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Österreichs Zeitgeschichte um- und weiterdenken – Universität Innsbruck
Michael Gehler

Österreichs Zeitgeschichte um- und weiterdenken

Im Gespräch mit Univ.-Prof. Mag. Dr. Michael Gehler

Text: Julia Gassl

Durch das 40-jährige Jubiläum des Innsbrucker Instituts für Zeitgeschichte eröffnete sich mir die Chance, ein Interview mit Michael Gehler, dem Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim, zu führen. Innsbruck ist – wie er erzählte – seine Geburtsstadt, aufgewachsen ist er aber in Oberfranken, das damals unmittelbar an den Eisernen Vorhang angrenzte. Diese geografische Nähe sowie die Vergangenheit seines Vaters als Kriegsgefangener in der Sowjetunion weckten früh sein Interesse für Geschichte. Für das Studium kehrte er nach Tirol zurück. Nach seiner Promotion (1987 mit einer Dissertation über die Studentenschaft an der Universität Innsbruck von 1918 bis 1938) und dem Abschluss seines Lehramtsstudiums (1988) begann er 1989 als Lehrbeauftragter am Institut zu arbeiten, wurde später Universitätsassistent (1996) und nach der Habilitation (1999) außerordentlicher Professor. Ich hatte somit eine Person vor mir, die – zuerst noch als Student und dann als Wissenschaftler – seit dessen Anfängen 22 Jahre Entwicklungen am Institut überschaut.

So erinnert er sich auch an die Etablierung des Instituts während seiner Promotionsphase: Vor 1984 war Zeitgeschichte in Innsbruck als Institut nicht vertreten und in Deutschland schon mehr als drei Jahrzehnte zuvor vertreten. Rolf Steininger ging mit Elan und Schwung den Aufbau an. Vortragsreihen zu „Tirol und der Anschluss“, „Die Option“ und „Zum Umgang mit dem Holocaust“ sowie die „Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte“ als Reihe mit über 20 Bänden sind zu nennen. Die Blütezeit unter Steininger war von 1987/88 bis Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre, erzählt Gehler. Und dass inzwischen die Konkurrenz im Osten und Südosten des Landes einzusetzen begann: „Rathkolb in Wien und Karner in Graz legten nach.“ Das lässt sich mit dem Innsbrucker Internet-Pionierprojekt „Zeitgeschichtliches Informationssystem“ (ZIS, 1993) zeigen, dem das „Demokratie-Zentrum“ in Wien allmählich den Rang ablief, konkretisiert Michael Gehler und betont zugleich:

„Im Rückblick war die Ära Steininger eine einmalige Erfolgsgeschichte - nicht zu reden von seinem eigenen Ouevre, das jenes aller anderen Ordinarien der Zeitgeschichte in Österreich übertrifft. Ohne Steininger wäre das Innsbrucker Institut nicht das, was es heute ist. Sein Name bleibt untrennbar damit verbunden. Sein Verdienst liegt in der Internationalisierung der Zeitgeschichte in Österreich, v.a. mit Blick auf deutsche Frage, Kalten Krieg und Nahost-Konflikt. Davon kann das heutige Institut immer noch zehren und darauf aufbauen.“

Und er gibt sogleich auch Einblick in damalige Arbeitsinhalte:

„Das Institut für Zeitgeschichte war primär an Aktenauswertung der deutschen und österreichischen Nachkriegsentwicklung, empirisch, d.h. im Grunde positivistisch ausgerichtet. Ein explizites Methoden- und Theorie-Bewusstsein spielte keine Rolle. Quellenarbeit hat mich immer schon umgetrieben, aber das andere fehlte“,

sagt Gehler über die 1980er- und 1990er-Jahre am Institut. „Als Historiker muss man sich auch mit theoretischen Fragen beschäftigen und sich fragen: Was heißt Zeitgeschichte?“ Die Definition von Hans Rothfels, die wir alle kennen, findet Gehler unbefriedigend, weil sich Zeitgeschichte ja durch die wechselnde Zeitgenossenschaft ständig verschiebe.

„Der Begriff 'Zeitgeschichte' ist zu schwammig. Seit Leitung eines Instituts für Geschichte [in Hildesheim, JG] bezeichne ich mich […] nicht mehr als Zeithistoriker, sondern einfach als Historiker. Zeitgeschichte allein reicht nicht aus, um grundsätzliche Fragen der Geschichte tiefgründiger zu erforschen. Mit einem Zugang von Neuerer Geschichte und Neuester Geschichte können wir weit mehr erfassen.“

Diese Erkenntnis wurde Gehler besonders bewusst durch die enge Zusammenarbeit mit dem Innsbrucker Althistoriker Robert Rollinger, die erst nach dem Wechsel nach Hildesheim einsetzte. Gemeinsam gaben sie seit 2014 fünf Bände zur Geschichte der Imperien und Großreiche in der Weltgeschichte heraus.

„Um Kulturen, Mentalitäten und Strukturen besser zu verstehen, braucht es einen tiefer gehenden Zugriff, als allein das 20. Jahrhundert oder lediglich einige Jahrzehnte oder gar nur ein paar Jahre in den Blick zu nehmen.“

Zum gegenwärtigen Instituts für Zeitgeschichte ist der Kontakt zwar nicht völlig abgerissen, wie er sagt, aber dennoch muss er für eine Einschätzung zunächst die Instituts-Webseite studieren:

„Von außen betrachtet, mit der Einschränkung, dass ich nicht mehr alle tätigen Personen kenne, ist festzustellen, dass ein Mehr an Nebeneinander als Miteinander besteht. Es gibt kein Gesamtprojekt, das alle einbindet und mitnimmt.“

Offenbar hält er den Befund der wahrgenommenen individuellen Spezialgebiete für einen Nachteil – nicht nur auf der Ebene des Instituts. Aufgrund der geringen Anzahl an Universitäten in Österreich seien nur begrenzte Stellen-Kapazitäten vorhanden. Es gebe viele qualifizierte, sehr gute österreichische Nachwuchsforschende, das habe zuletzt der Zeitgeschichtetag in Graz im Frühjahr 2024 wieder gezeigt. „Die Vielfalt an Methoden ist beachtlich wie auch der Reichtum an Ideen, die Fantasie und Kreativität.“ Mankos sieht Gehler aber ebenfalls.

„Eine österreichische Gesamtstrategie, in der alle Zeitgeschichte-Institute eingebunden sind, wäre reizvoll, um Kapazitäten zu bündeln, Koordination zu ermöglichen und ein daraus resultierendes gesamtösterreichisches Zeitgeschichte-Projekt zu entwickeln.“

Das zu erweiternde und auszubauende „Haus der Geschichte Österreich“ nennt Gehler als Beispiel.

„Diese Zusammenarbeit müsste auch auf einer Generalthese bzw. einer Theorie aufbauen, was österreichische Zeitgeschichte ausmacht und bedeutet. Nach der These von Ernst Hanisch vom ‚langen Schatten des Staates‘ fehlen weitere zündende Ideen.“

Gehler attestiert der österreichischen Zeitgeschichtsforschung aber nicht nur zu wenig Zusammenarbeit, sondern ebenso, dass sie zu wenig konfliktfreudig sei. Er beklagt einen „offenkundigen Mangel an Kontroversen“, die aber „das Salz in der Suppe der Zeitgeschichte“ seien. „Immer wieder dreht es sich um den 12. Februar 1934 und die Rolle von Engelbert Dollfuß, was langweilig geworden ist“, meint Gehler. Sein zusätzlicher Wunsch ist die verstärkte Einbindung der österreichischen Zeitgeschichte in die – groß zu schreibende, wie er mich hinweist – Internationale Geschichte.

Als eine weitere Aufgabe der Zeitgeschichte erwartet sich Gehler auch Ad Hoc-Aktionen, d.h. die Fähigkeit, zügig auf aktuelle Phänomene zu reagieren. „Fordern ist zwar einfach, es ist aber auch zu tun.“ Hierfür liefert er gleich Beispiele aus seinem eigenen Schaffen: Im Zuge der Affäre Waldheim wurde gemeinsam mit Hubert Sickinger ein Band „Politische Affären und Skandale in Österreich: Von Mayerling bis Waldheim“ herausgebracht und unmittelbar nach 9/11 mit René Ortner, einem fortgeschritteneren Studenten, ein Seminar zu Attentaten und Terrorismus von Sarajewo bis zum 11. September durchgeführt. Es bezog auch persönliche Erfahrungen einer Studentin mit ein, die zu dem Zeitpunkt des Anschlags in New York gewesen war. Als die EU-14-Staaten im Jahre 2000 Sanktionsmaßnahmen gegen Österreich wegen der Bildung einer „schwarz-blauen“ Regierung verhängten, publizierte er bald darauf einen Artikel in deutscher und englischer Sprache. Als COVID-19 nach Europa kam, beschlossen Gehler und Manfried Rauchensteiner kurzerhand, eine erste Bestandsaufnahme für 2020 zu initiieren, die 2021 als Buch mit dem Titel „Corona und die Welt von gestern“ erscheinen konnte. Sebastian Kurz sei ein weiteres Beispiel. „Als Zeithistoriker muss man sich mit ihm beschäftigen“, meint Gehler. Noch während seiner Amtszeit schrieb er über Kurz den kritischen Artikel „Mehr Schein als Sein“ für die Tiroler Tageszeitung, worauf dieser erfolglos intervenieren und sich bei der Redaktion beschweren ließ, was Gehler im wahrsten Wortsinn als Erfolg wertete. Daraus entstand in Folge ein Magazin-Artikel. Auch zur Ukraine ist ein Jahr nach dem von Putin entfesselten Krieg ein Journal-Beitrag (im „Jahrbuch Politisches Denken“) erschienen.

Ich verstand, worauf Michael Gehler hinauswollte: Als Zeithistoriker:innen sind wir angehalten, zu aktuellen Themen Position zu beziehen. Die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Ereignissen erfordert zudem Mut. Die Nähe zu den Forschungsgegenständen der Gegenwart birgt jedoch die Gefahr, vorschnell Partei zu ergreifen.

„Stete Selbstkritik und wiederholte Überprüfung des eigenen Standpunkts bleiben Notwendigkeiten, denen wir uns nicht entziehen können, denn keine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft ist so stark Ideologien und dem Zeitgeist ausgeliefert wie die Zeitgeschichte,“

meint Gehler. Bleiben die Defizite der österreichischen Zeitgeschichte, zu denen ihm noch mehr einfällt: „Wir haben keine Biografie über Adolf Hitler von einem Zeithistoriker oder einer österreichischen Zeithistorikerin.“

Ich nickte, stumm, erstaunt.

„Ich finde, wir brauchen mehr Biografieforschung. Wir müssen uns auch an Themen heranwagen, die bisher Geschichtsforschenden zu heiß waren oder bei denen sich kaum jemand traute, sie anzupacken, wie die Causa Hannes Androsch in der Ära Kreisky. Warum nicht auch historische Korruptionsforschung in Österreich?“

Ein weiteres Thema, das Gehler anspricht, ist die anhaltende Auseinandersetzung mit der FPÖ und die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr, die sich seiner Meinung nach a priori auf deren Kritik konzentriere und auf Verurteilung hinauslaufe.

„Das kann man tun und soll man auch tun, ist aber zu wenig, wenn die Frage unbeantwortet bleibt, warum diese Partei immer wieder hohe Zustimmungswerte erzielt. Wie erklärt sich dieses Stehaufmännchen-Phänomen?“,

fragt Gehler. Tatsächlich schien durch die Ibiza-Affäre das Ende der FPÖ besiegelt, dennoch erreiche sie seit geraumer Zeit wieder bis zu 30 Prozent in Umfragen.

„Wie ist dieser Zuspruch zu erklären? Was sagt dies über die übrige Parteienlandschaft aus? Hat die Linke wiederholt versagt? Immer nur mit ‚Rechtspopulismus‘ zu argumentieren ist langsam langweilig und wirkt zuweilen stumpfsinnig.“

In der nahen Zukunft schließt Gehler Projekte in Zusammenarbeit mit der Universität Innsbruck nicht aus, die über Gastvorträge und Teilnahmen an Tagungen hinausgehen. Bisher fehlten jedoch weiterführende Ideen. Diese könnten auch von Studierenden ausgehen. Nachwuchsförderung ist Gehler ein großes Anliegen. Studierende könnten beispielsweise ein Semester in Hildesheim verbringen, da eine Erasmus-Partnerschaft mit Innsbruck besteht. „Wir haben zu wenig Incomings und zu wenig Outgoings“, merkt Gehler an. Eine konkrete Möglichkeit innerhalb des Erasmus-Settings könnte sein, Masterarbeiten in Kooperation mit beiden Universitäten zu schreiben. Dies würde die Beziehung zwischen den Institutionen beleben. „Bottom-up-Denken ist manchmal besser als Top-down“, betont er. Themenfelder mit Innsbruck-Bezug, die ihn besonders interessieren, sind Südtirol, die Europaregion Tirol, Österreichs Rolle in der Europäischen Union und die Debatte über Europa. Diese Themen bieten zahlreiche Möglichkeiten für gemeinsame Forschungsprojekte und Studien. Studierende, die sich für diese Bereiche interessieren, könnten von einem Austausch zwischen Hildesheim und Innsbruck besonders profitieren.

Das Interview mit Michael Gehler erwies sich als äußerst spannend und lehrreich und lieferte auch viele Anregungen zum Nachdenken. Es war beeindruckend zu sehen, wie leidenschaftlich er sich für die Weiterentwicklung der Geschichtsforschung und die Förderung des akademischen Nachwuchses einsetzt. Studierende, die sich für den von Gehler anvisierten thematischen Austausch im Rahmen von Erasmus interessieren, lege ich ans Herz, diese Chance zu nutzen.

  

Interviewbild, Julia Gassl und Michael Gehler
© Julia Gassl, Interviewbild von Julia Gassl und Michael Gehler


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