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Wetz Franz Josef: Wahrhaftigkeit. Die Selbstbedrohung des Glaubens
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Wahrhaftigkeit. Die Selbstbedrohung des Glaubens

Autor:Wetz Franz Josef
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2012-05-24

Inhalt

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Hinweis: Lesen Sie auch die anderen Beiträge zum Dies Academicus 2012:

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Die aggressive Religionskritik unserer Zeit ist überaus irritierend, denn sie enthält nur wenig Neues. Vielmehr erscheint sie wie ein zweiter Aufguss der Religionskritik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Schon oft konnte man lesen, dass der metaphysische Budenzauber religiöser Akrobaten die Menschen in die Irre führt. Darum drängt sich die Frage auf, wie es ausgerechnet heute zu einer so heftigen Neuauflage der schon überwunden geglaubten Debatte des 19. Jahrhunderts kommen konnte. Ist das Erstarken des Islamismus hieran schuld, der Terror im Namen Allahs? Oder sind es die evangelikalen Fundamentalisten in den USA und anderswo, die hierfür verantwortlich zeichnen, weil sie hartnäckig die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften als Teufelswerk bekämpfen? Oder sind es die bunten Fernsehauftritte der katholischen Folklore, die voreilig als Wiederkehr der Religion gefeiert werden? Auffälligerweise werden altbekannte Argumente gegen die christliche Glaubenslehre, insbesondere der katholischen Kirche, mit viel Kanonendonner und Pulverrauch verschossen.

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Möglicherweise hat aber etwas ganz Anderes der neuen Religionskritik zum Erfolg verholfen. Der Verdacht scheint nicht ganz unbegründet zu sein, dass die heutigen Religionskritiker wie auch deren Leser und Hörer die kritischen Schriften etwa David Humes, Friedrich Nietzsches und Sigmund Freuds nicht mehr richtig kennen. Dann wäre das erneute Aufflammen der Religionskritik bloß Ausdruck eines Mangels an kulturgeschichtlicher Bildung unter den Gelehrten und der Öffentlichkeit. Jedenfalls wird die neue Religionskritik mit großem Lärm hochgejubelt, als ob es darin wirklich um ganz Neues ginge. Sie präsentiert sich als aufrührerische Rebellion gegen überkommene Denkmuster im Namen eines aufgeklärten Humanismus.

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Hierbei ist sie deshalb so wirkungsvoll, weil sie die Medien für sich gewinnen konnte, die stets auf der Suche nach dem Neuen und Spektakulären sind. Nur die Medien besitzen die Macht, das Gespenst des öffentlichen Desinteresses zu vertreiben. Sie allein können Botschaften unter die Menschen bringen. Bekanntlich verbreiten sich Schlagzeilen wie virale Epidemien. Dazu besitzen Skandale seit jeher einen morbiden Charme, der die öffentliche Aufmerksamkeit bindet. Im Kampf um Aufmerksamkeit ist die neue Religionskritik darum so erfolgreich, weil sie Altbekanntes mit großem medialen Aufwand als sensationelle Neuentdeckungen publizieren kann.

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Sicherlich haben solche Erklärungen der neuen Religionskritik eine Berechtigung. Nur sind sie außerstande, die bekannten religionskritischen Argumente zu entkräften. Der Verweis auf ihre mangelnde Originalität suggeriert zwar, dass der alte Streit zwischen christlicher Religion und säkularer Welt oder moderner Wissenschaft längst bearbeitet, ja geschlichtet, wenn nicht sogar gelöst wurde. Aber diese Einschätzung geht von einer falschen Voraussetzung aus. Der alte Streit zwischen Glauben und Wissen oder Glauben und Moderne wurde niemals beigelegt, sondern lediglich beiseite gelegt! Zwischen beiden Fronten herrschte niemals eine friedliche Koexistenz, sondern bestenfalls ein brüchiger Waffenstillstand, der jederzeit gebrochen werden konnte. Genau dies geschah in jüngster Zeit. Wie schon zu Zeiten Heinrich Heines, Ludwig Feuerbachs und Ernst Haeckels sind plötzlich wieder die alten Fronten aufgebrochen.

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Doch wie populär die neue Religionskritik auch ist, ich persönlich halte sie für uninteressant und langweilig. Dies hat nichts damit zu tun, dass die neue Religionskritik der zweite Aufguss bekannter religionskritscher Argumente ist, der wie alles Aufgewärmte eher fade schmeckt. Ein solches Bild ist schon deshalb schlecht, weil die alte Religionskritik niemals nachhaltig entkräftet wurde. Darum ist auch der Verweis auf ihren Anachronismus nicht wirklich überzeugend. Solche Argumente sind faule Abwehrmanöver von etwas Unliebsamem, mit dem man sich nicht mehr auseinandersetzen möchte.

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Im Gegensatz zur Religionskritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts halte ich die Religionskritik unserer Zeit deswegen für uninteressant und langweilig, weil es ihr an existenziellem Ernst mangelt.

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Die neue Religionskritik konnte nur darum eine hohe Aktualität gewinnen, weil sie wie Boxkämpfe und Krimis im Fernsehen einen hohen Unterhaltungswert besitzt. Talk-Shows, die Boulevard-Presse bis hin zum „Spiegel“ oder „Die Zeit“ versuchen damit auf dem Fels der unterhaltsamen Kontroverse sprühende Funken zu schlagen. Die besten Vorlagen hierfür bieten reaktionäre Dogmatiker auf kirchlicher Seite und aggressive Antichristen oder polemische Spaßvögel auf atheistischer Seite. Auffälligerweise sonnen sich die Vertreter beider Seiten in unangekränkelter Selbstzufriedenheit. Die meisten Religionskritiker führen ihren Kampf gegen den Glauben sogar aus einer großen Distanz. Mal werden neurologische, biologische oder kosmologische Erkenntnisse nüchtern, aggressiv oder polemisch gegen die Religion in Stellung gebracht, mal die Grundgedanken der neuzeitlichen Aufklärung und des modernen Humanismus nachgezeichnet. Doch vermisst man bei alldem einen existenziellen Ernst, die persönliche Hingabe, die einem Kritiker erst Glaubwürdigkeit verleiht, auch wenn es vielleicht gar nichts zu glauben gibt. Nahezu vergeblich schaut man in der neuen Religionskritik nach dem suchenden, fragenden Menschen, dessen Dasein notvoll, sorgenreich und des Gelingens niemals sicher ist und den Fragen nach Sinn und Unsinn des Lebens umtreiben. Die Frage nach der Wahrheit der Religion wird mit unbetroffener Gleichgültigkeit gestellt. Der neuen Religionskritik fehlt schlicht der existenzielle Hintergrund. Die Stelle des nach Halt, Orientierung und Trost ringenden Menschen bleibt in der Diskussion größtenteils unbesetzt.

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Mit Sören Kierkegaard gesprochen: Sie haben „vergessen, was es heißt, Mensch zu sein, und zwar nicht, was es heißt, Mensch überhaupt zu sein […], sondern was es heißt, dass du und ich und er, dass wir jeder für sich Menschen sind.“[1] Ähnlich kritisierte schon im 14. Jahrhundert Francesco Petrarca die existenzielle des Stille des bloßen Wissens: „Was nützt einem das Wissen über die Natur der Tiere, Vögel, Fische und Schlangen, wenn wir die Natur des Menschen nicht kennen, nicht wissen, wozu wir geboren sind, woher wir kommen und wohin wir gehen.“[2] Jahrhunderte zuvor monierte gleichfalls Boethius, dass trotz allem angehäuftem Wissen über den Menschen sich der Einzelne nicht genug auf sich selbst besinne. Es ist die Rede von „Vergessenheit deiner selbst“.[3] Nicht zuletzt klagt auch der Kirchenvater Aurelius Augustinus: „Es gehen die Menschen zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne und haben nicht acht ihrer selbst.“[4]

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Zeitgenössische Religionskritiker wie Richard Dawkins verschwinden gleichsam in der epischen Sachlichkeit oder aggressiven Polemik ihrer Ausführungen, die existenziell völlig unverbindlich bleiben. Diese fehlende Betroffenheit der Autoren, die von vornherein indifferent an religiösen Anliegen vorübergehen und gegen diese existenziell so unbeteiligt sind wie ein Schachspieler gegen seine Figuren, als ob es hier nur um logische Kombinationsprobleme gehe, machen ihre teils massenhaft verkauften Bücher aus meiner Sicht uninteressant und langweilig. Schön und gut, was darin zu lesen ist, nur ist das denn alles wirklich so wichtig, und ich möchte ergänzen, so wichtig für das konkrete Leben? Wo haben die kritischen Erkenntnisse, in der Sprache der Exegese gesprochen, ihren Sitz im Leben? Im Unterschied zur alten Religionskritik legt die neue Religionskritik nur wenig Zeugnis von jenen Menschen ab, die sich über die letzten Fragen den Kopf zerbrechen. Darum vermag die alte Religionskritik einen mehr zu fesseln als die neue. Die neuen Religionskritiker scheinen in den von ihnen errichteten kritischen Gedankengebäuden gar nicht selbst zu wohnen. Ihre theoretischen Ausführungen haben mit ihrer gelebten Existenz offenbar nur wenig zu tun. Selbstverständlich dürfen wissenschaftliche Untersuchungen persönliche Aspekte nicht berücksichtigen. Wissenschaftler bauen ihre Theorien mit Recht ohne Rücksicht auf das Hoffen und Fürchten der Menschen. Jede wissenschaftliche Bestimmung des Menschen schließt eine Verständigung über das eigene Leben aus. Sie marginalisiert das Alltagsdasein, indem sie von jeder existenziellen Erfahrung abstrahiert.

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In religiösen Angelegenheiten ist eine solche Zurückhaltung aber ein wichtiger Einwand, auch wenn klare Argumente und Analysen nicht hinter nebulösen Stimmungen verschwinden dürfen. Doch wer die Frage nach der Wahrheit der Religion von jeder konkreten Lebenspraxis abkoppelt, verfehlt den Ernst der „existenziellen Frage“. Religionskritik wird erst dann existenziell bedeutsam, wenn sie an das gelebte Leben anknüpft. Nur eine Religionskritik, die dieses Defizit ausgleicht, erreicht den Ernst existenzieller Relevanz. Alles Übrige bleibt kluge Gedankenspielerei, sozusagen ein „Heidenspaß“.

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Im Folgenden soll die Religionskritik auf die konkrete Existenz des Menschen bezogen werden. Mehr noch: Es soll gezeigt werden, wie die christliche Religion selbst eine existenziell motivierte Religionskritik anstößt. Zum besseren Verständnis dieses merkwürdigen Zusammenhangs sei in die abendländische Kulturgeschichte hinabgestiegen und zunächst von jeder Religionskritik abgesehen. Es ergibt sich folgende Gliederung: 1) Griechisch-römische Selbsterkenntnis, 2) Christliche Selbsterforschung, 3) Die subversive Reflexion, 4) Reflektierte Aneignung des Glaubens, 5) Reflektierte Gefährdung des Glaubens, 6) Existenzbasierte Religionskritik und 7) Eine letzte Hoffnung.

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Griechisch-Römische Selbsterkenntnis

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„Erkenne Dich selbst!“ So lautet die vielzitierte Inschrift über dem Eingang des Apollotempels zu Delphi. Allerdings ist das delphische Gebot nicht mit der allgemeinen Forderung gleichzusetzen, anthropologisch, biologisch oder auf andere wissenschaftliche Weise das Wesen des Menschen zu ergründen. Näher betrachtet möchte die antike Forderung, sich selbst zu erkennen, den Menschen auf seine natürlichen Schwächen aufmerksam machen. Sie warnt die Sterblichen vor Hochmut und Hybris, indem sie ihnen die Begrenztheit, Hinfälligkeit und Vergänglichkeit ihres Lebens vor Augen führt. „Erkenne Dich selbst“ heißt demnach soviel wie „Bedenke, dass Du ein sterblicher Mensch bist, und lerne, mit dieser Einsicht selbstversöhnt umzugehen.“ Das ist aber nach griechisch-römischer Auffassung nur dann möglich, wenn die Menschen ihre Affekte und Leidenschaften – ob Vergnügen oder Schmerz, Überfluss und Mangel - als gleichgültig ansehen. Sinnlichkeit sei zwar nicht an sich schlecht, aber sie versklave den Menschen, den die Vernunft leiten möge. Diese Auffassung blieb bis in die römische Kaiserzeit bei Cicero und Seneca lebendig.

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Dabei diente die empfohlene Selbstbeherrschung, die Unterordnung der Sinnlichkeit unter die Vernunft, nur dem einen Ziel: die Freiheit im Sinne der vollen Macht über sich selbst zu sichern. Erst die Beherrschung von Körper und Seele könne dem Mann ein von der äußeren Welt unabhängiges Leben gewähren. Diese Selbständigkeit qualifiziere ihn, besser für Familie und Gemeinwesen sorgen zu können. Niemand könne für andere gut sorgen, der nicht zuvor für sich selbst gesorgt habe. Hierzu sei noch am ehesten in der Lage, wer sich in Geduld und Entsagung übe. Nach griechisch-römischer Antike ist eine Abkehr von der Welt und eine Einkehr ins eigene Innere zur Erreichung dieses Ziels unverzichtbar. Denn nur dort sei der Mensch ganz autark, Herr seiner selbst. Im Inneren ließen sich alle Affekte und Leidenschaften bezwingen. Hierdurch gewinne der Mensch die Freiheit, die er benötige, um auch mit seiner Begrenztheit und Sterblichkeit fertig zu werden. Dabei stelle sich schrittweise eine Seelenruhe, die Gelassenheit und Meeresstille des Gemüts, ein. Ob Epiktet, Marc Aurel oder Seneca – alle Stoiker waren davon überzeugt, dass der Mensch aus eigener Kraft zu Ruhe und Frieden finden könne. Ein glückliches Leben bestehe hauptsächlich darin, in  unerschütterbarer Weise gegenüber Begierden, Alter, Tod und Schicksalsschlägen zu leben, die sich menschlicher Bemächtigung entzögen.

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Christliche Selbsterforschung

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Nach der christlichen Glaubenslehre gründet die Idee der stoischen Seelenruhe auf einem großen Irrtum. Mit Blaise Pascal gesprochen: „Die Stoiker lehren: Kehre bei Dir selbst ein: dort findest Du Ruhe. Das ist nicht wahr.“[5] Anders als die Stoiker findet ein Christ in der eigenen Innerlichkeit nicht den Seelenfrieden. Im Gegenteil sei rastlose Unruhe und eine Sehnsucht nach Gott für dessen Innenleben charakteristisch: „Getrieben hast Du uns zu Dir, o Herr, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in Dir“, schreibt der Kirchenvater Augustinus.[6] Ähnliches steht im 14. Jahrhundert beim Vater des Humanismus Francesco Petrarca: „Den Frieden kann ich nicht finden und führe doch keinen Krieg.“[7]

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In der griechisch-römischen Antike herrschte die Überzeugung, der sterbliche Mensch sei aus eigener Kraft zur Selbstbeherrschung, Seelenruhe und Wahrheitsfindung imstande. Nach der Sokratischen Maieutik, auch als philosophische Hebammenkunst bekannt, gilt es eine Gesprächssituation herzustellen, in welcher der Gesprächsführer seinem Gesprächspartner lediglich Hilfestellungen dafür bietet, dass der Angesprochene die gesuchten Wahheiten aus sich schrittweise hervorholen kann. Der Gesprächsführer selbst gibt also keinerlei Wahrheiten preis. Er leitet auch nichts her, sondern bewegt durch Fragen und Kommentare den Angesprochenen zu sicheren Erkenntnissen. In diesem Sinne gleicht er einem Geburtshelfer.

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Aus christlicher Sicht ist der Mensch nicht aus sich allein zur Seelenruhe und Wahrheitsfindung fähig. Überhaupt lasse sich seine irdische Ruhelosigkeit und Fehlbarkeit niemals völlig überwinden. Den Christen quält das nagende, bohrende Gefühl, dass mit seinem Leben etwas nicht in Ordnung ist. Damit zusammenhängend wird die Sinnlichkeit nun nicht mehr als Bedrohung der menschlichen Freiheit und Unabhängigkeit empfunden, sondern als heilsbedrohliches Laster. Der Mensch wird vornehmlich als sündiges Fleisch gesehen.

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Dieser Wandel im Menschenbild leitet eine neue Befassung des Einzelnen mit sich selbst ein. Wie in der griechisch-römischen Ethik wird der Einzelne zwar zur Einkehr in sich selbst aufgerufen. So ermahnt Aurelius Augustinus den Menschen zur Hinwendung in das eigene Innere und zur Abwendung von der sichtbaren Außenwelt: „Gott und die Welt will ich erkennen. Weiter nichts? Gar nichts.“[8] Noch deutlicher an anderer Stelle: „Geh` nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst. Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.“[9]

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Der Kirchenvater Augustinus gehört zu den Vätern der abendländischen Philosophie der Innerlichkeit. Spätere Beispiele hierfür sind René Descartes, bei dem man lesen kann: „mit mir allein will ich reden, tiefer in mich hineinblicken und so versuchen, mir mein Selbst nach und nach bekannter und vertrauter zu machen.“[10] Johann Gottlieb Fichte: „Merke auf dich selbst: Kehre deinen Blick von allem, was dich umgibt ab, und in dein Inneres – ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling tut.“[11] Sören Kierkegaard: „Innerlichkeit ist Subjektivität. Subjektivität ist in ihrem Wesentlichen Leidenschaft, in ihrem Maximum unendliche, persönlich interessierte Leidenschaft für die eigene ewige Seligkeit.“[12]

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So sehr die griechisch-römische Antike und das Christentum den Einzelnen aber dazu auffordern, sich zu sich selbst zurückzuwenden, grundsätzlich verfolgen sie ganz unterschiedliche Ziele: Dort geht es um Selbstbeherrschung, hier um Selbsterforschung. Dort befindet sich der Mensch seinem Wesen nach in der Wahrheit, hier in der Unwahrheit.

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Der Christ soll im Inneren gewissenhaft, ausgiebig und genau den Wahrheiten über sich nachspüren. Er soll sein Gewissen erforschen, sich auf den Grund gehen und nach Spuren heilsgefährdender Sünden durchsuchen. Dies alles soll mit größter Genauigkeit geschehen. Der Einzelne soll – außer seinen verwerflichen Reden und Handlungen – selbst seine geheimsten Gedanken, Begierden und Träume offenlegen. „Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken“, heißt es im katholischen Schuldbekenntnis. Eine solche Selbstbespitzelung fällt niemandem leicht. Denn die Sünde versteckt sich oft geschickt. Sie ist fantasievoll und einfallsreich. Deshalb soll der Einzelne vor sich stets auf der Hut sein. Jeder neige zur Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber, im Extremfall sogar zur Lebenslüge. Wie oft macht man sich tatsächlich etwas vor und verschließt die Augen vor der  Wahrheit. Augustinus berichtet davon, dass er vor sich selbst die eigenen Sünden verborgen hielt. Selbsttäuschung und Selbstbetrug sind niemandem ganz fremd. Darum soll man die Fackel der Introspektion noch in die verwinkeltesten Ecken der Seele hineinleuchten, um so besser die Abgründe seines Daseins ans Licht bringen zu können. Das Christentum hegt eine große Sympathie mit den quälenden Untiefen der menschlichen Existenz. Hiernach genügt es nicht, bloß in sich hineinzublicken. Vielmehr kommt es darauf an, auch die inneren Verwicklungen zu durchschauen und zu entknoten.

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Dennoch bleibt so manche Sünde verborgen. Eine noch so rigoros ausgeführte Selbsterforschung führt niemals zur völligen Selbsttransparenz und zur Aufdeckung aller Verfehlungen. Deshalb bleibt die heilsnotwendige Erkundung des eigenen Selbst unabschließbar. Die Suche nach der von allen Entstellungen befreiten Wahrheit kommt nur teilweise ans Ziel. Doch damit die Innensicht möglichst nahe an sie herankommt, der demaskierende Blick hinter die eigenen Kulissen also weitgehend gelingt, bedarf es außer Detailgenauigkeit und Sorgfalt vor allem intellektueller Redlichkeit. Wahrhaftigkeit ist die Wahrheit des Herzens – eine radikale Ehrlichkeit gegen sich selbst beim genauen Beobachten, Zergliedern und Bereden der inneren Zustände. Die versteckten Motive seines Fühlens, Denkens und Handelns aufzuspüren gilt als heilsrelevant, Aufrichtigkeit sogar als notwendige Voraussetzung zur Heilsgewährung.

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Die Zugangschancen zum Heil steigen in dem Maße, wie man vor Gott nach wahrhaftiger Prüfung der Seele seine Sünden bekennt und bereut. Redliche Selbsterforschung, detailliertes Sündengeständnis, aufrichtige Reue, konsequente Buße gekoppelt mit dem festen Entschluss zur Besserung stellen einen stimmigen Zusammenhang her. Nachdem der Gläubige seine Sünden reuig als die seinen anerkannt und Besserung gelobt hat, ist aber die Beschäftigung mit sich noch nicht abgeschlossen. Denn zum einen verfällt jedermann aufs Neue den flüchtigen Versuchungen der Welt, zum anderen sind niemals alle Verfehlungen aufgedeckt. Das Eingeständnis der eigenen Sündhaftigkeit ist zu keinem Zeitpunkt fehl am Platz. Irgendetwas zu beichten gibt es immer.

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Jedoch ist die kirchliche Institution der Beichte vor den Ohren eines Priesters mit Vollmacht zur Sündenlossprechung erst im IV. Laterankonzil 1215 obligatorisches Sakrament für alle Katholiken geworden. Die Gitterfenster dunkler Beichtstühle vor Augen erleichtern dem Sünder die Preisgabe intimer Geheimnisse. Seine Unsichtbarkeit hemmt sein Schamgefühl und führt auf diese Weise zu enthemmteren Geständnissen.

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So verläuft der Weg zum Heil über Irrwege, Abwege und Umwege, die eine gewissenhafte Selbstanalyse verlangen, ohne dass der Einzelne hierbei zu dauerhafter Ruhe gelangen kann. Augustinus spricht in diesem Zusammenhang von „Schmerz des Wandernden, den die Sehnsucht nach der Heimat und ihrem Schöpfer, seinem seligen Gott treibt.“[13] Wir Menschen seien „Pilger“, die „nach dem Vaterland verlangen, und eben dieses Verlangen ist es, in dem wir seufzen.“[14] Es sei „Trübsal, dass wir noch nicht mit Gott vereint sind, dass wir noch unter Versuchungen und Beschwerden weilen, dass wir nicht ohne Furcht sein können. Wir leben noch nicht in der Sorglosigkeit, die uns verheißen ist.“[15] An anderer Stelle fasst der Kirchenvater diese Erkenntnis so zusammen: „Hier kann ich sein und will es nicht, dort will ich sein und kann es nicht.“[16] Hegel bezeichnet eine solche Entzweiung als „unglückliches Bewusstsein“[17]. Dieses gründet auf dem existenziellen Gegensatz zwischen gegenwärtigem Hier, an dem man sich gerade aufhält, aber nicht wohlfühlt, etwa auf der Erde, und einem nicht-gegenwärtigen Dort wie dem Himmelreich, das man ersehnt, aber zu Lebzeiten nicht erreicht. Darum wird der Sünder stets von schweifender Unruhe umgetrieben. Hierzu passend soll er immer wieder sein Leben sorgfältig und wahrhaftig nach Sünden durchstöbern, um vor Gott seine Schuld reuig bekennen und auf seine Vergebung hoffen zu können.

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Die subversive Reflexion

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Mit der Aufforderung zu dauerhafter Gewissenserforschung ist im christlichen Kulturkreis die Idee der intellektuellen Selbstbeobachtung entstanden, zu der die Reflexion gehört. Wie Augustinus suchen zahlreiche Philosophen der Neuzeit die Wahrheit im menschlichen Inneren. Ob René Descartes, Johann Glottlieb Fichte oder Edmund Husserl – sie alle setzen die reflexive Selbstanalyse als Mittel zur Freilegung grundlegender Gewissheiten ein. Denn im inneren Menschen wohne ein Wissen, das dem Einzelnen Halt, Sicherheit und Orientierung geben könne. Dieses lasse sich durch reflexive Selbsterforschung gewinnen.

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Allerdings bestehen seit der Romantik bis heute Zweifel daran, dass die reflexive Selbstanalyse ein taugliches Instrument zur Auffindung haltgebender Sicherheiten sei. Schon eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Denn in der Moderne hat sich die reflexive Selbstanalyse öfter als subversiv denn als konstruktiv erwiesen. Mit Hilfe der Reflexion hat das moderne Subjekt vielerlei Bindungen aufgelöst, Regeln und Orientierungen außer Kraft gesetzt, bis es ihm schließlich mit nichts mehr ernst war. Die Gefahr, ins Bodenlose zu stürzen, ist groß, wenn man eine bewusste und reflektierte Haltung allen Wahlmöglichkeiten gegenüber einnimmt. Deshalb warnen Sozialphilosophen wie Helmut Schelsky und Arnold Gehlen vor der Reflexion als dem „gefährlichsten aller Medien“[18]. Als das „getriebene, beunruhigte, endlose Hin- und Hergehen des Bewusstseins“[19] neige die Reflexion dazu, gewachsene Sicherheiten, Traditionen und Institutionen zu problematisieren und zu hinterfragen und hierdurch von innen aufzuweichen. Selbstverständlichkeiten würden aus ihrer unbewussten Fraglosigkeit ins grüblerische Bewusstsein „heraufgepumpt und aufgekaut.“[20] Das alles sei umso schlimmer, je mehr der moderne Mensch im heutigen Kulturbetrieb durch Unterhaltungsindustrie und Massenkommunikationsmittel zu ruheloser Dauerreflexion regelrecht angetrieben werde. Alles gerate so ins Schweben, auch die christliche Religion. Es bedarf keiner großen Fantasie, um zu erkennen, dass permanentes Reflektieren, Problematisieren und Hinterfragen religiöse Bindungen schwächen, ja auflösen kann.

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Nun hat diese Grundhaltung der ununterbrochenen Reflexion ihren Ursprung aber in der Religion. Erst mit dem Christentum kam ja das Selbstgespräch, das Soliloquium, der innere Monolog in die abendländische Kultur. Zunächst wurde die Reflexion innerhalb der Religion bei der Gewissenserforschung des sündigen Menschen praktiziert. Inzwischen aber hat sie wie ein Feuer die Religion selbst erfasst, um auch diese zu problematisieren und zu hinterfragen.

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Reflektierte Aneignung des Glaubens

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Gegen diese düstere Einschätzung lässt sich ein gewichtiger Einwand vorbringen. Reflexion ist bis heute nicht notwendigerweise destruktiv, sondern kann durchaus konstruktiv sein. Nach Jürgen Habermas ist der Umgang mit der Wirklichkeit in unserer vielfältig ausdifferenzierten Kultur unvermeidlicherweise reflexiv, was zwar zu einer wachsenden Problematisierung und Hinterfragung von Traditionen, aber nicht zwangsläufig zu deren Zerstörung führe. Statt dessen sei auch deren hermeneutische Erneuerung und kulturelle Fortbildung im Sinne einer reflexiven Aneignung möglich. In der Tat gibt es zahllose Bemühungen in der moderen Welt, die christlichen Glaubenswahrheiten auf diesem Wege am Leben zu erhalten. Immer wieder werden rational motivierte Verständigungsprozesse in Gang gesetzt, um einerseits die Vereinbarkeit religiöser Grundannahmen mit den heutigen Wissenschaften aufzuzeigen, andererseits die existenzielle Relevanz rational vertretbarer Religiosität mit der säkularen Welt zu beweisen.

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Zu den geläufigen Sprachspielen solcher Vorgänge gehört die nachdrückliche Feststellung, dass zwar naturwissenschaftlich erkennbare Signale für eine göttliche Macht grundsätzlich nicht gefunden werden können. Genauso dezidiert müsse aber betont werden, dass die Existenz Gottes nicht auf wissenschaftlichem Wege ausgeschlossen werden kann. Mit Immanuel Kant gesprochen können wir prinzipiell nicht von der Existenz oder Nichtexistenz eines ersten Urgrundes oder letzten Endzwecks theoretisch wissen. Nach Kant verschafft diese Einsicht einen Platz für den Glauben. Naturwissenschaftliche Erklärung und religiöse Sinndeutung gelten für viele als ganz unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit, die letzten Endes miteinander inkommensurabel seien.

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Unbeschadet dieser prinzipiellen Differenzen wird heute gleichzeitig zugestanden, dass sich naturwissenschaftliche Erklärung und religiöse Deutung aber in einigen wesentlichen Sachfragen berühren. Deshalb sei ein Dialog zwischen beiden Weisen der Lebens- und Weltauslegung wünschenswert. Übereinstimmende Sachfragen legten solche Gespräche zwischen diesen heterogenen Perspektiven nahe. Dabei erwiesen sich eine Reihe von Erklärungs- und Deutungsansätzen duchaus als miteinander vereinbar. Beispielhaft seien fünf Punkte genannt.

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Da ist erstens die letzte Warumfrage, auf die es keine wissenschaftliche Antwort geben kann: Warum gibt es etwas, warum existiere ich überhaupt? Freilich muss die Frage nach dem letzten Warum, Woher und Wohin nicht religiös beantwortet werden, aber die Vergegenwärtigung des Existenzrätsels, der Faktizität und Kontingenz alles Seienden, schließt einen letzten Grund nicht aus. Im Gegenteil drängt sie aus Sicht vieler Zeitgenossen eine religiöse Deutung nahezu auf.

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Zweitens kann die Unermesslichkeit des Universums als Bild der unermesslichen Schöpferkraft Gottes interpretiert werden, gewissermaßen als sichtbarer Ausdruck seiner Unendlichkeit. Davon abgesehen ist die menschliche Vorstellungskraft ohnehin kein Maßstab für die allgewaltige Schöpferkraft Gottes. „Denn tausend Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist,“ heißt es im 90. psalm.

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Damit zusammenhängend kann drittens die Erforschung des riesigen Universums mit seinen Milliarden Galaxien und Sonnen zum Inhalt einer die Seele erhebenden Glaubenserfahrung werden, wodurch die Selbständigkeit der modernen Astrophysik auf keinerlei Weise in Frage gestellt wird.

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Ähnlich kann viertens die ästhetische Schönheit und Harmonie der uns umgebenden Natur, der tosenden Meere, zerklüfteten Berge, milden Morgenröte oder friedlichen Abenddämmerung  sowie des gestirnten Nachthimmels über uns ein religiöses Gefühl der Bewunderung und Andacht hervorrufen, ohne hierbei in Konflikt mit den Naturwissenschaften zu geraten. Bei solchem Verweilen vor der sichtbaren Natur kommt es im andächtigen Betrachter zu einer Ruhe, die weniger ein Ausruhen als ein Insichruhen ist.

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Hierdurch wird überhaupt erst das Wunder der Existenz in verdichteter Intensität wahrnehmbar. Man bekommt zu spüren, dass man selbst und alles ringsum existiert. Die schöne Natur scheint sogar nur da zu sein, um einen mit ihrer Existenz zu erfreuen, wie Sören Kierkegaard findet: Zu deinem Glauben möge die Freude darüber gehören, „dass du ins Dasein getreten bist, dass du da bist […], dass du Mensch geworden bist, dass du sehen […], hören […], riechen […], schmecken kannst, dass du fühlen kannst; dass die Sonne scheint für dich – und deinetwegen; dass, wenn sie müde wird, dann der Mond aufgeht, und dass dann die Sterne angezündet werden; dass es Winter wird, dass die gaze Natur sich verkleidet […]; dass es Frühling wird […]; dass es Herbst wird […], und das, um dich zu erfreuen.“[21] Hier bezieht der Gläubige alles auf sich, als ob es nur um seinetwillen da sei. Selbstverständlich ist das aber nicht wörtlich gemeint, sondern lediglich Ausdruck einer übeschwänglichen Lebensfreude.    

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Fünftens ermöglicht auch die verblüffende Feinabstimmung der kosmischen Konstanten, wie sie die Ausgangskonstellation der Evolution bestimmt, einen Brückenschlag zwischen Theologie und Naturwissenschaft. Denn selbst wenn die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt und der Mensch in die Evolution hineinverflochten ist, ja seine Entstehung im Kosmos nicht zu erwarten stand, eben höchst unwahrscheinlich war – so gibt es ihn ja trotzdem. Offenbar verlief der Weg vom Weiten ins Enge, vom Häufigsten zum Seltensten und vom Stabilsten zum Fragilsten. Hiernach lässt Gott das Kostbarste, den Menschen, in der sichtbaren Welt bewusst als gering, unerheblich und klein erscheinen.

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Reflektierte Gefährdung des Glaubens

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Den normalen Gläubigen interessieren in der Regel die Bemühungen nicht, den Glauben mit der Wissenschaft auszusöhnen. Alltägliche Sorgen bis hin zu Krisenerfahrungen mit hohem Trostbedarf auf der einen Seite und Sinnerfahrungen mit einem Gefühl großer Dankbarkeit auf der anderen Seite bilden häufig die Grundlage seiner Religiosität. Dazu gehören Erfahrungen der Endlichkeit und Vergänglichkeit ebenso wie des Glücks, der Schönheit und Lebensbejahung. Es kann einen Menschen dankbar machen, dass er lebt, dass ihm überhaupt Lebenszeit geschenkt ist. In dieser Daseinsfreude spüren viele eine göttliche Nähe wie im Seufzen und Flehen einen göttlichen Trost. Doch verwandelt der Glaube die Last des Lebens nicht einfach in sorglose Leichtigkeit. Er löscht den beschwerlichen Alltag nicht, sondern erleichtert ihn nur, so dass wir ihn besser heben und tragen können. „Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht“, heißt es in Matth. 11.30.

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Allerdings erspart die gelebte Religiosität dem nachdenklichen Menschen nicht die Frage, ob sein in gläubiger Hingabe erfahrener Gott des Alten und Neuen Bundes auch tatsächlich existiert. Ist die Annahme eines Schöpfers aller Dinge einschließlich des physischen Weltalls mit seinen Milliarden Galaxien und seiner naturhistorischen Evolution überhaupt eine sinnvolle Idee mit Überzeugungskraft? Wie leicht gerät die glaubende Selbsthingabe an das geoffenbarte Wort Gottes in Verdacht, sich allen versöhnlichen Argumenten zum Trotz im Fiktiven und Illusionären zu bewegen.

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Tatsächlich kommen dem kritisch reflektierenden Bewusstsein alle Versuche, in das kosmische, naturgeschichtliche und lebensweltliche Geschehen einen religiösen Sinnzusammenhang hineinzulegen, etwas konstruiert vor, was das Maß ihrer Plausibilität bereits erheblich vermindert. Der konstruierte Charakter der Bemühungen, etwas zusammen zu bringen, das nicht so recht zusammenpassen will, hat etwas überaus Angestrengtes. Eine Welt mit Milliarden Galaxien und Sonnen aus Wasserstoff und Helium, Elektronen und Protonen, Wellen und Korpuskeln oder eine Evolution mit zufällig streuenden Mutationen und einem erbarmungslosen Kampf ums Dasein ist schon in unserer Vorstellung spürbar anders als eine Welt, in der man die Hirtenfürsorge eines alles tragenden Schöpfers erkennen kann, dessen Firmament vom Werk seiner göttlichen Hände kündet. Für das reflektierende Bewusstsein lassen sich diese beiden Perspektiven nicht ohne weiteres miteinander verbinden.

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Ähnliche Probleme bereitet die Hoffnung auf Verklärung und Vollendung dieser Welt, in der die Herrlichkeit Gottes offenbar und der Mensch erhöht werde. Denn inzwischen wissen wir, dass das Ende der Menschheit nicht mit dem Ende der Welt zusammenfallen wird. Nachdem die Menschheit Milliarden von Jahren nicht da war, wird sie eines Tages aus dem Kosmos wieder so verschwunden sein, als ob es sie niemals gegeben hätte. In diesen Sturz der Menschheit wird der Kosmos nicht mit hineingezogen. Das Universum wird über Milliarden von Jahren weiterbestehen, wobei von allem möglicherweise nur ein sich dem Nullpunkt näherndes Strahlungsfeld übrig bleibt.

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Genauso bereitet es dem reflektierenden Bewusstsein große Schwierigkeiten, an der Vorstellung des Menschen als Mitte und Krone der Schöpfung festzuhalten, in der Gott jeden Einzelnen in einmaliger und persönlicher Weise gewollt habe. Es bereitet Kopfzerbrechen, wie sich diese Einschätzung überzeugend mit der Naturgeschichte verbinden lasse, wonach sich die Erde vor rund 4 Milliarden Jahren am Rande einer durchschnittlichen Spiralgalaxie mit 100 Milliarden Sonnen bildete, auf der vor rund 60 Millionen Jahren die Dinoausaurier ausstarben. Denn erst dieser Wandel hat wiederum das Hervortreten der Säugetiere begünstigt, deren Entwicklung über Zickzack-Prozesse das Emportauchen der frühesten Menschenformen vor rund 400 000 Jahren und des heutigen Menschen vor rund 40 000 Jahren führte.

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In diesem Zusammenhang stellt sich dem reflektierten Bewusstsein die Frage, warum die Menschwerdung Gottes überhaupt erst so spät stattfand. Warum nicht schon früher? Warum ausgerechnet vor rund 2000 Jahren in einer primitiven Bauernkultur? Damit verbunden bereitet es große Mühe, im historischen Jesus den verherrlichten Christus zu erkennen. Damit sei nicht die Existenz Jesu in Abrede gestellt, aber der nachösterlichen Übertragung messianischer Vorstellungen auf Jesus durch die Urchristen haftet etwas Gewaltsames an, wenn man bedenkt, dass sich Jesus selbst niemals als Messias verstand. Dass die Evangelien erst 40 bis 70 Jahre nach dem Tod Jesu entstanden und der Osterglaube in das Erdenwirken Jesu projiziert wurde, erleichtert die Sache nicht gerade.

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Es bleibt natürlich möglich, ohne Kenntnis der umfangreichen Leben-Jesu-Forschung mit ihrer Suche nach dem historischen Jesus die von Verkündigungsabsichten geformte Christusbotschaft in glaubender Selbsthingabe an das Neue Testament anzunehmen. Überhaupt kann das reflektierte Bewusstsein allen angedeuteten Bedenken zum Trotz die wissenschaftlichen Ergebnisse und religiösen Glaubenswahrheiten so aneignen, dass es am Ende doch wieder irgendwie passt. Die moderne Reflexionskultur schließt zwar eine überlegte Aneignung und Anerkennung der christlichen Religion nicht von vornherein aus, aber sie belastet diese mit schwerwiegenden, ja verstörenden Vorbehalten. Allerdings können kritische Argumente, und seien sie noch so vortrefflich, den Gläubigen, der die Gegenwart Gottes spürt, nicht in seinem Glauben erschüttern.

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Existenzbasierte Religionskritik

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Nun hat das Christentum zusammen mit der Reflexion auch eine spezielle Selbsttechnik entwickelt, die mehr als alles bisher Dargelegte dem Glauben dennoch zum Verhängnis gereichen kann: die Wahrhaftigkeit, die auf eine möglichst klare Erkenntnis der eigenen Gedanken, Wünsche und Neigungen ohne jede Verstellung und Verbiegung abzielt. Wie ausgeführt, kam erst mit dem Christentum die Idee der aufrichtigen Selbsterforschung in die abendländische Kultur. Der Einzelne soll sein Inneres schonungslos durchleuchten und sich über seine Gedanken, Worte und Werke aufs genaueste Rechenschaft ablegen. Hierbei möge der Gläubige stets misstrauisch gegen sich selbst bleiben. Denn wie oft verschließe man die Augen vor Unliebsamem oder übersehe unterschwellige Triebfedern.

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Tatsächlich fällt es uns Menschen schwer, den Dschungel des eigenen Seelenlebens zu durchdringen und der Wahrheit ohne Ausflüchte ins Auge zu sehen. Darum ist es ratsam, bei einer gewissenhaften Selbstentblößung sich gegenüber immer argwöhnisch zu bleiben. So installierte das Christentum eine Bewusstseinskultur des Verdachts. Dieser zufolge ist es sinnvoll, des erstrebten Heils wegen sich unausgesetzt Verdächtigungen auszusetzen, um so eingeschlichenen Selbsttäuschungen besser auf die Schliche zu kommen.

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Profane Erben der religiösen Selbstenthüllung des Sünders sind die psychologische Selbstanalyse des Neurotikers und die sozialistische Selbstkritik des Dissidenten. Doch sei auf diese säkularen Bekenntnisrituale hier nicht näher eingegangen. Ebenso wenig interessiert vor Ort die Erkenntnis, dass die unermüdliche Erforschung des eigenen Inneren einesteils selbst neue lasterhafte Lüste produziert, andernteils eine Form der Überwachung des Menschen bis in intime Bereiche darstellt. Statt dessen verbleiben wir weiter bei der religiösen Selbstbespitzelung.

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„Niemand betrüge sich selbst“, schreibt der Apostel Paulus in 1. Kor 3.18. Es liegt in der Eigenart christlicher Selbsterforschung, dass sie vor nichts Halt und hierdurch seelische Bezirke zugänglich macht, die vorher weitgehend verschlossen waren. Der reflexive Blick in das Innere gibt dem eigenen Suchen keine feste Richtung, sondern schweift auf allen seelischen Feldern umher, getrieben von dem Bedürfnis, noch Licht in die untergründigsten Keller und entlegensten Winkel der eigenen Existenz zu bringen. Diese Bekenntnisse, die foro interno abgelegt werden, geben ganz intimen Gedanken und verbotenen Lüsten ein Sprachrohr. Da kann es nur eine Frage der Zeit sein, bis der Funken der grüblerischen Selbstbespitzelung, die vom Christentum angestoßen wurde, auf die christliche Lehre selbst überspringt. Mit einem Male erfährt die innere Wahrhaftigkeit eine dramatische Zuspitzung. Der religiöse Zweifelsinn wird wach, der nun die eigene Religiosität einem geradezu inquisitorischen Verhör unterzieht. Plötzlich drängt sich die Frage nach den persönlichen Motiven des Glaubens auf: „Glaubt man, weil man die Frohe Botschaft für glaubwürdig hält – oder verbirgt sich etwas Anderes dahinter? Was liegt dem Willen zum Glauben zugrunde?“ Es ist schwer, sich in sich selbst zurechtzufinden und über sich klarzuwerden. Auf einmal gerät die Religion in den Strudel der ehrlichen Selbsterforschung hinein. Dummerweise hat sie selbst den Gläubigen in einer Selbsttechnik unterwiesen, durch die ihr Wahrheitsanspruch nunmehr in Zweifel gezogen wird. Unversehens traut sich der ringende, suchende und fragende Mensch nicht mehr. Er ist sich in höchstem Grade suspekt geworden.

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Der konstruierte Charakter all seiner Bemühungen, die christlichen Glaubensinhalte mit der modernen Welt zusammen zu bringen, stimmt ihn auf einmal skeptisch. Denn wirken seine Anstrengungen, den Glauben in die moderne Welt hinüberzuretten, nicht wie verzweifelte Versuche, den religiösen Trost durch Zurechtlegungen, Umdeutungen und Hilfsannahmen bewahren zu wollen? Man kann sich kaum noch des Eindrucks erwehren, sich in Glaubensfragen etwas vorzumachen, vielen bedrohlichen Einsichten bisher aus dem Wege gegangen zu sein und alles sich immer so zurecht gelegt zu haben, dass es irgendwie passt. Das Bedürfnis nach Trost, Halt und Sinn war so groß, dass man diese einfach nahm, wie und wo man sie gerade fand. Hartnäckig hielt man an diesen Positionen fest, auch wenn sie sich gegen ein erdrückendes Maß von Gegeneinwänden zu behaupten hatten. Dies war bislang nur deshalb möglich, weil man es bisher mit der Wahrhaftigkeit nicht so genau nahm. Man erlag der Versuchung, ihr dadurch ausweichen zu können, dass man sich über viele Fragen im Unklaren ließ. Nimmt man aber jetzt die vom Christentum selbst ins Leben gerufene Gewissenserforschung ernst, so kann man sich nicht mehr länger verhehlen, dass der reflexive Blick ins eigene Innere mehr und mehr jede religiöse Empfindung zu zersetzen droht. In Abwandlung von Shakespeares Hamlet darf man sagen: Nun wird die Farbe religiöser Gefühle und Erfahrungen von des Gedankens Blässe angekränkelt. Geradezu wehrlos ergreift nun den Gewissenserforscher die Ahnung, dass es mit dem Höheren nichts ist. Grüblerisch ins eigene Innere versenkt, wird er hellsichtig für die Auflösung aller höheren Sinnzusammenhänge.

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Gerade deren existenzielle Nützlichkeit ruft Zweifel an ihrer Wahrheit hervor. David Hume bringt es auf den Punkt: „Alle Lehren, die von unseren Neigungen begünstigt werden, sind verdächtig.“[22] Die Entgegnung, dass sie dennoch wahr sein könnten, wirkt vor dem skizzierten Hintergrund eher fade, geradezu hilflos, wie ein Selbstbetrug. Man nimmt sich diesen Einwand selbst nicht mehr ab. Die Ahnung wächst, sich um eines Trostes willen einer Lebenslüge hingegeben zu haben.

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Dann erwachen wieder Zweifel im Unglauben: Vielleicht gibt es das Höhere ja doch. Dass alles Religiöse auf persönlichen Wünschen, Sehnsüchten und Bedürfnissen beruht, ist ja noch kein stichhaltiges Gegenargument. Warum soll das klammernde Greifen nach einem Halt bereits ein Indiz dafür sein, dass man ins Leere fasst? Das Gleiche gilt für die Erkenntnis, dass das religiöse Leben vielfältigen Interessen der Gemeinschaft dient. Freilich können selbst gute Gründe einen religiösen Glauben nicht  begründen. Aber es gibt doch eine Reihe plausibler Argumente, die ihn stützen, auch wenn er sich durch keinerlei Absicherung des Wissens festigen lässt. Die Entscheidung bleibt ein Wagnis auf einem ungewissen Boden, an den das theoretische Argument nicht heranreicht. Jedoch sind philosophische und theologische Begriffe durchaus imstande, religiöse Erfahrungen authentisch zu bearbeiten und auszulegen. Sie können religiösen Gefühle wie einen Text in eine andere Sprache übersetzen und ihnen so Worte verleihen.

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Auf welche Seite soll man sich nur schlagen? Unaufhörlich würgt man in der Schlinge der inneren Wahrhaftigkeit herum, ohne auch nur einen Schritt weiterzukommen. Zeitweilig droht man an ihrer tausendfältigen Verknotung zu ersticken. Nur wer existenziell unberührt, indifferent ist, kann agnostisch bleiben.

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Doch wenn man ehrlich ist, darf man sich der Erkenntnis Max Webers nicht verschließen: „Nirgends ist das Interesse der Wissenschaft auf die Dauer schlechter aufgehoben als da, wo man unbequeme Erkenntnisse und Tatsachen und die Realitäten des Lebens in ihrer Härte nicht sehen will.“[23] Das trifft in ganz besonderem Maße auf religiöse Wünsche, Neigungen und Sehnsüchte zu, die Sigmund Freud so kommentiert: „Es gibt im Leben kaum einen Bereich, wo wir uns so schnell mit Anworten auf die Frage, ob etwas in Ordnung ist oder nicht, zufrieden geben, wie in religiösen Fragen, weil wir darin einfach nicht verunsichert werden wollen.“[24] Aber genau diese Verunsicherung schafft die ebenso reflektierte wie aufrichtige Selbsterforschung, wenn sie den ursprünglichen Motiven nachspürt, die dem eigenen Glauben zugrunde liegen. Vielleicht glaubt man ja nur, weil man jene Lebenshilfen nicht verlieren möchte, die für das von quälenden Fragen geplagte und auf Trost bedachte eigene Dasein so wichtig sind. Es ist gar nicht so schwer, der Quelle aller religiösen Selbsttäuschungen auf die Spur zu kommen.

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So schwächt die innere Wahrhaftigkeit die eigene Glaubenskraft - erst recht, nachdem man durchschaut hat, dass die ursprüngliche Funktion religiöser Erzählungen darin liegt, die Urängste der ohnmächtigen Menschen vor der übermächtigen Wirklichkeit zu bannen. Religion ist immer auch eine kulturelle Anpassungsleistung an die natürliche Umwelt. Hierbei verleihen religiöse Geschichten dem Menschen oftmals einen absoluten Wert, der im Gegensatz steht zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit in der Welt.

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Daraus hat sich der Trost individueller Unsterblichkeit entwickelt. Seit jeher drängt das Selbsterhaltungsstreben bewusster Lebewesen über die Grenzen des irdischen Daseins hinaus. Solche Sinngebungen stärken das menschliche Immunsystem und schaffen Überlebensvorteile. Dies leisten sie aber nur, solange sie nicht als solche durchschaut werden. Tragischerweise zeichnet die religiöse Selbsterforschung, die das Christentum selbst auf den Weg brachte, mit verantwortlich an dieser Entlarvung.

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Das heißt zusammenfassend: Unter den Kräften, welche die christliche Lehre großzog, war die reflektierte Wahrhaftigkeit. Diese wendet sich irgendwann gegen die christliche Lehre selbst, nachdem sie unterschwellige Interessen, Absichten und Zwecke in deren Hintergrund aufdeckte. Daraufhin wirkt die Einsicht in die eingefleischte Selbsttäuschung und unschuldige Verlogenheit, die man vergeblich von sich abzutun versucht, wie eine zersetzende Kraft. Ein Auflösungsprozess hat begonnen, in dem der existenziell betroffene Religionskritiker das, was er erkennt, nicht besonders schätzt, und das, was er sich am liebsten weiter vorlügen möchte, leider nicht mehr schätzen kann.[25] In der christlichen Lehre steckt ein Keim zur Selbstzerstörung.

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Eine letzte Hoffnung

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Die Zahl der Menschen wächst in Westeuropa, die gleichgültig an der christlichen Religion vorübergeht. Viele sind ihr gegenüber mittlerweile noch nicht einmal feindselig eingestellt, so wenig berühren sie noch religiöse Fragen. Es sei nicht viel dahinter, alles Firlefanz, der kolossal überschätzt werde, sagen sie. Religion und Kirche interessierten sie einfach nicht mehr. Andere setzen sich noch kritisch mit Religion und Kirche auseinander. Dabei sind ganz verschiedenartige Stile der Religionskritik zu beobachten. Es gibt aggressiv-kämpferische  Spielarten, aber auch kultiviert-feinfühlige. Es gibt heitere, ernste, aber auch traurige, leise und laute, grobe und gebildete, existenziell unbeteiligte sowie existenziell betroffene Stimmen.

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Hinter der existenziell betroffenen Religionskritik steht der fragende, suchende, ringende Mensch, dem es schwer fällt, „Gott nicht existieren lassen zu können“, wie Hans Blumenberg vermerkt.[26] Der existenzialistische Religionskritiker ist im emphatischen Sinne hoffnungslos: Er will etwas mit äußerster Kraft, das nicht da ist. Hieraus folgt eine Enttäuschung, die sich schwer damit tut, dass nicht wahr sein soll, wovon die zahllosen Kirchen, Kunstwerke, Musikstücke und Botschaften beredt Zeugnis ablegen, die einem im Alltag überall begegnen. Aber gewissenhafte Selbsterforschung, reflektierte Wahrhaftigkeit und intellektuelle Redlichkeit versperren dem Grübler den Weg zu den tröstlichen Verheißungen. So sehr die überschwänglichen Sinnzusagen der frohen Botschaft ihn auch weiterhin ansprechen, er kann einfach nicht mehr daran glauben.

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Dazu passt, dass zwar das Sterben heute ein großes Thema ist, aber nicht mehr die Frage, wohin es führt. Das Vertrauen, Gottes Herrlichkeit nach dem Tode zu schauen, schwindet zusehends. Zwar lassen sich viele die Frohe Botschaft gerne gefallen, nur verlassen sich immer weniger darauf. Die Skepsis wächst, ob wir tatsächlich „alle verwandelt werden“, wie es im 1. Korintherbrief heißt. Paul Celan hält dagegen: „Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm, niemand bespricht unseren Staub. Niemand.“[27] Nur Eines ist sicher: Wir zerfallen. Ob wir zudem auch noch fallen und ob da Einer ist, „welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“, wie Rainer Maria Rilke schreibt[28], bleibt zweifelhaft.

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Seit Menschengedenken bahnen die Schreie vor dem endlosen Schweigen fantastische Wege in die dunkle Stille, um zu deuten, was im Grunde genommen undeutbar ist. Gläubige Christen sehen im Tod der „Sünde Sold“, wie es in Röm 6.23 heißt, strenge Naturalisten bloß das natürliche Ende des Lebens, das schon mit der Geburt gesetzt worden sei. Erst der Kreislauf von Fortpflanzung und Vergehen ermögliche eine Erneuerung und Weiterentwicklung des Lebens. Doch wer am Leben hängt, den kann weder eine rosige Aussicht auf den Himmel noch die Natürlichkeit seines Endes über den Tod hinwegtrösten. Weder theologische noch biologische Deutungen werden dem Phänomen des Todes gerecht. Denn mag der Tod auch natürlich und aus religiöser Sicht ein Sprungbrett in eine bessere Welt sein, gestorben werden muss trotzdem. Normalerweise ist für den Einzelnen der Tod eine Katastrophe ersten Ranges – ein existenzieller Unfall mit Totalschaden. Tröstlich ist der Tod nur für den Lebensmüden, weil er das Ende aller Sorgen und Beschwerden bedeutet. Deshalb sehnen ihn manche herbei. Es sei genug. Aber dies ist nicht die Regel. Die meisten hoffen auf einen – und sei es noch so kurzen – Aufschub: eine Galgenfrist. Jetzt noch nicht! Aber wenn weder jenseitige Herrlichkeit noch diesseitige Natürlichkeit und erst recht nicht existenzialistische Sorglosigkeit das letzte Wort behalten, worin besteht dann die Wahrheit des Todes?       

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Ludwig Strauss schreibt: „Traue den Reden des Todes nicht! Seine dir zugewandte Seite ist Schweigen!“[29] In der Tat bleibt der Tod unfassbar. Theodor Storm und Theodor Fontane nennen ihn daher den letzten dunklen „Punkt“[30], der nichts weiter bedeutet als „Schweigen Schweigen“, wie Georg Trakl dichtet.[31] Übers Sterben können wir reden, über den Tod nicht. Das Ende, eingeschlossen das düstere Grab, erscheint als schrecklich. Die Augenblicke vor dem Sprung ins Nichts - das definitive Wissen, kurz vor Asche zu sein -, ängstigen die Menschen seit jeher. „Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer// Tönt so traurig, wenn er sich bewegt// Und nun aufhebt seinen schweren Hammer// und die Stunde schlägt,“ schreibt Matthias Claudius.[32] Normalerweise hängen wir am Leben. Deshalb ängstigen wir uns auch vor dem totalen Bewusstseinsverlust, dem Verlöschen von Leben und Welt. Es erfasst uns ein Grauen bei der Vorstellung, Abschied nehmen zu müssen von allem, was wir liebgewonnen haben. Dabei muss man das Leben nicht einmal übermäßig mögen, um vor dem Tod ein starkes Grauen zu empfinden.

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Dennoch sollte einer so kurzen Sache wie dem Augenblick des Sterbens nicht zu viel Bedeutung beigelegt werden. Wie der Wechsel von der Dämmerung zur Finsternis dauert dieser Übergang nur einen kurzen Moment. Michel de Montaigne schreibt, „dass die Dinge oft von fern viel größer aussehen als aus der Nähe […]. Mit dem Tode, hoffe ich, soll es mir ebenso ergehen.“[33] In Enttäuschung ist Thomas Mann davon überzeugt, dass es sich genau so verhält: „Ach, ich kenne den Tod bereits so genau, den Tod, diese letzte Enttäuschung! Das ist der Tod? Werde ich im letzten Augenblick zu mir sprechen; nun erlebe ihn ihn.“[34] Aber man erlebt ihn ja nicht, wie Hofrat Behrens im Zauberberg betont: „Ich kenne den Tod, ich bin ein alter Angestellter von ihm, man überschätzt ihn, glauben Sie mir! Ich kann Ihnen sagen, es ist fast gar nichts damit. […] vom Tode wüsste Ihnen keiner, der wiederkäme, was Rechtes zu erzählen, denn man erlebt ihn nicht.“[35] Trotzdem bleiben die wenigsten so gelassen wie Gottfried Keller, der schreibt: „Ich hab´ in kalten Wintertagen, in dunkler, hoffnungsarmer Zeit ganz aus dem Sinne dich entschlagen, o Trugbild der Unsterblichkeit.// Nun erst versteh´ ich, die da blühet, o Lilie, deinen stillen Gruß, ich weiß wie hell die Flamme glühet, dass ich gleich dir vergehen muss!“[36]

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Nur die wenigsten bleiben ruhig, wenn sie plötzlich vor den schwindelerregenden Abgründen ihres Daseins stehen: Schwere Erkrankung, Verlassenheit, Tod. Nun machen sie eher Schreckliches durch, wie sie es vielleicht nicht für möglich gehalten haben. Zweifellos ließen sich solche unabänderlichen Härten mit Religion leichter ertragen. Nur lässt sich ein abwesender Gott selbst mit dem stärksten Argument seiner existenziellen Bedeutsamkeit nicht herbeireden.

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Trotzdem verbleibt selbst einem nostalgischen Religionskritiker, den höchste Fragen nach Mensch und Welt umtreiben, am Ende noch ein kleiner Trost. Obwohl er zum Wagnis des Glaubens außerstande ist, kennt er doch die Grenzen des Wissens. Er weiß, dass, falls es Gott gäbe, er größer wäre als alles menschliche Vorstellungsvermögen. Gott wäre nicht nur etwas, wie Anselm von Canterbury schreibt, „über dem nichts Größeres gedacht werden kann“, sondern er wäre zudem „größer, als überhaupt gedacht werden kann.“[37] Diese einfache Erkenntnis ermöglicht bereits die trügerische Zuversicht, dass alle Einwände gegen die Religion falsch sind. Dem entsprechend bleibt dem nostalgischen Religionskritiker als letzter frommer Wunsch die zaghafte Hoffnung, in allen wichtigen religionskritischen Punkten geirrt zu haben

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Anmerkungen

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[1] Sören Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, Düsseldorf/Köln 1958, S. 99.

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[2] Francesco Petrarca, De sui ipsius et multorum ignorantia II.

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[3] Boethius, Consolatio philosophiae I, 6, p, 37ff.

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[4] Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, X, 8, 15.

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[5] Blaise Pascal, Gedanken Fr. 182, Stuttgart 1956, S. 111.

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[6] Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, München 1980, I.1.

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[7] Francesco Petrarca, Canzoniere, Düsseldorf/Zürich 2002, Nr. 134.

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[8] Aurelius Augustinus, Selbstgespräche, Erstes Buch 7, München/Zürich 1986, S. 19.

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[9] Ders., Theologische Frühschriften, Zürich 1962, S. 487.

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[10] René Descartes, Meditationes de prima philosophiae, Hamburg 1977, S. 61.

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[11] Johann Gottlieb Fichte, Werke 1, Berlin 1971, S. 422.

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[12] Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Gütersloh 1982, S. 8.

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[13] Aurelius Augustinus, Über die Dreieinigkeit, in: Texte der Kirchenväter Bd. 3, München 1963, S. 51.

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[14] Aurelius Augustinus, Vorträge über das Johannes Evangelium, in: Texte der Kirchenväter Bd. 2, München 1963, S. 500.

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[15] Aurelius Augustinus, Erklärung der psalmen, in: Texte der Kirchenväter Bd. 3, München 1963, S, 107.

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[16] Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, München 1980, X, 40.

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[17] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt 1975, S. 163.

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[18] Arnold Gehlen, Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Hamburg 1986, S. 259.

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[19] Ebenda, S. 93.

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[20] Ebenda, S. 157.

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[21] Sören Kierkegaard, Kleine Schriften 1848/49, Gütersloh 1984, S. 68.

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[22] David Hume, Die Naturgeschichte der Religion, Hamburg, 1984, S. 86.

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[23] Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1985, S. 154f.

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[24] Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, Gesammelte Werke Bd. 14, London 1948, S. 323-380.

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[25] Vgl. Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe Bd. 12, München/Berlin/New York 1980, S. 211.

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[26] Hans Blumenberg, Notizen zum Atheismus. Aus dem Nachlass, in: Neue Runschau, Frankfurt 2007, Heft 2.

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[27] Paul Celan: Die Niemandsrose.

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[28] Rainer Maria Rilke: Herbst.

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[29] Ludwig Strauss, in: Friederike Waller (Hg.), Alles ist nur Übergang, München 2006, S. 24.

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[30] Theodor Storm: Beginn des Endes; Theodor Fontane: Ausgang.

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[31] Georg Trakl: Schweigen.

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[32] Matthias Claudius: Der Tod.

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[33] Michel de Montaigne, Philosophieren heißt sterben lernen, in: Essais, Zürich 1948.

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[34] Thomas Mann, Frühe Erzählungen, Frankfurt 1981, S. 105.

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[35] Thomas Mann, Zauberberg, Frankfurt 1981.

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[36] Gottfried Keller: Ich hab´ in kalten Wintertagen.

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[37] Anselm von Canterbury, Proslogion, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 72f.

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