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Sandler Willibald: Liebe und Wahrheit - Ein seltenes Paar
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Liebe und Wahrheit - Ein seltenes Paar

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Artikel auf der Grundlage eines Vortrags auf der Isodos-Impulstagung (www.isodos.net), am 25. April 2014 in Spital am Pyhrn
Datum:2014-06-03

Inhalt

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„Ich werde mal ein Auge zudrücken“ – Wahrheit und Liebe scheinen in einer solchen Spannung zueinander zu stehen, dass man sie nur durch Kompromisse vereinbaren kann: mit Abstrichen auf beiden Seiten.

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Wahrheit ohne Liebe heilt nicht, sondern stellt bloß. Sie fixiert Menschen auf das Negative, das auch in ihnen ist. Sie urteilt ab. Sie richtet hin, statt dass sie aufrichtet. Sie verletzt, ja zerstört.

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Liebe ohne Wahrheit ist Heuchelei. Sie erreicht den Mitmenschen nicht so, wie er wirklich ist, sondern so, wie ich ihn gerne haben will. Zu Liebe ohne Wahrheit gehören auch Seitensprung und Missbrauch.

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Dazwischen gibt es unsere alltägliche Unaufrichtigkeit aus Höflichkeit – mit einem bisschen Wahrheit, aber nicht zu viel davon, damit´s nicht weh tut, und auf diese Weise mit einem bisschen Liebe. Ich drück mal ein Auge zu!

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Gibt es nur diese schwache Mitte, nur den billigen Kompromiss?

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Die Bibel und der christliche Glaube muten uns dagegen zu: Ja, es gibt eine Liebe, die ganz Wahrheit ist; und es gibt eine Wahrheit, die ganz Liebe ist.

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Gott ist Liebe und Wahrheit.1

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Gott ist barmherzig und gerecht.

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„Es begegnen einander Huld und Treue; Gerechtigkeit und Friede küssen sich“ (Ps 85,11)
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Es soll es also doch geben, dieses seltene Paar: Wahrheit und Liebe.

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Und zwar nicht bloß fern von hier im Himmel,2 sondern mitten in unserer Welt – als „Wort, das Fleisch geworden ist“ (Joh 1,14). Das heißt, wir können dieses „seltene Paar“ vorfinden, anschauen und begreifen, wie es in unserer ganz konkreten Welt, mit ihren ganz konkreten Herausforderungen gelebt wird, und wie es gelebt werden kann. Die Bibel ist ein dramatisches Buch: Das Ideal einer liebenden Wahrheit und wahrhaftigen Liebe prallt hier hart auf eine lieblose, unwahrhaftige Realität, – bis zum Zerbrechen dieser Realität.

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1. Sündenfall: Die verlorene Einheit von Liebe und Wahrheit

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Wo liegt das Grundproblem von Liebe und Wahrheit? Mein Mitmensch will geliebt werden. Und das heißt: Er will, dass ich ihn annehme, wie er ist. Aber so wie er ist, kann ich ihn nicht annehmen. Deshalb muss ich mich entscheiden: Wahrheit ohne Liebe; oder Liebe ohne Wahrheit.

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1.1 Der Baum der falschen Erkenntnis von Gut und Böse

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Wie geht der christliche Glaube, wie geht die Bibel mit dieser Problematik um? Mein Mitmensch ist Gottes Geschöpf. So wie ich selber, ist auch er geschaffen als Gottes Ebenbild und in Gottes Ähnlichkeit (Gen 1,26f). Und alles was Gott geschaffen hat, ist gut, ja sehr gut (Gen 1,4-31). Also auch dieser Mitmensch. Deshalb kann ich ihn in Wahrheit lieben.

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Aber mein Mitmensch ist nicht gut! Er hat mich belogen und mir auf jede Weise, wie er nur konnte, geschadet!

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Dass die faktische Wirklichkeit nicht einfach gut ist, haben die biblischen Schriftsteller auch schon bemerkt. Die erste Schöpfungserzählung, in der siebenmal gesagt wird, dass die von Gott geschaffene Welt gut, ja sehr gut ist, wurde im babylonischen Exil verfasst: mitten in Gewalt und Unterdrückung. Und auch das steht in der Bibel: „Die Welt war verdorben und voller Gewalt“ (Gen 6,12). Aber wie geht das damit zusammen, dass ein guter und allmächtiger Gott die Welt gut geschaffen hat? Dazu erzählt die biblische Urgeschichte (Gen 1-11) eine Abfallgeschichte. Der schwierigste Teil dabei ist der Anfang: wie kann in eine Schöpfung, die in ihrer Beziehung zu Gott, Mitmensch, sich selbst und allem anderen komplett heil ist, wie kann da etwas Böses entstehen? – und zwar ohne dass es ein böses Draußen gäbe, von wo es hereinbrechen kann, denn alles, was ist, ist von Gott gut geschaffen! Das ist keine geschichtliche Frage, als ob es einmal an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit ein solches vollkommenes Friedensreich auf Erden gegeben hätte, sondern eine grundsätzliche Frage: Wie kann eine gute und vollkommene Beziehungswirklichkeit – die es immer wieder dank Gottes Gnade näherungsweise gibt – zu etwas Schlechtem abrutschen?

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Dazu erzählt die Bibel die Geschichte vom Sündenfall: Ein Garten voller Bäume, alle „verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten“ (Gen 2,9), aber in der Mitte des Gartens ein Baum, den Gott verboten hat: den „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ (ebd.). Als die Schlange Eva erklärt, dass sie „wie Gott werden würde“, wenn sie davon isst, „sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden“ (Gen 3,6).

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„Baum der Erkenntnis“ und „klug werden“ hat mit Wahrheit zu tun; und die verlockende Anziehungskraft des Baumes hat mit Begehren und Vorliebe zu tun, wenn schon nicht mit Liebe. Offenbar hat die Geschichte vom verbotenen Baum etwas damit zu tun, dass mit Liebe und Wahrheit – sowie im Verhältnis von beidem zueinander – etwas passiert.

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Der verbotene Baum steht symbolisch für eine Möglichkeit, die mit der Schöpfung mitgegeben ist, die Gott trotz seiner Allmacht nicht verhindern und vor der er den Menschen deshalb nur warnen konnte. Die Grundaussage ist aber nicht Warnung, sondern Freigabe: „Gestalte deinen Lebensgarten wie du willst, nimm dir, was du willst, sei auch stolz auf alles, was du selber geschaffen hast, nur nimm all das zugleich in Dankbarkeit als ein Geschenk an, das ich dir gegeben habe.“ Für diese umfassende Freigabe stehen die vielen Bäume, „verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten“. Der verbotene Baum steht für die eine Möglichkeit, vor der Gott warnt: dass wir das, was wir nehmen, haben und sind, ausschließlich aus uns allein haben wollen, ohne es jemandem – letztlich Gott – zu verdanken. Man kann diesen Baum deshalb „Baum der Unverdanktheit“ nennen.3 Dessen Früchte kann Gott dem Menschen nicht freigeben, denn Gott kann dem Menschen nicht geben, dass er das, was er hat, ausschließlich aus sich allein hat. Das geht aus logischen Gründen nicht; deshalb beschränkt es nicht seine Allmacht.

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Gott hat den Menschen dazu geschaffen, dass er sich in Freiheit Gott schenkt, so wie er sich von Gott empfangen hat. Das heißt, er kann diese Rückgabe auch verweigern. Und für diese Verweigerung steht der verbotene Baum. In einer Schöpfung, die auf freie Liebe und freien Dank ausgerichtet ist, kann Gott nicht machen, dass es diesen Baum nicht gibt; er kann nur davor warnen.

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Dieser Baum hat mit einer verfälschten Liebe zu tun: mit einer Liebe, die allein für sich haben, gebrauchen will. Es ist ein Nehmen ohne dankbares Sein-Lassen, es ist ein Empfangen ohne Zurückgeben.

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Und dieser Baum hat mit einer verfälschten Wahrheit zu tun. Es ist der Baum einer falschen Erkenntnis von Gut und Böse. Ein richtiges Erkennen von Gut und Böse ist den Menschen selbstverständlich mit der Schöpfung mitgegeben.4

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Das falsche Erkennen folgt der Frage: „Was ist mein Mitmensch ausschließlich aus sich selbst heraus?“ – und: „Was bin ich selbst ausschließlich aus mir selbst heraus?“ Rein theoretisch ist ein solches Fragen möglich, aber wer sich existentiell darauf einlässt, geht in eine Falle. Denn die unerträgliche Antwort lautet: „Nichts!“ – Genau das ist das Resultat nach dem Genuss dieser Erkenntnisfrucht, vor der Gott gewarnt hat:

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„Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren.“ (Gen 3,7)
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Adam schaut Eva an, mit diesem Frageinteresse: Was ist sie ausschließlich aus sich selbst, ohne dass sie es Gott verdankt? Und er stellt fest: nichts. Das ist ihm peinlich, dafür schämt er sich.5 Das ist für ihn übel, böse, und darin gründet seine – problematische – „Erkenntnis von Böse“.6

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Ebenso schaut Adam sich selber an: Was bin ich ausschließlich aus mir selbst, ohne dass ich es Gott verdanken würde? Und wieder stellt er fest: nichts: Wieder Scham über existentielle Nacktheit.

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Und Adam sieht, wie Eva ihn anschaut, – und sich für ihn schämt. Das ist ihm vollends unerträglich. Scham über Scham. Das ist ganz übel – gesteigerte Erkenntnis von Böse.7

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„Da hefteten Sie Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz“ (vgl. Gen 3,7).
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Das deckt die eigene Blöße zu, und das wertet auf: Gut!

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So ergibt sich eine völlig pervertierte Erkenntnis von Gut und Böse. Unsere wurzelhafte Verbundenheit mit Gott kommt uns nun – im Gefolge Adams und Evas – als böse vor, da sie uns mit unserer Nichtigkeit konfrontiert: dass da nichts ist, was wir allein aus uns selbst sind. Und als gut erscheinen uns unsere Feigenblätter – immer perfekter und immer anspruchsvoller: Markenkleidung und Schminke, Autos und Häuser, Positionen und Titel8 – was wir an Masken und Fassade um uns herum aufrichten, um nicht schlechter dazustehen als die anderen, um mit ihnen mithalten zu können und sie zu übertrumpfen.

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Aus diesem Sündenfall, dieser Wurzelsünde oder Sündenwurzel9, die man als „Transzendenzverstopfung“ diagnostizieren könnte,10 erwächst eine umfassende Entfremdung: Wir sind entfremdet gegenüber Gott, der uns zum Feind und Konkurrenten geworden ist.11 Entfremdet sind wir gegenüber unseren Mitmenschen, die uns mit ihren ansehnlichen Feigenblättern unsere eigene Minderwertigkeit vor Augen führen. Entfremdet sind wir den Dingen der Schöpfung gegenüber, denn wir können sie nicht mehr bestaunen und dankbar genießen, sondern wir müssen sie an uns reißen für immer eindrucksvollere Feigenblätter im Konkurrenzkampf unseres Lebens, – Schalen, in die wir uns werfen können. Und wir sind entfremdet uns selbst gegenüber: denn wir können uns nur noch in den Schalen, die unsere eingebildete Nacktheit verbergen, akzeptieren und schließlich auch wahr-nehmen, wert-schätzen, „lieben“, – Schalen, die mich in Wirklichkeit abschneiden von Gott, in dem meine Wahrheit, Schönheit und Gutheit gründet. Damit sind eine pervertierte Wahrheit und eine pervertierte Liebe in unsere Welt eingebrochen.

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Alles Weitere in der biblischen Abfallsgeschichte folgt daraus: Kain empfindet seinen Bruder Abel als unerträglichen Konkurrenten. Sein Eindruck, dass Gott auf Abels Opfer schaut und auf sein eigenes nicht (Gen 4,4), entspringt der falschen Erkenntnis von Gut und Böse. Der scheele Seitenblick auf seinen Bruder verschärft diese von Gott entfremdete Erkenntnis: Abel erscheint nun als Rivale. Im Blick auf ihn kommt sich Kain minderwertig und benachteiligt vor (Gen 4,5). Und deshalb meint er, dass er diese Ursache seiner Entwertung aus der Welt schaffen muss. Verdrängung von Wahrheit12 führt zur Vertreibung von Menschen, die Wahrheit sichtbar machen, – zu Gewalt bis hin zum Mord.

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1.2 Die gottgeschenkte Kunst, in Wahrheit zu lieben

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Schauen wir nach diesem langen Umweg nochmals auf unser Ausgangsproblem. Da ist eine Person mir gegenüber, die will Liebe. Das heißt, sie will, dass ich sie anerkenne, wie sie ist. Damit meint sie, ich soll akzeptieren, wie sie sich gibt, was sie für gut ist und was sie für schlecht hält. Ich aber durchschaue ihren äußeren Schein, ihre Unaufrichtigkeit, ihr „fishing for compliments“. Soll ich ihr die Wahrheit sagen, oder soll ich höflich lügen?

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Gemäß der biblischen Sichtweise: Wenn ich sie oberflächlich bestätige, dann sage ich ihr nicht die Wahrheit. Wenn ich ihr sage, wie eitel und wie gierig und zugleich voller Bestätigungsbedürfnis sie ist, dann sage ich ihr nicht die ganze Wahrheit. Denn verborgen unter dieser doppelten Fassade13 – von äußerem Glanz und darunter verborgener Erbärmlichkeit – ist ganz tief drinnen sie selbst, ihr Personkern in einer ursprunghaften, noch unverdorbenen Schönheit und Gutheit, in ihrer Bedürftigkeit und Sehnsucht, ganz zu sein – in Liebe und in Wahrheit.

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Wenn ich das sehe und erkenne, dann kann ich sie in Wahrheit lieben. Aber nur, wenn ich lieben kann – wenn ich sie mit den Augen meines Herzens anschaue14 – kann ich sie in Wahrheit erkennen. Wenn ich auf diese Weise meinen Mitmenschen in Wahrheit erkenne, dann kann ich unter Umständen auch etwas von jenen Hässlichkeiten aufdecken, mit denen sie ihre Schönheit zudeckt.

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Dieser „Tiefenblick“ der Liebe ist die Grundlage für seine Erlösung. Er ermöglicht es mir, den Anderen so anzunehmen, dass er sich zum Besseren verändern kann. Das ist der Blick Gottes, mit dem Gott den Anderen durch mich anschauen kann, – wenn ich mich dazu zur Verfügung stelle, meinen Blick an Seinem auszurichten, meine Wahrheit an Seiner Wahrheit, meine Liebe an Seiner Liebe.

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Auf diese Weise offenbart sich Gottes Liebe und Wahrheit. Das ist ein Geschehen, das alles andere als harmonisch ist. Denn auf diese Weise bricht Gott in Lebensbereiche ein, die sich hermetisch von Gott abgeschlossen haben. Das kann Menschen aufs Äußerste herausfordern: es kann sie befreien, aber auch zu äußerster Aggressivität treiben, denn in gottfern eingerichteten Seinsbereichen erscheint Gott zunächst als fremd und bedrohlich.15 Die tiefste Wahrheit und Schönheit in einem Menschen freizusetzen, kann viel härter sein als an seinen Schwächen herumzunörgeln. Denn in dem so freigesetzten Licht erkennt der Mensch von selber seine Schwächen. Er muss sein Leben ändern. Oder er muss alles daran setzen, das entlarvende Licht auszulöschen, – bis zur Vernichtung des Menschen, der ihm in Liebe und Wahrheit begegnet.

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Diese Dramatik, die dort freigesetzt wird, wo sich Liebe und Wahrheit begegnen, möchte ich an einer Geschichte von Fjodor Dostojewskij verdeutlichen.

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2. Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen (Hebr 10,31)

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2.1 „Ein seltsamer Gast“ [Nacherzählung]

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In einer kleinen russischen Stadt sorgte ein merkwürdiges Ereignis für Aufsehen.16 Ein junger Offizier hatte sich mit einem angesehenen Gutsbesitzer duelliert. Das war zwar verboten, es geschah aber doch zu häufig, als dass das allein schon die Gemüter erhitzt hätte. Bemerkenswert war aber, dass der junge Offizier den Schuss des Gegners abwartete, ohne selbst zu schießen – um ein Haar wäre er tödlich getroffen worden –, dass er dann die Pistole wegwarf und den Kontrahenten um Vergebung bat. Anschließend quittierte er seinen Dienst und zog sich in ein stilles Leben zurück. Zudem ging das Gerücht, dass er beabsichtige, in ein Kloster einzutreten.

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Damals wurde viel über diesen Vorfall geredet, und man zögerte nicht, den heiteren und liebenswürdigen Menschen, von dem alle frühere Arroganz einfach abgefallen war, zu Abendveranstaltungen einzuladen und ihn über die Beweggründe seiner Wandlung zu befragen.

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In derselben Stadt lebte ein hochangesehener, für seine Wohltätigkeit bekannter Bürger, der begann den jungen Mann zu besuchen. Er wollte dessen Bekehrungsgeschichte aufs Genaueste erfahren. Immer wieder ließ er sich davon berichten. Nach zahlreichen Besuchen begann der Gast von sich zu erzählen:

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Nicht immer war er der tugendsame Bürger, als der er jetzt gilt. Vor vielen Jahren beging er ein schweres Verbrechen. Gekränkt über die Zurückweisung, die er von einer jungen Dame erfahren hatte, erstach er sie kaltblütig. Wie durch ein Wunder gelang es ihm, von allen Verdächtigungen frei zu bleiben. Ein heruntergekommener Knecht wurde des Verbrechens beschuldigt und starb wenig später in der Untersuchungshaft. In den folgenden Jahren konnte Michail – so heißt der Besucher – sein Leben immer besser ordnen, bis er schließlich zu jenem angesehenen Bürger wurde, als der er jetzt überall geschätzt wird. Doch mit Michails Wandlung zum Besseren begann das schlechte Gewissen, das ihn anfangs überhaupt nicht bedrückt hatte, an ihm zu nagen. Als er von der mutigen Lebenswende des jungen Offiziers hörte, reifte in ihm der Entschluss, sein Verbrechen öffentlich zu gestehen. Anders könne er seinen inneren Frieden wohl niemals wiedererlangen.

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Der junge Mann ist betroffen von der schrecklichen Beichte des vorbildlichen Bürgers. Er ermutigt den Gast in seinem Vorsatz, drängt ihn aber nicht. In den folgenden Tagen ist der Besucher mehrmals nahe daran, ein öffentliches Geständnis abzulegen. Aber immer wieder schreckt er davor zurück. Und je länger er das bereits Beschlossene hinausschiebt, desto mehr schwindet ihm der Mut. Er beginnt sich herauszureden: Wem wäre denn gedient mit einem solchen Schritt? Und welcher unnötige Schaden würde dadurch entstehen: seine Frau und seine Kinder würden in Schmach und Schande fallen. Immer unruhiger wird Michail bei seinen fortgesetzten Besuchen. Ohne dass sein geduldiger und mitfühlender Gastgeber etwas dazu tut, wird er dem Besucher immer unbequemer. Er wird für ihn zum leibhaftigen schlechten Gewissen. Einmal weiß der Besucher vor Verzweiflung nicht mehr weiter, er fordert Rat von dem jungen Mann und weist dessen Antwort höhnisch zurück. Da schlägt dieser die Bibel auf und zeigt ihm aus dem Hebräerbrief Kapitel 10, Vers 31: „Furchtbar ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“

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Der Gast liest es und schleudert das Buch fort. Er zittert am ganzen Körper. „Ein schrecklicher Vers“, sagt er. „Wahrlich, Sie haben ihn gut ausgesucht!“ Dann erhebt er sich. „Leben Sie wohl, vielleicht werde ich nicht mehr zu Ihnen kommen – im Paradiese werden wir uns wiedersehen. Schon vierzehn Jahre sind es also, dass ich in die Hände des lebendigen Gottes gefallen bin, das kann ich wahrlich von diesen vierzehn Jahren sagen! Morgen werde ich diese Hände bitten, mich freizugeben.“

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Schlussendlich, nur um Haaresbreite an einer weiteren Bluttat vorbei, findet der Mann doch noch die Kraft zu einem öffentlichen Geständnis. Niemand glaubt ihm, und so bleibt die befürchtete Ächtung von ihm und seiner Familie aus. Bald darauf erkrankt er an einem Herzleiden. Er stirbt einen friedlichen, mit Gott und den Menschen versöhnten Tod.

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2.2 Erste Folgerung: Liebe und Wahrheit in kritischer Solidarität

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Wie ist hier das Verhältnis von Liebe und Wahrheit? Der junge Sossima ist ganz Liebe und Hochachtung, und zwar ohne jede Naivität. Aus eigener Erfahrung kennt er die Eitelkeit und den gekränkten Stolz, mit dem sein Besucher sich peinigt, und er ist fern davon, ihn deshalb zu beurteilen oder zu verurteilen. Vielmehr leidet er an dessen Blockiertheit, mit der dieser sich zerquält.

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Durch seine reine Liebe ohne jedes direkte Verurteilen setzt Sossima ein Licht der Wahrheit frei, das schärfer wirkt als jedes Kritisieren. Dort, wo Michail Widerstand dagegen leistet, beginnt es ihn von innen zu richten. Der Zögernde richtet sich selbst, und dieses Selbstgericht wird durch die Gegenwart des ohne Verurteilung Liebenden nur noch verschärft. Das geht so weit, dass er Sossima beinahe ermordet, wie er ihm nach seiner Befreiung enthüllt:

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„Ich ging damals von dir in die Dunkelheit hinaus, wanderte durch die Straßen und kämpfte mit mir. Und plötzlich hasste ich dich so sehr, dass mein Herz es kaum ertragen konnte. ‚Jetzt‘, dachte ich, ist er der einzige, der es weiß und mein Richter ist, und jetzt kann ich ja gar nicht mehr meiner Strafe entgegen.‘ Nicht, dass ich gefürchtet hätte, du würdest mich verraten, daran habe ich mit keinem Gedanken gedacht, aber ich sagte mir: ‚Wie werde ich ihm noch in die Augen sehen können, wenn ich es nicht morgen tue?‘ Und wenn du auch am Ende der Welt wärest, es wäre einerlei, du lebtest doch, und der Gedanke, dass du lebst und alles weißt und mich verurteilst, dieser Gedanke wäre mir unerträglich gewesen. Ich hasste dich, als wärest du die Ursache von allem, und als wärest du an allem schuld. Ich kehrte damals zu dir zurück, denn ich wusste, auf deinem Tisch lag dein Dolch. Ich setzte mich und bat dich, dich gleichfalls zu setzen, und ich überlegte es mir noch eine Minute lang. Wenn ich dich aber getötet hätte, so wäre ich dieses Mordes wegen zugrunde gegangen, selbst wenn ich von meinem früheren Verbrechen nichts gesagt hätte. Doch daran dachte ich nicht und wollte ich auch in dieser Minute nicht denken. Ich hasste dich und wollte mich für alles an dir rächen. Aber Gott besiegte den Teufel in meinem Herzen. Wisse aber, dass du dem Tode nie näher gewesen bist.“17
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Wir können das Verhalten von Sossima als kritische Solidarität beschreiben.18 Seine Solidarität entspringt der Haltung einer bedingungslosen Liebe, seine Kritik einer Treue zur Wahrheit. Diese Wahrheit – konkret: das Geständnis des vertuschten Mordes – erscheint aber nicht als lieblose Zumutung; denn der angesehene Gast erkennt selber, dass ihn nur die Wahrheit befreien kann.19 Sein äußeres Leben voller Anerkennung in Familie und Gesellschaft – das ihm bereits trostlos geworden ist – würde zusammenbrechen, dafür würde er selbst frei werden.

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„Ich weiß, dass für mich sofort das Paradies anbrechen wird, sobald ich es gestanden habe. Vierzehn Jahre habe ich in der Hölle gelebt. Ich will den Schmerz der Sühne freiwillig auf mich nehmen. Und wenn das geschehen ist, werde ich wieder leben können. – ‚Mit der Unwahrheit kommst du wohl durch die ganze Welt, eine Heimkehr aber mit ihr gibt es nicht‘, sagt das Sprichwort. Jetzt wage ich weder meinen Nächsten, noch selbst meine Kinder zu lieben. Mein Gott, vielleicht werden die Kinder einmal doch begreifen, was mich diese Qual gekostet hat, und mich nicht verdammen! Gott ist nicht in der Kraft, sondern in der Wahrheit.“20
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Und tatsächlich, rückblickend nach seinem Geständnis kann Michail bezeugen:

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„Gott erbarmt sich meiner und ruft mich zu sich. Ich weiß, dass ich sterbe, aber Freude und Friede fühle ich jetzt nach so vielen Jahren zum erstenmal in meinem Herzen. Sofort erschloss sich meiner Seele das Paradies, sobald ich̓s nur ausgeführt hatte! Jetzt wage ich wieder, meine Kinder zu lieben und zu küssen. Man glaubt mir nicht, niemand hat es geglaubt, weder meine Frau noch meine Richter; auch meine Kinder werden es niemals glauben. Darin sehe ich Gottes Gnade zu meinen Kindern. Ich sterbe und mein Name bleibt für sie unbefleckt. Und ich fühle Gott schon im voraus, und mein Herz freut sich wie im Paradiese . . . Ich habe meine Schuldigkeit getan . . .“21
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2.3 Wie man in die Wahrheit kommt – den Kairos nutzen

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2.3.1 Gelebtes Vorbild

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Ich möchte nun der Frage nachgehen, wie wir diesem seltenen Paar von Liebe und Wahrheit in unserem Leben begegnen können. Wie finden wir es für uns und wie können wir es anderen zugänglich machen?

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Schauen wir uns dazu die Befreiung von Michail an: Erlösung wird für ihn erst möglich, als sich seine Einsicht in die Wahrheit mit der Erfahrung von Liebe und Wahrheit verbindet. Die Einsicht, dass ein Geständnis das einzig Richtige ist, hatte Michail schon zuvor, aber erst die Begegnung mit Michail gab ihm die Kraft dazu, – wenn auch auf dramatischen Wegen.

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Worin besteht der Einfluss Sossimas?22 In erster Näherung können wir sagen, dass Sossima für Michail ein Vorbild ist. Der Mut zur konsequenten Umkehr, den jener beim Duell vor aller Öffentlichkeit bewiesen hat, ist nun auch von Michail gefordert. Er streckt sich aus nach der Entschlusskraft dazu, und so ist er von Sossimas Verhalten fasziniert und will alles darüber im Detail erfahren. Das wiederholte Zusammensein mit dem bekehrten Duellanten wirkt sich immerhin so auf ihn aus, dass er es wagt, seinen Mord vor Sossima einzugestehen. Das ist der erste wichtige Schritt zur Verwirklichung seines Vorsatzes. Als er dann vor dem öffentlichen Geständnis zurückschreckt, wird Sossima für ihn zum lebendigen Vorwurf, ohne dass er selbst etwas dazu täte.

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Auf diese Weise ist Sossima nicht einfach Vorbild in einem äußerlichen und moralischen Sinn, das man einem zur Besserung vorhält. Da ist niemand, der Michail auf Sossima hinweist, um dann zu sagen: „Schau doch, wie der das macht. So musst du es auch tun!“ Und Sossima selber ist weit davon entfernt, sich gegenüber Michail als ein Vorbild hinzustellen oder sich auch nur für ein solches zu halten.

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Das Eigenartige, Faszinierende und auch Irritierende der literarischen Figur Sossimas, wie Dostojewskij sie zeichnet, ist die Selbstverständlichkeit, Mühelosigkeit und geradezu schlafwandlerische Sicherheit, mit der er auch die radikalsten Schritte auf dem Weg der Bekehrung und Christusnachfolge geht. Da ist nichts zu spüren von moralischem Heroismus; bei Sossima scheint alles ganz einfach und zwanglos zu gehen.

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Diese Darstellung Dostojewskijs könnte idealisierend wirken. Ist es nicht völlig unrealistisch, dass schwerste Lebensentscheidungen so leicht fallen? Tatsächlich neigt Dostojewskijs Sossima-Zyklus in Manchem zur Verklärung, allerdings nicht wo er Ereignisse beschreibt, sondern wo er darüber theoretisiert, indem er Lehren in den Mund seiner Protagonisten legt. Dass wir nur einen Schritt vom Paradies entfernt sind,23 ist romantisierend, – sobald daraus eine zeitlose Lehre gemacht wird. Aber das sagt Dostojewskij auch gar nicht, wo er erzählt. Denn der innere Kampf von Michail wird als quälend mühsam beschrieben. Was Dostojewskij – als genialer Roman-Autor24erzählt, ist das unvermutete Auftreten von Gnadenmomenten. Für eine knapp begrenzte Zeit bricht das Licht von Gottes Offenbarung durch, und wenn man diesen Kairós nutzt, dann ist alles ganz einfach, – weil man nicht bloß mit eigener Kraft geht, sondern von Gottes Kraft getragen wird.
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Damit wird deutlich, dass es nicht die eigene Leistung ist, sondern Gottes Gnade, die dem Menschen sein gutes Tun ermöglicht. Nicht durch einzelne Worte, sondern durch sein ganzes Verhalten lässt Sossima seinen Gast spüren und gibt ihm die Zuversicht: „Auch du kannst es. Geh hin und gestehe! Tu einfach den nächsten Schritt und überlass alles andere Gott.“ – Bei alldem redet Sossima nur wenig. Erst als er von Michail dazu aufgefordert wird, spricht er seinen Rat aus. Und das keineswegs aus Passivität, denn alles, was notwendig ist, drückt er durch seine Weise zu sein aus – deutlicher als alle Worte. Aber wie ist er selber in ein solches wahrhaftiges Sein hineingekommen? Grundsätzlich gefragt: Wie kann man eine solche innere Verwandlung erreichen? Dazu gibt Dostojewskij in einer vorausgehenden Erzählung wichtige Hinweise.

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2.3.2 Der genutzte Kairos einer Gnadenerfahrung

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Was hat Sossima bei seiner Umkehr dazu gebracht, dass er plötzlich – in allerletzter Minute – die Sinnlosigkeit jenes Duells einsah, das er aus gekränkter Eifersucht gegen den Verlobten einer von ihm umworbenen Frau provoziert hatte? Ausschlaggebend war für ihn eine schmerzhafte Erfahrung eigenen Versagens.25 Aus schlechter Laune heraus hatte er am Vortag des Duells seinen Knecht grundlos und maßlos geschlagen. Als er am folgenden Morgen erwacht, sind für einen Augenblick alle Wolken über seinem Leben wie fortgeweht. Er spürt die warme Morgensonne und hört die Vögel zwitschern. In diese reine Freude mischt sich aber ein widerwärtiges Gefühl. Er erinnert sich an die unmenschliche Rohheit, mit der er seinen Knecht am Vortag geschlagen hat. Nun setzt Sossima einen kleinen, aber alles Künftige ermöglichenden Schritt: Auf dem Weg zum Wagen, der ihn zum Duell führen soll, besinnt er sich, kehrt um und bittet seinen Knecht um Vergebung. Als Sossima den Eindruck bekommt, dass das nicht genügt, wirft er sich vor dem Knecht auf die Knie. Dieser zweite Schritt ist für den stolzen jungen Offizier, dessen Grundsünde die Überheblichkeit gegenüber Unterlegene war,26 der entscheidende. Für einen kurzen Augenblick, freigespielt durch eine ganz unspektakuläre Gnadenerfahrung – der schöne Morgen mit den singenden Vögeln –, findet er in sich die Möglichkeit, über den Schatten seiner Sünde zu springen. „Hieraus können Sie ersehen“, wird Sossima später seinem Gast Michail erklären, „dass es mir schon während des Duells leichter zumut war, da ich ja bereits zu hause meinen Weg betreten hatte, und danach war alles Weitere nicht nur gar nicht mehr schwer, sondern sogar freudvoll und heiter für mich“27.

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Vordergründig zeigte sich Sossimas moralische Größe beim Duell, als er den ihm zustehenden Schuss auf den Duellanten verweigerte und damit nicht nur dem Tod trotzte, sondern all die Menschen brüskierte, auf deren Anerkennung er bisher so viel gegeben hatte. Seine eigentliche Größe bestand aber im verzögerungslosen, radikalen Reagieren auf Gnadenerfahrungen, die ihm zuteil wurden.28 Das löst gleichsam eine Kettenreaktion vom Guten zum Besseren aus. Von der knappen Entschuldigung über den Kniefall zur Duellverweigerung, dem freiwilligen Ausscheiden aus dem Heer und schließlich zu einer Ganzhingabe an Gott – als späterer Staretz – mit der er für viele befreiend wirkt. Schlag auf Schlag erfährt er, wie er frei von Hochmut und Eitelkeit wird.29 Und zugleich damit schmilzt seine Angst vor Tod und Schande dahin. Auf einmal öffnen sich seine Augen, und er kann im Duellgegner den Menschen wahrnehmen, und nicht mehr bloß – wie einst Kain gegenüber Abel – die Personifizierung einer erfahrenen Demütigung.30

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Was Sossima so in atemberaubender Geschwindigkeit erringt, ist eine fast vollständige Befreiung von seiner bisherigen eitlen Selbstbezogenheit. Dass er zunächst von seinen Kameraden der Feigheit bezichtigt, dann von vielen Bürgern als Narr verlacht wurde, kümmert ihn ebensowenig wie die modisch-kurzlebige Wertschätzung, die ihm eine Zeit lang zuteil wird. Mit dieser Freiheit von der Meinung anderer wird Sossima für Michail zum eigentlichen Vorbild. Um den Mut zu seinem öffentlichen Geständnis aufbringen zu können, muss Michail wie Sossima frei werden von der Furcht vor der Verachtung der Menschen.

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2.3.3 Die versäumte Zeit der Gnade

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Mit seiner Beichte vor Sossima hat Michail den ersten Schritt getan. Damit ist er frei geworden für den entscheidenden zweiten Schritt: das öffentliche Geständnis. Im Gegensatz zu Sossima, der ohne zu zögern auf einen Schritt den nächsten setzte, schreckt Michail zurück. Er zögert so lange, bis die Kraft für seinen Entschluss schwindet. Er hat die Zeit der Gnade – biblisch: den Gnaden-Kairós31 – verpasst.

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Damit aber fällt Michail nicht nur in seine frühere Unentschiedenheit zurück, er stürzt tiefer. Die Einsicht in die Notwendigkeit des Geständnisses bleibt erhalten und entlarvt seine Unentschiedenheit als Versagen. Er versucht, diese Gewissenslast abzuschütteln, aber es gelingt ihm nicht. Ohne dass Sossima etwas dazu getan hätte, wandelt er sich für Michail vom motivierenden Vorbild zur lebendigen Anklage: Ohne auch nur ein Wort zu sagen – allein durch seine Anwesenheit – bezeugt er den Anspruch eines Lebens in Wahrhaftigkeit. Michail findet sich vor die Alternative gestellt, entweder diesem Anspruch doch noch zu genügen oder aber Sossima – als personifiziertes Ebenbild seines schlechten Gewissens – brutal aus dem Weg zu räumen.

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2.4 Der Preis der in Wahrheit gelebten Liebe

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Sossima begleitet Michail mit einer Haltung kritischer Solidarität, welche für den sich Sträubenden die maximale Befreiungskraft, aber zugleich die maximale Konfrontation bedeutet. Jeder andere Weg wäre sanfter.

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Auf der einen Seite ist da der Straßengraben einer Solidarität ohne Kritik, oder von Liebe auf Kosten von Wahrheit: Sossima könnte versuchen, seinen Gast zu beruhigen. „Vergiss doch, was gestern war – es lässt sich ohnehin niemandem mehr helfen –, und versuch einfach, heute ein guter Mensch zu sein.“ Aber mit Liebe ohne Wahrheit kommt auch die Liebe zu kurz: Eine wirkliche Befreiung und Erlösung für Michail würde es so nicht geben.

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Auf der anderen Seite gibt es den Straßengraben einer Kritik ohne Solidarität, oder von Wahrheit auf Kosten von Liebe: Sossima könnte versuchen, Druck auf Michail auszuüben: „Komm erst wieder, wenn du dein Geständnis abgelegt hast.“ Auch dieser Weg wäre für Michail der leichtere. Denn es fällt weniger schwer, die Ablehnung von jemandem auszuhalten, der mit einem gebrochen hat. Wirklich hart ist es für ihn, das freundliche, vertrauende Gesicht von Sossima ertragen zu müssen:

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„Und er geht fort, als ob er getröstet wäre; aber am nächsten Tage kommt er wieder bleich und böse zu mir und bemerkt spöttisch:
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„Jedesmal, wenn ich bei Ihnen eintrete, sehen Sie mich mit solch einer Spannung an, als wollten Sie fragen: ‚Hat er es oder hat er es noch nicht getan?‘ Gedulden Sie sich, und verachten Sie mich nicht gar zu sehr. Das ist doch nicht so leicht getan, wie Sie annehmen. Ja, vielleicht werde ich es überhaupt nicht tun. Sie werden dann doch nicht hingehen und mich anzeigen, wie?“
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Ich aber, weiß Gott, ich fürchtete mich schon, überhaupt nur zu ihm aufzublicken, geschweige denn, ihn mit törichter Spannung anzusehen! Ich war schon fast krank vor Qual, und meine Seele war voll Tränen. Die Nächte verbrachte ich schlaflos.“32
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So entpuppt sich der goldene Weg einer kritischen Solidarität als immer enger werdender Kreuzweg. Wo Sossima in seiner Solidarität kritisch-wahrhaftig ist – also Michail die Wahrheit zumutet oder zumindest nicht ausredet – steht er unter dem Vorwurf, unsolidarisch zu sein.33

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Beinahe hätte dieser Kreuzweg für Sossima mit seiner Ermordung geendet: „Wisse aber, dass du dem Tode nie näher gewesen bist.“ – Aber auch nach dem glücklichen Ausgang für Michail muss Sossima noch einen Preis für seinen Weg einer in Wahrheit liebenden Christusnachfolge zahlen: Man verdächtigt ihn, für die Zerrüttung des Ehrenbürgers verantwortlich zu sein. Er wird geschnitten und muss die Stadt verlassen.

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Dies zeigt, dass man diesen Weg einer radikalen, wahrhaftigen Liebe nur gehen kann, wenn man bereit ist „auf seinen ganzen Besitz zu verzichten“ (Lk 14,33). Wer noch einen Ruf zu verteidigen hat und für die von ihm gelebte Liebe und Wahrheit auch Anerkennung haben will, muss die Christusnachfolge auf halbem Weg abbrechen, – und alles ist schlimmer, als wenn er sich gar nicht erst auf den Weg gemacht hätte.

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Genau das hat Jesus in einem Doppelgleichnis seinen Jüngern beigebracht:

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„Wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? Sonst könnte es geschehen, dass er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertigstellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten und sagen: Der da hat einen Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen. Oder wenn ein König gegen einen anderen in den Krieg zieht, setzt er sich dann nicht zuerst hin und überlegt, ob er sich mit seinen zehntausend Mann dem entgegenstellen kann, der mit zwanzigtausend gegen ihn anrückt? Kann er es nicht, dann schickt er eine Gesandtschaft, solange der andere noch weit weg ist, und bittet um Frieden.“ (Lk 14,28-32)
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Solche Kompromisse würden bedeuten, den Weg der kritischen Solidarität zu verraten: entweder in Richtung auf einen unaufrichtigen Frieden (Liebe ohne Wahrheit; Straßengraben der Resignation) oder eine Aburteilung des Anderen (Wahrheit ohne Liebe; Straßengraben der Aggression). Fern davon, zu solchem klugen Einlenken zu raten, zieht Jesus folgende Konsequenz:

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„Darum kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet.“ (Lk 14,33)
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Diese Haltung sehen wir exemplarisch an Dostojewskijs Gestalt des späteren Startzen Sossima. Es ist die Haltung, die Jesus – gegen den Willen von Petrus – nach Jerusalem und ans Kreuz geführt hat. Und es ist die Haltung, mit der Menschen in Liebe und Wahrheit Jesus bis ins Martyrium nachgefolgt sind.

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3. Das Beispiel Jesu

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Wie ist das Verhältnis von Liebe und Wahrheit in Jesu Leben? Vor allem anderen hat Jesus die Liebe seines göttlichen Vaters gelebt. Eine harte Konfrontation mit der Wahrheit ergab sich daraus oft indirekt, ähnlich wie wir es in der Geschichte von Sossima gesehen haben. Die erste Begegnung von Petrus mit Jesus ist ein sprechendes Beispiel dafür. Direkt erfahren hat Petrus nur die Großzügigkeit Gottes – in einem überbordenden Fischfang. Und wie reagierte er darauf?
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„Er fiel Jesus zu Füßen und sagte: Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder“ (Lk 5,8)34 Aber Jesus kritisiert auch direkt. Und zwar überall dort, wo Menschen die Erfahrung von Gottes bedingungslos bejahender und vergebender Liebe gemacht haben und sich ihr verweigern. Dann legt er in schneidender Schärfe die Hindernisse bloß, welche den Menschen zu ihrer Erlösung im Weg stehen.35

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Vor allem in der Konfrontation mit den uneinsichtigen Pharisäern und Schriftgelehrten geht Jesus den Weg einer kritischen Solidarität, – ein Weg, der für ihn immer enger wird, sodass er auf der einen Seite als unsolidarischer Kritiker und auf der anderen Seite als unkritisch Solidarischer missverstanden wird. Zuletzt ist mit Worten keine Klarheit mehr herzustellen, und Jesus geht den Weg ans Kreuz weitgehend schweigend.

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Während wir unsolidarische Kritik wie auch unkritische Solidarität aus eigener Kraft gehen können, kann der Mittelweg einer kritischen Solidarität im Ernstfall nur in einer strengen Haltung des Dienens und Gehorchens gegenüber Gottes Führung gefunden werden. Wie es im dritten Lied vom Gottesknecht ausgedrückt ist:

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„Gott, der Herr, gab mir die Zunge eines Jüngers, damit ich verstehe, die Müden zu stärken durch ein aufmunterndes Wort. Jeden Morgen weckt er mein Ohr, damit ich auf ihn höre wie ein Jünger. Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Ich aber wehrte mich nicht und wich nicht zurück.“ (Jes 50,4-5)
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So vermag auch Jesus Christus – als „wahrer Mensch“ ein Vorbild für uns – den rechten Mittelweg nur zu finden, weil er sich restlos dem Willen des Vaters ausliefert:

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„Amen, amen, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, wenn er den Vater etwas tun sieht. Was nämlich der Vater tut, das tut in gleicher Weise der Sohn.“ (Joh 5,19)
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Im seiner – durch den Heiligen Geist vermittelten – Beziehung zum himmlischen Vater liegt der Schlüssel für den sonst unauffindbaren Gratweg einer kritischen Solidarität in Liebe und Wahrheit. Jesus ist vom Vater zu den Menschen gesandt. Darin liegt seine doppelte Grundbezogenheit einerseits vom Vater her (als „Sendung von“) und andererseits zu den Menschen hin (als „Sendung zu“). Das Zweite ergibt die Solidarität, das erste die Wahrheit. Solidarität ohne Kritik bzw. Liebe ohne Wahrheit würde besagen, dass Jesus sich so den Menschen – mit ihren unangemessenen Ansprüchen – zuwendet, dass er damit den Vater verrät. Damit könnte er den Menschen aber nicht mehr den Vater bringen, und so ginge nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Liebe verloren. Kritik ohne Solidarität bzw. Wahrheit ohne Liebe würde hingegen besagen, dass Jesus dort, wo Menschen im Gegensatz zum Vater stehen, dem Vater treu bleibt und sich dafür von den Menschen distanziert, sie aburteilt. Auch damit würde er seine Sendung verraten. Er hätte dann nicht nur die Liebe, sondern auch die Wahrheit geopfert.

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Von hier aus öffnet sich der Weg zu einem tieferen Verständnis vom Erlösungswerk Jesu Christi: Es besteht im Wesentlichen darin, dass Jesus die schuldhaft unterbrochene Verbindung zwischen Mensch und Gott wiederherstellt: Er empfängt vom Vater, und was er vom Vater empfängt, gibt er den Menschen weiter.36 Umgekehrt gibt er all das, was er von den Menschen empfangen hat, dankend, segnend, wandelnd an den Vater zurück. Das gilt auch für die Bosheit und Gewalt, die ihn trifft. Diese wandelt er in eine Tat der liebenden Selbsthingabe – an den Vater und für die Menschen:

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„Das ist mein Leib, mein Blut, das für euch hingegeben wird“.
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Dass Jesus der menschgewordene Gottessohn und Mittler aller Schöpfung ist, besagt, dass er mit dem konkret erfahrenen Leid auf Golgota alles Leid und Unrecht der Welt getragen und vergebend in einen Akt der erlösenden Hingabe transformiert hat:

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„Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29).
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Durch das Wirken des heiligen Geistes – freigesetzt im Zeugnis der Kirche – werden wir mit diesem Erlösungswerk Christi für unser eigenes Leben konfrontiert, – als Täter und als Opfer. Wir begreifen, dass wir dort, wo wir irgendein Geschöpf verletzt haben, Jesus Christus selbst getroffen haben, – denn in ihm ist alles geschaffen und hat alles Bestand (Kol 1,13-14). Und von daher gilt:

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„Was ihr einem meiner geringsten Brüder und Schwester getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40).
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Wir erkennen aber auch, dass Jesus jedes Unheil, ob von uns erfahren oder verursacht, bereits transformiert hat in eine liebende und vergebende Tat der Selbsthingabe an den himmlischen Vater. Und wir erhalten die Möglichkeit, diese Wirklichkeit für unser Leben anzunehmen, – indem wir glauben und Christus nachfolgen.

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Dieser Zusammenhang, den ich hier nur in äußerster Kürze skizzieren konnte,37 hat gewaltige Auswirkungen für unser konkretes Leben an den Schnitt- und Bruchstellen von Liebe und Wahrheit. Wo immer wir in eine Zerreißprobe gelangen, wo uns die Liebe im feindlichen Anderen nicht mehr zugänglich ist, da wissen wir als Christen, dass Jesus Christus uns genau hier vorausgegangen ist. Wir müssen den rechten Mittelweg nicht erst neu erfinden, sondern können wahrnehmen lernen, was er schon getan hat:

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„Seine Geschöpfe sind wir, in Christus Jesus dazu geschaffen, in unserem Leben die guten Werke zu tun, die Gott für uns im voraus bereitet hat“ (Eph 2,10).
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4. Beispiele von Nachfolge

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4.1 Kritische Solidarität, geleitet durch den Heiligen Geist – Das Beispiel der Jünger Jesu in der Apostelgeschichte

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Nach der Apostelgeschichte ist es der Heilige Geist, der die Jünger, die zuvor immer wieder versagt haben, auf den goldenen Weg einer kritischen Solidarität führt. Wir sehen das bei der Rede des geisterfüllten Petrus auf dem Pfingstfest in Jerusalem. Frei von aller Angst – die ihn bei seinem Verrat so schmählich heimgesucht hatte – konfrontiert er die anwesenden Juden:

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„Jesus, den Nazoräer, den Gott vor euch beglaubigt hat durch machtvolle Taten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst – ihn, der nach Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen hingegeben wurde, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht. [...] Mit Gewissheit erkenne also das ganze haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt.“ (Apg 2,23.36)
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Das allein hätte ein hasserfüllter Fanatismus vielleicht auch zuwege gebracht. Aber Petrus gelingt es, diese harte Kritik mit einem Geist der Solidarität zu verbinden, – und genau das übersteigt die Möglichkeiten, die uns im gesteigerten Konfliktfall von unserer gefallenen Natur her gegeben sind. Wir stoßen auf die Wirkung dieses Geistes der Solidarität in der Reaktion der anwesenden Juden:

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„Als sie das hörten, traf es sie mitten ins Herz, und sie sagten zu Petrus und den übrigen Aposteln: Was sollen wir tun, Brüder?“ (Apg 2,37)
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4.2 Exemplarisch: Die Begleitung eines Suchtkranken

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Die Kraft und zugleich Härte eines Wegs kritischer Solidarität kann exemplarisch bei der Begleitung eines Suchtkranken verdeutlicht werden, – vor allem, wenn es sich nicht nur um ein therapeutisches Verhältnis handelt, sondern um den gemeinsamen Leidensweg mit einem nahestehenden Menschen. Der Straßengraben einer Kritik ohne Solidarität würde hier darin bestehen, jeden Kontakt mit dem Betroffenen abzubrechen, bis er sein Problem selber in den Griff gebracht hat. Solidarität ohne Kritik würde hingegen bedeuten, den Abhängigen darin zu unterstützen, dass er sich das besorgen kann, mit dem er sich letztendlich kaputt macht.38 Auf dem Weg der kritischen Solidarität unterstütze ich den Anderen darin, dass er dort mit mir gegen sich sein kann, wo er selber von einem Geist der Selbstzerstörung getrieben ist.39

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Das Besondere an diesem Mittelweg einer kritischen Solidarität besteht im Einzelnen darin, mit einer „Phantasie der Liebe“ verborgene Wege der Solidarität zu finden, selbst dort, wo der gebotene Widerstand anscheinend keine Spielräume dafür mehr offen lässt. Grundlage dafür ist eine stets erneuerte (durch tägliches Gebet gestärkte) Einübung in den Blick der Liebe, dass man auch bei maximaler Konfrontation den Mitmenschen immer neu so sehen kann, wie Gott ihn sieht. Und konkret umsetzen lässt es sich in Geduld und Aufmerksamkeit für Gnadenmomente („Kairoi“), in denen Liebe vermittelt und Wahrheit zugemutet werden kann in einer Weise, wie es normalerweise verstellt ist.

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Was schützt mich auf solch steilen Gratwegen vor Überforderung und vor den Abgründen von Koabhängigkeit und Helfersyndrom? Ein Punkt, der gerade bei radikaler Christusnachfolge niemals übersehen werden darf: Ich bin nicht Christus! Jesus Christus hatte eine universale Sendung, alle Menschen zu erlösen. Meine Sendung ist begrenzt und ich muss sie mir immer neu zusagen lassen. Das bedeutet, dass ich Menschen – eventuell sogar einen mir nahestehenden Menschen – unter Umständen auch fallen lassen muss; das heißt, dass ich ihn loslasse ohne die vorausgehende Gewissheit, dass dieser Mensch von jemand anderen aufgefangen wird. Das steht nicht im Widerspruch zur gebotenen radikalen Nachfolge mit der Bereitschaft, alles wegzugeben. Wenn ich mich von einem Menschen abwende, bei dem ich den Eindruck habe, dass meine Möglichkeiten erschöpft sind, heißt das nicht schon automatisch, dass ich in eine unsolidarische Kritik verfalle. Ich kann mein Engagement für jemanden beenden, auch ohne ihn deshalb abzuurteilen. Als Christ werde ich im Gebet mit dieser Menschen verbunden bleiben, und von daher aufmerksam sein für einen rechten Gnadenmoment (Kairos), an dem es sich als gut erweist, dass ich mich neu für ihn oder sie engagiere.

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4.3 „Wo ist deine Liebe?“ – Liebe und Wahrheit im gewaltlosen Widerstand von Jean Goss

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Mit einem letzten Beispiel will ich die soziale und politische Dimension eines Handelns aus Liebe und Wahrheit verdeutlichen. Der Franzose Jean Goss hat zusammen mit seiner späteren Ehefrau Hildegard Goss-Mayr Wege eines gewaltlosen Widerstandes entwickelt und mit Betroffenen aus vielen Ländern eingeübt. Die „Initialzündung“ dafür erhielt der damals Achtundzwanzigjährige in einem Schützengraben im Zweiten Weltkrieg:40

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„In der Osternacht 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg, kurz bevor ich als französischer Soldat gefangengenommen wurde, erwachte ich plötzlich wie außer mir: Eine ungeheure Kraft der Freude, der Gewißheit und des Friedens begann mich zu durchdringen. Ich war so glücklich, daß ich vor Freude schreien wollte, und erfüllt von einem völlig unverständlichen Frieden. Es war mir, als schwebte ich über den Menschen, die, so schien es mir, jeder mit Gier irgendeiner Sache nachliefen. Zur gleichen Zeit erfüllte mich eine ungeheure Liebe zu ihnen. Ich liebte alle Menschen, und der dringliche Wunsch erwuchs in mir, ihnen das unbeschreibliche Glück, das mich erfaßt hatte, zu geben. Doch wie? Und ich erhielt eine eindeutige Antwort. Es war eine milde, doch ungeheuer mächtige Kraft, die mich weit über meine Grenzen hinaus öffnete. Ohne etwas zu berühren, zu hören oder zu sehen, verstand ich folgendes: ,Ich bin der Vater aller dieser Menschen. Ich bin ihr Schöpfer. Ich habe sie mit unendlicher Liebe erschaffen mit dem Ziel, daß sie völlig glücklich seien. Ich liebe sie weit mehr, als du dir je vorstellen kannst. Ich habe sie erschaffen, damit sie ganz von mir erfüllt, Gott-mit-mir seien, d. h. damit sie lieben, so wie ich sie geliebt habe, bis zur Hingabe meines Lebens für jeden einzelnen von ihnen ... Aber sie wissen es nicht. Deshalb töten sie einander, statt sich zu lieben. Doch nur die Liebe kann sie retten! Lehre sie, sich zu lieben, so wie ich sie liebe‘ ...“41
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Das Erlebnis wandelte den kampferprobten Soldaten, der, wie er schreibt, so gut tötete, dass er bald hohe Auszeichnungen erhalten hatte, mitten im Krieg zu einem Pazifisten. Während fünf Jahren deutscher Kriegsgefangenschaft nahm diese neue Ausrichtung langsam Gestalt an, getrieben von einer Kraft, die sich als Liebe und Wahrheit in Einheit erwies:

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„Christus offenbarte sich mir nicht als Idee, Ideologie, Doktrin oder Religion. Er zeigte sich mir als das, was ich kannte: als MENSCH. In Christus habe ich DEN MENSCHEN getroffen, nach dem ich mich im Innersten sehnte, den, der alle Menschen ohne Ausnahme liebt — die Guten und die Schlechten, die Arbeiter und die Bosse, die Gläubigen und die Ungläubigen, die Ausgebeuteten und ihre Unterdrücker, weil sie alle vom Vater in Liebe geschaffen sind. Dieser Mensch trug einen besonderen Namen: LIEBE. Dieses Wort wird so mißbraucht, daß es für viele sinnlos ist. Aber für mich hat es einen ganz präzisen Sinn erhalten: Diese Liebe ist weder sentimental noch romantisch. Sie ist Wahrheit und Gerechtigkeit, nichts anderes. Deshalb ist sie aktiv, dynamisch und aggressiv — gegen das Böse, das Unrecht, aber niemals gegen den Menschen! — Sie schafft Leben, ununterbrochen und überall. Das heißt, diese Liebe verleiht dem Menschen seine volle menschliche und göttliche Dimension. Und schließlich wurde mir klar, daß diese Liebe die einzige Kraft ist, die zu erlösen und zu befreien vermag. Denn sie zahlt den Preis für den andern, so wie Jesus am Kreuz. Sie läßt sich nicht vom Unrecht anstecken und setzt es nicht fort, im Gegensatz zu dem, was ich als Soldat getan hatte.“42
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Wie lässt sich eine solche Liebe unter den Bedingungen eines Kriegsgefangenenlagers umsetzen? Indem in konkreten Herausforderungen das mitunter lebensgefährliche Risiko eingeht, die Wahrheit in Liebe zu sagen, – in einer Haltung kritischer Solidarität, die selbst kommunistische Atheisten und nationalsozialistische Lagerleiter verwandeln kann:

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„Wie, so fragte ich mich, wie kann man das den Menschen deutlich machen? Ich fand nur einen Weg: versuchen, es zu leben. Ich habe also begonnen, zu den Kameraden im Lager von dieser Liebe zu sprechen. Sie sagten: ,Das ist großartig, aber die Liebe ist eine Utopie!‘ ̦Vielleicht‘, erwiderte ich, aber ich glaube daran!‘ Und ich versuchte, diese Liebe zu allen in unserem Lageralltag umzusetzen, mehrere Monate hindurch. Doch das Ergebnis war: Untreue, Verrat. Ich fragte mich nach dem Grund, suchte lange danach. Und Gott ließ mich verstehen, daß es unmöglich ist, diese Liebe allein zu leben; sie kann nur mit Hilfe anderer, in Gemeinschaft verwirklicht werden. Eines Sonntagsabends sprach ich zu meinen Kameraden über meine Unfähigkeit, diese Liebe zu leben. Sie meinten, das hätten sie gleich gewußt. Ich aber bestand darauf: ,Ich glaube daran. Wollt ihr mir helfen, sie zu verwirklichen? Es ist ganz einfach. Wenn ihr seht, daß ich diese Liebe nicht lebe, dann sagt es mir.‘ Zuerst schwiegen alle, dann aber erklärten sie sich dazu bereit. Und jedesmal, wenn es mir nicht gelang, meine Liebe zu leben, riefen sie: ,He, Goss, das also ist deine Liebe?‘ Und es half mir voranzukommen.
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Eines Tages gab es im Kommando ein schweres Problem, und ich sah keinen Weg, aus der Perspektive der Liebe eine Lösung zu finden. Und so verhielt ich mich wie alle anderen, d. h. ich tat nichts. Niemand sagte ein Wort. Doch am Abend, als alle schliefen, kam ein Kamerad, der sich als Atheist bezeichnete, zu meinem Strohlager und sagte: ,Also Goss, und deine Liebe?‘ ja‘, antwortete ich, ich sah wirklich keinen Ausweg.‘ ,Doch, du hättest folgendes tun können.‘ ,Ja, du hast recht morgen werde ich es tun.‘ ,Nein, nein, tu es nicht, du bist verrückt!‘ ,Es gibt einen, der verrückter war als wir, er starb aus einer verrückten Liebe zu uns am Kreuz!‘ Und am nächsten Morgen tat ich, was er vorgeschlagen hatte.
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Einige Monate später gab es noch ein viel schlimmeres Problem in unserem Lager. Diesmal sah ich sehr wohl, was ich tun müßte, aber ich hatte nicht den Mut. Und ich verhielt mich wie alle anderen: Ich tat nichts! Niemand sagte ein Wort. Doch als alle schliefen, kam ein Marxist, der mich oft verspottet hatte, und sagte: ,Goss, seit Monaten beobachte ich dich, sehe ich dich an. Diese Liebe schien mir der Weg zu sein. Und du hast nichts getan!‘ Ja, ich hatte nicht den Mut.‘ ,Also‘, erwiderte er, ist sie doch unmöglich, eine Utopie!‘ ‚Ja‘, sagte ich, sie ist eine Utopie, aber ich glaube an sie! Sag mir, was ich hätte tun sollen.‘ ,Das und das.‘ Ja`, sagte ich, ,aber sag mir, wie kommt es, daß du, der Kommunist, so leicht erkennst, was man aus Liebe tun soll?‘ ,Ach‘, erwiderte er, mein guter Goss, die Liebe ist so alt wie die Welt, und alle wissen, was man aus Liebe tun soll; doch höre, es ist unmöglich, eine Utopie!‘ ‚Ja, aber ich glaube daran, und jetzt, wo wir darüber gesprochen haben, habe ich keine Angst mehr. Du hast mir geholfen. Ich danke dir.‘
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Am nächsten Morgen ging ich zum Lagerleiter. Es war eine schreckliche Begegnung. Als ich ihm sagte, ich wolle die ganze Verantwortung für den Konflikt auf mich nehmen, schrie er: ,Nein, du nicht, geh weg. Du darfst das nicht tun!‘, und er stieß mich hinaus. Ich wußte nicht, was tun. Ich war erschüttert: Er, der Nazi, der SS-Mann tat das, was ich tun wollte! Zwei Tage später wurde er von der Militärpolizei abgeführt.
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Und so kam alles in Gang. Der Marxist kam und sagte: ‚Jean, auch ich glaube an diese Liebe. Du wirst nun für mich tun, was wir für dich taten.‘ Dann schloß sich ein Pastor an und andere Kameraden. Wir waren nie mehr als 7 oder 8 im ganzen Lager, die versuchten, diese absolute Liebe zu leben. Doch andere teilten das Bemühen in geringerem oder stärkerem Maße. So wurde durch diesen Versuch, die Liebe zu leben, das ganze Lager verändert. Gefangene kamen aus der ganzen Gegend und fragten: ,Was macht ihr in diesem Lager?‘ ,Nichts, wir versuchen zu lieben, so wie Christus uns geliebt hat.‘
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In einem Brief ... bekräftigt Jean diese Erfahrung: ‚ ... ein anderes Mal hatte ich mich in einem schweren Konflikt eingesetzt, wurde geschlagen, gefoltert und schließlich zum Tod verurteilt. Kurz vor dem Zeitpunkt der Exekution sprach ich zu dem befehlshabenden deutschen Offizier von der Freude, daß ich nun mit dem Gott der Liebe ganz vereint sein würde. Ich sprach von dieser ungeheuren Liebe Gottes zu ihm, zu allen Menschen und liebte ihn mit allen Kräften und aus ganzem Herzen. Weißt Du, man kann diese Begebenheit erzählen, aber was man schwer ausdrücken kann, ist, daß der Offizier diese Liebe gespürt hat! Die Art und Weise, wie er den Revolver beiseite legte — sagte alles. Er verweigerte die Exekution und wurde verhaftet. Ich sah ihn nie wieder. — Weißt Du, vorher bemühte ich mich, die Deutschen, die Lagerleiter zu lieben. Aber ich habe sie erst wirklich geliebt, als ich geschlagen und gefoltert wurde. Das hat in mir eine unglaubliche, ganz unwahrscheinliche Liebe ausgelöst! Und, siehst Du, in diesem Augenblick habe ich verstanden, daß nicht ich es bin, der liebt, sondern daß ER, Jesus Christus, in mir liebt!‘
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„Wenn diese Liebe so stark ist, daß sie selbst einen Nazi, einen Feind umkehrt, dann, so sagte ich mir, ist sie die wahrhaft revolutionäre Kraft, die die Menschen und die Welt neu machen kann. Deshalb kann es für uns Christen keinen Krieg, keine Gewalt gegen Menschen, gegen die Schöpfung geben. Ich begann, mit Kameraden das Evangelium zu lesen und auszulegen, und ich entdeckte im Befreiungsweg der Liebe Jesu Bestätigung und Vertiefung dessen, was mir geschenkt worden war.“43
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Was Jean Goss hier erfuhr, lebte und bezeugte, war ein radikaler Weg der Liebe, der sich in der Bereitschaft verwirklichte, den anderen mit der Wahrheit – soweit man sie erkannt hat – zu konfrontieren, und zwar in allem Respekt und aus einer Haltung bedingungsloser Liebe. Auf diese Weise setzte er in radikaler Weise die Stelle aus dem Epheserbrief um:

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„Wir wollen uns, von der Liebe geleitet, an die Wahrheit halten und in allem wachsen, bis wir ihn erreicht haben. Er, Christus, ist das Haupt.“ (Eph 4,15)
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Später hat das Ehepaar Goss zahllose Menschen verschiedener Länder und Kulturen auf einem Weg des gewaltlosen Widerstandes gegen politische Unterdrückung eingewiesen, unter anderem bei der „Rosenkranzrevolution“ auf den Philippinen, auf der Hunderte Menschen gegen das Marcos-Regime auf die Straße gingen und sich den Panzern betend und segnend entgegenstellten.44 Goss hat immer betont, dass ein solcher Weg nur in radikaler Wahrhaftigkeit möglich ist: Die Menschen müssen wissen, dass sie gekündigt, gefangen genommen oder sogar niedergewalzt werden können. Erst dann, wenn sie die Entscheidung treffen, das in Kauf zu nehmen und den friedlichen, auf Versöhnung dringenden aber doch mit Wahrheit konfrontierenden Kontakt mit Menschen zu suchen, die schon Gewalt angewandt haben, – erst dann kann der Weg eines gewaltlosen Widerstandes gegangen werden. Es bringt mich immer wieder zum Staunen, dass nicht bloß einige wenige Helden, sondern zahllose, scheinbar ganz einfache und durchschnittliche Menschen sich auf solche Wahrheit in Liebe eingelassen und sich dabei bewährt haben.

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Anmerkungen

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1 “Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen. Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.“ (1Joh 4,1) – Erkannt wird, was wahr ist.

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2 Das Wort Gottes, sein Gebot, seine Liebe und Wahrhaftigkeit „... geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir. Es ist nicht im Himmel, so dass du sagen müsstest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns, damit wir es halten können? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, so dass du sagen müsstest: Wer fährt für uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns, damit wir es halten können? Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.“ (Dtn 30,11-14 )

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3 Vgl. Sandler, Der verbotene Baum im Paradies, Was es mit dem Sündenfall auf sich hat. Kevelaer 2009, 78-81. Im Internet: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/800.html#ch24

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4 Gut ist, die von Gott angebotenen Geschenke dankbar anzunehmen. Böse ist das andere, die Haltung der Unverdanktheit, die mit dem verbotenen Baum symbolisiert ist. Weil das Essen vom verbotenen Baum nicht Erkenntnis überhaupt, sondern nur eine entstellte Erkenntnis begründet, tritt der Widerspruch, den hier der Philosoph Rüdiger Safranski zu finden meint, nicht auf: „Das Merkwürdige an diesem Verbot ist nun, dass es, wie man heute sagen würde, einen pragmatischen Selbstwiderspruch enthält. Das Verbot schafft die Erkenntnis, die es verbietet. Mit dem verbotenen Baum der Erkenntnis verhält es sich wie mit jenem Hinweisschild, darauf steht: ‚Diesen Hinweis bitte nicht beachten!‘ Diesem Hinweis gegenüber kann man nur ‚schuldig‘ werden, denn hat man ihn beachtet, kann man ihn nicht mehr nicht beachten. Vom verbotenen Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gilt dasselbe: Indem dieser verbotene Baum unter allen anderen Bäumen steht, ist dem Menschen die Erkenntnis des Guten und Bösen bereits zuteil geworden. Er weiß jedenfalls, dass es etwas Böses ist, von diesem Baum der Erkenntnis zu essen. Noch ehe er also vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen gegessen hat, ist er durch das Verbot bereits in die Unterscheidung von Gut und Böse eingewiesen worden.“ Rüdiger Safranski, Das Böse oder das Drama der Freiheit, München/Wien 1997, 23.

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5 Das steht im Gegensatz zu unmittelbar vor dem Sündenfall: „Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander“ (Gen 2,25). Damals waren sie zwar auch nackt, das heißt: verletzlich, ausgesetzt, aber durch ihr Geborgensein in Gott war das völlig unbedrohlich.

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6 Von ExegetInnen wird die „Erkenntnis von Gut und Böse“ gewöhnlich als ein wertendes Erkennen von allem interpretiert, – in einer Sprachform, die wir als Merismus auch im Lateinischen und Deutschen kennen: Wenn wir sagen, dass sich „Klein und Groß“ zusammenfanden, dann gehören demnach die Mittelgroßen oder die Jugendlichen mit dazu.

Die hier vorgeschlagene Deutung versteht sich nicht als exegetisch, – ich beanspruche also nicht, dass die damaligen Autoren und Leser genau das meinten, was ich hier ausführe. Vielmehr geht es um eine Fortschreibung oder weiterführende Interpretation, welche die Grundannahmen der Sündenfallerzählung auch angesichts von später auftretenden Einwänden als widerspruchsfrei vertretbar aufweist. Solche Fortschreibung ist somit nicht willkürlich; gegen die immer wieder als zwingend vorgebrachten Einwände zeigt sie, dass eine andere Deutung, die diesen Einwänden nicht verfällt, logisch möglich ist. Zu dieser Methode vgl.: Sandler, Wie kommt das Böse in die Welt? Zur Logik der Sündenfallerzählung. In: J. Niewiadomski, N. Wandinger (Hg.): Dramatische Theologie im Gespräch. Symposion/Gastmahl zum 65. Geburtstag von Raymund Schwager (Beiträge zur mimetischen Theorie 14). Münster u.a.: LIT-Verlag, 127-153; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/105.html#ch1

Zu solchen Grundannahmen der Sündenfallerzählung gehört ein guter und allmächtiger Gott, der die Welt gut erschaffen hat; ein Verbot, das weder seiner Güter noch Allmacht widerspricht; Folgen bzw. Strafen aus dem Sündenfall bei dennoch bleibender Güte und Fürsorge Gottes; ein Böses, das weder von außerhalb der Schöpfung hereinbricht (weil es kein Außen gibt, weil alles, was ist, von Gott geschaffen ist) und auch nicht schon anfangs von Gott in die Welt gelegt worden wäre.

Zu den später auftretenden Einwänden gehört der Vorwurf, dass Gott dem Menschen durch das Hineinsetzen eines verbotenen Baumes mitten in den Paradiesgarten eine Falle gestellt hat. Zum Auftreten dieses Vorwurfs in der Gnosis und im Denken der Aufklärung, vgl. Sandler, Hat Gott dem Menschen eine Falle gestellt? Theologie des Sündenfalls und Sündenfall der Theologie. In: ZkTh 129, 437-458; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/700.html

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7 Vgl. dazu: Sandler, Der verbotene Baum im Paradies, 117-119; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/800.html#ch35

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8 Vgl. ausführlicher: Sandler, Der verbotene Baum im Paradies, 125-139; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/800.html#ch37

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9 Die Bibel spricht in der Sündenfallgeschichte noch nicht einmal von Sünde. Das Wort Sünde (chatta’th) kommt erst in der folgenden Erzählung von Kain und Abel vor (Gen 4,7).

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10 Vgl. Sandler, Der verbotene Baum im Paradies, 130; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/800.html#474

 

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11 Wohlgemerkt: Gott ist uns zum Feind und Konkurrenten geworden, d.h. für unsere irregeführte Wahrnehmung.

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12 Die verdrängte Wahrheit besteht darin, dass der Mensch – ohne die verdankte Beziehung von Gott her betrachtet – nichtig ist. Dass der Mensch ohne Gott nichts ist, ist wahr. Dass der Mensch nichts ist, ist falsch, denn er ist niemals ohne Gott. Er kann aber Gott von sich her aus seinem Denken und Sein ausschließen. Gott ist dann zwar noch mit ihm, aber er ist – für sich betrachtet – nicht mehr mit Gott. Er lebt in einer Lüge, und dieses Leben in Lüge bringt unheilvolle Wirkungen hervor.

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13 Zu dieser doppelten Fassade vom „Schalentier Mensch“, vgl. Sandler, Der verbotene Baum , 174-182; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/800.html#ch55

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14 “Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid, welchen Reichtum die Herrlichkeit seines Erbes den Heiligen schenkt“ Eph 1,18 – auch zur Hoffnung, zu der die jeweils andere Person berufen ist.

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15 In gottfern eingerichteten Seinsbereichen ist Gott auch bedrohlich. Denn was ohne Gott organisiert ist, muss zerbrechen, – nicht zu seiner völligen Vernichtung, aber es muss neu um die Mitte Gottes zusammengesetzt werden.

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16 Vgl. Fjodor M. Dostojewski, Die Brüder Karamasoff. Aus dem Russischen von E.K. Rahsin. München-Zürich: Piper 1999, das Kapitel: „Aufzeichnungen aus dem Leben des in Gott entschlafenen Einsiedlers und Priestermönches, des Staretz Sossima, zusammengestellt nach seinen eigenen Worten von Alexei Karamasoff. Biographische Aufzeichnungen.“ Darin das Unterkapitel „d) Ein seltsamer Gast“. Die Nacherzählung ist entnommen aus meinem Aufsatz: „Schrecklich ist’s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“. Gratwanderungen zwischen dem liebenden und dem zornigen Gott im Licht einer Erzählung von Dostojewskij, in: Sandler, Skizzen zur dramatischen Theologie, 539-572. Erkundungen und Bewährungsproben. Freiburg i.Br.: Herder 2012, 539-572. Eine ältere Fassung befindet sich im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/264.html

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17Dostojewskij, Die Brüder Karamasoff, 510.

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18 Zur kritischen Solidarität vgl. ausführlicher: Sandler, Die gesprengten Fesseln des Todes, 76-87; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/900.html#ch27

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19 Vgl. Joh 8,3: „Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien.“ – Eine Einsicht, dass allein die Wahrheit heilt, ist im alltäglichen Leben sehr oft verstellt. Hier beschreibt Dostojewskijs Erzählung einen Sonderfall, wobei aber deutlich wird, dass Einsicht die Entscheidung nicht automatisch erleichtert.

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20Dostojewskij, Die Brüder Karamasoff, 504.

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21 Ebd., 509.

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22 Der Text von hier weg bis Kapitel 2.3.3 deckt sich weitgehend mit: Sandler, Schrecklich ist's, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.

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23 Gemäß Dostojewskijs Roman ist diese Einsicht im Herzen Sossimas schon grundgelegt worden durch seinen verstorbenen älteren Bruder Markell: „Weine nicht, das Leben ist ein Paradies, und alle sind wir im Paradiese, wir wollen es nur nicht wahrhaben; wenn wir es aber wahrhaben wollten, so würden wir morgen im Paradiese sein“ (Dostojewskij; Die Brüder Karamasoff, 470). – Das Motiv kehrt bei Sossimas Bekehrung (ebd. 486, 489) und bei Michails Ringen (ebd. 494, 504, 506, 509) wieder.

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24 Vgl. René Girard, Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh. Thaur-Münster-Hamburg-London 1999, 252-296. Dazu: Sandler, Mimesis und Gnade. Im Gespräch mit René Girards „Figuren des Begehrens“, im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/875.html#ch10

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25 Zum Folgenden vgl. Dostojewskij, Die Brüder Karamasoff, 485-487.

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26 Dostojewskij lässt Sossima von seinen prägenden Erfahrungen auf der Kadettenschule berichten: „Dafür nahm ich so viel neue Angewohnheiten und sogar Anschauungen in mich auf, dass ich mich alsbald in ein wildes, grausames und albernes Wesen verwandelte. Den Schliff der Höflichkeit und des weltlichen Benehmens eignete ich mir zugleich mit der französischen Sprache an, die Soldaten aber, die uns in der Anstalt bedienten, wurden von uns allen, auch von mir, nicht höher als das Vieh geachtet. Ich missachtete sie vielleicht sogar am meisten, denn ich war der für alles Empfänglichste unter den Kameraden“ (Dostojewskij, Die Brüder Karamasoff 482).

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27 Ebd., 494.

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28 Idealisiert hier Dostojewskij seine literarische Figur? Eine noch frühere Erzählung beschreibt die Bedeutung seines Bruders Markell (ebd., 467-474). Gemäß Dostojewskijs Roman wurde durch die stellvertretende Hingabe Markells eine Gnade für seinen jüngeren Bruder grundgelegt, die – lange blockiert – später durchbrechen konnte.

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29 Von daher sein Ausruf gegenüber dem ihn abholenden Sekundanten: „‚Los! . . . Hast du jemals einen Sieger gesehen?‘ fragte ich meinen Kameraden. ‚Schau her, hier steht einer vor dir!‘“ (ebd. 487).

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30 Sein Gegner war der Verlobte einer von ihm geliebten Frau, die diesem den Vorzug gegeben hatte. Sossima hatte das als persönliche Demütigung erfahren und den Mann deshalb zum Duell gefordert. Vgl. ebd., 484-485.

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31 Im Unterschied zu „Chrónos“, einer unspezifischen Zeitdauer, bedeutet „Kairós“ in der Bibel eine besondere, durch die Gnade Jesu Christi qualifizierte Zeit. Nach Mk 1,15 beginnt Jesus seine öffentliche Verkündigung mit den Worten: „Die Zeit ist erfüllt (= Der Kairós ist angebrochen). Kehrt um und glaubt an das Evangelium.“ – Die Umkehrforderung ist hier an eine besondere Gnadenzeit zurückgebunden. Wird dieser Kairós versäumt, sind Verstehen und Nachfolge zumindest erschwert. Die Gefahr besteht dann, dass die Menschen an Christus Anstoß nehmen. So geschah es etwa bei Jesu erster Predigt in seiner Heimatstadt Nazaret, nach Lk 4,16-30. Zur theologischen und spirituellen Bedeutung des Kairos vgl.: Sandler,„Nutzt den Kairos!“ Biblische Grundlagen für ein christliches Leben aus der Kraft und Führung Gottes. In: J. Panhofer / N. Wandinger (Hg.), Kirche zwischen Reformstau und Revolution. Vorträge der 13. Innsbrucker Theologischen Sommertage 2012 (theologische trends 22). Innsbruck 2013, 53-87, im Innsbrucker Theologischen Leseraum: http://theol.uibk.ac.at/itl/1006.html, sowie die Studie: Sandler, Kairos und Parusie. Kairos als Ereignis des in Christus angekommenen und angenommenen Gottes. In: ZkTh 136 (2014), 10-31; im Innsbrucker Theologischen Leseraum: ehttp://theol.uibk.ac.at/itl/1018.html

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32Dostojewskij, Die Brüder Karamasoff, 504f.

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33 Vgl. Michails Vorwurf: „‚Ich komme soeben von meiner Frau‘, fuhr er fort. ‚Wissen Sie auch, was es bedeutet, eine Frau haben? Als ich wegging, riefen die Kinder mir nach: ›Adieu, Papa! Komm bald wieder, wir wollen dann zusammen in unseren Bilderbüchern lesen!‘ Nein, das verstehen Sei nicht! Fremdes Leid macht nicht gescheit.‘“ – Die umgekehrte Falle: Wo sich jemand ausdrücklich solidarisch verhält, wird ihm das als Zustimmung zur Unwahrhaftigkeit interpretiert. Dieser Aspekt ist in Dostojewskijs Erzählung nicht ausgefaltet.

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34 Das Johannesevangelium hat das zum Prinzip erhoben: Jesus ist nicht dadurch Richter, dass er direkt richtet, sondern indem die Menschen, die sich von der erfahrenen Botschaft Christi abwenden, sich einem Prozess des Selbstgerichts ausliefern. Vgl. dazu das 3. Kapitel in: Sandler, Zeit der Barmherzigkeit – Zeit des Gerichts. Ein Ausweg aus dem katholischen Dilemma mit den wiederverheirateten Geschiedenen? Im Innsbrucker Theologischen Leserum: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/1050.html#ch9

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35 vgl. v.a. Predigt Jesu in Nazaret, Lk 4,16-31. Dazu: Sandler, Kairos und Parusie, 10-15; im Innsbrucker Theologischen Leseraum, v.a.: http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/1018.html#ch4

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36 Vgl. Joh 15,15: „ Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.“ Ähnlich: Joh 17,8.22.

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37 Ausführlicher: Sandler, Die gesprengten Fesseln des Todes.

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38 Ein extremes Beispiel gibt der Film von Bernardo Bertolucci, La Luna: Darin setzt die Opernsängerin Caterina ihrem Sohn die Heroinspritze.

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39 Ähnlich im Bezug von Jesus Christus zum Sünder: „In Jesus Christus vermag der Sünder so mit Gott gegen sich selbst zu stehen, weil Gott sich schon zu ihm gestellt hat“ (Peter Hünermann, „Erlöse uns von dem Bösen“. Theologische Reflexionen auf das Böse und die Erlösung vom Bösen. In: ThQ (1982), 317-328, hier: 325).

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40 23 Jean Goss wurde als Unteroffizier in einem vorwiegend algerischen Artillerieregiment eingesetzt, das geopfert wurde, um den Rückzug der französischen Nordarmee über Dünkirchen nach Großbritannien im Mai 1940 zu sichern. In einer Zangenbewegung schnitt die deutsche Armee die französischen Truppen ab und machte 1,2 Millionen Gefangene. Zu diesen zählte Jean Goss.

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41 Hildegard Goss-Mayr, Wie Feinde Freunde werden. Mein Leben mit Jean Goss für Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit und Versöhnung, Freiburg 1996,19-20.

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42Goss-Mayr, Wie Feinde Freunde werden, 25; Kursivsetzungen W.S.

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43 Ebd., 25-29.

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44 Vgl. dazu ebd., 169-194.

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