewalt In diesem Beitrag stellen wir uns die Frage nach der Rolle von Emotionen im Prozess der Politisierung patriarchaler Gewalt. Die Grundlage für die hier vorgestellten Überlegungen bilden die Auseinandersetzungen, Dialoge und Erfahrungen, die im Rahmen von Claim the Space entwickelt wurden. Die Reflexion in diesem Beitrag umfasst Erfahrungen in zwei verschiedenen Momenten. Der erste bezieht sich auf Diskussionen darüber, wie Repertoires des Protests in anderen geographischen und politischen Kontexten als Inspiration für den deutschsprachigen Kontext fungieren können, ohne sich diese bloß anzueignen. Dabei spielen Überlegungen zu den Besonderheiten der jeweiligen Kontexte, den historischen Traditionen, die bestimmte 2 Aktionen ermöglichen, sowie zum situierten politischen Handeln eine wesentliche Rolle. Des Weiteren stellt sich darin die Frage, wie Formen des Protests (und damit auch die Anrufung bestimmter Emotionen) in unterschiedliche Kontexte übersetzt und übertragen werden können, ohne die jeweiligen kontextuellen Besonderheiten außer Acht zu lassen. Der zweite Moment besteht in der Auseinandersetzung mit den Gefühlen innerhalb der Demonstrationen gegen Femi(ni)zide in Wien, in denen die eigenen Erfahrungen und die kollektiv erzeugten Emotionen in den Mittelpunkt verschiedener Gespräche rückten. So werden bei den verschiedenen Protestformen unterschiedliche Emotionen angerufen – laut den Aufruftexten soll bei Kundgebungen von Claim the Space Raum für gemeinsame Wut und Trauer geschaffen werden. Aus einer queer_feministischen Perspektive fragen wir, wie Emotionen auf gemeinsame und auf unterschiedliche gesellschaftliche Positionen und Betroffenheiten innerhalb gewaltvoller Strukturen aufmerksam machen können bzw. welche Emotionen dadurch hervorgerufen werden können. Ausgehend von der gemeinsamen Reflexion der politischen Praxen stellen wir uns folgende Leitfragen, um die Rolle von Emotionen bei kollektiven Aktionen und den gemeinsamen feministischen Praxen im Beitrag zu analysieren: Welche Rolle spielen diese Emotionen in den Prozessen des politischen (Nicht-)Handelns? Kanalisieren Emotionen immer soziale Prozesse? Welche Art von Gefühlen bewegen oder fördern kollektive Aktionen – welche Emotionen, neben Trauer und Wut, werden noch angerufen und was bringen diese in Folge hervor? Wie werden diese Emotionen in den verschiedenen sozialen Kontexten, in denen Femi(ni)zide politisiert werden, aktiviert? Welche Rolle spielen diese Emotionen im Prozess der kollektiven Konstruktion des Protests selbst? Welchen Einfluss hat das Protestrepertoire auf die Emotionen im kollektiven Prozess der Politisierung? Wie können die Strategien zur Einnahme des öffentlichen Raums sowohl auf die Strukturen sowie auf unterschiedliche Positionen und Betroffenheiten aufmerksam machen? Was heißt es, eine politische Praxis gemeinsam zu tragen? Gerade vor dem Hintergrund, dass die Proteste im letzten Jahr zurückgingen, stellen sich zudem auch Fragen nach dem Verhältnis verschiedener Emotions- und Affektpolitiken zu einem von neoliberalen Logiken durchzogenen Aktivismusalltag. Einige dieser Überlegungen finden sich bereits im Buch, doch da die Rolle von Emotionen immer mehr Raum in unseren Überlegungen zur aktuellen Praxis einnimmt, würden wir diese auf der Tagung gerne kollektiver diskutieren.
Abstract:
“Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu” (Karl Marx, Pariser Manuskripte)
Stephanie Graf (Institut f. Philosophie, UIBK)
Ciudad Juárez, Mexico, hatte in den 90er Jahren traurige Bekanntheit durch die “ersten” Feminicidios erlangt. Massenhaft waren Frauenleichen in der Wüste aufgetaucht, einzelne mal, mal zu mehreren, mal zu dutzenden. Jahrzehnte später ist der Begriff Feminizid in aller Munde, doch das Morden hat immer noch kein Ende genommen. Es hat mit der Grenze zu tun, auf vielerlei Weise: in der dort angesiedelten Maquila-Industrie arbeiten junge Frauen aus der ganzen Republik und aus Zentralamerikas, atomisiert und ohne familären Schutz. Ausserdem handelt es sich um eine Schlüsselregion für die Unternehmen des Narcotráfico, die ein kulturelles Milieu und ein Geschlechterregime fomentieren, in der eine Kommunikationsform möglich ist, die wir lieber nur aus Horrorfilmen kennen würden. Frauenleichen wurden in Fällen als Narcomensaje fabriziert, um eine Botschaft auszusenden - an konkurrierende Unternehmen, an die Regierung, die Zivilbevoelkerung. Haarsträubend liest sich vor diesem Hintergrund Walter Benjamins Beobachtung zum Barocktheater: “die Allegorisierung der Physis kann nur an der Leiche sich energisch durchsetzen”. Um Bedeutungen in Gegenstände legen zu koennen, braucht es totes Material. So produziert die Dichtung Ruinen, Scherben, Leichenteile, entwürdigt ihren Gegenstand. Die barocken Allegoriker töten, wie die mexikanischen Narcos, um der Leiche willen. Während es dem barocken Allegoriker um Rettung zu tun war – denn die menschliche Physis wurde als schuldbeladen wahrgenommen, geht es dem Feminicida um bloße Kommunikation. Sie teilen aber die vampirische Überzeugung, das Leben der Frau habe keine nennenswerte Bedeutung und halten ihrer Leiche als ihrem “Dingsein die Treue”. Wie können ihre toten Körper anders gelesen werden, ihrem Leben und dessen Bedeutung gerecht werden, doch ohne den positiven Anspruch, ihre ” fixierte und schriftgemäße Bedeutung aufzulesen”? Das vorliegende Paper versucht eine Lesart mit Walter Benjamin, doch gegen die barocke Allegorie.
Abstract:
Gewalt ist eine Form der Gouvernementalität. 28.000 weiblich gelesene Körper, die in Mexiko 2023 verschwunden sind. Eine Zahl, die gleichermaßen beliebig wie konkret ist. La desaparición als Technik politischer Gewalt, wird als das systematische Verschwindenlassen von Personen und/oder Bewegungen von Staatsseite verstanden. Dabei lässt sich das Spezifikum jener Gewalt darin explizit machen, dass der Tod per se nicht das unmittelbare Ziel dieser Technik ist, sondern gerade ebene jene Ohnmacht der Unwissenheit der nicht auffindbaren Körper. Eine Analyse der desaparición scheint schier unmöglich, wenn davon ausgegangen werden muss, dass der sogenannte moderne Staat ausschließlich mit und in Zahlen wie Registrationen denkt und handelt (z. B. Geburtsurkunde, Wohnort, Personalausweis, d. h. wer gilt als politisch anerkanntes Subjekt). Weiblich gelesene Körper werden Opfer dieser Gräueltaten, doch ohne Leiche, ohne diese Körper, gleitet das Recht in einen Limbus, welcher die Notlage und den Schmerz der betroffenen Personen nahezu vernichtet. Camilo Vicente Ovalle schreibt in seinem Artikel Política de contrainsurgencia y desaparición forzada en México en la década de 1970, dass der Staat einer Verschwindenlassen-Maschine gleicht und warnt im selben Augenblick davor, dass die Gefahr der Metapher darin liegt, dass sie die konkrete Materialität und damit die Bedeutung des Ergebnisses, ergo des Begriffes entlädt. Das Phänomen – wobei es zu klären gilt, ob es sich um ein Phänomen oder um ein Konzept handelt – der desaparición hat eine Geschichte. Die Madres de Plaza de Mayo (Mütter des Platzes der Mairevolution) in Argentinien legten den Grundstein für das Sichtbarmachen dieser expliziten politischen Aggression und den damit gewonnenen Begriff. Hervorgehend aus diesen Überlegungen werde ich mich aus einer feministischen-materialistischen Perspektive in dem Vortrag folgender Fragen nähern: Wie kann über das gewaltsame Verschwindenlassen im Nationalstaat Mexiko gesprochen werden, ohne den Begriff las desaparecidas (die verschwundenen weiblich gelesenen Körper) zu entleeren, d.h. weder dem Begriff seine Erinnerung zu rauben noch die Geschichte zur Natur werden zu lassen (Barthes, 2012)? Um die Historie des beschriebenen partikulären Schmerzes zu erinnern und zu politisieren, darf Erinnerung nicht als Identitätsdiskurs geführt werden, sondern ausschließlich negativ. Die Unvollständigkeit des Begriffes wird zur notwendigen Bedingung dieser kritischen Reflexion.
17:00 - 18:00 Uhr: Buffet
Freitag, 6. Dezember 2024
ab 9:30 Ankommen
Moderation: Ana María Miranda Mora
Abstract:
Spätestens seit der zweiten Welle der Frauenbewegung gilt der Leitspruch des Feminismus: „Das Private ist politisch!“. Damit kritisieren Feministinnen die Annahme, dass Unterdrückungsverhältnisse im häuslichen Bereich, wie Vergewältigung in der Ehe und familiäre Gewalt, außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Staates liegen sollten. Der Staat fokussiert sich traditionell auf die Regulierung der Angelegenheiten zwischen vermeintlich freien und gleichen, voneinander unabhängigen männlichen Bürgern und vernachlässigt die asymmetrischen Machtverhältnisse in der Familie. Zusätzlich lehnen sich Feministinnen gegen die sexistisch geprägte, moralisierende Trennung von Privatem und Öffentlichem auf. Diese Trennung konstruiert Frauen als schutzbedürftige Wesen, die vor der „harten Realität der öffentlichen Welt“ bewahrt werden müssen, was zu ihrer Exklusion führt. Durch die Herausforderung dieser im Patriarchat verankerten Trennung konnte der Feminismus zentrale Erfolge erzielen. Neuere intersektionale, rassismuskritische Analysen offenbaren jedoch eine zentrale Lücke im gängigen Narrativ: die Notwendigkeit der Befreiung von Frauen aus dem häuslichen Bereich berücksichtigt nicht die kolonial-rassistischen und klassistischen Wurzeln der patriarchalen Gesellschaft. Schwarze Feministinnen wie Angela Davis (2019) argumentieren, dass Sklavinnen durch die Verweigerung des Rechts auf Privatsphäre und Familie systematisch entmenschlicht wurden – eine Erfahrung, die sich stark von jener weißer Mittelschichtsfrauen unterscheidet. Cienfuegos Martínez (2024) zeigt, wie öffentliche Lynchmorde zur Normalisierung von Gewalt gegen Schwarze und zur Akzeptanz ihrer systematischen Unterdrückung beitrugen. Dieser Prozess, den Cienfuegos Martinez als die Verwandlung des schwarzen, vergeschlechtlichten Körpers in einen „Leib“ beschreibt, ist tief in der rassistisch kapitalistischen Gesellschaft verankert. Der Staat, der sich als Garant für die Grundrechte aller Menschen präsentiert, macht nicht-weiße Menschen zu legitimen Opfern staatlicher Gewalt. Die heutige polizeiliche Gewalt gegen Schwarze ist daher als Fortsetzung der kolonialistischen Machtausübung zu verstehen. Vor diesem Hintergrund entwickelten schwarze Feministinnen eine positivere Sicht auf die Familie, die sie als Widerstandsterrain sehen, welches zentrale menschliche Erfahrungen wie Liebe und Intimität frei von Gewalt und Ausbeutung ermöglicht (Ackelsberg und Shanley 2018; Davis 2019). Dieser Beitrag versucht, die Trennung von privatem und politischem Bereich als zentrales Organisationsprinzip der rassistisch-sexistisch-kapitalistischen Gesellschaft aus einer intersektionalen Perspektive zu theoretisieren und Anschlusspunkte für eine emanzipatorische, intersektionale Rekonstruktion dieser Sphären sowie der Institution Familie herauszuarbeiten.
Abstract:
Im Rahmen der Tagung möchte ich zum ersten Mal einige Forschungshypothesen meines Habilitationsprojekts vorstellen und diskutieren. Mit Blick auf das aktuelle neo-faschistische Klima in Italien sind Gegenbewegungen zu verzeichnen, in denen sich ökofeministische, menschenrechtliche und anarchoqueere Ansätze begegnen und in politischen Kämpfen solidarisch verbinden. Entlang des Nexus Arbeit, Schutz und Care möchte ich nachvollziehen, wie in diesen Kämpfen ökonomische gerechtigkeit und Umverteilung verhandelt werden und wie sich diese mit Kämpfen für körperliche Unversehrtheit und geschlechtliche Selbstbestimmung verbinden. Recht auf Arbeit, auf Safety/Schutz und Care in queeren, nichtdyadischen Kämpfen zu erforschen, bedeutet für mich zum einen, sich mit der Feminisierung und Sexualisierung von Arbeit in mehrfach-Perspektive zu befassen, und zum anderen, nach Möglichkeiten einer Geschichtsschreibung zu suchen, die auf transformative Schwerpunkte setzt. Mich interessiert insbesondere die Frage, welche Konditionen und Möglichkeitsräume für eine queerpolitische transformative Praxis vorhanden sind, also wie diese Praxis in spätkapitalistischen Regimen für queere Arbeiter*innen, als Überlebende von sozialer und medizinischer Gewalt und als Arbeitende, die an ihrem Arbeitsplatz Diskriminierungen und Lebensgefahren ausgesetzt sind, aussieht. Ausgehend von einer Nekropolitik gegenüber queeren Arbeiter_innenkörpern versuche ich in meinem Beitrag zunächst, den neomaterialistischen Begriff des Embodiment in ein “Embodidied-ment” zu übersetzen. Mit dem Einschub „Died“ in Embodi-died-ment, wie ich ihn entwickeln möchte, versuche ich von einer kollektiven queer*inter*feministischen Erfahrung zu sprechen, die darin besteht, den eigenen Körper durch soziale, politische und/oder medizinische Gewalt ‘zu verlieren’, von einer Gewalt also, die diese Körper langsam sterben lässt. Ein theoretischer Anknüpfungspunkt ist dabei Laurent Berlants Konzept des “Slow Death” (2011), der ein langsames Abnutzen („wearing out“) und Verwertet-Werden des Lebens beschreibt sowie dessen Weiterbearbeitung im transmarxistischen Sinne (vgl. Raha 2017). Dieses aktive ‘Lassen’ bezieht sich auf die Enteignung des Rechts auf eine körperlich unversehrte Verfassung, auf Consent, aber auch auf gerechte Arbeitsverhältnisse, auf gesundheitliche Versorgung und Schutz. In den hier verhandelten nekropolitischen Konfliktfeldern tritt eine Ontologie des Überlebens zum Vorschein, die es nahelegt, in ihrem transformativen Potenzial beforscht zu werden. Durch Ansätze aus dem Forschungsfeld der queeren Temporalität (insbesondere via Elizabeth Freeman) möchte ich eine solche nekropolitische Zeitlichkeit als Form von heteronormativierender Gewalt weiterdenken und hierbei auch Möglichkeiten des „Entgehens“, die embodied sind, reflektieren.
Abstract:
Dieser Beitrag folgt der Intension queer-feministische und rassismuskritische Ansätze aus materialistischer Perspektive in Bezug auf Gewalt gegen trans* und nicht-binäre Menschen weiterzudenken und hierbei Kontinuitäten und Reartikulationen vergeschlechtlichter Gewalt zu betrachten, die (körperliche) Selbstbestimmung zentrieren. Grundlegend ist Frage, was als Gewalt gilt, welche Gewalt gegen welche gegen trans* und nicht-binären Menschen thematisiert und anerkannt wird, und welche Gewaltformen und -praktiken in gegenwärtigen Gesellschaftsformen so normalisiert und systemisch verankert sind, dass sie ausgeblendet und in ihrer Gewaltförmigkeit verkannt werden. Geht es bei Gewalt ausschließlich um zwischenmenschliche körperliche Angriffe auf Einzelpersonen? Ein großer Teil der eurozentrischen Gewaltforschung scheint diese Frage mit Begriffen wie ‚Transphobie‘ und ‚Hasskriminalität‘ zu bejahen.
Entgegen dessen möchte ich die von Federici (2009) angeführten Dimensionen: „Gewalt als Ausbeutung, Gewalt als Zurichtung von Körpern, Gewalt als Verhinderung von Selbstbestimmung, Gewalt als physische Kontrolle, Gewalt als Disziplinierung, Gewalt als Verweigerung von Vielfalt“ im Kontext von Gewalt gegen gegen trans* und nicht-binäre Menschen erörtern und dabei die Materialität von trans* Körpern einbeziehen. Ich schlage vor Dimensionen der normativen (Butler 2004) und epistemischen Gewalt (Spivak 1988) sowie der ökomomischen als auch physischen Gewalt, die sich gegen und an trans* Körper richten, als Materialisierungen von verwehrter (körperlicher) Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe zu betrachten. Die (neoliberale) Individualisierung und Reduktion von Gewalt blendet aus, dass vergeschlechtlichte Gewalt erstens normativ-institutionell verankert ist und sich zweitens intersektional verstärkt (Fütty 2019), oft rassifiziert und ökonomisiert ist, und sich besonders stark gegen prekarisierte queere, trans* und nicht-binären BIPoCs communities richtet (Haritaworn 2011, Snorton/Haritaworn 2013). Die verstärkte Gewaltexponierung durch rassistische, kapitalistische und heteronormative Gewalt materialisiert sich besonders deutlich darin, dass die Mehrheit der registrierten Morde an trans* Menschen weltweit, aber auch in westlichen Industrienländern, an (migrantischen) trans*weiblichen Personen und Sexarbeiter_innen (of Color) (62-75%) und generell an trans* of Color begangen wird (Fedorko/Berredo 2017, 6). Gewalt gegen trans* Menschen materalisiert sich folglich trotz veränderter rechtlicher Anerkennung weiterhin in ungleichen Lebenschancen innerhalb intersektional ver- und unterwerfenden Machtverhältnissen (Wilson-Gilmore 2007), aufgrund ihrer hegemonialen Wissensformen, institutionalisierten Praktiken, gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen für Teilhabe. Das Thema der reduzierten Teilhabe- und Lebenschancen aufgrund materieller Zwänge betrifft für viele prekarisierte trans* Menschen nicht nur reduzierte Chancen im endo-cis-zweigeschlechtlichen Bildungssystem und Arbeitsmarkt (Fütty et al 2020), sondern auch die Bereiche trans-Gesundheitsversorgung, care work und Wohnraum, die größtenteils selbstorganisiert stattfinden müssen, um partielle körperliche und geschlechtliche Selbstbestimmung zu erlangen.
Im Kontext von Konjunkturen von Gewalt hat gleichfalls die Mobilisierung von unterschiedlichen Formen (verwerfender) Gewalt gegen trans* Menschen in den letzten Jahren in Europa eine neue Dimension erreicht durch eine international agierende Querfront von rechtsextremen, rechtspopulistischen, und -konservativen antigenderistischen sowie differenzfeministischen Akteur:innen. In Deutschland vor allem im Kontext des Selbstbestimmungsgesetzes, dessen Verabschiedung mehrmals verschoben wurde. Hierfür ist eine kontrafaktische diskursive Kopplung des Selbstbestimmungsgesetzes mit der Vergabe von Hormonblockern und Hormonersatztherapie an Kinder und Jugendliche besonders effektiv, obwohl es im Gesetz lediglich um die vereinfachte rechtliche Anerkennung von Namen und Personenstand geht und damit kein Anspruch auf trans* Gesundheitsversorgung einhergeht. Auch diese Ökonomisierung von Gewalt als politisches Kapital materialisiert sich in der Verwerfung von trans* Menschen und ihren Körpern, u.a. auch durch eine Zunahme verbaler und körperlicher Gewalt.
12:00 - 14:00 Uhr: Mittagspause
Moderation: Henrike Bloemen
Abstract:
In den letzten Jahrzehnten ging der Aufschwung feministischer Bewegungen und Politiken mit verstärkten Bemühungen einher, die Rechte von Frauen und LGBTQ+ einzuschränken oder zu untergraben. Der antifeministische Backlash ist Teil eines breiten Netzwerks (neo- )konservativer Diskurse und Praktiken, die sich aus Frauenfeindlichkeit, Sexismus und Chauvinismus speisen. Er lässt sich jedoch nicht auf eines dieser Phänomene reduzieren. Antifeminismus ist ein Bündel von Überzeugungen, Praktiken, Diskursen, Handlungen und Subjektivität, die Mobilisierungen und Angriffe gegen feministische Agenden zum Nachteil der Rechte von Frauen und LGBTQI+ fördern. Geschlechtsspezifische Gewalt hat in den Medien, in politischen Diskursen und in der feministischen Wissenschaft in Europa zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen. Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen haben gezeigt, dass sie auch in westlichen Gesellschaften vorkommt und von Bedeutung ist - im Gegensatz zu früheren Auffassungen, die dieses Phänomen nur im globalen Süden für relevant hielten. Gleichzeitig weisen postkolonial-queer-feministische WissenschaftlerInnen und AktivistInnen auf die Bewaffnung sexueller Gewalt durch geschlechter- und frauenfeindliche Diskurse und Bewegungen hin und analysieren sie, um Migrantengemeinschaften und postkoloniale Gesellschaften als von Natur aus gewalttätig und frauenfeindlich zu stigmatisieren. In diesem Sinne werden Migrantinnen und Frauen aus der Dritten Welt als „hilflose Opfer“ ihrer Kulturen und Gesellschaften konstruiert, um „westliche“ Rettungsnarrative zu rechtfertigen. Vor diesem Hintergrund analysiert der Beitrag die Instrumentalisierung des Frauenrechtsdiskurses durch rechte Politiken und Mobilisierungen. Insbesondere geht es um die Frage, ob und wie die Instrumentalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt rassistische und hierarchische Geschlechterstrukturen in Deutschland verfestigt.
Abstract:
„2018 will be the year of families”, erklärte Viktor Orbán (2017) beim internationalen demografischen Forum im Rahmen des antifeministischen Netzwerks gegen Abtreibung: „World Congress of Families“ in Budapest. Mit der Regierungsübernahme von Fidesz 2010 schreitet der autoritäre Staatsumbau in Ungarn voran, im Jahr 2012 konstitutionell abgesichert mit dem Erlass einer neuen, formal rechtsstaatlichen, aber autoritär unterhöhlten Verfassung. Seither steht Demografiepolitik, getarnt als Familienpolitik, im Fokus von Orbáns Rhetorik; immer in Zusammenhang mit Antifeminismus, Queerfeindlichkeit, Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus (Marsovszky 2015). Diese Entwicklungen zeigen Parallelen auf, die wir in anderen neurechten Bewegungen und sich daraus formierenden Staatsprojekten in Österreich, den USA, der Türkei oder Polen ebenfalls beobachten. Wir analysieren dies am exemplarischen Beispiel Ungarns als Prozessierung multipler gesellschaftlicher Krisenprozesse: ungelöste Widersprüche kapitalistischer und neoliberaler Vergesellschaftung produzieren eine gesellschaftliche Situation, die autoritäre Akteur*innen für sich nutzen und an die sie anknüpfen können. Daraus ergibt sich die unsere Arbeit leitende Fragestellung, wie Geschlechterverhältnisse im ungarischen Autoritarismus vor dem Hintergrund völkischer demografiepolitischer Interessen in der Verfassung restrukturiert werden. Wir arbeiten mit einer feministisch-materialistischen Theorieperspektive auf autoritäre Zugriffe auf Verfassung. Damit verstehen wir Gesellschaft als Verknotung vielfältiger Herrschaftsverhältnisse (Buckel 2015) und das Geschlechterverhältnis darin zentral. Diese Herrschaftsverhältnisse verdichten sich über Kämpfe um Kräfteverhältnisse in Staat und Verfassung (Poulantzas 2002). Mit der methodischen Triangulation von Historisch-Materialistischer Politikanalyse (Buckel et al. 2014) und dem diskursanalytischen Verfassungsaudit (Röhner 2019) verfolgen wir das Ziel, historischstrukturelle Bezugspunkte herauszuarbeiten, anhand derer wir die Restrukturierung des Geschlechterverhältnisses im Verfassungstext entschlüsseln können. Wir argumentieren, dass der autoritäre Staatsumbau in Ungarn sowohl an im neoliberalen Kapitalismus vorhandene Strukturen von Autoritarisierung und ihr inhärenter struktureller Maskulinisierung anknüpft, als auch an im Geschlechterverhältnis angelegte konservative und repressive Strukturen, wie Geschlechterbinarität, Heteronormativität, vergeschlechtlichte Arbeitsteilung und Misogynie und diese völkisch zuspitzt. Dies mündet in einer über die Verfassung abgesicherten hegemonialen Existenzweise, die relational konkrete Exklusion und Verfolgung für alle, die von dieser Norm abweichen, bedeutet. Sie beruht auf einer demografiepolitisch motivierten Verwebung von Nation und Familie - der Fortbestand der ethnisierten Nation wird über die heteronormative und völkisch als "rein" konstruierte Familie gesichert.
Abstract:
Als das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland 2023 die Leitlinie einer von Annalena Baerbock geförderten „feministischen Außenpolitik“ präsentierte, waren bereits die ersten der 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr in europäische Rüstungskonzerne geflossen. Auch das österreichische Bundesheer erfreut sich seit dem Angriff der russischen Föderation auf die Ukraine nicht nur einer massiven Budgeterhöhung, sondern auch eines neuen Mottos: Von „Schutz und Hilfe“ hat sich die Regierung der neutralen Republik auf die von Klaudia Tanner verkörperte „Mission vorwärts“ eingeschworen. Europäische Politiker*innen fast aller Couleurs sprechen seither vom Krieg als neuer Selbstverständlichkeit, während sie weiterhin ein genuin gewaltaverses, zivilisatorisch überlegenes, demokratisches und vor allem in Geschlechterfragen fortschrittliches „Friedensprojekt“ Europa beschwören. Vor diesem Hintergrund möchte ich zwei in ihrer zeitlichen und theoretischen Genese sehr unterschiedliche feministische und zugleich antimilitaristische Perspektiven auf KRIEG zusammenführen, die beide in einem deutlichen „Nein zum Krieg!“ resultieren. Von beiden wird diese Position nicht nur als theoretische Reflexion, sondern auch als politische Notwendigkeit artikuliert: Meinen Ausgangspunkt bilden Judith Butlers Positionen zu Krieg und Gewalt(losigkeit), die sie in den letzten beiden Jahrzehnten insbesondere entlang ihrer Kritik am US-amerikanisch geführten „Krieg gegen den Terrorismus“ sowie an der israelischen Besatzungspolitik formuliert hat. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Diskreditierung der berühmten Philosophin ist ihr Werk von besonderem Interesse. Ihre Theoretisierung von und Kritik an Krieg als massivstem und unmittelbarstem Ausdruck von komplexen multidimensionalen Gewaltverhältnissen möchte ich einer signifikant anderen feministischen Wissen(schaft- )stradition gegenüberstellen: Auszügen aus dem sozialwissenschaftlichen Werk von Maria Mies und Vandana Shiva sowie der (post-)marxistischen Historikerin Silvia Federici. Deren frühe intersektionale Theoretisierung von und Kritik an Krieg als Ausdrucksform und Verdichtung von Kapitalismus, Kolonialismus, Militarismus, Patriarchat und Nationalismus erinnert uns unmissverständlich an die grundlegende Bedeutung von Krieg nach innen und nach außen, für die das Geschlechterverhältnis konstitutiv ist und umgekehrt. WORK IN PROGRESS Stand 10/24 CLAUDIA BRUNNER (Queer-)feministische und materialistische Perspektiven auf Krieg als gewissermaßen „ultimative“ Gewalt im (geo-)politischen Verhältnis wie im privaten Nahraum werden aus aktuellem Anlass einer (vielleicht gar nicht so) neuen Normalität des Krieges miteinander in Kommunikation gebracht.
15:30 - 16:00 Uhr: Kaffeepause
Moderation: Syntia Hasenöhr
Abstract:
Carol Thomas, im Jahr 2022 verstorbene britische Soziologieprofessorin und Vorreiterin materialistischer Disability Studies, hat 2019 in einem Artikel darauf hingewiesen, dass der internationale Aufstieg der Rechten einhergeht mit einer Aushöhlung des Sozialstaates, mit weitgreifender Exklusion und mit „hate crimes” gegen Menschen mit Beeinträchtigungen. Mit anderen Worten, so schreibt sie, wird „disabalism” (sic) in der „gegenwärtigen Ära einer erstarkenden extremen Rechten“ stetig weitgreifender und verändert seine Form (Thomas 2019). Eine solche Bezugnahme auf das Thema extreme Rechte und „hate crimes“ ist sowohl in den Disability Studies, in der Rechtsextremismusforschung und in der Gewaltforschung ungewöhnlich.
Diese dreifache Lücke nimmt der Beitrag als Ausgangspunkt und fragt zentral danach, welche Potentiale und Grenzen sich für eine Analyse von extrem rechter Gewalt gegen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen aus einer materialistischen Perspektive ergeben.
Lässt sich damit auch das (Aus)Schweigen über (extrem rechte) Gewalt, die Menschen mit Beeinträchtigungen in der Öffentlichkeit (Tronto 2016) widerfährt, das rudimentäre doing memory (z.B. Thomas/Virchow 2022) und die mangelnde bundesdeutsch-staatliche Anerkennung von Todesopfern (besser) verstehen?
Dazu blicken wir analytisch-kursorisch auf aktuelle und zeitgeschichtliche Vorfälle ableistischer rechter Gewalt seit den 1990er Jahren und arbeiten erste Spezifika heraus.
Der Beitrag basiert auf folgenden drei Prämissen:
_Das zugrundeliegende Feminismus-Verständnis ist transformativ (List 1989) und intersektional (z.B. Gummich 2015).
_ Im Kapitalismus werden an alle Subjekte Anforderungen an Arbeits- und Leistungsfähigkeit gestellt (Maskos 2022).
_Medien-Berichte zeigen, dass es auch nach 1945 extrem rechte Gewalt gegen Menschen mit Beeinträchtigung gab und bis heute gibt.
Das materialistische Gewalt-Verständnis entwickeln wir ausgehend von der Relevanz von Ableism im rechtsextremen Weltbild:
In der Rechtsextremismusforschung ist es, gleichwohl ohne vertiefende Analyse, weitgehend Konsens, Behindertenfeindlichkeit als integralen Bestandteil extrem rechter Ideologie zu verstehen (z.B. Virchow 2016). Die These unserer explorativen Überlegungen lautet, dass Behindertenfeindlichkeit auch in der Gegenwart dazu genutzt wird, um die biopolitische Konstruktion eines ‚reinen‘ und ‚gesunden‘ Volkskörpers zu unterstützen. Dabei wird die rechtsextreme ‚Volksgemeinschaft‘ historisch wie aktuell ökonomistisch gedacht und u. a. an ‚Leistungsfähigkeit‘ gekoppelt. Für eine genauere Inspektion beziehen wir uns auf den analytischen Ansatz des „Produktivismus“ der extremen Rechten (Berlet/Lyons 2000; Virchow 2023) und nehmen den instruktiven Beitrag des Kriminologen Ezzat A. Fattah (2002) über die Kategorie der „gesellschaftlich Überflüssigen“ bzw. „Entbehrlichen“ hinzu. Diese Perspektiven bringen wir in einen Dialog mit „eugenischem“ / “rassenhygienischem“ Denken aus der Weimarer Republik. Hier sehen wir die zentrale historische Wurzel ökonomistischer Legitimationsfiguren von extrem rechter Gewalt gegen Menschen mit kognitiver Behinderung.
Weiterhin werfen wir Fragen zur Intersektion von Disability und Geschlecht auf, zum gesellschaftlichen Schweigen sowie zum Ausbleibenden „doing memory“ in postfaschistischer Gesellschaft.
Abstract:
In meiner Forschung beschäftige ich mich mit der alltäglichen Lebensführung von Müttern, die in Fabriken, häufig als Leiharbeiterinnen, lohnarbeiten. Konkret untersuche ich Aushandlungen zwischen der Produktions- und Reproduktionssphäre auf Grundlage von Interviews sowie teilnehmender Beobachtungen in Produktionsstätten, die ich zwischen 2021 und 2024 im österreichischen Bundesland Steiermark durchführte. 1 Ohne konkret danach zu fragen, wurde in den Gesprächen und Interviews von verschiedenen Gewalterfahrungen2 erzählt bzw. am Arbeitsort (also unter Kolleg:innen in der Fabrik) darüber gesprochen. In meinem Vortrag möchte ich zunächst herausarbeiten, wie über das Erfahrene berichtet wird: Narrationsanalytisch werde ich einen im Feld dominanten Erzählmodus beleuchten, der zwischen Indifferenz und Resignation oszilliert – eine, so meine These, klassenspezifische Strategie des Nichtschweigens. Daran anschliessend werde ich darauf eingehen, wie mir neben der Solidarität mit anderen Gewalterfahrenen auch eine Art negative Solidarität (oder gar Mittäter:innenschaft) im Feld begegnete: So bestanden etwa das Teilen von eigenen Gewalterfahrungen und das Anteilnehmen daran neben dem Rechtfertigen bis hin zu Gutheißen von Gewalt, die andere Frauen* erfahren. Als weiteren Punkt werde ich zeigen, wie Projektionen von eigenen (staatlichen sowie privaten) Gewalterfahrungen und Ungerechtigkeitserfahrungen auf das «(muslimisch-)migrantische Andere» stattfinden, indem etwa bei Fragen um Gleichberechtigung auf die Bedrohung einer vermeintlich gleichberechtigten Ordnung durch ein gesellschaftliches Außen verwiesen wird, während die eigenen Erfahrungen nicht als strukturell und politisch anerkannt werden. Insbesondere mit den genannten Aspekten der negativen Solidarität und der Projektion ergeben sich methodische Schwierigkeiten, die ich zur Diskussion stellen möchte: Wie verhält man sich als forschende Person, wenn Gewalt im Feld (teils von selbst Gewaltbetroffenen) gerechtfertigt wird? Wie geht man mit Projektionen um, die in rassistischen Äußerungen münden? Eine dialektische Solidarität3 mit den Personen im Forschungsfeld könnte eine mögliche Strategie sein.
Abstract:
Gewalt zeigt sich in verschiedener Gestalt. Sie kann im sozialen Nahraum stattfinden, aber auch in Institutionen. Sie findet unter Bedingungen des Krieges aber auch des sogenannten Friedens statt. Immer aber und darauf fokussiert auch der vorliegende Beitrag kommt ihr eine spezifische Funktionalität im bestehenden Herrschafts- und Machtgefüge zu: „Gewalt ist nicht das einzige aber ein gewichtiges Instrument der Herrschaftsinitiierung, -durchsetzung und -sicherung. (...) Die Effekte der Gewalt in den Individuen korrespondieren zumeist mit den Wirkungen, die ihre Anwender beabsichtigen (...)Die individuellen Auswirkungen sind vielfältig von den gesellschaftlichen, kontextuellen und biografischen Vorrausetzungen abhängig, nie aber verfehlt die Ausübung von Gewalt ihre Intention der Zurichtung ganz“ (Ralser 2001): der Zurichtung der Körper aber auch darüber hinaus. Eine dieser Wirkungen ist das Verschweigen. Auch dieses kann sich auf den privaten ebenso wie auf den öffentlichen Raum beziehen, auf gegenwärtige ebenso wie auf vergangene Ereignisse, auf individuelle wie kollektive Gewalterfahrungen. Alleida Assman nennt diese Form des Verschweigens „komplizitäres Vergessen“ (Assman 2016). Es korrespondiert mit gesellschaftlichen Tabus, es amalgamiert das strategische Schweigen der Tatverantwortlichen mit dem symptomatischen der zu Opfern von Gewalt Gewordenen und rechnet mit einer unaufmerksamen, abwehrenden oder auch mit einer den Tatverantwortlichen strukturell und komplizitär verbundenen (politischen) Öffentlichkeit. Die Geschichten und Erinnerungen zahlreicher (Opfer-)Gruppen erfuhren so lange Zeit kein Gehör und keinen „Gedächtnisrahmen“ (Halbwachs 1925), der sie barg. Hier nun setzt der vorliegende Beitrag ein. Zu Grunde liegen ihm unsere Forschungen zur Geschichte der Heim- und Heilerziehung in den staatlichen Fürsorgeerziehungseinrichtungen der Nachkriegsjahrzehnte (Ralser et al. 2017) und zu den Lebensgeschichten von Kindern des Krieges, hier der Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich (Guerrini 2022). So unterschiedlich ihre Geschichten auch sind, so sehr machten doch beide Gruppen die Erfahrung, dass ihre Familien unter Verdacht standen, nicht ausreichend zuverlässige Gesellschaftsmitglieder hervorzubringen, als dysfunktional zu gelten oder sonst wie nicht den normativen Bildern von Geschlechterbeziehung, Elternschaft und gelingender (bürgerlicher) Kindheit zu entsprechen. Diese sozial und symbolisch marginalisierte Position erschwerte lange Zeit das Aussprechen und Anerkennen der ihnen widerfahrenen Gewalt und Missachtung. Das gilt auch für die Forschung. Erst seit etwa 15 bis 20 Jahren, also vergleichsweise spät, kommt den beiden Feldern (Children in State Care & Children born of War) eine umfassendere, öffentliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu. Die Anlässe und Kämpfe, das Schweigen zu beenden, sind zwar unterschiedlich, in beiden Fällen aber korrespondieren die epistemische Ignoranz und das epistemische Vergessen mit den individuellen Erfahrungen des Ver-/Schweigens: Über Erlebtes nicht (mehr)zu sprechen rührt von direkten oder indirekten Aufforderungen, nicht zu sprechen oder nachzufragen, von der Verweigerung von Antwort und Auskunft auf der einen und mangelndem Gehör auf der anderen Seite, von der Unterstellungen der Lüge oder auch von Zuschreibungen von Mitschuld und aus Gefühlen der Scham. „Dann habe ich auch nichts mehr gesagt. (…) Ja, wenn man Angst gehabt hat, dass keiner zuhört (und es) wird einem eh nicht geglaubt“, so eine der Zeitzeuginnen und eine andere: „Dann hat es immer geheißen, frag da nicht weiter, das ist irgendwas von früher (…) dann habe ich nicht mehr weiter gefragt, da war für mich einfach Schluss. Aus“. Materiale Basis dieses Beitrags sind biografische Interviews (Schütze 1983), die mit Nachkommen alliierter Soldaten sowie mit Menschen, die in ihrer Kindheit oder Jugend in Erziehungsheimen untergebracht waren, geführt wurden. Zunächst sollen Erfahrungen des Ver-/Schweigens samt ihren konkreten Bedingungen und Folgen rekonstruiert werden. Schweigen fassen wir dabei nicht „als individuelle Verhaltensweise der Nicht-Kommunikation“, sondern als soziale Praktik, die sich häufig „keineswegs als eindeutiges Verschweigen im Sinne eines laut- und wortlosen Tuns“, sondern gerade im Sprechen äußert (Kessl/Lorenz 2015; vgl. auch Guerrini 2020). Zu fragen ist daher stets auch nach den familialen, institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen von Sprechen und Schweigen, von Erinnern und Vergessen und nach den ungleichen Positionierungen der Akteurinnen in Klassen-, Geschlechter- und Generationenverhältnissen. Schließlich ist der Anteil der Wissenschaften am komplizitären Vergessen zu reflektieren.
ab 19:00: Gemeinsames Abendessen für alle Panelist*innen
Samstag, 7. Dezember 2024
Moderation: Claudia Brunner
Abstract:
In meinem Vortrag würde ich Überlegungen anstellen, die von meiner eigenen Erfahrung ausgehen, als Kind sexuell missbraucht worden zu sein. Dass ich so vorgehe anstatt etwa Daten zu Erfahrungen anderer Betroffener zu ‘erheben’ oder mich auf diese zu beziehen – oder auch auf kollektiv geteilte Erfahrungen – liegt in der Natur des Themas, über das ich Überlegungen anstelle und ergibt sich insofern aus deren Gegenstand: einem Scheitern daran, Teil kollektiven politischen Widerstands zu werden vor dem Hintergrund der systematisch isolierenden Effekte der familiären Diskursivierung sexueller Gewalt gegen Kinder. Speziell möchte ich in dem Vortrag vergeschlechtlichte Strategien der Beschämung Betroffener als Mädchen (ohne Genderstern, da es hier nicht um eine selbstgewählte Identifikation geht) thematisieren, über die sich eine bestimmte Form der Feminisierung vollzieht, die ich als hochgradig vereinzelnd erfahren habe. Damit beziehe ich mich auf Äußerungen des Täters wie “Du hast doch angefangen!” oder anderer Familienmitglieder wie “Du hast ihn dazu eingeladen”. Anders als unter Erwachsenen heißt bei einem Kind im Kontext von Sexualität mit einer erwachsenen Person ‘ja’ nicht ‘ja’, weil bei Kindern eine Fähigkeit zur Selbstbestimmung – so theoretisch umkämpft dieser Begriff auch grundsätzlich ist – noch nicht im selben Sinn wie bei Erwachsenen vorausgesetzt werden kann. Daher wäre es ein Fehler, eine Theoretisierung sexualisierter Gewalt gegen Kinder – analog zum Fall entsprechender Gewalt gegen Erwachsene – auf die Annahme zu gründen, es werde im Zuge derartigen Gewalthandelns notwendigerweise ein Wille des Kindes gebrochen. Meiner Erfahrung nach kann die Verletzung und das Zerstörerische an sexueller Gewalt Erwachsener gegen Kinder gerade in der Ausbeutung ihres vordergründigen
Einverständnisses in das Gewalthandeln liegen. Wird dem Kind ein tatsächliches Einverständnis in sexuelle Handlungen mit jemand Erwachsenem zugeschrieben – eine tatsächlich ‘selbstbestimmte’ Sexualität – dann übergeht man damit gerade diese Ausbeutung. Bei als Mädchen gelesenen Kindern bleibt sexuelles Begehren oder seine bloße Zuschreibung an sie zudem kulturell negativ kodiert, als schuldhaft und beschämend – im Unterschied zur viel zitierten, weniger responsibilisierenden Losung ‘boys will be boys’ in Anwendung auf als Jungen gelesene Kinder. Die sexistische Feminisierung sexuell ausgebeuteter Kinder als ‘Luder’ und dergleichen kann über den Affekt der Scham geradezu konstitutiv für das betroffene Subjekt werden. Für die erlittene Gewalt verantwortlich gemacht zu werden und zwar spezifisch als als weibliches Wesen stigmatisierte Person bedeutet, innerhalb des familiären Kollektivs isoliert zu sein. Diese Erfahrung kann späteren Erfahrungen von Solidarität und damit von Kollektivität – in nicht-familiären Kontexten – im Weg stehen und kann sie sogar verhindern. Besonders, sofern die erfolgten Zuschreibungen an die eigene Person, als Anrufungen verstanden, innerlich angenommen werden – als vermeintlicher Grund, sich für sich selbst zu schämen. Gelingende kollektive, solidarische Praktiken werden vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen als fragile Errungenschaft sichtbar und eine Zugehörigkeit zu entsprechenden Zusammenhängen als höchst voraussetzungsvoll. Es ist nicht jeder möglich, in kollektive Formen des Widerstands hineinzufinden.
Abstract:
Die 2011 verabschiedete und 2017 in Deutschland ratifizierte Istanbul-Konvention gilt als eine wichtige Errungenschaft feministischer Kämpfe auf der rechtlichen Ebene.[1] Als völkerrechtlich bindendes Instrument verpflichtet sie Staaten dazu, “Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen und Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen“ (Art. 1 IK). Aus materialistisch-feministischer Perspektive muss dem (National-)Staat dabei eine durchaus paradoxe Rolle bei der Umsetzung von Gewaltschutz zugeschrieben werden, sofern davon ausgegangen wird, dass Gewalt im Geschlechterverhältnis ebenso wie andere Ausschluss- und Unterdrückungsdimensionen unmittelbar in die kapitalistische Staatslogik und staatliche Institutionen eingeschrieben sind. Inwiefern der Staat daher durch die Institution des Rechts zu dessen Bewältigung verpflichtet und ermächtigt werden kann, muss daher differenziert betrachtet werden. Als eine wesentliche Grundlage für diese Auseinandersetzung setzen wir uns mit verschiedenen Gewaltbegriffen und ihren jeweiligen Verhältnissen auseinander: (1) Die direkte Gewalterfahrung von Personen, (2) die institutionelle Gewalt von staatlichen Behörden bei der Deutung dessen, was als Gewalt verstanden wird und wer oder was dadurch als schützenswert gilt, und zuletzt (3) die strukturelle Gewalt im Geschlechterverhältnis, welches wir intersektional betrachten.
Als Teil staatlichen Gewaltschutzes bietet in Deutschland das zivilrechtliche Gewaltschutzgesetz (GewSchG) ein wichtiges Instrument für Betroffene von partnerschaftlicher Gewalt und Nachstellung. In dem Forschungsprojekt “Zugang zum Recht auf Gewaltschutz” am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung untersuchen wir empirisch, welche spezifischen Barrieren beim Zugang zu den Justizbehörden und schließlich der Rechtsdurchsetzung von Maßnahmen dieses Gewaltschutzgesetzes bestehen. Erste Forschungsergebnisse machen deutlich, dass die unter der Istanbul-Konvention vorausgesetzte Berücksichtigung jeglicher spezifischen Schutzbedarfe von Gewaltbetroffenen, insbesondere auch von jenen, die intersektionale Gewalterfahrungen machen, in der Rechtspraxis nicht umgesetzt wird. Stattdessen scheint die tatsächliche Erreichbarkeit des Gewaltschutzes an zahlreiche Voraussetzungen geknüpft und aufgrund von tradierten Gewaltvorstellungen in der Justiz eingeschränkt zu sein.
Vor dem Hintergrund unserer empirischen Forschung möchten wir in unserem Tagungsbeitrag zum Schwerpunkt 2 unter Berücksichtigung materialistischer und staatstheoretischer Perspektiven diskutieren, inwiefern die in der Rechtslogik und -praxis implizit produzierten vergeschlechtlichten Subjektkonstruktionen von Gewaltbetroffenheit tatsächliche Ausschlüsse produzieren und inwiefern darin Formen struktureller Gewalt und sozialer Ungleichheit (re-)produziert werden. Dabei möchten wir insbesondere damit einhergehende stereotype Argumentationslogiken sowie verschiedene materielle und institutionelle Barrieren beim Rechtszugang beschreiben und unter anderem diskutieren, inwiefern ganz unterschiedlich positionierte Gewaltbetroffene rechtlich tatsächlich als besonders “vulnerabilisiert” eingeordnet und in der Rechtspraxis berücksichtigt werden.
[1] Dabei ist zu berücksichtigen, dass die rechtliche Ebene nur eine von zahlreichen Schauplätzen feministischer Kämpfe gegen Gewalt und Unterdrückung im Geschlechterverhältnis ist und diese auf Jahrzehnten von Aushandlungen und Emanzipationsbestrebungen auf sozialer und politischer Ebene beruhen.
Abstract:
In immer mehr Kontexten des (urbanen) Nachtlebens, aber auch bei öffentlichen oder betrieblichen Veranstaltungen tagsüber kommen Awareness-Konzepte und -Teams zum Einsatz, um struktureller Gewalt vorzubeugen bzw. Ansprechbarkeiten und Unterstützung für Betroffene bereitzustellen. Zentral in der Geschichte sowie alltäglichen Praxis von Awareness Arbeit ist die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt seitens männlich sozialisierter Personen. Queere und feministische Gruppen begannen mit der Organisierung von Awareness Arbeit angesichts primär männlicher Gewalt, und auch heute geht die meiste Gewalt von männlich sozialisierten Personen aus. Die theoretische Reflexion und praktische Bezugnahme darauf führt oft zu Konflikten und anderen Herausforderungen. Dieser Beitrag trägt Erkenntnisse aus soziologischer, sozialpädagogischer und psychologischer Forschung zusammen. Dabei werden die strukturellen Ermöglichungsbedingungen und Anreize männlicher Gewalt dargestellt, verschiedene Ansätze zum Umgang damit beleuchtet und abschließend verschiedene Möglichkeiten von Awareness Arbeit zur Prävebtion sowie nachhaltigen Eindämmung männlicher Gewalt diskutiert.
10:30 - 11:00 Uhr: Kaffeepause
Moderation: Melinka Violeta Luna Paz Karrer
Abstrat:
Dieser empirische Beitrag beleuchtet zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen Gewalt, konkret informelle Gruppierungen, die sich im post-jugoslawischen Raum der Bekämpfung sexualisierter Gewalt und Femi(ni)zide widmen. Die Widerstandsformen dieser Gruppen, die von der Organisation von Lesezirkeln bis hin zu Protesten reichen, sind seit 2019 ein fester Bestandteil des feministischen Widerstands und stehen in einer reichen und langen Tradition des feministischen Aktivismus in der Region. Darüber hinaus können sie als Teil und in Wechselwirkung mit einem globalen feministischen Widerstand gegen sexualisierte Gewalt und Femi(ni)zide in den letzten Jahren betrachtet werden.
Das Hauptziel dieses Beitrags besteht zum einen darin, aufzuzeigen, wie diese Gruppierungen Gewalt konzeptualisieren und wie sie auf dieser Grundlage eine geteilte Vulnerabilität (Butler 2020) in kollektives Handeln übersetzen. Zum anderen wird untersucht, wie die Möglichkeiten von Widerstand durch die spezifischen materiellen Realitäten im post-jugoslawischen Raum beeinflusst werden.
Der empirische Beitrag beruht auf meiner Dissertationsforschung, die sich an der konstruktivistischen Grounded Theory Methode nach Charmaz (2014) orientiert. Dieser Beitrag stützt sich auf 13 halbstrukturierte Interviews, die zwischen Mai 2021 und März 2024 mit Mitglieder:innen von vier Gruppen in Belgrad (Serbien), Sarajevo (Bosnien und Herzegowina), Zagreb (Kroatien) und Pristina (Kosovo) geführt wurden. Ergänzend wurden Textdokumente wie Auszüge aus Websites, Beiträge in sozialen Medien sowie von den Gruppen verfasste Artikel einbezogen.
Die Ergebnisse werden mit Theorien zu Gewalt (siehe z.B. Dorlin 2018, Butler 2020, Gago 2020, Vergès 2022) und Vulnerabilität (siehe z.B. Butler 2015; Butler, Gambetti und Sabsay 2016; Govrin 2022) in Dialog gebracht. Damit soll die Diskussion um die Konstruktion von Wissen über Gewalt aus einer Bottom-up-Perspektive erweitert und ein Beitrag zur Debatte um zeitgenössischen feministischen Aktivismus aus der Perspektive einer in globalen Debatten oft übersehenen Region geleistet werden.
Abstract:
Am 30. April 2023 versammelten sich über dreitausend Flinta*-Personen zu der bisher größten „Take Back the Night (TBTN)" - Demonstration in Berlin. Es kam zu zahlreichen konfrontativen Aktionen, Zusammenstößen mit der Polizei und Festnahmen. Diese Demonstration markierte einen wichtigen Moment in einer Reihe von militanten feministischen Aktionen, die in den letzten Jahren in Deutschland stattgefunden haben. So wurden in den Jahren 2019 bis 2020 mindestens acht Anschläge auf Gebäude, Fahrzeuge und Infrastruktur des Staates und von Unternehmen verübt, zu denen sich die „Feministischen Autonomen Zellen (FAZ)“ bekannten. Ausgehend von der historischen Formation militanter feministischer Protestformen, die mit den Walpurgisnachtdemonstrationen 1977 begannen und aktuell als TBTN-Demonstrationen stattfinden – werden aktuelle Aktionen und Konzeptionen von Gegengewalt und feministischer Militanz als Strategie (queer)-feministischer Bewegungen gegen globale Gewaltverhältnisse erörtert. Im Anschluss wird gefragt, wie sich aktuelle feministische Aktivist:innen und Gruppen auf vergangene Kämpfe und Konflikte beziehen, wie sie das Verhältnis von Kapitalismus und Gewalt als ein sich gegenseitig hervorbringendes begreifen, wie sie sich in den Debatten um Gegengewalt und feministische Militanz positionieren und welche Subjektivierungsangebote sie mobilisieren. Die Analyse stützt sich auf empirisches Material militanter Protestformen in der feministischen Bewegung, darunter Dokumente, Aufrufe, Interviews, Zeitungsartikel und Videos. Dabei wird der Frage nachgegangen, welche historische Bezugnahmen diese aktuelle politischen Einsätze aufweisen und auf welche gegenwärtigen Gewaltverhältnisse sie reagieren. Die Organisator:innen der TBTNDemonstrationen und anderer militant-feministischer Aktionen argumentieren gesellschaftstheoretisch, kritisieren Gewalt und Unterdrückung und reflektieren zugleich die Widersprüchlichkeit feministischer Gegengewalt und militanter Subjektivierung. Gewalt erscheint dabei nicht nur als Ausbeutung, Zurichtung von Körpern oder Verhinderung von Selbstbestimmung, sondern in spezifischer Form als Mittel der Befreiung und Teil einer emanzipativen Subjektwerdung. Es wird diskutiert, inwiefern ein bestimmtes Verständnis von Militanz und Gegengewalt Auswirkungen auf das kollektive feministische Subjekt hat und ob manche Formen der Militanz heute integraler Bestandteil des Feminismus sind. Die Erforschung militanter Feminismen trägt zum Verständnis der Rolle von Gegengewalt in der feministischen Bewegung bei und eröffnet neue Perspektiven auf die politischen und sozialen Dynamiken dieser Strömung. Indem sie historische Kontinuitäten mit aktuellen Entwicklungen verbindet und gesellschaftstheoretische Perspektiven einbezieht, bietet diese Studie einen Einblick in die Komplexität feministischer Diskurse und Praxen im Umgang mit Gewalt.
Abstract:
Ausgehend von Raumproduktionen entlang der Potsdamer Straße in West-Berlin im Zeitraum von 1961 bis 1989 werde ich Gewalt an und widerständige Raumstrategien und -praktiken von Sexarbeiter*innen sowie Vertreterinnen der Hurenbewegung Hydra untersuchen. Die Potsdamer Straße bildete neben dem Kurfürstendamm und der Straße des 17. Juni einen der drei Straßenstriche West-Berlins und war für die ganztägig arbeitenden Prostituierten bekannt, die vor den vielen, den Straßenraum prägenden Bars und Hotels auf Kunden warteten (vgl. Hydra 1988: 210). Diese Gegenarchitekturen der Sexarbeit (Straßenstrich, Bars, Hotels, Clubs) wurden weitestgehend durch private Akteur*innen (Zuhälter*innen, Betreiber*innen) reguliert. Gründe dafür bildeten die historisch gewachsene Rechtsprechung gegenüber Sexarbeit als „sittenwidrig“, die Abwesenheit von Arbeitsrechten sowie die verbreitete Selbstständigkeit innerhalb des Gewerbes (vgl. Künkel 2020: 53). Ich möchte ausgehend davon einen Versuch unternehmen, Gewalt(-beziehungen), ökonomische Abhängigkeiten sowie widerständige Raumproduktionen von Sexarbeiter*innen aufzuzeigen. So organisierten sich diese seit jeher informell in Form von kollektiven Sorge-Netzwerken. Sie sprachen sich hinsichtlich der Preise und Gebiete ab, tauschten wichtige Informationen aus und halfen sich in Not- und Krankheitsfällen (vgl. lvorado-Dupuy o.S.: o.J.). Zudem begannen sich seit Mitte der 1970er Jahre Vertreter*innen eines sexpositiven Feminismus in West-Berlin im Rahmen des Hurenprojekts Hydra zu organisieren (vgl. Heying 2018). Dabei nutzte Hydra ähnlich den Praktiken der Sexarbeiter*innen (räumliche) Strategien der Aneignung und Besetzung sowie (performative) Organisations- und Protestformen. So besetzten sie etwa gemeinsam mit anderen Frauenbewegungen ein Gebäude in der Potsdamer Straße, machten mit Demonstrationen auf ihre Anliegen aufmerksam oder verteilten „Bockscheine für Freier“ als Reaktion auf das diskriminierende „Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“. Als theoretische Grundlage verwiesen Hydra sowie andere transnational und lokal agierende Projekte auf Texte materialistischer Feministinnen – etwa die Publikation „Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft“ von Mariarosa Dalla Costa (1971) oder „Warum Sexualität Arbeit ist“ von Silvia Federici (1975). Als Architektin werde ich Gewalt und Widerstände durch die Linse von Gegenarchitekturen der Sexarbeit betrachten. Besonders Mechanismen ungleicher räumlicher Verteilung innerhalb des hierarchisierten Sexgewerbes sowie sozio-politischer Ausgrenzung und Isolation von Sexarbeiter*innen lassen sich dadurch im Verhältnis zu Praktiken informeller sowie fluider Raumzuweisung, -aneignung und -besetzung beobachten. Dazu werde ich materialistischfeministische Theorien um queer-theoretische Ansätze weiten, um die Lebensrealitäten von queeren, rassifizierten und/oder drogengebrauchenden Sexarbeiter*innen abzubilden.
12:30 - 13:00 Uhr: Verabschiedung
Organisation und Kontakt
Inhaltliche Konzeption: Friederike Beier, Gundula Ludwig, Laura Volgger
Tagungsbüro und Administration: Maria Zahn
Eine Veranstaltung des Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck (CGI) der Universität Innsbruck in Kooperation mit dem Arbeitsbereich Gender und Diversity des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.
Tagungsbüro Email: maqfem-gewalt-tagung2024@uibk.ac.at