Newsletter Nr. 39/2025 des Forschungsinstituts Brenner-Archiv
Ins Bild gerückt
Der kleine Prinz oder Welche Leistung begründet Autorschaft?

Die Erzählung Le petit prince (Der kleine Prinz) von Antoine de Saint-Exupéry (1900–1944) ist mit 145 Millionen Exemplaren in 535 Sprachen und Dialekten das nach der Bibel am meisten verkaufte und am meisten übersetzte literarische Werk. Das Buch erschien 1943 zugleich in Paris und New York. Die erste Übersetzung in Deutschland kam erst nach dem Krieg, nämlich 1950, heraus, in der amerikanischen Besatzungszone beim Verlag Rauch. Das Impressum vermerkte und vermerkt bis heute: „Übertragung ins Deutsche von Grete und Josef Leitgeb“. 2024 gab der Karl Rauch Verlag an, von dieser Übersetzung über 15 Millionen Bücher in unterschiedlichen Ausgaben verkauft zu haben. Der Verlag bietet eine ganze Saint-Exupéry-Reihe an: Hörbücher, Lizenzausgaben, Geschenkboxen usw.; im Internet gibt es kalender, Einkaufstaschen, T-Shirts oder Kaffeebecher mit Zitaten aus dieser Übersetzung zu kaufen. Auch wenn es nach Ablauf der Rechte auf Antoine de Saint-Exupéry 2014 zu neuen Übersetzungen kam, so prägte die Erstübersetzung Generationen von Leser:innen. Beinahe jede und jeder von uns kann einzelne Sätze aus dem Gedächtnis zitieren.
Was vielen nicht bekannt ist: Das Manuskript der Übersetzung wird im Brenner-Archiv aufbewahrt. Umgekehrt gesagt: Die deutsche Übersetzung des Kleinen Prinzen durch Grete und Josef Leitgeb ist das erfolgreichste literarische Werk, dessen Manuskript im Brenner-Archiv aufbewahrt wird. Das Stück ist recht unscheinbar: ein blauer Durchschlag eines Typoskripts, 55 Blatt, paginiert, gelocht, ohne Titel, ohne jede Verfasser:innen-Angabe, mit nur wenigen und geringfügigen Korrekturen, die keinen seriösen Hinweis auf eine spezifische Handschrift zulassen. Es befindet sich im (Teil-)Nachlass Josef Leitgebs, der 2001/2002 aus den Händen der Kinder Leitgebs übernommen wurde.
Josef Leitgeb (1897–1952) ist selbst in Tirol nicht mehr sehr bekannt, wobei die 5-bändige Werkausgabe, mit der ihn das Brenner-Archiv würdigte, sicher etwas gegen sein Vergessen geleistet hat. Leitgeb war ein Tiroler Lyriker und Prosaist, ab den 1920er Jahren Mitglied des „Brenner-Kreises“ um Ludwig Ficker, Lehrer und später promovierter Jurist der Universität Innsbruck. Er arbeitete vor 1933 an der gegen den Nationalsozialismus gerichteten Zeitschrift Der Sumpf mit und veröffentlichte nach 1933 vielfach im nationalsozialistischen Deutschland, wo er auch Lyrikpreise erhielt. Nach Kriegsende wurde er u.a. Schulinspektor in Innsbruck und Mit-Herausgeber des vom Land Tirol finanzierten Jahrbuchs Wort im Gebirge, 1950 erhielt er den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur.
Über Grete Leitgeb, seine Frau, wusste man bisher kaum mehr als ihren Namen. Es gibt keinen Nachlass und auch keinen Lexikoneintrag. Allerdings ist eine Tatsache über sie seit den 1950er Jahren jenen, die es wissen wollen, bekannt und auch vielfach belegt: nämlich dass sie – im Gegensatz zu ihrem Mann – französisch konnte.
Ebenfalls bekannt und allgemein anerkannt war und ist die Tatsache, dass Josef Leitgebs Leistung darin bestand, die Übersetzung seiner Frau stilistisch zu überarbeiten.
Für meinen Beitrag im Dossier Kulturarchiv und Gender der Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 43/2024 machte ich mich auf die Suche nach Grete Leitgeb, geb. Ritter, und der Frage, was ihre Leistung bei der Übersetzung des Kleinen Prinzen war und was die ihres Mannes. Ich bin, wie ich bald ersehen konnte, nicht die erste, die das Typoskript im Brenner-Archiv aufgrund einiger Indizien, denen ich noch weitere hinzufügen konnte, für die Erstübersetzung Grete Leitgebs hält. Sieht man sich das Typoskript an, dann bemerkt man, dass es sich hier nicht um ein sprachlich oder stilistisch mangelhaftes Elaborat handelt, das eine sprachliche oder stilistische Bearbeitung benötigen würde! Nein, es handelt sich um eine vollwertige Übersetzung, die dem gedruckten Text sehr, sehr nahe kommt.
Die Überlieferungssituation ist mager. Es gibt keine weiteren – wie es Editor:innen nennen – „Textzeugen“ der Übersetzung, d.h. es liegen keine weiteren Manuskripte oder Typoskripte, keine Druckfahnen oder diesbezüglichen Briefe vor. Wir wissen allerdings, dass die Eheleute Leitgeb den Text mit hoher Wahrscheinlichkeit gemeinsam mit einem Muttersprachler noch einmal durchgingen. Auch im Verlag könnten noch Änderungen angebracht worden sein. Das bedeutet, dass die geringfügigen Änderungen zwischen dem Typoskript und dem gedruckten Buch (der Erstausgabe) zwar von Josef Leitgeb stammen könnten – aber nicht unbedingt von ihm stammen müssen, ja noch mehr, dass mit recht hoher Wahrscheinlichkeit nicht alle Änderungen von ihm sind.
Die Beziehung der Leitgebs soll sehr eng und harmonisch gewesen sein. Sie sind beide im Buch als Übersetzende genannt. Trotzdem wurde Josef Leitgeb als eigentlicher Übersetzer angesprochen und kolportiert, angefangen von Ludwig Ficker – der Grete Leitgeb gekannt haben muss – über einige Literaturhistoriker bis hin zu einer Diplomarbeit aus den 2000er Jahren.
Geld gab es für die Arbeit nicht viel. Der Verlag soll die Übersetzung, von der später 15 Millionen Exemplare verkauft werden sollten, um 200 Mark gekauft haben. Diese Summe ging an Josef Leitgeb.
Die Vorstellungen von geschlechtergerechter Ökonomie haben sich grundlegend gewandelt: Die meisten Menschen hielten es heute für absurd und ungerecht, wenn – wie im vorliegenden Fall – der Ehemann das Geld für die angeblich gemeinsame Arbeit überreicht bekommt. Genauso wie auf die Ökonomie dieser Zeit sollte wir aber unseren Blick auch auf die Kollaborationen dieser Zeit richten: Das, was 1950 als künstlerische Kollaboration eines Ehepaares galt, verdient heute vermutlich nicht mehr diesen Namen. Nehmen wir dieses Beispiel nicht nur als Anstoß dazu, die Leistung einer Frau in die Kulturgeschichte aufzunehmen, sondern auch – ganz der damaligen Zeit entsprechend, doch umgedeutet, als „Aufruf zum Misstrauen“.
Ursula A. Schneider
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Anmerkungen
Abbildung: Typoskript der Übersetzung, Nachl. Josef Leitgeb, Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Sig. 024-002-1-57.
Weitere Details, biographische Angaben zur Übersetzerin Grete Leitgeb-Ritter und alle Literaturhinweise in: Ursula A. Schneider: „Gretl und“. Übersetzung, Co-Autor:innenschaft und die Reproduktion patriarchaler Konzepte von Autorschaft durch das Literaturarchiv am Beispiel von Grete und Josef Leitgebs Übersetzung von Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz (1950). In: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 43/2025, Dossier Kulturarchiv und Gender, S. 223–243.
Aufruf zum Mißtrauen war ein wegweisender Text der jungen Ilse Aichinger von 1945. Er bezog sich allerdings auf die Literatur und Kultur der Nazizeit.