Nachruf Univ.-Prof. Dr. Dr. hc. Alfred Doppler

Am Montag, dem 9. Juni, ist der langjährige Inhaber der Professur für Österreichische Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck kurz vor seinem 104. Geburtstag verstorben. Er hat die Arbeit am Institut über mehrere Jahrzehnte geprägt. Unser Gedenken gilt dem bis ins hohe Alter wachen Leser und Wissenschaftler; unser Beileid der Familie und den Angehörigen. Weitere Informationen finden Sie auf der Seite des Brenner-Archivs unter „Aktuelles“
Alfred Doppler (12.6.1921 – 9.6.2025)
Alfred Doppler, der Doyen der österreichischen Germanistik, konnte mit der denkbar größten Ruhe und Gelassenheit auf ein langes Leben zurückblicken.
Wenige Tage vor seinem Tod, am 4. Juni, haben wir ihn noch in seinem Haus besucht, Hans Weichselbaum, der Leiter der Salzburger Georg-Trakl-Forschungs- und Gedenkstätte, und ich – und wir haben gemeinsam zurückgeschaut auf sein langes, früher hätte man gesagt: sein erfülltes Leben. Er war schon sichtlich geschwächt, aber ruhig, seelenruhig, wir haben eine knappe Stunde über Gott und die Welt geredet, und vor allem über Georg Trakl, über einen Vortrag, den er erst vor wenigen Jahren gehalten hat, in Salzburg, über „Sebastian als Autorkonfiguration“, Sebastian in der Kunst- und Kulturgeschichte, mit besonderer Berücksichtigung der Traumvisionen Trakls. Er zitierte uns darüber hinaus auch einige Verse aus dem „Helian“ (und bedauerte ausdrücklich, mittlerweile nicht mehr das ganze Gedicht genau im Kopf zu haben):
In den einsamen Stunden des Geistes
Ist es schön, in der Sonne zu gehn
An den gelben Mauern des Sommers hin.
Leise klingen die Schritte im Gras; doch immer schläft
Der Sohn des Pan im grauen Marmor.
Eine Interpretation dieses Gedichts, das er ganz besonders geschätzt, gern auswendig vorgetragen und in erster Linie als „eine lyrische Klangrede“ gelesen hat, so auch in seinem letzten Vortrag, 2017 in Graz, diese Interpretation hat er seiner Frau Waltraut gewidmet, die ihn in jede Vorlesung, zu jedem Vortrag begleitet hat und die am 3. Juni 2016 verstorben und schon damals in diesem Waldfriedhof bestattet worden ist.
Als Alfred Doppler vor mehr als fünfzig Jahren, im Sommer 1971, an die Universität Innsbruck berufen wurde, auf die damals neu gegründete (und anfangs keineswegs ganz unumstrittene) Lehrkanzel für Österreichische Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft, sah man sich dort über vieles schon im Bilde, vor allem darüber, dass man einen allseits hochgeschätzten Lehrer gewonnen hatte: Als Gymnasiallehrer in Graz (1948–1968) und als Gastprofessor in München (1968–1970) hatte Doppler immer schon seine Schüler/innen und die Studierenden mit seiner Sachkenntnis, mit seinem Engagement und mit seiner unnachahmlich-leidenschaftlichen Art und Weise der Auseinandersetzung mit Sprache und Literatur ungemein beeindruckt; und längst war er darüber hinaus auch als Verfasser literaturwissenschaftlicher Studien hervorragend ausgewiesen.
Es ist indessen keineswegs selbstverständlich, dass ein neuberufener Lehrer hält, was er verspricht. Alfred Doppler aber hat die hoch-gesteckten Erwartungen sehr schnell übertroffen. In seinen Lehrveranstaltungen drängten sich die Zuhörer/innen sogar in den größten Hörsälen und Seminarräumen, die damals der Germanistik zur Verfügung standen. Und die publizierten Erträge seiner Vorlesungen und seiner Forschungen stießen überall auf starke Zustimmung: In der Festschrift für Alfred Doppler, die zu seinem 60. Geburtstag 1981 erschien und eine stattliche Reihe von Beiträgen versammelte, kommt diese Resonanz bereits anschaulich zum Ausdruck.
Auch nach seiner Emeritierung im Jahr 1991 hat Alfred Doppler, wie gewohnt Tag für Tag von seiner Frau Waltraut nach Kräften unterstützt, an vielen Universitäten Gastvorlesungen und Vorträge abgehalten, und in mancher Hinsicht hat er seine Forschungen sogar noch intensiviert; was namentlich der Stifter- und der Trakl-Forschung zugutegekommen ist.
Darüber und über vieles mehr wird in einer Jubiläumsschrift berichtet, die zu seinem 100. Geburtstag erschienen ist; sie ist jedoch auch und vor allem ein Ausdruck der Dankbarkeit, die ihm seine Schüler/innen, viele Wegbegleiter/innen und zahlreiche Institutionen der Literaturwissenschaft im In- und Ausland schulden. Was die österreichische Literaturwissenschaft, was Generationen von Lehrerinnen und Lehrern Alfred Doppler verdanken, das konnte in dieser Broschüre (in den Beiträgen von Sigurd P. Scheichl, Karl Schmutzhard, johannes John, Petra-Maria Dallinger, Wolfgang Wiesmüller, Wolfgang Hackl, Hans Weichselbaum u. a.) bestenfalls angedeutet werden. Das Ehrendoktorat war ein weiteres, starkes Zeichen der Verbundenheit „seiner“ Universität mit Alfred Doppler.
Ein umsichtiger Beobachter der wirkungsmächtigsten Innovationen und Kontroversen in der Kulturgeschichte der Neuzeit ist Alfred Doppler immer schon gewesen; und mit derselben Glut hat er auch die aktuellen gesellschaftlichen und literarischen Strömungen und Gegenströmungen im deutschsprachigen Raum immer aufmerksam verfolgt und kommentiert, in allen seinen Lehrveranstaltungen. – Als die erste deutschsprachige Taschenbuchreihe im Sommer 1950 mit Hans Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? gestartet wurde, im rororo-Programm, schrieb Doppler also sogleich eine Rezension; und als der nächste Band der Reihe erschien, wieder eine, und wiederum eine, als der dritte Band herauskam. Er nahm sich damals vor, so erzählte er später gern, alle Bücher dieser Reihe zu besprechen. Seither sind allerdings, wie der Rowohlt-Verlag zuletzt berichtet hat (https://www.rowohlt.de/verlag), gut 18.000 rororo-Bände erschienen. Doppler hat demnach, kein Wunder, seinen Vorsatz nicht ganz durchgehalten. – Er hatte dann ja doch auch weit größere Brocken zu bewältigen, vor allem seit er den Lehrstuhl für „Österreichische Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft“ im WS 1971/72 übernahm.
Was seine Lehrveranstaltungen (Vorlesungen, Proseminare, Seminare etc.) auszeichnete, ist schnell zusammengefasst: Er unterrichtete mit einem Feuer, in dem zum einen sein Engagement für die Literatur, zum andern aber genauso seine Hinwendung zum jeweiligen Publikum zum Ausdruck kam: Deshalb waren die Studierenden, aber auch die Zuhörer und Zuhörerinnen, die zu seinen Vorträgen und zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen (zum Beispiel auch ins Südtiroler Bildungszentrum in Bozen) strömten, so sehr begeistert von seinen „Auftritten“ – die er (nachdem er die Schauspielerkarriere abgebrochen hatte) tatsächlich oft wie ein Theatermacher inszenierte. Er hielt nicht sonderlich viel von langatmigen Erörterungen der alle paar Jahre sich überstürzenden Methoden-Moden der Literaturwissenschaft, die er zwar genau beobachtete und reflektierte, jedoch nie ganz und gar in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte; dort blieb immer die Literatur selbst: einerseits die kanonisierte Literatur oder aber andererseits Werke, die es seiner Auffassung nach längst verdient hätten, in den Kanon (namentlich in den Kanon der österreichischen Literatur) aufgenommen zu werden: wie Schnitzler, Horváth, Hermann Broch, Joseph Roth, Elias Canetti oder auch die Autoren der Wiener Gruppe und Thomas Bernhard (ihnen allen widmete er schon in einer Zeit, da dies im österreichischen Universitätsleben noch keineswegs selbstverständlich war, grundlegende Studien).
In einer Phase, in der die Auseinandersetzung mit Gegenwartsliteratur an den österreichischen Universitäten noch in den Kinderschuhen steckte und sogar heftig umstritten war, hat Doppler – ähnlich wie Walter Weiss in Salzburg oder Wendelin Schmidt-Dengler in Wien – sich bereits sehr intensiv dafür eingesetzt, dass künftige Deutschlehrer/innen sich auch mit den jüngsten Erzeugnissen der Poesie auseinandersetzen sollten. Elfriede Jelinek hat er zu einem dreitägigen Seminar nach Innsbruck eingeladen in einer Zeit, da sie gerade erst ihr erstes Buch veröffentlicht hatte; und die Einführung der Innsbrucker Poetik-Vorlesungen war seine Idee. Aber darüber hat er die kritische Auseinandersetzung mit der Tradition nie aus dem Auge verloren. Seine Arbeiten über Hölderlin, über den Abgrund des Ichs, über Stifter und Grillparzer, Trakl und Kafka u.v.a. erschienen in renommierten Zeitschriften, in Sammelbänden, in Handbüchern … und wurden nicht selten später noch einmal nachgedruckt. Vor allem die Trakl-Forschung verdankt ihm viele wichtige Impulse; über Jahrzehnte war er denn auch Vorsitzender des Trakl-Forums in Salzburg.
Doppler war schließlich auch dabei, als im Herbst 1968 im oberösterreichischen Bad Hall auf einem „Internationalen Adalbert-Stifter-Symposion“ anlässlich des 100. Todestages Adalbert Stifters beschlossen wurde eine neue historisch-kritische Edition seiner Werke in die Wege zu leiten. Die beiden Hauptherausgeber dieser Edition sollten (seit 1971) paritätisch aus Deutschland und Österreich kommen. Für Österreich war von allem Anfang an und dann jahrzehntelang Alfred Doppler im Amt, erst vor kurzem hat er es an Wolfgang Wiesmüller ab- und weitergegeben, das Forschungsprojekt der „Historisch-kritischen Ausgabe der Werke und Briefe Adalbert Stifters“, das in einem (deutschen) Evaluationsgutachten vom Jahre 2012 ausdrücklich hervorgehoben worden ist: es dürfe „mit Fug bundesweit als eines der erfolgreichsten Editionsprojekte der letzten Jahrzehnte überhaupt gelten“; keine Handschrift aber hat dieses große Projekt so nachhaltig geprägt wie die Handschrift Alfred Dopplers.
Nie gab Doppler in seinen Veröffentlichungen wie auch in seinen Vorträgen den Anspruch auf, seinen Leserinnen und Lesern allerhand zuzumuten … jedoch auch zuzutrauen.
In diesem Punkt hielt er es mit Canetti: Der Literatur (und mit ihr auch der Literaturwissenschaft) sei aufgetragen, sich um die „Vorstellung von der Variabilität menschlicher Sitten und Möglichkeiten“ zu bemühen und aufzuspüren, „was ein Mensch hinter seinen Worten ist“; jeder Mensch sei gefordert, permanent selbst kritisch zu prüfen, was er gewöhnlich so zum Besten gibt und „was ihm durch die Massenmedien vorgesprochen und eingesagt wird.“ – Doppler hat als Wissenschaftler wie als Lehrer konsequent ein Verständnis von Bildung vermittelt, das viel mehr, ja ganz anderes meint als die Begriffe Aus- oder Weiterbildung andeuten können. Wer bei ihm studiert hat oder das Glück hatte, mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen, der hat nicht nur Einblicke in die Österreichische Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft gewonnen, sondern ein unvergessliches Studium Generale absolviert.
Ich schließe mit einem Bild, das Alfred Doppler sehr gerne zitiert hat (Hans Weichselbaum hat mich eben wieder daran erinnert), Verse aus Trakls „Elis“: „Ein goldener Kahn / Schaukelt, Elis, dein Herz am einsamen Himmel“; requiescat in pace.
Johann Holzner