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Schwager Raymund: Dramatik der heutigen Weltsituation und Dramatik der Offenbarung
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Dramatik der heutigen Weltsituation und Dramatik der Offenbarung
(Zur Problematik der biblischen Texte als 'Mischtexte')

Autor:Schwager Raymund
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2001-10-11

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Solange der Ost-West-Konflikt die politische Welt beherrschte, konnte man oft das Urteil hören, wir hätten Frieden auf Erden, wenn es die bösen Kommunisten nicht gäbe. Diese 'Bösen' sind inzwischen weitgehend verschwunden, aber der Friede ist nicht näher gekommen; das Gegenteil ist eher eingetreten. H.M. Enzensberger diagnostiziert in seiner neuesten Studie sogar eine weltweite Tendenz zum Bürgerkrieg. (1) - Fast gleichzeitig zeigt sich ein anderes Phänomen. Sprach man jahrzehntelang von einer wachsenden Säkularisierung, so stellen heute viele mit Überraschung eine Rückkehr der Religion oder mindestens religiöser Vorstellungen fest. (2) Sogar in den Wissenschaften wird das Mythische neu und positiver bewertet. So stellt sich die Frage, ob die offenere Tendenz zur Gewalt und die Rückkehr des Mythischen irgendwie zusammenhängen. Die Problematik ist komplex. Religiöse Elemente spielen sicher in manchen blutigen Auseinandersetzungen der Gegenwart eine wichtige Rolle, wie sich vor allem am symbolträchtigsten aller Konflikte, im Streit um Jerusalem zeigt. Die gegenwärtigen Schritte zur Versöhnung zeugen zwar von einem echten Willen zum Frieden. Jene Kräfte aber, die auf beiden Seiten einer Verständigung fast mit allen Mitteln entgegenarbeiten, berufen sich oft auf die Religion. Am brutalsten geschah dies in einer Pressemitteilung der nordamerikanischen Kahane-Chai-Bewegung zum Massaker von B.Goldstein an betenden Muslims in Hebron (25.2.1994):

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"Die Mitglieder der Kahane-Chai-Bewegung trauern um den Märtyrertod Baruch Goldsteins, der heute morgen starb, als er den Namen Gottes in Hebron heiligte. Gesegnet sind die um Baruch Goldstein, der Gott heiligte in seinem ganzen Leben und mehr noch in seinem Tod, so wie Samson zu seiner Zeit. Zu loben ist der, der die gleich Tat begeht wie die Juden in Suschan, über die in der Torah steht: 'Also schlugen die Juden alle ihre Feinde mit dem Streich des Schwerts und mit Mord und mit Zerstörung und taten ihnen an, was ihnen gefiel.' Mögen alle, welche die Taten der wahren jüdischen Helden verurteilen, zum Schweigen gebracht werden. Sie besudeln und erniedrigen die wahre Tradition des Purim-Fests. Wir stehen mit ihnen im Kulturkrieg." (3)

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Der palästinensische christliche Theologe N.S.Ateek hat schon vor Jahren auf die Rachereden des Rabbi Meir Kahane und anderer ihm nahestehender Kreise hingewiesen und sich besorgt gefragt, wohin solche Reden wohl führen werden. (4) Dabei ist jede einseitige Schuldzuweisung unberechtigt. Auf muslimischer Seite denken und handeln namhafte Kräfte mit umgekehrter Zielrichtung ähnlich, und auch die Christen dürfen sich von ihrer Geschichte und von gegenwärtigen Beispielen her nicht besser fühlen. So stellt sich mit großer Schärfe die Frage, ob und wieweit nicht nur religiös-mythische, sondern auch normative Texte der Offenbarungsreligionen Gewalttaten rechtfertigen und fördern. Für die Christen in Israel stellt N.S.Ateek fest, daß ihre Erfahrungen mit dem zionistischen Anspruch ihre Einschätzung des Alten Testaments sehr negativ beeinflußt haben.

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"Seit der Errichtung des Staates (Israel) haben einige jüdische und christliche Interpreten das Alte Testament im großen und ganzen als einen zionistischen Text gelesen, was dazu geführt hat, daß es für palästinensische Christen beinahe abstoßend geworden ist. Als Folge davon ist das Alte Testament sowohl beim Klerus wie bei den Laien ziemlich außer Gebrauch gekommen, und die Kirche war nicht in der Lage, mit seinen Zweideutigkeiten, Fragen und Paradoxa - insbesondere mit seiner direkten Anwendung auf die Ereignisse in Palästina des 20.Jahrhunderts - ins reine zu kommen."(5)

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Angesichts dieser Problematik will Ateek eine solche Deutung des Alten Testaments vorschlagen, durch die es auch für christliche Palästinenser wieder tragbar wird. Dabei betont er zunächst, daß die hebräische Bibel für Christen von Christus her zu deuten ist, und er unterscheidet dann innerhalb des Alten Testaments drei große Strömungen: 1) die nationalistische, die sich vor allem in Josua, Richter, 1 und 2 Samuel, 1 und 2 König zeige und die später zum militaristischen Zelotentum geführt habe; 2) die Thora-orientierte, die nach der zweiten Zerstörung von Jerusalem zur vorherrschenden wurde, und 3) die prophetisch-universalistische, die die einzig wahre sei und die Jesus aufgegriffen habe. Im Unterschied zu den beiden ersten Linien befehle Gott gemäß der universalistischen Tradition nie die Vernichtung der Feinde, sondern er offenbare sich als ein Gott, der für die Opfer eintrete und zur Gewaltfreiheit aufrufe. (6) Ateek kann folglich das Alte Testament für palästinensische Christen nur dadurch ertragbar machen, daß er zwei von drei Strömungen als Offenbarung ausscheidet und die entsprechenden Texte nur als negative Beispiele stehen läßt.

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Das Problem mit biblischen Texten stellt sich nicht nur für palästinensische Christen. F.Buggle, Professor für Psychologie in Freiburg i.Br., hat vor kurzem ein Buch mit dem provozierenden Titel "Denn sie wissen nicht, was sie glauben" (7) veröffentlicht. Darin zitiert er seitenweise biblische Texte, in denen sich Gott als rachsüchtig und zornig erweist und zum Töten auffordert. Buggle schließt daraus, ein solcher Gott stehe unter einem modernen ethischen Standard, weshalb man heute ehrlicherweise nicht mehr Christ sein könne. Seinen Angriff richtet er folglich auch gegen die modernen Theologen, denen er Unehrlichkeit vorwirft, weil sie die dunklen Seiten in der Bibel einfach verschweigen.

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Mit der von Ateek und Buggle aufgeworfenen Problematik hat sich R.Girard (Stanford / USA) schon seit zwei Jahrzehnten beschäftigt und eine Lösung vorgeschlagen, die in eine ähnliche Richtung wie die von Ateek geht, im Unterschied zu diesem aber über eine ausgearbeitete Theorie verfügt. Ausgehend vom Zeugnis der großen literarischen Werke der Menschheit sieht Girard im Menschen ein Wesen der Nachahmung, das sich leicht in Rivalitäten und Aggressionen verliert. Der Friede ist nie selbstverständlich. Da die wechselseitigen Aggressionen aber spontan in die Tat aller gegen einen umschlagen können, gibt es einen gesellschaftlichen Mechanismus, durch den die Gewalt aus der Gemeinschaft nach außen abgeleitet und der Friede auf Kosten eines Opfers wiederhergestellt wird. In Gesellschaften, die noch keine staatliche Ordnung kannten, war dies nach Girard der Grundmechanismus, der das Überleben der Menschheit ermöglichte. Dabei war die Zusammenrottung immer mehr als ein bloß soziologischer Vorgang. Die aggressiven Leidenschaften trübten den Blick und dem Opfer wurde alle Schuld für die gefährliche Unruhe zugeschoben. Zugleich brachte seine Ausstoßung der bedrohten Gemeinschaft auf überraschende Weise den ersehnten Frieden zurück. Das Opfer wurde folglich sowohl als verflucht wie auch als wunderbar-faszinierend (tremendum und fascinosum), d.h. als sakral erfahren. Nach Girard ist der Gründungsvorgang menschlicher Gesellschaft deshalb identisch mit dem Ursprung der gesellschaftlich faßbaren Religionen. Zur Erhaltung des befriedeten Zustandes wurde die ursprüngliche brutale Ausstoßung in den rituellen Opfern auf kontrollierte Weise wiederholt. Es entstanden ferner Tabu-Vorschriften gegen all das, was der Gewalt wieder neuen Anlaß geben konnte. Schließlich wurde in den Mythen über die Urzeit der Gründungsmord auf verschleierte Weise nacherzählt. Girard bringt folglich alle gesellschaftlichen Einzelheiten der Stammesreligionen mit dem Gründungsmechanismus in Zusammenhang. In den Hochreligionen sieht er hingegen mühsame Versuche, die Welt der aggressiven Projektion zu durchbrechen. In ihnen bleibe aber vieles auf halbem Weg stehen, und es komme sogar zu massiven Rückfällen. Dies gilt auch für die jüdisch-christliche Offenbarungsgeschichte, obwohl diese nach Girard zugleich der einzige Ort ist, wo die Aufdeckung und grundsätzliche Überwindung des untergründigen Mechanismus voll gelungen ist. In der Bibel mischt sich deshalb über weite Strecken das Weiterwirken der alten sakralen Vorstellungen mit dem neuen Offenbarungsimpuls, gemäß dem der wahre Gott sich nicht mehr als Götze einer kollektiven Meute, sondern als Helfer und Beistand der Opfer erweist. Wegen dieser Mischung bedarf es zur richtigen Deutung des Alten Testaments einer subtilen 'Scheidung' zwischen den sakralen Traditionen und der wahren Offenbarung, die ihre Klarheit allerdings erst im Neuen Testament findet. (8) Die als sakral gewerteten Texte sind dabi weder auszuscheiden, noch ist die Bibel wegen ihnen überheblich zu verurteilen. Diese Texte sind vielmehr als Beschreibungen der menschlichen Leidenschaft, Aggression und Projektion neu zu lesen. Vor allem die Gerichtstexte erweisen sich so als Darstellungen des menschlichen Selbstgerichts, in das der kritische Leser sich selber einzubeziehen hat.

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Gegen eine Deutung der hebräischen Bibel vom Neuen Testament her, wie Girard und Ateek dies tun und wie vor ihnen die ganze christliche Tradition es getan hat, haben in neuerer Zeit manche christliche Alttestamentler protestiert. Auch Buggle wendet sich gegen diesen 'Rettungsversuch'. Er argumentiert, der neutestamentliche Gott stecke seine Gegner in die Hölle und sei diesbezüglich noch brutaler als der alttestamentliche. Die Sicht Girards führt jedoch nicht nur zu einer 'Entmischung' bei den alttestamentlichen Texten, sondern auch zu einer Klärung der erwähnten Problematik im NT. Sie führt zu einer dramatischen Deutung der Evangelien. Wie in einem Drama die Handlung nur dann sinnvoll bleibt, wenn Worte, die in einem Akt gesprochen werden, auch im Kontext dieses Aktes verstanden und nicht wahllos in einen anderen transportiert werden, so sind auch die Worte der Evangelien je in ihrem Zusammenhang zu verstehen. Dabei ergibt sich aus der Dramatik auf neuer Ebene nochmals eine 'Entmischung'.

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Jesus hat sein öffentliches Wirken mit der Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft begonnen und seinen himmlischen Vater als einen Gott des Erbarmens verkündet, der sich seinen Feinden, den Sündern, in zuvorkommender Liebe zuneigt und alle zur Gewaltfreiheit und Feindesliebe aufruft (1.Akt). Diese Botschaft vermochte aber jenen Glauben nicht zu wecken, der notwendig gewesen wäre, um die harten Herzen zu verwandeln und so die Gottesherrschaft tatsächlich anbrechen zu lassen. Auf die offene oder passive Ablehnung antwortete Jesus mit den Gerichtsworten (2.Akt). Durch sie wollte er das Volk nochmals aufrütteln, indem er die untergründigen Mächte der Lüge und Gewalt aufdeckte. Wegen seiner bildhaften Rede wurde allerdings nicht ganz klar, wie er das angesagte Gericht genau verstanden wissen wollte. Sprach er von einem Selbstgericht, wie zahlreiche Formulierungen vermuten lassen, oder wollte er sagen, daß die Güte Gottes an einem bestimmten Punkt in ihr Gegenteil umschlage, wie manche Gleichnisse, wenn man sie isoliert betrachtet, nahelegen? Seine Gerichtsworte erzielten auf alle Fälle nicht die gewünschte Wirkung. Das Gegenteil trat ein, und der Ankündiger des Gerichts wurde selber vor Gericht gestellt, verurteilt und gewaltsam hingerichtet (3.Akt). In dieser bitteren Situation blieb Jesus seiner Basileia-Botschaft treu und handelte ganz nach ihr. Er reagierte auf die erlittene Gewalt nicht mit Gegengewalt und verkündete so durch sein Verhalten - auch angesichts tödlicher Bedrohung - bis zuletzt einen Gott der Gewaltfreiheit und Feindesliebe. Der gerechte Richter, dem er seine Sache überließ, stellte sich schließlich ganz auf seine Seite, indem er ihn aus dem Tode erweckte und mit dem Wort des Friedens zu den Jüngern zurücksandte (4.Akt). Da diese ihren Meister am tiefsten erkannt und ihn dennoch in der entscheidenden Stunde verraten, verleugnet oder verlassen hatten, waren sie besonders schuldig geworden. Gerade diesen Schuldigen wurde an Ostern nicht das Gericht angesagt, sondern durch das Wort des Friedens eine neue Verzeihung zugesprochen und an Pfingsten kam auch der Geist des Friedens auf sie herab (5.Akt). (9)

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Der Vater Jesu Christi hat im Geschick seines 'geliebten Sohnes' ganz anders gehandelt als der Herr im Gleichnis von den bösen Winzern. Während dieser sich durch die Ermordung seines 'geliebten Sohnes' von seiner Güte abbringen und zur Rache provozieren ließ (Mk 12,1-9), hat der Gott des Gekreuzigten gerade auf die letzte Untat nochmals mit entschiedenster Verzeihung geantwortet. Von Ostern her ergibt sich deshalb die Notwendigkeit, alle Gerichtsworte neu zu deuten. Was zahlreiche Formulierungen schon anklingen ließen, ist nun systematisch durchzuführen. In ihnen ist zwischen der Bild- und der Sachebene klar zu scheiden ('entmischen'), und auf der Sachebene sind alle Gerichtsworte eindeutig als Worte des Selbstgerichts zu deuten. Die Bilder des göttlichen Zornes werden dadurch nicht überflüssig, sind aber - wie die alttestamentlichen Texte - zu 'entmischen' und als Bilder zu lesen, die das Herz der Sünder instinktiv von Gott entwirft. Dadurch wird zugleich die Rede von der Güte einer Neudeutung zugeführt. Obwohl der Vater Jesu Christi immer der Gott der Feindesliebe und Gewaltfreiheit ist, überläßt er die Sünder dennoch einem oft unerbittlichen Selbstgericht, wodurch sich die Menschen wechselseitig anklagen, verurteilen, in die letzte Einsamkeit stoßen und oft töten. Gott bleibt so für uns der geheimnisvolle Schöpfer, der all dies zuläßt. Aus der Rede von seiner Güte sind alle Bilder eines 'gutmütig-harmlosen' Wesens oder eines Herrn in der Höhe, der die Menschen auf magische Weise vor den Folgen ihres bösen Tuns bewahren würde, auszuscheiden. Jede alt- und neutestamentliche Rede bedarf deshalb der Entmischung und Neudeutung. Da aber auch die Neudeutung wieder mißverstanden werden kann, kommt der Prozeß der Entmischung nie an ein Ende. Jede Generation und jeder einzelne hat ihn je neu zu vollziehen. Der wahre Gott erschließt sich folglich nur über einen Glaubensweg, auf dem die Bilder, die ständig neu entworfen werden, auch immer wieder neu zu entmischen sind.

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Seit etwa zwei Jahrzehnten gibt es verschiedene theologische Strömungen, die in der Öffentlichkeit besondere Aufmerksamkeit finden: politische, befreiungstheoretische, feministische, ökologische Theologie. Allen diesen Richtungen ist gemeinsam, daß sie sich mit den Opfern des Unrechts und der (strukturellen) Gewalt in einer dramatisch gespannten Welt solidarisieren und aus der Perspektive dieser Opfer Theologie treiben wollen. Die Sicht Girards teilt zunächst ganz dieses Anliegen, denn auch sie sieht im Eintreten für die Opfer das zentrale biblische Anliegen. Erfahrungen und literarische Texte zeigen aber, daß es auch innerhalb dieser Sicht sehr subtile Verdrehungen geben kann und daß sich der Status des Opfers sogar für den eigenen Machtanspruch mißbrauchen läßt. Gerade in einer Zeit, in der das öffentliche Bewußtsein es ablehnt, daß Menschen bewußt Unrecht erleiden, ist die Gefahr sehr groß, daß man die Opfer für eigene Zwecke mißbraucht und in ihrem Namen den alten Anklage- und Projektionsmechanismus nur in umgekehrter Richtung fortsetzt. Ein Blick in die neuere 'engagierte' Theologie dürfte zeigen, daß diese Gefahr real ist. Da sich die Welt nicht in Gute und Böse einteilen läßt und jeder in die Übel, die er bei anderen scharf, ja überscharf sieht, selber verstrickt bleibt, gehört zum hermeneutisch-spirituellen Programm der 'Entmischung' auch das Bemühen, die eigene Kritik zu kritisieren.

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Vor allem die Kritik kollektiver Bewegungen ist heute bitter nötig. Die große Unsicherheit in der Weltordnung führt gegenwärtig zu einem intensiven Erwachen nationaler und tribaler Kräfte. Gruppen und Völker fühlen sich als Opfer und verteufeln andere Völker oder übergreifende Strukturen. Kirchliche Kräfte und Theologen/innen meinen oft, modern und besonders biblisch zu sein, wenn sie sich kritiklos mit solchen Bestrebungen solidarisieren. Dabei wird nur zu leicht übersehen, daß die Gegenseite sich meistens ebenso als Opfer fühlt. Nationalismen und Tribalismen wecken deshalb nur andere Nationalismen und Tribalismen. Ein Eintreten für Opfer, das nicht ebenso die Gegenseite beachtet, führt kaum zu mehr Versöhnung, sondern schürt eher den Streit und produziert neue Gewalt. Auch eine an sich richtige Theologie kann so ungewollt genau das fördern, was sie selber ablehnt. Ohne spirituelle Unterscheidung und entsprechende Selbstkritik steht jede Religion und Theologie in Gefahr, in alte sakrale Mechanismen zurückzufallen.

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Anmerkungen:

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 1. M.Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt a.M. 1993.

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2. Vgl.G.Kepel, Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch. Übersetzt v.Th.Schmidt. München: Piper 1991; 'Religionswende' - eine neue ZEIT-Serie diskutiert religiöse Grundbegriffe. In: Die Zeit (Beginn: 25. März 1994).

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3. In: Sonntagszeitung, Zürich /Schweiz, 25.2.1994, S.15.

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4. N.S.Ateek, Recht, nichts als Recht! Entwurf einer palästinensisch-christlichen Theologie. Fribourg 1990, 116.

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5. Ebd. 107.

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6. Ebd. 106-149.

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7. Reinbek 1992.

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8. Zu einem Versuch systematischer 'Entmischung' im AT, vgl. R.Schwager, Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften. Thaur: Kulturverlag 31994, 54-142.

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9. Zur ausführlichen Darlegung und Begründung, vgl. R.Schwager, Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre. Innsbruck: Tyrolia 1990. - Zur dramatischen Erlösungslehre fand 1991 in Innsbruck ein Symposium statt, vgl. Dramatische Erlösungslehre. Ein Symposion. Hg. v. J.Niewiadomski u. W.Palaver. Innsbruck: Tyrolia 1992.

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