2013 wurde die Sammlung Georg Paulmichl vom Brenner-Archiv übernommen und im Zuge eines Projekts geordnet und erschlossen. Zehn Jahre später konnte der Bestand, der sich u. a. aus Materialien der Familie Paulmichl sowie des Betreuers und Begleiters Paulmichls, Dietmar Raffeiner, zusammensetzt, um einen wertvollen Teil ergänzt werden: Johannes Gruntz-Stoll, emeritierter Professor für Spezielle Pädagogik und psychologie sowie Herausgeber des ersten wissenschaftlichen Sammelbands zum Werk Paulmichls[1], schenkte dem Brenner-Archiv im August 2023 seine Sammlung von zwölf kleinformatigen Bildern des Künstlers aus den 1980er und 90er Jahren.
Die Bilder entstanden in der 1976 gegründeten Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Tschengls/Prad im oberen Vinschgau. Sie lag/liegt „als verwaltungstechnisches Einzugsgebiet am Rande“, so Dietmar Raffeiner, der als Betreuer bis zu seiner Pensionierung 2023 in der Werkstätte arbeitete, und weiter: „Ränder sind Orte, wo Anordnungen abstrakter Schreibtischmächte auslaufen und gleichzeitig ein experimentierfreudiges, irrtumsfrohes Hinterland sich öffnen kann“[2]. In diesem Hinterland assistierte Raffeiner Georg Paulmichl über Jahrzehnte dabei, seinen Redefluss in Kunst zu bannen, Erlebtes und Phantasiertes gleichermaßen in Geschichten, Gedichten, Märchen und Bilder umzuwandeln, die ab 1987 in insgesamt neun Bänden miteinander publiziert und zu großen Erfolgen wurden. Paulmichl ging auf Lesereisen, stellte seine Bilder in namhaften Galerien aus und wurde mit etlichen Preisen geehrt. Es wurden Filme über ihn gedreht, Radiosendungen ausgestrahlt, ja, es kam sogar zu szenischen Lesungen seiner Texte an deutschen Theatern. Kurzum: Der Dichter avancierte zum „Autogrammschreiber“, wie er es selbst in einem Brief formuliert.[3]
Der letzte bisher erschienene Band, Bis die Ohren und Augen aufgehen (2014), ging aus dem Projekt am Brenner-Archiv hervor und versammelte bis dahin unveröffentlichte Texte aus der Sammlung Paulmichl und Bilder aus dem Besitz Gruntz-Stolls. Dieser besuchte Prad 2009 zum ersten Mal, um den Künstler, dessen Werk er während einer seiner Dozenturen an der Freien Universität Bozen in Brixen entdeckte, kennenzulernen. Neugierig auch auf die älteren Bilder, die in der Werkstatt aufbewahrt wurden, durfte Gruntz-Stoll sich umsehen. Seine Bildersammlung wuchs mit jedem Besuch im Vinschgau. Die Wahl fiel dabei stets auf die kleinformatigeren Werke, die Paulmichl mit Tempra und Kreide auf zugeschnittene Deckel von Schuhkartons gemalt hatte. „Calzature Made in Italy“ ist auf den Rückseiten der Bilder u. a. zu lesen – Produkte, die in einem Schuhgeschäft in Glurns über die Ladentheke gingen, in dem Raffeiners Partnerin zum damaligen Zeitpunkt arbeitete. Die Verwendung der Schuhkartons ist aber kaum als Statement eines Art Brut-Künstlers zu deuten, vielmehr fand Raffeiner darin einfach eine stabile, vor allem aber günstige und durch seine Partnerin leicht zugängliche Alternative zu Leinwänden.
„Dem gemeinsamen Schreib- und Malvorgang mit Georg liegen keine ausgeklügelten und angestrengten pädagogischen Absichten zu Grunde. Die Grundlagen, auf denen die Bilder und Texte entstanden sind, sind absichtslose Grundlagen; die Triebfeder zum Schreiben und Malen ist der absolute Spaß. Kein Text, kein Bild muß entstehen, niemandem muß etwas bewiesen werden.“[4]
Aus diesem absoluten Spaß heraus entstanden expressionistische Bilder mit teils surrealen Elementen. Abstrakte und gegenständliche Bildinhalte wechseln sich ab oder ergänzen sich, dabei ist die verwendete Farbpalette so breit wie der Motivhorizont Paulmichls weit ist.
Genaue Angaben zu Maltechniken, zur Motivwahl oder zum Zeitpunkt der Entstehung sind nicht überliefert, doch spricht nicht nur die Verwendung der Schuhkarton-Deckel für eine frühe Datierung: Die für Paulmichl charakteristischen schwarzen Konturen sind zwar schon vorhanden, aber sie wurden noch nicht mit weißer Kreide nachgezogen, wie das auf den späteren Bildern erfolgt ist.
Im Text „Einige Gedanken über meine Zusammenarbeit mit Georg“ schildert Raffeiner den Entstehungsprozess der Bilder, die für Paulmichl ähnlich wie das Schreiben bis zu seiner Parkinson-Erkrankung Mitte der 2000er Jahre zur täglichen Ausdrucksform gehörten: „Es fällt ihm meistens leicht, unverkrampft stimmige Formen aufs Papier zu bannen, die jedoch durch unorthodoxe Farbgebungen oft wieder zerstört werden. Hier mische ich mich als Georgs Werkstattbegleiter in seinen Malvorgang ein und versuche zu verhindern, daß seine skizzierten Ursprungsformen nicht in einen blinden Farbrausch ertränkt werden. Insofern tragen manche Bilder nicht nur seine persönliche Handschrift, sondern sind in einem gemeinsam abgewickelten Arbeitsvorgang entstanden.“[5]
Es ist eine schöne Gegebenheit, dass diese frühen Bilder Georg Paulmichls, – gerade heuer im Jahr der Pensionierung seines Förderers Raffeiner und zehn Jahre nach ihrer ersten Publikation in Bis die Ohren und Augen aufgehen, – Teil der Sammlung am Brenner-Archiv wurden. Hier kann man sie nun anschauen, „bis die Ohren und Augen aufgehen“, wie es Georg Paulmichl im folgenden Gedicht beschrieben hat:
Malen[6]
Malen bedeutet für mich einen Lebensinhalt.
Ein Blatt vollkratzeln bringt Vielfalt ins Leben.
Ohne Farben wäre das Leben ein graues Erwachen.
Mit Farben kann man den grauen Alltag zum Leuchten bringen.
Meine Hände schwingen wie Vogelhiebe über die leeren Blätter.
Die Bilder kann man anschauen, bis die Ohren und Augen aufgehen.
Meine Bilder sind die notwendige Natur.
Die Natur sammle ich wie Eindrücke.
Die Hunde können nicht malen.
Zum Malen braucht es Denklandschaften.
Das Malen bringt meine Knochen in Schwung.
Die Malerei braucht eine Pause, sonst bricht die Müdigkeit heran.
Bestandsverzeichnis der Sammlung Georg Paulmichl im Brenner-Archiv
Bis die Ohren und Augen aufgehen. Frühe Texte und Bilder. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Irene Zanol & Johannes Gruntz-Stoll. Innsbruck [u.a.]: Haymon 2014 , 122 S.
Abbildungen: Sign. 142-7-1-12
Irene Zanol
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[1] Johannes Gruntz-Stoll (Hg.): „Ich habe Glück gehabt, dass es mich gibt“. Georg Paulmichls Weg zum Wort. Innsbruck u. a.: Studienverlag, 2010.
[2] Dietmar Raffeiner: Einige Gedanken über meine Zusammenarbeit mit Georg, Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen, 4 Blatt, datiert auf Mai 1994, Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Sammlung Georg Paulmichl, Sig. 142-005-004.
[3] Vgl. Georg Paulmichl: Vom Augenmaß überwältigt. Briefe, Glossen und Bilder. Innsbruck: Haymon, 2001, S. 11.
[4] Dietmar Raffeiner: Einige Gedanken über meine Zusammenarbeit mit Georg. (Vgl. Anm. 2)
[5] Ebd.
[6] Georg Paulmichl: Malen. In: Ders.: Bis die Ohren und Augen aufgehen. Frühe Texte und Bilder. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Irene Zanol und Johannes Gruntz-Stoll, S. 95.