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Rotter Hans: Allgemeine Moraltheologie
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Allgemeine Moraltheologie
(Manuskript zur Vorlesung (12. Auflage 2001))

Autor:Rotter Hans
Veröffentlichung:
Kategorielehrbehelf
Abstrakt:
Publiziert in:# Originalbeitrag für den Leseraum
Datum:2002-06-20

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Literaturempfehlungen zur Einführung :

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B. Häring, Moraltheologie für das dritte Jahrtausend. Graz 1999; F. Böckle, Fundamentalmoral. München 21978; D. Bonhoeffer, Ethik (Hg. E. Bethge). München 1963; J.Gründel, Leben aus christlicher Verantwortung. Ein Grundkurs der Moral, 1. Grundlegungen. Düsseldorf 1991; W. Korff, Theologische Ethik. Eine Einführung. Freiburg i. Br. 1975; R. Mohr, Die christliche Ethik im Lichte der Ethnologie. München 1954; J. Römelt, Vom Sinn moralischer Verantwortung. Zu den Grundlagen christlicher Ethik in komplexer Gesellschaft. Handbuch der Moraltheologie Bd. 1. Regensburg 1966; H. Rotter, Person und Ethik. Zur Grundlegung der Moraltheologie. Innsbruck 1993; H. Rotter, Christliches Handeln. Seine Begründung und Eigenart. Graz 1977; H. Rotter, Grundgebot Liebe. Mitmenschliche Begegnung als Grundansatz der Moral. Innsbruck 1983; K.-H. Peschke, Christliche Ethik. Spezielle Moraltheologie. Trier 1995; A.K. Ruf, Grundkurs Moraltheologie, 2 Bde., Freiburg i.Br. 1975, 1977; B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile. Düsseldorf 31987; H.Weber, Allgemeine Moraltheologie. Ruf und Antwort. Graz 1991; W. Wickler, Die Biologie der Zehn Gebote. München 1971.

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 Zum Nachschlagen:

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H.Rotter/G.Virt (Hg.), Neues Lexikon der christlichen Moral. Innsbruck 1990; B. Stoeckle (Hg.), Wörterbuch christlicher Ethik. Freiburg i. Br. 1975.

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Einleitung

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Der vorliegende Traktat wird heute oft als "Fundamentalmoral" bezeichnet. Allerdings könnte diese Bezeichnung in Parallele zur Fundamentaltheologie den Anschein erwecken, als ob es sich hier eher um Vorfragen, um eine wissenschaftstheorethische Legitimation dessen handeln würde, was dann analog zur Dogmatik erst in einem anderen Traktat (den es in der Moraltheologie nicht gibt) behandelt würde. Um zu betonten, daß unser Traktat das eigentliche Wesen des Sittlichen möglichst umfassend behandeln will, bleiben wir beim Begriff "Allgemeine Moraltheologie", der dann die "Spezielle Moraltheologie" als Konkretisierung folgt.

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 Definitionen:

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Ethos von griech. "ethos" = Behausung, Stall, gewohnter Ort des Wohnens, Gewohnheit, Sitte, Brauch, Tradition, soziale Ordnung, Regel.

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Ethik von "ethiké" (erg. epistéme) = Verständnis vom Ethos, Wissenschaft vom Ethos.

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Moral von lat. "mores" = Sitten, Brauch, Sittlichkeit, was man tut bzw. tun soll, das in Tradition und Institution festgelegte Verhalten.

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Sittlichkeit von "Sitte" = ursprünglich Brauch, Tradition, dann uneingeschränkte Verbindlichkeit, in der der Mensch in seiner Beziehung zu Gott, zu den Mitmenschen, zur Welt und zu sich selbst steht.

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Die angeführten Begriffe sind nicht nur Übersetzungen des gleichen Sachverhalts in verschiedene Sprachen, sondern weisen entsprechend dem Unterschied der Mentalitäten verschiedene Bedeutungsnuancen auf: Moral wird eher auf Einzelhandlungen bezogen, die durch Normen und Gesetze geregelt werden können. Deshalb denkt man bei Moral oft an Kasuistik. Ethos bzw. Ethik bezieht sich auf einen umfassenderen Sachverhalt. Hier geht es mehr um die Rolle, die jemand in der Gemeinschaft spielt, um Haltungen, um Grundprinzipien.

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Aus diesem Unterschied erklärt sich, daß man in der katholischen Tradition mit Ethik eine philosophische, mit Moral ein stark kasuistisch orientierte theologische Disziplin meinte. In der protestantischen Theologie, mit ihrer starken Abneigung gegen Kasuistik, spricht man seit längerem von "christlicher Ethik". - In der angloamerikanischen Philosophie ist allerdings der Begriff Moral vorherrschend und ist über die analytische Ethik auch wieder in den deutschen Raum eingedrungen.

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Die Bibel spricht weder von Ethik noch von Moral, sondern vom Gesetz und den Geboten. Darin zeigt sich ein radikaler Unterschied im Verständnis. Die Bibel versteht Moral nicht als eine Leistung der eigenen Lebensweisheit und Selbstverwirklichung, sondern als eine Beziehung zwischen Gott und Mensch, in der Gott den Menschen anspricht und verpflichtet, und der Mensch Gott und den Mitmenschen Verantwortung schuldet.

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Die Begriffe Moral, Ethik, Sittlichkeit werden in den verschiedenen Kulturen verschieden interpretiert, etwa als System strikter Tabus, als pharisäische Gesetzesethik, als Pflichtethik, als Verhaltensregelung zur Optimierung des Lebensgenusses, als Lehre von Freiheit und Selbstverwirklichung, als Handeln aus dem Bewußtsein der Verantwortung gegenüber Gott und Gewissen.

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Die Moraltheologie muß ihr spezifisches Verständnis von Moral selbst entwickeln und legitimieren. Sie ist

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"die auf der Offenbarung Gottes beruhende Lehre vom richtigen, gottgemäßen Handeln des Menschen. Insofern ihre Quelle und Norm die Offenbarung Gottes in Jesus Christus ist, in dem der Mensch, so wie er sein soll, erscheint, und Gott dem Menschen sein eigenes Bild enthüllt, und insofern sie den Menschen auf sein wirkliches Ziel, die Annahme der absoluten Selbstmitteilung Gottes in freier, vom Menschen her nicht errechenbarer noch erzwingbarer Gnade ausrichtet, ist die Moraltheologie von einer transzendentalphilosophischen Ethik unterschieden, sosehr sie deren Begrifflichkeit und Erkenntnisse sich dienstbar macht... Durch Inhalt, Quellen und Methode ist die Moraltheologie ein Teil der christlichen Dogmatik, sie hat also deren Normen und Quellen (Hl. Schrift, Tradition, Lehramt der Kirche), sie setzt voraus und entfaltet die dogmatische Anthropologie und leitet von daher systematisch (aber im ständigen Blick auf diese Ableitung, wie sie schon in Schrift und Tradition gegeben ist) die Normen des Handelns des Menschen als Christen ab." (1)

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Wir fragen nicht nur nach der Verbindlichkeit von Normen, sondern auch nach dem Subjekt des Handelns (Eigenleistung und Selbstverwirklichung oder Ermächtigung durch Gnade) und nach den Möglichkeitsbedingungen sittlichen Handelns (Bedeutung und Bedingungen der Annahme seiner selbst für die Nächstenliebe, Bewältigung von Vergangenheit, Offenheit für Zukunft, Einstellung zu Vergänglichkeit und Tod usw.). Andernfalls entsteht eine Engführung die dem neutestamentlichen Ethos, aber auch modernen Humanwissenschaften nicht gerecht wird. Moraltheologie versteht sich also nicht bloß als eine Art sittliches Strafgesetzbuch, sondern wesentlich mehr als Lebenshilfe, die aus der Weisheit der Geschichte schöpfend Handlungsanweisungen gibt.

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Sittliches Handeln weist verschiedene Dimensionen auf (empirisch-naturhafte, personale und theologische), die nicht auf eine einzige zurückgeführt werden können. Deshalb genügt weder eine bloß deduktive, aus den Wahrheiten des Glaubens ableitende, noch eine bloß induktive, allein aus der Empirie kommende Methode. Es bedarf vielmehr einer strukturalen Betrachtungsweise, in der diese verschiedenen Dimensionen in ihrer Eigenart anerkannt und zueinander in Beziehung gesetzt werden.

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1 Erster Teil: Geschichte und Methodik

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Das heutige Leben ist durch einen tiefgreifenden sozialen Wandel, durch weltanschauliche Pluralität und radikale Säkularisierung gekennzeichnet. Das verlangt vom Christen, daß er seinen Standpunkt auch vor Andersdenkenden mit verständlichen Argumenten rechtfertigen kann, daß er sich auf seine Identität besinnt, um sie nicht zu verlieren, daß er Wesentliches von Zeitbedingtem und vielleicht schon Überholtem unterscheiden kann. Alle diese Anliegen erfordern die Beschäftigung mit andern Standpunkten (auch Religionen) und insbesondere mit der eigenen Geschichte.

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1.1 Modelle nichtchristlicher Ethik

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Wenn Moraltheologie ein Teil der Dogmatik ist (freilich vermittelt mit empirischen Wissenschaften), dann muß sich eine nichtchristliche Moral in dem Maß von der christlichen unterscheiden, als dort andere theologische Voraussetzungen gelten. Das soll anhand einiger Modelle nichtchristlicher Moral illustriert werden.

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1.1.1 Moral im zyklischen Denken

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Lit.: H. V. Stietencron, Moral im zyklischen Denken: Die Auswirkung der Wiedergeburtslehre auf soziale Werte und Normen. In: B. Gladigow, Religion und Moral. Düsseldorf 1976, 118-135; C. H. Ratschow (Hg.), Ethik der Religionen. Ein Handbuch. Primitive, Hinduismus, Buddhismus, Islam. Stuttgart 1980.

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Die Lehre von der Wiedergeburt gehört zu den dogmatischen Grundlagen aller Hochreligionen indischen Ursprungs (Jainismus, Buddhismus, Hinduismus). Wichtig ist dabei die Lehre vom Karman, einer Art geistiger Substanz, die sich durch unvollkommenes Handeln im Menschen bildet. Nach dem Karmangesetz zieht jede Tat und Unterlassung, die auf Unwissenheit, Ichbezogenheit, Begierde oder Trägheit beruht, in diesem oder einem folgenden Leben negative Auswirkungen nach sich. Der Mensch muß so oft - evtl. auch als Pflanze oder Tier - wiedergeboren werden, bis er vom Karman völlig geläutert ist.

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 Konsequenzen für die Moral:

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1.1.1.1 Gut und böse:

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Das Böse wird nicht als interpersonale Beziehung, als Beleidigung der Götter und auch nicht als absolute Sinnverfehlung des Lebens verstanden, sondern als eine Art Unreinheit. Es wird ungutes Karman abgelagert, das das Erkenntnisorgan des Menschen trübt und zur Wiedergeburt auf niedrigerer Daseinsstufe führt. Gut und böse sind von den Folgen her zu definieren, die sie für das Leben und die Wiedergeburt des Individuums haben. Es gibt keine absolute sittliche Verpflichtung. Wer böse handelt, hat die Folgen selbst zu tragen und kann es durch Ausleiden der Folgen wieder kompensieren.

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1.1.1.2 Gleichheit der Menschen:

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Alle Menschen haben am geistigen Prinzip Anteil und sind darin auch mit allen übrigen Lebewesen, von der Pflanze bis zu den Göttern, verbunden. In dieser Bestimmung, die im Nirwana zur Vollendung gelangt, sind alle Menschen gleich. - Weil sie aber während des irdischen Lebens ein verschiedenes Maß an Karman in sich tragen, zeigen sich in der äußeren Lebensform große Ungleichheiten. Die Gesellschaft muß der Ungleichheit der Individuen in ihrer augenblicklichen Verwirklichungsform Rechnung tragen. Je größer die Reinheit vom Karman ist, desto höher gewöhnlich auch der soziale Rang (vgl. Hierarchie der Kasten und Rangunterschiede innerhalb der Kasten). So erklärt sich der Unterschied zwischen Reichtum und Armut, Gesundheit und Krankheit, Glück und Mißgeschick, Begabung und Unfähigkeit, Kindersegen und Kinderlosigkeit usw. Diese Unterschiede sind anzuerkennen und nicht zu beseitigen. Dadurch,daß der einzelne Mensch an Übeln und Benachteiligungen leidet, kann er sich von seinem Karman läutern. Das Leid ist eine Art unausweichliches "Fegefeuer" auf dem Weg zum Nirwana.

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1.1.1.3 Das Ahimsa-Gebot:

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Aus der Einsicht in den allgemeinen Zustand aller Lebewesen in Verbindung mit der karma-Lehre und mit der Lehre von Kreislauf der Wiedergeburt entstand das ahimsa-Gebot: Das zu erstrebende Ziel des Menschen ist, einen Weg zur Erlösung zu finden. Er soll von allen karmischen Verknüpfungen gelöst zu werden und den Kreislauf der Wiedergeburten durchbrechen. Eine der zentralen Tugenden der hinduistischen Ethik, welche den Weg dazu ermöglichen, ist das ahimsa-Gebot, das Cebot der Gewaltlosigkeit. So ist das ahimsa-Gebot im Hinduismus zum höchsten religiösen Prinzip der Ethik geworden.3

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Ahimsa ("Nichtverletzen" oder "Nichtschädigen") ist aber mehr als nur das Unterlassen von Töten und Verletzen; es ist verbunden mit Güte (metta) und Mitleid (karuna) gegenüber allen Geschöpfen. So läßt sich ahimsa deuten als die Ausweitung der Goldenen Regel auf die gesamte Umwelt: das Verbot, anderen Menschen, Lebewesen und der unbelebten Natur Gewalt anzutun. Weil die natürliche Umwelt mit dem Menschen wesensgleich ist, soll der Mensch sich in den anderen hineinversetzen. Ein Handeln, von dem er nicht wünscht, daß es ihm andere angtun, darf er nicht an ihnen begehen. Er darf also der Umwelt nur so weit schaden, wie er sich selbst schaden würde.

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Das ahimsa-Gebot gilt für alle Wesen gleichermaßen. Es würde nicht nur für den Menschen, sondern für alle Lebewesen ein Anhäufen von Schuld bedeuten, ein anderes Lebewesen zu verletzen oder gar zu töten. Es ist daher für alle verdienstvoll, eher sich selbst Unannehmlichkeiten oder Versagen aufzubürden, als den Schmerz oder gar den Tod eines anderen Wesens zu verursachen. Darüber hinaus wird das ahimsa-Gebot, das universale Prinzip der hinduistischen Ethik, auch auf die Bewahrung des natürlichen Lebensraumes für die Lebewesen angewendet. Zerstörung dieses Lebensraumes heißt, den Lebewesen Gewalt antun. Daher ist der Menschen verpflichtet, nicht nur die Lebewesen, sondern den natürlichen Lebensraum für alle anderen Lebewesen zu schützen und zu bewahren.

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1.1.1.4 Der Wert des Lebens:

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Das Leben ist nicht einmalig. Dadurch verliert die Gegenwart an Bedeutung. Es gibt keinen innerweltlichen Fortschrittsglauben. Der Wandel der Geschichte ist eher ein Verfall. Weil das Leben Leid ist, kann die Erlösung nur in der Überwindung des Lebens bestehen. Die Gegenwart soll nur Gelegenheit geben, sich weiter zu läutern, sich in Gleichmut zu üben und nach tieferer Erkenntnis zu streben. Weil das Leben nicht einmalig ist, gibt es kein besonderes Interesse an Geschichtsschreibung, mehr Interesse am Zeitlosen, an dem man sich im Kreislauf des Werdens und Vergehens orientiert. Auch Gesundheit, Wohlstand usw. gehören zum Vergänglichen und sind nur vordergründige Werte.

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1.1.1.5 Der Egoismus:

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Die Ich-Verhaftung treibt den Menschen von Wiedergeburt zu Wiedergeburt. Es ist besser, den sozialen Fortschritt zu vernachlässigen und das Leid zu akzeptieren, als aus ichbezogenen Interessen dagegen anzukämpfen.

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1.1.1.6 Die Überwindung des Karman:

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Das Karmangesetz wirkt nicht nur negativ, sondern auch positiv. Auch die gute Tat bewirkt eine Wiedergeburt in einer glücklicheren Lebensform, die bis in den Götterhimmel hineinreichen kann. Aber das gute Karman verschwindet ebenso wie das schlechte. Deshalb ist auch das Glück nicht von Dauer. Die gute Tat ist nicht das letzte erstrebte Ideal sozialen Verhaltens. Erstrebt wird vielmehr eine wertfreie Tat. Sie verursacht kein Karman, da sich kein Ichgefühl mit ihr verbindet. Die Indifferenz gegenüber Subjekt und Objekt ist das eigentliche Ziel.

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1.1.2 Konfuzianische Ethik in China

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Lit.: B. Gladigow, Religion und Moral, 149-164. Düsseldorf 1976; R. Italiaander (Hg.), Moral wozu? München 1972, 179-191; G. Mensching, Gut und Böse im Glauben der Völker. Stuttgart 1950; RGG I, 1655-1664; LThK I, 1064f.

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Ein weltanschauliches System, das einen so großen Raum umfaßt, kann nicht ganz einheitlich sein. In China hat sich der Konfuzianismus zudem in einer intellektuellen Oberschicht ausgebreitet. Neben diesem eher agnostischen, fast atheistischen System (vgl. das Fehlen "religiöser" Kunst!) blieben besonders auf dem Land andere Religionen mit einem Glauben an Geister und Götter bestehen. Sie haben auch auf den Konfuzianismus Einfluß genommen.

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"Der ostasiatische Mensch, hier spezifischer der chinesische, empfängt sich nicht aus einer Gottheit, sondern aus dem genetischen Zusammenhang seiner Sippe, die Ahnen werden folglich zu den zentral wichtigen Transhumanwesen." (Gladigow, 151). Der Mensch weiß sich nicht auf eine transzendente Wirklichkeit bezogen, sondern auf diese Welt. Die kosmische Harmonie ergibt sich aus dem freien Wechselspiel der polaren Kräfte Yin und Yang (weibliche und männliche Wirkkraft). Aus dem Wechselspiel dieser Pole ergibt sich das Tao = Weg, Pfad, Bahn, Lauf der Welt, Natur, Weltordnung, Weltgesetz. Das Tao bedeutet richtiger Weg, Tugend, Vernunft, höchste Erkenntnis.

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Der Mensch ist ganz in den Kosmos einbezogen, zeichnet sich aber dadurch aus, daß er innerhalb der Gesellschaft eine bestimmte Stellung und bei der Erhaltung der sozialen Ordnung die die Grundlage der kosmischen Ordnung ist, mitwirken darf. Die Geschichte wird besonders von den Herrschern bestimmt. Die Ordnung des Kosmos ist Ausfluß der Tugenden der Fürsten. - Ausgeprägt ist die Hochachtung vor den großen Gestalten der Vergangenheit, den Ahnherrn und auch den lebenden alten Menschen. Die Kinder sind verpflichtet, sich dem Willen der Eltern, besonders des Vaters, total zu unterwerfen.

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Das Heil liegt nicht in einer transzendenten Beziehung mit Gott oder einem innerweltlichen zukünftigen Paradies.Es wird in der Beziehung zur gegenwärtigen Wirklichkeit gesucht. Dazu dient die Nachahmung von Vorbildern.

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Die sozialen Beziehungen werden besonders kultiviert. Dennoch bleibt eine Skepsis, ob hier das Heil zu finden ist. So neigt man dazu, seine Erfüllung auch in der untermenschlichen Natur zu suchen (Naturmeditation, Zen-Praktiken, Teekult, Blumensticken, Malen und Dichten usw.).

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Begriff der Freiheit ist weithin fremd. Der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit wird kaum gesehen. Ethik ist nicht eine Frage von Dynamik, Kreativität, Hoffnung und Freiheit, sondern Einordnung in den objektiven Kosmos der Natur. - Die chinesische Geschichte kennt kaum den Gedanken der Entwicklung, sondern vielmehr den der Einordnung und der Orientierung an der Vergangenheit. Das Schießpulver wurde erfunden, aber jedenfalls zu Kriegführung nicht genutzt!

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Das sittlich Böse wird als Verfehlung gegen die kosmische Ordnung verstanden. Besonders wichtig ist die Wahrung oder der Verlust des Gesichtes, d.h. des sozialen Ansehens.

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1.2 Biblische Ethik

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1.2.1 Die Ethik des Alten Testaments (Dr. Robert Oberforcher)

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Literaturhinweis

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(Im Zuge hermeneutischer, sozialgeschichtlicher, terminologischer Umorientierungen in der exegetischen Diskussion erscheint eine neue Gesamtdarstellung atl. Ethik-noch kaum realisierbar. Die heutige Literatursituation ist durch eine Vielzahl einschlägiger Beiträge zu Einzelfragen und Textbereichen wie Dekalog, Rechtsterminologie, Sozialengagement, weisheitlichethischer Pragmatismus u.a.m. gekennzeichnet).

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 Als Einstieg für breitere Beschäftigung sind zu empfehlen:

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J. Hempel, Das Ethos des AT.(1938) 2.Aufl.1964; H.van Oyen, Ethik des AT. 1967; R. Smend, "Ethik. Altes Testament" In: TRE Bd.X (1982) 423-35.(neuester Literaturstand)

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1.2.1.1 Zum hermeneutischen Profil atl. Ethik

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Bezeichnenderweise sind es vorrangig Gesichtspunkte der ethischen Wertung, die einerseits beim heutigen Menschen scharfe Ablehnung des AT bewirken (z.B. im Gottesbild die Vater-, Männer-, Kriegergottvorstellung mit daraus angeblich folgender Legitimierung von Gewalttätigkeit bzw. Diskriminierung der Frau, der Nicht-Erwachsenen, der Umweltbevölkerung usw.). Anderseits fasziniert aber gerade das hohe sozial- und gesellschaftskritische Engagement der Propheten. In beiden Fällen, der Ablehnung und der Zustimmung, fließt ein Mißverständnis ein, das hermeneutische Problematik enthält: das Gottesbild des Patriarchen und Eroberers sowie prophetische Unrechtsanalyse sind nicht deckungsgleich mit der eigentlichen theologischen bzw. religiösen Akzentuierung, d.h. dem Wort Gottes. Vielmehr fließt in die Textfassung der altorientalische Zeithintergrund, die Kulturlage, das zeitbedingte Vorstellungsmaterial, Weltbildverfassung, altisraelitische Sprachprägung usw. so ein, daß es das "Gotteswort" nur im Medium des "Menschenwortes" gibt. Ethikhaltige Aussagen mit Normanspruch sind ohne solche Differenzierung und Interpretation nicht zu gewinnen.

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Am Beispiel der prophetischen Sozialkritik läßt sich gut illustrieren, wo das AT seine religiös-theologische Aussagenebene hat. Eine Verselbständigung des beschriebenen Sozialengagements der Propheten, das auch den Nichtgläubigen sehr beeindruckt (von Bloch bis Fromm), als Ausdruck eines bewundernswerten Sozialethos, das sich sozialrevolutionär aktualisieren ließe, würde gerade seine Aussagesubstanz preisgeben. Das AT artikuliert nämlich ethische Werte und Motive durchgehend im Sachkontext seiner Rede von Gott. Es kommt also bei diesen Textpassagen immer darauf an, diese Einbettung bzw. Rückbindung im Argumentationsgang der Texte selbst aufzuweisen.

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Indem die Propheten zur Aufdeckung, Analyse und Qualifizierung von Unrechtszuständen zwingend von Gott reden müssen, bringen sie - hermeneutisch überaus belangvoll - zum Ausdruck: es gibt keine Selbstevidenz des Humanen. Nicht aus einem großartigen Entwurf des Menschseins sind sie so kritikfähig und sozial hochsensibel, sondern aus einem präzisen Verständnis von Gott. Daraus entsteht der hermeneutische Basissatz: am Gottesbild gewinnt der Mensch den Maßstab seiner Menschlichkeit; das Gottesbild ist der Innovationsraum für eine neue ethische Lebensform; am Gottesbild, nicht am Menschenbild entscheidet sich der hohe Anspruch biblischen Humanisierungspotentials (strukturell durchaus im NT ebenso zu beobachten!). Präzises 'Wissen von Gott'(vgl. Hoseas Formel 4,1) setzt ein neues Verständnis vom Menschen frei.

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Was die Geschichte aller Sozialrevolutionen demonstriert, daß der Mensch im Entwurf seiner Menschlichkeit überfordert ist (Feuerbach meinte: "Der Begriff Gottes ist abhängig vom Begriff der gerechtigkeit, der Güte, der Weisheit..., aber nicht umgekehrt" (2)), das erhält bei den Propheten einen Gegenentwurf: denn die soziale Phantasie des Menschen wird durch die Orientierung an Gott nicht entschärft und neutralisiert, sondern im Gegenteil erst entschränkt und freigesetzt. (Damit hängt wohl zusammen, daß es in der gesamten Antike eine dem AT auf der Ebene des Sozialengagements keine vergleichbare Literatur gibt; vgl. besonders hinsichtlich der Institutionenkritik!).

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Als Beispiel für diesen Vorgang, von der Orientierung an Gott eine Neufassung ethischer Basiskategorien zu gewinnen, diene die Frage nach dem biblisch geforderten "Maß" der Versöhnungsbereitschaft, Jes 55,1-2

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 "Der Frevler kehre um zum Herrn,

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 damit der Erbarmen habe mit ihm,

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 und zu unserem Gott,

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 denn der ist groß im Verzeihen.

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 Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken,

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 und eure Wege sind nicht meine Wege - Spruch des Herrn!

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 So hoch der Himmel über der Erde ist,

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 so hoch erhaben sind meine Wege über eure Wege

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 und meine Gedanken über eure Gedanken."

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Dieselbe Gedankenstruktur findet sich in der Petrusfrage nach dem Ausmaß des Vergebens, worauf Jesus wiederum mit dem Motiv der Durchbrechung jeder Vergleichszahl die Versöhnungsfähigkeit entschränkt (wobei die Zahlensymbolik ihre zusätzliche Bedeutung aus der Kontrastierung mit dem bei Lamech Gen 4 praktizierten Lebensgesetz der maßlosen Rache gewinnt: Mt 18,21f)

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Für die Hermeneutik prophetischer Texte zur ethischen Lebensform des Bundesvolkes Israel ist jedoch wichtig, ihre negative Fassung im Blick zu haben: die Störung des Verhältnisses zu Gott schlägt um in die Zerstörung des Verhältnisses zum Mitmenschen. Für die prophetische Diagnostik kommt alles darauf an zu zeigen, daß Unrechtsverhältnisse keineswegs "selbstverständlich", "natürlich" zu verurteilen seien, sondern ihre sachgemäße Kritik erhalten als Folgewirkung der Gefährdung der Gottesbeziehung. In anderer Diktion: Entfremdung unter den Menschen resultiert aus der vorgängigen Entfremdung von Gott. In solcher Sprache wäre die Intention prophetischen Auftretens so zu fassen: im Maßstab der Theonomie der Lebensform gewinnt der Mensch seine wahre Autonomie. Von daher würde das eine präzise Prioritätensetzung für die biblische Ethik in einer theologisch gefaßten Vorrangstellung der "Religion" vor der "Ethik" bedeuten und das Charakteristikum der biblischen Ethik sein (Man beachte, daß diese Sachreihung gar nichts aussagt über den so wichtigen Vorgang, über den Weg einer Kenntnisnahme der anthropologischen Gegebenheiten zu moraltheologischen Aussagen zu kommen. Doch wird von der Offenbarungsvoraussetzung her dieser Ausgangspunkt als heuristisch verstanden. Was freilich "Orientierung an der biblischen Offenbarungsbasis" im Einzelnen heißt, kann von der Exegese her niemals allein entschieden werden). In vier exemplarischen Bereichen soll im Folgenden diese Position des AT zur Ethik konkretisiert werden, die mit dem Stichworten einer Bundesethik, Gesellschaftsethik, Umweltethik und Zukunftsethik beschreibbar sind.

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1.2.1.2 Der Gott des Exodus und die Befreiung des Menschen

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Der hermeneutische Basissatz atl. Ethik ("Am Gottesbild entsteht das Menschenbild und nicht umgekehrt".N.B.: "-bild" heißt hier immer das biblisch-theologische Denken und nicht das immer zeitbedingte Reden, also gerade nicht im Sinn von "Weltbild"!) findet in der Prophetie seine schärfste-Konkretisierung, doch im Pentateuch seine geschichtstheologische Fundierung und Programmatik. Ließen sich prophetische Texte noch anthropozentrisch mißinterpretieren, ist der Exodus-Sinai-Kontext nur mehr theozentrisch faßbar.

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(1) Das Grunddogma Israels ist der Satz, daß Israel konstituiert ist durch die Befreiungstat Gottes. Dieses existentielle wie religiöse Schlüssel-"erlebnis" Israels ist jedoch selbst wiederum nicht eruptiv-kontextlos, sondern streng zugeordnet zu einer vorgängigen Geschichte der Selbstkundgabe Gottes. Ex 3 wird das alte, anscheinend kraft- und wirkungslos gewordene Wissen vom Gott,der mit den Vätern mitwandert und durch ein ganzes Verheißungsprogramm deren Zukunft entwirft, für die Situation der Versklavung in Ägypten ganz neu aktualisiert. Daß das alte Gotteswissen im Namen "Ich bin da/ihr könnt euch auf mich verlassen" auch jetzt noch gelten soll, daß Gott also bis in die tödliche Situation der Versklavung noch mitgeht, das wird zur lebensrettenden Offenbarung. Dieser Gott ergreift Partei für die Versklavten, nicht für die Sklavenherren - ist ein religionsgeschichtlich revolutionärer Satz. Dadurch ist jedoch eine Weichenstellung im Gottesbild etabliert, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die ganze biblische Ethik läBt sich seither als Wirkungsgeschichte dieser Namensgebung fassen. An diesem Namen Gottes läßt sich jedes Geschichtsphänomen messen nach seinem Beitrag zur Realisierung von Befreiung und Erlösung.

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(2) Entscheidend ist nun, daß diese Namensproklamation ein ethisches Potential enthält, das nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Dabei gilt es zu differenzieren: nicht eigentlich das Befreiungserlebnis selbst hat diese Innovationskraft der Prägung eines neuen Lebensstils, sondern seine strenge Zuordnung zum neuen Gotteswissen (sonst bliebe der Exodus eine jener glücklichen, aber isolierten Episoden, von denen die Weltgeschichte voll ist). Aus diesem Grund ist der biblische Bericht ganz konzentriert auf die breite Ausgestaltung des Sinaibundes. Der Bundesschluß am Sinai ist danach so zu fassen, daß hier die Erfahrung mit dem solidarischen Exodusgott ihren großen institutionellen Rahmen findet. Der Sinai wäre geradezu die Institutionalisierung der Befreiung aus der Sklaverei. Das wiederum bedeutet nichts Geringeres als daß die Torah, die Gesetzesproklamation und der Bundesgehorsam (Begriffe, die vielfach restriktiv und legalistisch im Laufe der Geschichte interpretiert wurden!) ihre Motivationsbasis nicht in der Reglementierung und Verpflichtung auf einen neuen Herren (sodaß nur die Sklavenherren wechseln würden) haben, sondern im Grundimpuls der Freisetzung, der Lebensermöglichung, der Erlösung zu neuem Dasein.

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(3) Der Sinai interpretiert sich vom Exodus her, was folgendermaßen zu übersetzen wäre im Sinne einer Spiritualität des Gesetzesgehorsams. Daraus ergeben sich jedoch ganz grundlegende Einsichten für jede Form von Bewertung und Qualifizierung von Gesetz, Befehl, Gebot, Gehorsam usw., aber ebenso für die Funktionsbestimmung von Normen ethischen Denkens und Handelns überhaupt: der Exoduskontext des Sinaibundes schafft eine für Ethikfragen fundamentale Dimensionierung: der Befehl ist von der Zusage her, die Bindung von der Freisetzung her, das Verbot von der Verheißung her, das "Du sollst" vom "Du darfst" her zu verstehen und nicht umgekehrt!

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Daß diese Zuordnung mit ihrem hohen theologischen Gewicht (und nicht nur erzählerischer Wirkungsbildung!) im Laufe der Geschichte oft sehr stark aus den Augen verloren wurde, hängt einerseits mit einer Engführung paulinischer Gesetzeskritik zusammen und andererseits mit der Absicht christlicher Abgrenzung gegenüber dem torabezogenen Judentum.

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Die Folge war dann oftmals die, daß man sich von Gesetzespartien des AT überhaupt dispensiert sah, ganze Bücher (wie Levitikus) und weite Teile von Numeri oder Exodus, aber auch Deuternomium zu ignorieren bereit war. Freilich, wer sich allein auf die Formulierung solcher Passagen beschränkt, der findet wenig Hinweise auf heilsgeschichtliche Motivation.

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Von der redaktionsgeschichtlichen und gattungsgeschichtlichen Analyse her entsteht ein bedeutsamer Sachverhalt für diese Textgruppen: sehr viel legistisches Material stammt aus wesentlich späterer Zeit, aus unterschiedlichen Verhältnissen der späteren Königszeit oder gar von nachexilischen Fragestellungen her - alles aber wird eingebaut in den Sinaibund. Was bedeutet dieser Befund, alle Gesetzesmaterie zurückzudatieren auf die Wüstenepoche und einzubinden in die Exodusthematik? Offensichtlich soll dadurch die Normbasis der Lebenspraxis in Israel zu allen Zeiten und für alle Lagen hier ihren gültigen Interpretationsrahmen finden. So entsteht hier (nur durch redaktionsgeschichtliche Verfahren angedeutet) eine hohe Anforderung für jede Weise von Anweisung und Verpflichtung, sich zu motivieren und zu legitimieren aus der Fähigkeit zu Befreiung und Erlösung. - Ein Gesetz, eine Verordnung, die den Menschen einengt, knebelt, seine Lebensmöglichkeiten bedroht, steht nicht in offenbarungstheologischer Legitimität!

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(4) Der Dekalog gilt gerade für das Interesse des Moraltheologen als einer der Spitzentexte atl. Ethik. Hier muß sich jene Kontextdeterminierung bewähren: wenn gilt, daß der Bund des Gesetzesgehorsams als Institution der Befreiung des Menschen zu sehen ist, dann sind die Einzelgebote (Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen) auf ihren Beitrag zu Befreiung und Erlösung des Menschen hin abzuhorchen. M.a.W. sie sind eigentlich gar nicht aus sich selbst verständlich (nach ihrer tragenden Intention!), sie tragen ihre Motivation nicht in sich, ihr Handlungssinn ist ihnen nicht immanent. Im Sinne einer theonomen Ethik wäre zu entfalten, daß diese Gebote sich als Folgerungen aus der göttlichen Befreiungs- und Erlösungsinitiative ableiten. Doch dies erzwingt ja bereits die Textgestalt (die leider in der didaktisch aufbereiteten Kurzfassung für den Religionsunterricht gefährlich gekürzt ist): der Dekalog beginnt mit dem alles Folgende festlegende Programmsatz: "Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus" (Ex 2o,1; Dtn 5,6). So wird also ein Bundeswille proklamiert jenes Gottes, der Israel durch Befreiung aus Sklaverei eine neue Existenz gibt. Die Gebote stehen nicht aus sich, der Initiator der Bundesinstitution hat ein ganz bestimmtes Profil.

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Indem der ganze erste Teil des biblischen Dekalogs um die Frage der Entscheidung für oder gegen den Exodusgott selbst (Fremdgötterverbot, Bilderverbot, Eifersucht, Namensmißbrauch) kreist, wird schon quantitativ deutlich, daß hierin der Basisvorgang des Bundesgehorsam zu sehen ist. Hier wird auch in aller Kürze schon auf den Sachverhalt hingearbeitet, daß der Verlust des Befreiungsgottes durch Wahl fremder Götter im Grunde den Umschlag in neue Sklavenexistenz bedeutet. Das Bilderverbot, das in Dtn 4 breit ausgestaltet ist, deckt auf, daß diese Pervertierung des Sinaibundes mittels Götzendienst sich so konkretisiert, daß der Mensch Weltphänomene (Tiere, Gestirne, Menschengestalten) verabsolutiert und über solche Remythisierung der (profanen) Welt und ihre drohende Dämonisierung sein eigenes Leben riskiert:

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"Lauft nicht in euer Verderben und macht euch kein Gottesbildnis" (v.16) Gerade auf diesen Sachzusammenhang kommt Paulus an zentraler Stelle zurück, wenn er Röm 1 den Wechsel Gottes gegen die Götter als den Übergang in Versklavung darstellt. In Gal 4 argumentiert Paulus gegenüber den umgefallenen Neuchristen mit ebendiesem Sprachrepertoire des Bilderverbots: "Wie könnt ihr jetzt...wieder zu den...Elementarmächten zurückkehren? Warum wollt ihr von neuem ihre Sklaven werden?"

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Die moderne Weltsicht, die im Grunde den polytheistischen Denkrahmen der Antike nicht mehr kennt, müßte die Aussagenspitze solcher Texte interpretieren in Richtung"Ideologie" als Ausdruck selbstmächtiger, eigenverfügter Wahl absoluter Lebenswerte, Daseinsziele, Sinnentwürfe. Der Mensch als Göttermacher wird zu einem großen Topos prophetischer Religionskritik. Das Fremdgötterverbot des Dekalogs signalisiert drohenden Verlust jenes geschichtsbildenden göttlichen Freiheitsimpulses vom Exodus her. In einer heilsgeschichtlich orientierten Grundlegung der Moraltheologie gewinnen also solche Beobachtungen zum Sachzusammenhang von Gebot und Geschichtshandeln Gottes einen hohen Stellenwert. Aus solchem Kontextbezug wird klar, daß das Bundesgesetz (es steht als Chiffre für jede Form von Religions- und Kirchengesetzgebung) letztlich jene von Gott initüerte Freiheits- und Erlösungsgeschichte sicherstellen will, daß der Sinaibund die Befreiung aus Todesbedrohung stabilisieren kann.

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 (5) Wer die Gesetze mißachtet, riskiert den Rückfall in die

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Versklavung. An einigen Textbeispielen aus (ausgerechnet!) Levitikus soll illustriert werden, wie biblische Handlungsmotivationen aussehen:

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"Du sollst in deinem Herzen keinen Haß gegen deinen Bruder tragen... Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.- Ich bin Jahwe!"

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(Lev 19,17f). Was wie eine formelle Kurzformel der Gesetzeslegitimation sich anhört (Rekurs auf Autorität), ist jedoch als Signal des Kontextbezugs gemeint. So sprechen andere Texte deutlicher:

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Wenn bei dir ein Fremder im Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken...Du sollst ihn lieben wie dich selbst. - Denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin Jahwe, dein Gott!" (v.33f)

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In prägnanter Kürze wird argumentiert, daß einer, der sich auf den aus Unterdrückung befreienden Gott beruft, niemals eine unterdrückende Lebensform praktizieren kann (auch nicht gegenüber den wenig geschützten Fremden). Daß dieser weitgespannte Kontextbezug auch für die kleine alltägliche Lebenswelt gilt, zeigt eindrucksvoll der folgende Text:

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"Ihr sollt kein Unrecht begehen...mit Längenmaß, Gewicht und Hohlmaß. Ihr sollt richtige Waage, richtige Gewichte, richtiges Efa und Hin verwenden. - Ich bin Jahwe, euer Gott, der euch aus Ägypten geführt hat!" (v.35f).

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Damit sind Bereiche der Wirtschaftsethik tangiert, die in der Frage der Schuldversklavung (bei zahlungsunfähigen Personen), der Grundenteignung, des Wucherzinses (Lev 25) ihre Anfrage an die "Leistungsfähigkeit" der Befreiungsethik des Exodusglaubens stellen. Immer wieder beeindruckt,daß die Autoren von Gesetzestexten mit logischer Stringenz solche heilsgeschichtliche Begründung erzielen wie hier:

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"Du sollst das Recht von Fremden, die Waisen sind, nicht beugen; du sollst das Kleid der Witwe nicht pfänden. Denk daran: als du in Ägypten Sklave warst, hat dich Jahwe, dein Gott, dort freigekauft!" (Dtn 24,17-18) Die Formulierungsstruktur läßt an die Talion denken und kann geradezu als sozialethische und ins Positive transformierte Talion (Auge um Auge) verstanden werden: wenn ich durch Gott befreit wurde muß ich selbst befreiend handeln. Die Leistungsfähigkeit der Exodusmotivation ist hier besonders durchschlagend demonstriert: es sind gerade die schwächsten Glieder der Gesellschaft, Fremde, Witwen, Waise, die kaum Rechtsschutz genießen, denen das heilsgeschichtliche Wissen vom Gott des Exodus, d.h. dem absoluten Parteigänger aller Rechtslosen und Wehrlosen (Sklaven) zugutekommen muß!

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(6) Wenn innerhalb der Weisheitsliteratur mit ihrem Konzept von Weisheit als Lebensbewältigung "die Gottesfurcht (als) Anfang aller Weisheit" begriffen wird und damit das oben zur Hermeneutik ethischer Aussagen im AT Gesagte auf ihre Weise aufnimmt: optimales Funktionieren der Gottesbeziehung wirkt sich durchschlagend aus als Lebensmeisterung in jedem Sinn, dann darf auch solche Gottesfurcht (niemals Angst!) nicht ohne die genaue Konnotation des Exodusthemas gehört werden. In sozialkritischer Wendung heißt diese Diktion so:

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"Fürchte deinen Gott, und dein Bruder soll neben dir leben können!" (Lev 25,36 im Blick auf wirtschaftliche Verarmung) "Du sollst nicht mit Gewalt über ihn herrschen. Fürchte deinen Gott!" (v.43 bei Schuldversklavung) "Ihr sollt einander nicht übervorteilen. Fürchte deinen Gott!" (v.17 bei Geschäftspraxis)

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Es geht also um das Wahrnehmen des genauen Gefälles zwischen dem Gottesverständnis und der ethischen Anforderung. Auch wenn manche Gesetzesformulierungen recht anachronistisch, fremdartig, fast abstrus anmuten, wir lernen aus der Art und Weise ihrer Formulierung, ihres Begründungszusammenhangs, ihrer Motivgebung, wie man im Rahmen der biblischen Religion überhaupt (man denke an die sog. paränetischen Passagen in den Pl-briefen) mit Normierung und Reglementierung im Bereich der Religion umzugehen hat. Die Beispiele können zeigen, daß durch Konzentration auf das heilsgeschichtliche Grunddatum des Sinaibundes und des Exodusgottes die soziale Sensibilität in hohem Maße aufgebaut wurde.

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1.2.1.3 "Wissen von Gott" und sozialkritisches Engagement

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Über das oben zu den Propheten Gesagte hinaus soll vor allem auf eine bedeutsame Leseregel für sozialkritische Passagen aufmerksam gemacht werden. Auch wenn Formulierungen von Unrechtsverhältnissen und sozialem Zusammenbruch für sich stehen, so gewinnen sie ihr Aussageniveau und ihre kritische Dringlichkeit erst aus der (bisweilen wenig ausgesprochenen) Prämisse (wie bei Micha), daß allein Störungen des Gottesverhältnisses als Sachgrund in Frage kommen. M.a.W. die Leseregel besagt, um solche Situationen der Gewalt, der Täuschung, der brutalen Gewinnmaximierung, der Rechtsbeugung usw. als Wirkung zu identifizieren, wäre jeweils die Frage zu stellen: wie ist das sozialkritische Urteil auf Störungen der Gottesbeziehung bezogen? Dann wird man finden, daß es im Großkontext des Prophetenbuches kaum einen isolierten sozialkritischen Text gibt.

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Bisweilen jedoch geben die Texte die Logik solcher sozialkritischer Argumentation frei, wie bei Hos 4,1-2; 6,7f; Jer 9,1-5; Jes 5,7. Hier ist der theonome Horizont der prophetischen Kritik deutlich faßbar. Bei Ezechiel 7 wird ausgesprochen, daß Jerusalem (das Zentrum der Bundesfrömmigkeit!) eine Stadt voller Fremdgötterkulte (="Greuel" als technischer Ausdruck) ist - und eben deshalb ist "das Land voll von Todesurteilen und die Stadt angefüllt mit Gewalttat" (v.23). Die Gewalttat (der hámás) wird dort zur Norm, wo der Gottesbezug verloren ist. Schon hier ist erkennbar, was sehr grundsätzlich gilt: die Sozialkritik ist wegen der Aufdeckung von Störungen im Gottesverhältnisses in großer sachlicher Nähe zur Kultkritik. D.h. es gilt, auch diese wichtige Textgruppe für die Fragen der Ethik des AT auszuwerten. Dabei wird aber eine weitere Nuance sichtbar, die es zu bedenken gilt.

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Der Prophet reagiert in diesem Bereich deshalb so übersensibel, weil in der Frage der Frömmigkeit und des Kultes eine äußerst gefährliche Perversion des Sinaibundes möglich ist. Wo der Unrechtstäter Formen der Gottesverehrung praktiziert, entsteht der Eindruck, seine für die Mitmenschen bedrohliche Lebensform wäre von Gott her gedeckt. Es kann die schlimme Suggestion aufkommen (auf solche beziehen sich die Texte durchaus), daß der Gott Israels auf der Seite der Potenten, Sich-Durchsetzenden, auf Kosten anderer Auftretenden, der Gewalttätigen, der Mörder usw. steht ("Wenn ihr auch noch so viel betet, ich höre es nicht. Eure Hände sind voller Blut" Jes 1,15). Damit wäre jedoch der Exodusimpuls in sein Gegenteil verkehrt.

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So kann Jeremia in der Tempelrede (die für ihn unausweichlich zum Todesurteil geführt hat) den fundamentalen Widerspruch aufdecken zwischen der Unrechtspraxis der Gottesdienstbesucher und ihrem stolzen Rekurs auf den Tempel. Mit Hilfe des Zitats des Dekalogs wird nun so formuliert: "Wie? Stehlen, morden, die Ehe brechen, falsch schwören, dem Baal opfern und anderen Göttern nachlaufen.. und dabei kommt ihr und tretet vor mein Angesicht in diesem Haus!" (7,9f). Die Möglichkeit tritt in den Blick, daß man sich mithilfe von Frömmigkeit und Kult einerseits seine eigene Praxisform legitimieren kann und andererseits sich gegen Kritik und Anklage immunisieren kann. Doch nach Jeremia verweigert der Exodusgott die Koexistenz mit Unrechtstätern und Gewalttätigen. Warum? Weil in genauer bundestheologischer Tradition der Kultort, das Heiligtum, der Ort der Aktualisation der Bundesnorm ist (vgl. die Einzugstora Ps 15 und 24!). Hier werden die Erinnerungen an die Solidarität Gottes mit den Bedrohten und Hilflosen aktiviert. - Hier wäre viel über die memorative Funktion des Kultes im Zusammenhang der Ethik zu sagen. Der Begriff des "kritischen Gedächtnisses" hat hier eine genaue Sachbasis (vgl. die Begründung des Sabbatgebots im Dekalog!)

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Das prophetische Engagement für die Bedrohten und Hilflosen ist zutiefst motiviert durch ihren Jahweglauben, von ihrem Gotteswissen geprägt. Wenn sie so entschlossen und kompromißlos sich auf die Seite der Schwachen und Armen stellen, dann aktualisieren sie gewissermaßen jenes alte Exodushandeln Gottes an den Versklavten. Die scharfe Solidarisierung mit und eindeutige Parteinahme für die Versklavten und Rechtlosen anstatt für die Autoritäts- und Machtträger (religiös, wirtschaftlich, politisch) setzt aber auch jene einzigartige Institutionenkritik der Propheten frei, die den König, den Richter, den Priester, den Hofpropheten, den Ministerialen usw. danach bemißt, wie der Exodusimpuls sich in den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen auswirkt oder nicht. Aus dieser Textgruppe wäre viel zu gewinnen für die politische Ethik und die Frage der Beurteilung sog. Sachzwänge, welche den Vorrang des Humanum in Zweifel ziehen.

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1.2.1.4 Die "Güte der Schöpfung" und die Umweltethik

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Auch in diesem Themenfeld ist völlig klar, daß alle Ethik theonom sein muß, weil sie sonst ihr Humanisierungspotential verlieren würde. Der Horizont der ethischen Fragestellung wird jedoch in der Schöpfungsthematik bedeutsam aufgeweitet, indem hier die Frage nach dem Stellenwert des Lebens überhaupt entsteht.

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(1) Die Schöpfungstexte sprechen von der göttlichen Schöpfungstätigkeit als dem Aufbau einer idealen und optimal funktionierenden Welt als dem Bewegungs- und Lebensraum für alles Lebendige. Alles ist "sehr gut" - hier entsteht ein kritisches Ideal mit dem sich die reale Erfahrungswelt auseinandersetzen muß. Das biblische Schöpfungsdenken richtet eine Perspektive auf für unser Verhalten in unserer Welt. Eine fundamentale Konsequenz für eine Umweltethik wäre wohl darin zu sehen, daß es ein Lebensrecht für alles Lebendige gibt. Die Qualität der Wohlordnung des geschaffenen Kosmos (eine wichtige Kontrastaussage gegenüber der hier überwundenen Möglichkeit des Chaotischen, Destruktiven, Bedrohlichen Gen 1,2!) macht aus der Welt den Bewegungs- und Lebensraum für die Lebewesen. (vgl. etwa die hymnische Prädiktion in Ps l04). Von daher verbietet sich die Einschätzung der Umwelt als Material, Instrument zur Durchsetzung bestimmter menschlicher Eigeninteressen, die nur über die Destruktion der Umwelt führen würde. (Die Grenze freilich ist schwer zu bestimmen zwischen dem altorientalischen Umwelt-"Gefühl" mit seiner instinkthaften Ehrfurcht vor der Umwelt - vgl. Indianer u.a. - und der präzisen biblischen Wertung. Ein romantischer Biblizismus gegenüber den Schöpfungstexten wäre nicht gerechtfertigt).

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(2) Die Schöpfungstheologie bestimmt den Stellenwert des Menschen von der Ebenbildfunktion her (Gen 1,27), woraus sich einerseits eine Weiterführung in Richtung Bilderverbot ergibt, sodaß allein der Mensch und kein anderes Weltphänomen (vgl. die altoriental. Religionen) Repräsentant des Schöpfers sein kann (Ps 8). Andererseits wird damit der Unterwerfungsauftrag verknüpft (v.28). Wiederum entscheidet sich die Interpretation an der Respektierung der Kontextführung:

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Wer Wert auf biblische Begründung legte, berief sich auf Gen 1,28 bei seinem Anspruch, die Welt auszunützen und auszubeuten. Doch ist die biblische Diktion des Herrschens über die Tiere ohne den genauen Bezug zum Ebenbild-Gottes-Sein nicht bestimmbar. Das "Herrschen" und "Unterwerfen" definiert sich von der Rolle der Schöpfungshoheit (im Maßstab des Schöpfers) her, sodaß ein destruktives und instrumentalistisches Verhalten gegenüber der Welt aus der Schöpfungssemantik herausfällt. Der Mensch als Bild des Schöpfers muß die Intentionen des Schöpfers wahrnehmen und darf diese nicht sabotieren

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Es gehört zu den ethischen Implikationen der Schöpfungstheologie, daß der Mensch sich in seiner Welt schöpfungsgemäß, lebensfördernd, schonend, gestaltend-kreativ verhalte.

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(3) Die Ebenbildfunktion wird vom "Menschen" ausgesagt - in scharfem Kontrast zu altoriental. Konzeptionen, wo der König (bes. Ägypten) allein Träger der Ebenbildfunktion ist. Damit ist eine demokratisierende Grundtendenz der Schöpfung ausgesprochen: nicht eine Institution, nicht eine Elite, nicht ein Machtträger, sondern "der Mensch": jeder Mensch ist Bild Gottes und damit Mandatar des Schöpfers und sein Verantwortungsträger in der Welt. Daraus entsteht die Forderung, daß die Welt zur Lebensbasis für alle Menschen wird, daß die Verwendung der Reichtümer, der Ressourcen, die Verteilung der Territorien ethische Qualität gewinnen. Auch die schwachen Zeitgenossen wie die späteren Generationen müssen an der Welt partizipieren dürfen. Diesem Ansatz korrespondiert gleichsam als Negativfolie die Geschichte des Abfalls vom Schöpfergott mit dem Autonomieanspruch des Geschöpfes Mensch, über das Leben des Mitmenschen verfügen zu können (Kain, Lamech beim Jahwisten), ja überhaupt den hámás, die Gewalttätigkeit, die scharfe Selbstdurchsetzung auf Kosten anderer innerhalb der Flutgeneration (Priesterschrift) zur Daseinsnorm zu erheben. Auch der Ps l04 sieht im "Sünder" den einzigen Störfaktor innerhalb einer optimal funktionierenden Schöpfungswelt, in der der Segen dominieren kann.

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1.2.1.5 Eschatologie und Zukunftsethik

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Schon die Schöpfungstheologie signalisiert den Zukunftsaspekt, indem ihr kritischer Maßstab eher nach vorne als nach rückwärts weist. Nicht zufällig werden die utopischen Bilder der absoluten Zukunft Gottes und des Reiches Gottes in Schöpfungsterminologie konzipiert (0ffb 21-22!). Hier geht es allein um die Frage, wie man ethische Implikationen der biblischen Zukunftsvorstellung erfassen kann.

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In den Unheilsansagen wie in den Heilsweissagungen der Propheten wird im Entwurf einer so oder so qualifizierten Zukunft (Untergang oder Heilszeit) keinesfalls die Gegenwart hinter sich gelassen. Vielmehr steht dahinter das scharfe Bewußtsein, daß ein jedes Verhalten des Menschen die Zukunft determiniert, Weichenstellungen vornimmt, Langzeitwirkungen freisetzt! Keineswegs in dem Sinn, als würden geschichtsimmanente Prozesse, denengegenüber Gott ohnmächtig und handlungsunfähig bliebe, in Gang gebracht. Vielmehr decken die Propheten allererst auf, welche Konseguenzen das Verhalten der Menschen für ihre Zukunft enthält. Dabei ist es wiederum die ausschließliche Initiative Gottes, der den Sachzusammenhang zwischen gegenwärtiger Praxis und Verlauf der Zukunft inauguriert und garantiert.

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Gott legt den Menschen auf die Folgen und Wirkungen seines Handelns fest. Unter der Kategorie - "Verantwortlichkeit" wird der ethische Aspekt gegenüber der Zukunft faßbar. Der Mensch kann sich nicht dispensieren von den Konsequenzen seines Tuns. Dazu kommt ein weiterer Aspekt. Durch das Aufweisen der Folgen menschlichen Verhaltens (wobei die Propheten sowohl das Infizieren der ganzen Schöpfung durch menschliches Unrecht wie Hos 4,3; Jer 4,23ff als auch den Zusammenbruch der nationalen Geschichte ins Auge fassen!) wird die Dimensionalität, die Größenordnung solchen Verhaltens signalisiert. So kann alltägliche Unrechtspraxis durchaus destruktive Wirkungen für den Kosmos als auch für die Geschichte Israels freisetzen, wodurch freilich das Unrechtsverhalten seiner Harmlosigkeit entkleidet wird. In einer solchen Sprache wird also noch einmal der Grundtenor des Exodusgottes aufgenommen, dessen Einsatz für die Bedrohten auch in ganz alltäglicher Konstellation absolut gilt. Dieses absolute Engagements Gottes wird durch die Sprache der Wirkungsbeschreibung im kosmischen oder im weltgeschichtlichen Maßstab noch einmal neu faßbar. Aber auch dies ergibt sich aus den eschatologischen Texten mit ihrer eigenen ethischen Relevanz: in der Situation der äußersten Resignation, des Verfalls, der Hoffnungslosigkeit etwa in der Exilszeit wird durch neue Zukunftutopien Hoffnung aufgebaut. Diese Texte konfrontieren mit der Forderung, sich nicht aufzugeben, alles hinzuwerfen, Gott wieder Kredit zu geben (hier bes. eindrucksvoll Deuterojesaja Kap.40-55; aber auch 56-66 u.a.).

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Sacharja spricht geradezu davon, daß der Mensch an Gott die Kraft zur Utopie gewinnen soll: "Wenn das dem Rest dieses Volkes zu wunderbar erscheint, muß es dann auch mir zu wunderbar erscheinen (8,6). Die ethische Qualität solcher Zukunftsgedanken muß aber auch darin gesehen werden, daß im neuen Willen zur Zukunft Israel Pilotfunktion übernehmen kann für den Aufbruch der anderen Völker: "In jenen Tagen werden zehn Männer aus Völkern aller Sprachen einen Mann aus Juda an seinem Gewand fassen, ihn festhalten und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört: Gott ist mit euch!" (v.23). Und ganz folgerichtig wird in diesem Kontext an die große heilsgeschichtliche Verantwortung Israels seit Abraham appelliert: "Ich werde euch erretten, damit ihr ein Segen seid. Fürchtet euch nicht, macht eure Hände stark!" (v.13)

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Es gehört zur heilsgeschichtlich fundierten Ethik Israels, daß dieses Volk eine Verkündigung von Gott im AT durch die Zeiten getragen hat, die den Gedanken in der Welt festhält, daß Gott sich erfahren läßt als der, der mit dem Menschen sein will, der sich mit dem Bedrohten solidarisiert, der sich in letzter Eindeutigkeit auf die Seite der Hilflosen stellt. Dieses Wissen von Gott versteht das AT als den großartigen Innovationsraum, woraus der Mensch allererst seine Menschlichkeit gewinnt (dies wäre eine Gegenposition zur atheistischen Argumentationslinie, die seit Feuerbach, Marx, Freud wirksam ist: Gott verhindert die Menschwerdung des Menschen! - Zu dieser ganzen Fragestellung im Blick auf die prophetische Religionskritik vgl. weiterführende Überlegungen bei R.Oberforcher, 'Wissen von Gott'(Hosea) als kritischer Maßstab aller Menschenbilder. In: Theologie der Gegenwart 1983, 37-48 und 90-98.)

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1.2.2. Die Ethik des Neuen Testaments (Martin Hasitschka)

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Lit.: W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments (Grundrisse zum NT; NTD-Ergänzungsreihe 4). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982; ders., Ethik IV. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE) Bd. 10. Berlin/New York 1982,435-462; R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testamentes (Handbuch der Moraltheologie Bd. 6). München 21962.

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Grundlegend für die Ethik des Neuen Testamentes ist das durch Jesus Christus, seine Botschaft, sein Wirken und seine Person vermittelte Verständnis von Gott, das besondere ntl. Gottesbild.

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1.2.2.1 Begründung des christlichen Handelns ist Gottes Heilshandeln durch Jesus Christus

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Damit soll zunächst gesagt sein: nicht ethische Normen und Prinzipien, d.h. nicht sachliche Erfordernisse sind primär Motivation, Maßstab und inhaltliche Bestimmung des ethischen Handelns nach dem NT, sondern eine P e r s o n : der lebendige Gott. Gottes Handeln, das im AT vielfach bezeugt wird, erreicht in Christus einen unüberbietbaren Ausdruck. Dieses Handeln Gottes in Christus ist aber nicht nur ein punktuelles Ereignis in der Vergangenheit, sondern ereignet sich auch in der Gegenwart (durch den erhöhten Kyrios und durch den Hl. Geist) und wird einmal in der eschatologischen Zukunft Vollendung erlangen (durch den wiederkommenden Menschensohn). Wenn wir vom Handeln Gottes sprechen (das all unserem ethischen Handeln voraus liegt), so verbindet sich damit die kühne Überzeugung, daß Gott sich treu bleibt. Er wendet sich uns auch heute zu in derselben Intention, die im Wirken des irdischen Jesus sichtbar wurde, und er wird ganz gewiß die Verheißungen erfüllen, die er uns durch Jesus gegeben hat.

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 Jedenfalls: christliche Ethik wurzelt im spezifisch christlichen Gottesverständnis.

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Es ist nicht das Gottesverständnis der griech. Philosophie, nicht ein im damaligen Orient verbreitetes synkretistisches oder gnostisches Gottesverständnis. Es ist auch nicht das Gottesverständnis der jüdischen Gegner des Evangeliums, die im Namen Gottes Jesus und die Christen verfolgen. Sie meinen, richtig zu handeln, sind aber von einem falschen Gottesbild geleitet. Joh 16,2f: "Sie werden euch aus der Synagoge ausstoßen, ja es kommt die Stunde, in der jeder, der euch tötet, meint, Gott einen heiligen Dienst zu leisten. Das werden sie tun, weil sie weder den Vater noch mich erkannt haben."

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Es ist auch nicht das Gottesverständnis des Saulus, der meint, die Christen verfolgen zu müssen - und zwar aus Eifer für Gott und das Gesetz. Saulus als frommer Pharisäer ist sicher überzeugt, das Rechte zu tun, aber ihm fehlt noch das wahre Verständnis von Gott.

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Diese Beispiele mögen (als negativer Kontrast) verdeutlichen, wie wichtig es ist, zu dem besonderen Gottesverständnis zu finden, das uns durch Jesus vermittelt wird, denn erst dann läßt sich das Spezifische der ntl. Ethik erkennen.

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Der Gott, den Jesus verkündet, ist nicht primär fordernder Gesetzgeber, der den Menschen die zur Erlangung des Heiles notwendigen Gebote erläßt, sondern in erster Linie der liebend an uns Handelnde. Die Art wie er an uns handelt (und nicht bloß das, was er sagt und gebietet) ist Grundlage für christliches Handeln. Es ist ja etwas anderes, ein Gesetz (oder einen Rechtsgrundsatz) zu befolgen als einer mich liebenden Person zu entsprechen. Es ist auch ein großer Unterschied zwischen einem Handeln unter der Forderung "du sollst, mußt das und das tun, dann wirst du Lohn erlangen", oder "du darfst das und das nicht tun, sonst wirst du bestraft, und einem Handeln in der Gewißheit "dir ist vorweg Gottes erbarmende Liebe geschenkt, deshalb kannst und sollst du in bestimmter Weise handeln". Es geht hier in erster Linie um ein Handeln nicht im Blick auf Lohn oder aus Angst vor dem Gericht, sondern in Entsprechung zu einer uns liebenden Person.

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 Inhaltliche Kennzeichen des Handelns Gottes

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(1) Kontinuität zum AT: Das AT betont in besonderer Weise die Zuwendung Gottes zu den Bedrängten, Leidenden, Armen. Jesus verkörpert diese Zuwendung Gottes in letzter, unüberbietbarer Weise. Nach dem AT gibt Gott dem Menschen nicht nur e t w a s (bestimmte Gaben wie Befreiung, Land, Gesundheit ...), sondern zutiefst (und mit diesen Gaben) Gemeinschaft mit sich, den "Bund". Gott teilt s i c h s e l b s t mit - das zeigt sich bereits im AT und findet den höchsten Ausdruck in Jesus Christus.

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(2) Inbegriff für das neue Handeln Gottes in Jesus v. Nazareth ist nach den synoptischen Evangelien das nahegekommene Reich Gottes. Mk 1,15: "Erfüllt ist die Zeit. Und: Nahegekommen ist das Reich Gottes. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!" - Diese Stelle bezeichnet den grundlegenden Inhalt der Verkündigung Jesu und bildet die programmatische Überschrift über sein ganzes Wirken.

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Zu beachten ist: Mk 1,15 steht auf dem Hintergrund der Bußpredigt Johannes des Täufers. Im Blick auf den kommenden Herrn werden die religiösen und sozialen Maßstäbe der Menschen in Frage gestellt, erkennen sich alle als Sünder.

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In diese Situation hinein ergeht Jesu Botschaft. Sie ist primär Heilszusage, Evangelium (und nicht in erster Linie Moral oder Bußpredigt, oder Kritik an sozialen und religiösen Zuständen).

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Jesus verkündet eine allem menschlichen Handeln zuvorkommende neue Tat Gottes, eine unverdiente und ungeschuldete aber auch aller menschlichen Verfügung entzogene neue Zuwendung Gottes zum Menschen. Die Forderung nach Umkehr und Glaube und damit nach einem bestimmten menschlichen Verhalten resultiert aus dieser Heilszusage.

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 Einige Hinweise zum Verständnis des Ausdruckes: "nahegekommen ist das Reich Gottes":

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* Dieser Ausdruck kennzeichnet die radikale Theozentrik Jesu. Jesus verkündet nicht sich selbst, sondern Gott. Der "Vater" steht im Mittelpunkt seiner Botschaft. Jesu Dasein für die Menschen (seine Offenheit für ihre Not) wurzelt in seinem Dasein für Gott (und in der Offenheit für die Liebe Gottes).

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* Mit dem Ausdruck "Reich Gottes" (basileia tou theou) rückt Jesus eine vom AT her bekannte (im damaligen Judentum aber nicht so zentrale) Vorstellung in den Mittelpunkt. Basileia - das bedeutet in erster Linie das Herrschen und Herr-Sein Gottes, in zweiter Linie auch den Herrschaftsbereich Gottes.

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Schon im AT weisen die Aussagen über das Reich Gottes eine zweifache Dimension auf: einerseits wird darin das absolute Herrsein Gottes (seine Majestät und erhabene Größe) betont, anderseits ist die Rede von dem Schutz, der Hilfe und Rettung für die Menschen, die sich der Herrschaft Gottes anvertrauen, in seinem Herrschaftsbereich leben. Beides finden wir in neuer Weise auch in der Basileia-Botschaft Jesu: die Anerkennung des Herrseins und der Herrschaft Gottes und die damit für den Menschen gegebene Rettung und Befreiung.

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* Kennzeichnend für die Botschaft Jesu ist, daß die - freilich erst in eschatologischer Zukunft zur vollen Erfüllung gelangende - Basileia Gottes gesehen wird als bereits in der Gegenwart zeichenhaft anbrechende Realität. Darauf weist bereits die Perfektform des Verbums "nahekommen" hin. Das Perfekt (éngiken) ist Ausdruck für etwas, das bereits Wirklichkeit geworden ist und fortdauert. Die Basileia ist zwar noch nicht ganz da, aber definitiv nahegekommen, steht unmittelbar bevor. Sie wird nicht nur als etwas bloß Zukünftiges ersehnt (wie wir es z.B. in der zweiten Vaterunser-Bitte zum Ausdruck bringen:"dein Reich komme!"), sondern ragt bereits in die Gegenwart hinein. Das Eschaton bricht in der Gegenwart schon an - freilich nur anfanghaft, keimhaft, zeichenhaft und zwar im Wirken und in der Person Jesu. Jesus repräsentiert die Basileia in seiner Person. Sein Wirken (Verkündigung und Heilungstätigkeit) verdeutlicht, daß mit der Basileia dem Menschen in vielfältiger Weise Heil (Heilung, Vergebung, Befreiung von der Macht des Bösen sowie von der Herrschaft des Menschen über den Menschen, wiederhergestellte rechte Beziehung zur Schöpfung) geschenkt wird, und das bedeutet zutiefst: eine neue Beziehung zu Gott.

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* Gottes Herrsein erweist sich in der erbarmenden, ungeschuldeten Liebe. Das verdeutlicht z.B. das Gleichnis vom verlorenen Sohn und das darin gezeichnete Vaterbild. Die göttliche Souveränität zeigt sich gerade in der verschwenderischen Liebe zu den Verlorenen. Auch die Gesinnung des Dienens, in der Jesus den Menschen begegnet, sein Verzicht auf Machtausübung im irdischen Sinn, sein Weg der Gewaltlosigkeit, macht deutlich, daß Gott sein Herrsein zur Geltung bringt gerade im Verzicht auf alle machtvolle Herrschaft über den Menschen: in der sich selbst entäußernden Liebe.

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* Die Basileia wird erfahrbar in der Beziehung des Menschen zu Jesus Christus, in der Gemeinschaft mit ihm, in der "Nachfolge". Die Beziehung zur Person Jesu ist entscheidend für das "Eingehen" in die Basileia und ihre Wirklichkeit ist bleibend bestimmt durch die Verbundenheit des Menschen mit Jesus Christus.

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* Die aus der Basileia-Verkündigung sich ergebende Forderung Jesu ist in erster Linie Umkehr und Glaube, d.h.: konsequente, ganzheitliche Hinwendung zur Basileia (und damit zur Person Jesu) und uneingeschränkte Anerkennung des Herrseins Gottes. In solcher inneren Umwandlung und Erneuerung des einzelnen Menschen wurzelt ein neues (wahrhaft menschliches, sachgerechtes, selbstloses) Handeln.

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(3) Im Johannes-Evangelium wird das Handeln Gottes gekennzeichnet durch die Gabe des Lebens (zoé). Im Begriff Leben ist enthalten, was die synoptischen Evangelien mit dem Reich Gottes bezeichnen. Leben ist d i e Heilsgabe schlechthin, ein Neuanfang, der für den Glaubenden ein neues Geborenwerden bedeutet, zutiefst jedoch die Wirklichkeit einer personalen Beziehung.

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(4) Im Römerbrief wird Gottes Handeln an uns gesehen als der Erweis seiner "gerechtigkeit" (vgl. Röm 3,21-26). Ohne auf die umfangreiche Diskussion eingehen zu müssen, die es über diesen Begriff gibt, genügt in unserem Zusammenhang die Feststellung, daß damit eine rettende, versöhnende Initiative Gottes gemeint ist. Auf dem Hintergrund des AT bezieht sich das Wort gerechtigkeit auf ein Gemeinschaftsverhältnis zwischen Gott und Mensch, auf den Bund, der auf gegenseitiger Treue beruht. gerechtigkeit Gottes im Römerbrief besagt nun, daß trotz aller Untreue der Menschen gegenüber Gott (die in der allgemeinen Schuldverfallenheit zum Ausdruck kommt) Gott auf neue Weise s e i n e Bundestreue zusichert. Er erweist sie uns im Kreuzestod Jesu (vgl. Röm 5,6-8: Christus stirbt für Gottlose und Sünder und so beweist Gott seine Liebe zu uns).

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Wie schon erwähnt: Gottes Handeln ist nicht punktuell auf die Vergangenheit (den historischen Jesus) beschränkt, sondern ereignet sich auch in der Gegenwart (durch den auferweckten und erhöhten Herrn und durch den Hl. Geist) und einst wird Gott seine Basileia, die jetzt erst anfanghaft da ist, zur vollen Verwirklichung bringen. Damit ist auch gesagt: christliches Handeln orientiert sich nicht nur an einem Ereignis in der Vergangenheit (Jesus ist nicht nur als historische Gestalt Vorbild für bestimmtes Handeln, ähnlich wie andere bedeutende Persönlichkeiten in der Geschichte, z.B. Gandhi), sondern auch am gegenwärtigen Wirken des Erhöhten, sowie an einem erst erhofften zukünftigen Ereignis. Im Blick auf die erhoffte Wiederkunft des Herrn und das damit verbundene endgültige Kommen der Basileia erhält das christliche Handeln einerseits besondere (eschatologische) Dringlichkeit (das Kommen des Herrn ist bereits jederzeit möglich), anderseits besondere Motivation (von der verheißenen

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zukünftigen Heilstat Gottes geht bereits ein bestimmter Anspruch für das Verhalten der Christen in der Gegenwart aus: in einer noch von gottfeindlichen Mächten beherrschten Welt verhalten sich die Christen bereits wie wahre Bürger der erhofften universalen Basileia Gottes, auch wenn diese jetzt erst in einem unscheinbar kleinen Anfang realisiert ist; in einer noch von Finsternis regierten Welt handeln sie bereits wie "Söhne des Lichtes" aus der festen Hoffnung auf das kommende,alle Finsternis überwindende Licht).

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1.2.2.2 Gottes Handeln in Christus begründet und ruft hervor ein ihm entsprechendes menschliches Handeln

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Wir können die ntl. Ethik bezeichnen als eine Ethik der Entsprechung, eine responsorische Ethik. Gottes Handeln an uns ist nicht Lohn für unsere sittlichen Werke, sondern diese sind Antwort auf seine uns vorweg geschenkte Zuwendung. Das Reich Gottes kann durch alles ethische Handeln nicht verdient werden, aber es setzt menschliche Aktivität in besonderer Weise frei. Das ethische "Grundprinzip": w e i l ich beschenkt bin (durch die anbrechende Basileia und die Hoffnung auf ihre Vollendung, durch das neue Leben, die Verheißung unzerstörbarer Gemeinschaft), darum k a nn und s o l l ich in neuer Weise handeln. Der sittliche Imperativ wurzelt im Indikativ des anbrechendes Heiles.

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 Beispiele für den Gedanken der Entsprechung:

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Mt 13,44: Das Gleichnis vom Schatz im Acker, den einer entdeckt und voll Freude dann alles verkauft, um diesen Acker zu erwerben. Weil die Basileia ein so großer Wert ist (Schatz) lohnt es sich, ihretwegen alles herzugeben.

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Mt 18,23-35: das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht, dem sein Herr eine riesige Schuld erläßt, der aber seinerseits seinem Mitknecht eine ganz kleine Schuld nicht erlassen will. Es schließt mit dem Vorwurf des Herrn: Hättest nicht auch du dich deines Mitknechtes erbarmen müssen, so wie ich mich deiner erbarmt habe?" (V. 33). Am"Vorsprung" und Übermaß des Erbarmens Gottes soll sich unser Verhalten den Mitmenschen gegenüber ausrichten.

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Mt 5,48 (im Anschluß an das Gebot der Feindesliebe): "ihr sollt also vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist". Im Ausdruck "Vater" klingt die Grundbotschaft Jesu an, sein spezifisches Gottesverständnis. Dem Vater entsprechen, sich als Söhne dieses Vaters erweisen, heißt im Kontext dieser Stelle: die Feinde lieben (V. 44), d e n n der Vater "läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte" (V. 45). Wie Gott in seiner Güte keine Grenzen kennt, so sollen auch die Jünger Jesu keine Grenzen kennen in der Nächstenliebe, die deshalb bis zur Feindesliebe gehen soll. Vorbild und Maßstab für das Verhalten der Jünger ist der Vater so wie Jesus ihn verkündet und so wie Jesus selber in seinem Verhalten ihm entspricht. Das Gebot der Feindesliebe und allgemein die verschiedenen Einzelforderungen der Bergpredigt besagen: die Christen sollen sich wie wirkliche Kinder dieses Vaters verhalten. Die Forderungen der Bergpredigt sind nicht bloßer Imperativ, sondern Konsequenzen aus einem besonderen Indikativ: w e i l ihr Kinder dieses Vaters seid, deshalb könnt und sollt ihr euch in einer bestimmten Weise verhalten. Schlüssel für das Verständnis der Forderungen der Bergpredigt ist der Glaube an Gott als den liebenden Vater. Und dieser Glaube kann immer nur vom Einzelnen ergriffen werden. D.h. auch: die Bergpredigt (das Gebot der Feindesliebe ...) kann nie ein Gesetz für alle werden, sondern kann immer nur von Einzelnen verwirklicht werden, die zum lebendigen Glauben gefunden haben. Der Glaube kann nicht erzwungen werden, ebenso wenig können die Forderungen der Bergpredigt erzwungen werden.

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Mt 25,31ff: die Rede vom Weltgericht. Der Mensch wird einst beurteilt nach den "Werken der Barmherzigkeit": V. 40: "was immer ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan". Christliches Handeln bedeutet nicht nur Jesus zu entsprechen in seiner Liebe zu den Armen, Hungernden, Kranken ..., sondern auch i h n s e l b s t zu lieben in den Armen. Die Armen liegen ihm so sehr am Herzen, sind ihm so sehr Brüder, daß er sich mit ihnen nicht nur solidarisiert, sondern geradezu identifiziert.

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Zu dieser Sicht der Notleidenden als Brüder Jesu gelangt, wer an den Gott glaubt, den Jesus verkündet und repräsentiert, den Gott, der die Armen liebt; gelangt, wer die Seligpreisung der Armen (Mt 5,3) als Frohbotschaft auch auf sich selber bezieht. Weil der Glaubende sich selber in seiner Armut geliebt weiß, wird er fähig, in den Notleidenden die Brüder Jesu, ja Jesus selbst zu lieben.

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Mk 10,42-45: "...wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele." Jesus stellt nicht bloß eine Forderung auf ("ihr sollt dienen "), sondern begründet sie auch und zwar durch sein eigenes Verhalten. Das ethische Verhalten der Jünger ist also eine Entsprechung zum dienenden Verhalten Jesu und seiner vorbehaltlosen Selbsthingabe.

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Joh 13,34: "Ein neues Gebot gebe ich euch: liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben". Der ethische Anspruch des Johannes-Evangeliums ist zusammengefaßt im "neuen Gebot". Das Wörtchen "wie" (kathós) kann in doppelter Bedeutung verstanden werden:

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a) im vergleichenden Sinn (demnach ist Jesus Vorbild), b) begründend im Sinne von "weil" "da" (demnach ist Jesus Ermöglichungsgrund für das ethische Handeln). Das Handeln nach dem neuen Gebot ist Antwort auf die Gabe des Lebens, die Zuwendung des Herrn zu uns, die in der Symbolhandlung der Fußwaschung besonderen Ausdruck findet. Vgl. auch Joh 13,15; 15,12.

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Röm 12,1: "Angesichts des Erbarmens Gottes ermahne ich euch, meine Brüder, euch selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt ..." Mit diesen Worten werden die einzelnen ethischen Weisungen von Röm 12-15 eingeleitet. Zu beachten ist, daß die konkrete ethische Unterweisung im Römerbrief erst mit Kap. 12 einsetzt, d.h. sie wird gesehen als Konsequenz, die sich aus der Heilsverkündigung von der gerechtigkeit Gottes und der Rechtfertigung aus dem Glauben ergibt, wie sie im ersten Teil des Briefes entfaltet wird. Der ethische Imperativ von Kap. 12-15 wurzelt also im Indikativ der Heilszusage, der in den Kapiteln zuvor entfaltet wird. Der Römerbrief zeigt damit bereits in seinem Aufbau, daß ntl. Ethik responsorischen Charakter hat. "Erbarmen Gottes" - so wird hier die Heilstat Gottes in Christus zusammengefaßt. Die ethische Entsprechung dazu ist die Selbsthingabe der Glaubenden. Das ist die Grundgesinnung, die alles konkrete Handeln prägen soll; das ist der neue und wahre Gottesdienst.

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Bei aller oft unterschiedlichen Akzentuierung der ethischen Forderungen in den einzelnen Schichten des NT läßt sich dennoch eine inhaltliche Einheit der ntl. Ethik erkennen. Sie zeigt sich im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe. - Die ntl. Ethik steht damit in Entsprechung zu dem für Jesus selbst charakteristischen Verhalten, zu seiner einzigartigen Offenheit für Gott (seiner Theozentrik und Bejahung des Willens Gottes) sowie seiner einzigartigen Offenheit für die Menschen (seiner Liebe zu den Armen, Notleidenden ...).

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Das Doppelgebot faßt alle Gehalte von "Gesetz und Propheten" zusammen (Mt 22,40); es durchformt alles ethische Verhalten (auch wenn es sich um allgemein menschliche Grundsätze handelt - im NT finden wir z.B. literarische Formen der hellenistischen Moralphilosophie, sog. Haustafeln (Kol 3,18ff; Eph 5,22ff), Tugend- und Lasterkataloge (1 Kor 6,9ff; Gal 5,19-22), also nicht spezifisch christliche Grundsätze, die aber für den Christen Konkretionen und Geltungsbereich des Doppelgebotes werden können); es personalisiert die sittlichen Handlungen und finalisiert sie auf Gott und den Nächsten hin; es erschließt einen Handlungsraum, innerhalb dessen dem Glaubenden zugetraut wird, selber jeweils sach- und situationsgerechte Entscheidungen zu treffen. (Vgl. dazu: H. Schürmann, Moraltheologische Ansätze in den Mahnungen und Weisungen Jesu. In: Theologie und Glaube 82 (1982) 446-450).

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1.2.2.3 Der innere Zusammenhang von Glaube und Handeln, Christologie und Ethik

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Ethik ist nicht bloß praktische Anwendung der Christologie. Es besteht hier nicht ein Verhältnis des Nacheinander, sondern des Ineinander. Handeln ist der konkrete Ort, an dem der Christusglaube sich bewährt, vertieft, zur Reife gelangt und weiter vermittelt werden kann.

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 (1) Ethisches Handeln hat Zeugnisfunktion

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Mt 5,16: "... so soll euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. Am Verhalten der Jünger soll sichtbar werden, daß sie einen Vater im Himmel haben und dadurch sollen andere zum Glauben hingeführt werden.

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Joh 13,35: "daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr untereinander Liebe habt". Das Verhalten der Jünger ist öffentliches Zeugnis dafür, w e r ihr Herr ist.

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Joh 17,21.23: Jesus betet um die Einheit unter den Glaubenden, d a m i t die Welt zum Glauben finden kann.

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(2) Ethisches Handeln (in seiner Radikalität bis zur Selbsthingabe) ist nur möglich in der bleibenden Verbundenheit mit Christus:

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Joh 15,4: "Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr keine Frucht bringen, wenn ihr nicht in mir bleibt." V.5: "getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen". Das Bild vom Weinstock veranschaulicht besonders deutlich, daß das Handeln nach dem "neuen Gebot" ohne ständige Verbundenheit mit Christus nicht möglich ist. Ähnlich sprechen auch die Synoptiker vom christlichen Handeln, das nur in der Nachfolge Jesu (in bleibender Angewiesenheit auf Jesus und Abhängigkeit von ihm) möglich ist. Ähnlich spricht auch Paulus vom ethischen Verhalten der Christen, das ein Leben und Sein "in Christus" zur Voraussetzung hat.

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Zugleich ist ethisches Handeln Kriterium für die Echtheit des Glaubens und der Christusbeziehung.

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Mt 7,17: "Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor ..."Die Qualität des Baumes erkennt man an seinen Früchten - ebenso ist das neue Sein der Glaubenden, ihre Christusbeziehung, erkennbar an einem besonderen ethischen Verhalten.

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(3) Christliches Handeln ist auch ein Weg zur rechten Christus-und Gotteserkenntnis. Es ist nicht nur eine praktische Konsequenz dessen, was man von Christus verstanden hat, sondern hilft mit zum tieferen Erkennen seiner Person.

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Nach dem Mk-Evangelium erteilt Jesus nicht zuerst eine umfassende Lehre über das Reich Gottes und seine Person, aufgrund derer dann Menschen sich für die Nachfolge entscheiden, sondern: gleich am Anfang steht der Ruf in die Nachfolge und i n d e m Menschen Jesus nachfolgen (nach seinen Weisungen leben) lernen sie das "Geheimnis" (Mk 4,11) seiner Person erst verstehen. Man kann also nicht zunächst Christologie gleichsam aus Distanz betreiben, um sich dann evtl. für oder gegen die Nachfolge Jesu zu entscheiden, sondern nur indem man sich auf den Weg Jesu einläßt (und damit auch auf seine ethischen Forderungen), beginnt man zu erahnen, wer Jesus eigentlich ist.

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Sehr stark betont auch 1 Johdie innere Verklammerung von Christologie und Ethik, von Christus- bzw. Gotteserkenntnis und dem Leben nach dem Gebot der Bruderliebe.

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1 Joh2,3f: "Wenn wir seine (Christi) Gebote halten (im Grunde: das neue Gebot der Bruderliebe), erkennen wir, daß wir ihn erkannt haben. Wer sagt: ich habe ihn erkannt, aber seine Gebote nicht hält, ist ein Lügner und die Wahrheit ist nicht in ihm."

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1 Joh4,7f: "jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist die Liebe. Das Geheimnis Gottes erschließt sich nur, wenn man nach dem neuen Gebot lebt. Handeln nach dem Liebesgebot ist nicht nur nachträgliche praktische Konsequenz aus der Glaubensüberzeugung, daß Gott uns liebt, sondern auch ein Weg, der uns zu dieser Glaubensüberzeugung hinführt.

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1.2.2.4 Zum Problem der Aktualisierung der ntl. Ethik

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Die Bibel argumentiert auch in ethischen Fragen vorwiegend mit der Gotteserfahrung. Aus dieser Erfahrung, etwa der Liebe Gottes, leitet sich der sittliche Anspruch ab, z.B. das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Die Argumentation geht also von der Art der Beziehung zwischen Gott und Mensch aus. Der materiale Inhalt der Verpflichtung, also Normen und Gesetze, sind im Vergleich dazu sekundär. Das ist besonders auch für die Übertragung biblischer Sätze in die Gegenwart zu bedenken. Was zunächst von der Offenbarung für immer gültig bleibt, ist das Wissen um die Erfahrung mit Gott und Jesus Christus. Im NT findet sich also kein umfassendes System von Normen, keine Kasuistik für alle Lebensbereiche. Die konkreten ethischen Unterweisungen in den einzelnen Schriften sind vielfach situationsbezogen und haben oft nur eine modellhafte Bedeutung.

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Den Vorgang einer Bildung von Weisungen vom NT her könnte man als ein doppeltes "Hören" beschreiben: das Hineinhören in das NT (Jesu Sicht der Wirklichkeit, sein Verhalten...) und zugleich das Hineinhören in die heutige Zeit (Nöte und Probleme der Menschen von heute). Dabei ist zu achten auf die "Stimmigkeit" zwischen unserem Verhalten und dem Wort und Verhalten Jesu. Jesus ist nicht nur eine Gestalt der Vergangenheit, sondern der lebendige Kyrios, der auch heute Menschen in seinen Dienst ruft und durch sie in der Welt handelt, und der Kommende.

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1.2.3 Exkurs 1): Naturrecht im NT?

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Lit.: Th. Herr, Naturrecht aus der kritischen Sicht des NT. München 1976.

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Das Naturrecht oder genauer das natürliche Sittengesetz ist ein mit der natürlichen Vernunft (nicht im Glauben!) als verpflichtend erkanntes Gesetz, das in der Natur (nicht in Offenbarung!) begründet ist.

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Oft wird behauptet, daß auch im NT, besonders in den Haustafeln (Eph 5,22-6,9; Kol 3,18-4,1; 1 Tim 2,8-15; 5,3-8; 6,1f; Tit 2,2-10; Petr 2,18-3,7), in den Tugend- und Lasterkatalogen (Gal 5,19-23 vgl. Eph 5,3-9; Röm 13,12-14) sowie in Röm 1,18-32 und 2,12-16 eine Naturrechtslehre vertreten werde. Bei den Haustafeln, den Tugend- und Lasterkatalogen ist das gleiche zu bemerken wie beim Dekalog und in der Weisheitsliteratur: Die sittlichen Normen werden deutlich in den theologischen Kontext des Bundesgedankens gestellt (vgl. bes. 1 Tim 2,15; 5,8; Tit 2,2; Kol 3,14; 2 Petr 1,5-7 usw.). Die hier formulierten Verpflichtungen gründen nicht in der Naturordnung als solcher, auch nicht bloß in einer Schöpfungstheologie, sondern in der Liebe des Bundesgottes.

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Zu Röm 1,18-32 und 2,12-16 vgl. Th. Herr, 137-171. Hier nur einige kurze Hinweise:

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Paulus spricht in diesem Zusammenhang von der Rechtfertigung aus dem Glauben und von dem Gericht durch Jesus Christus. Wie die eschatologische Strafe gilt auch der eschatologische Lohn für alle, für Juden wie Heiden (2,7-10). Daß alle nach den Werken gerichtet werden, steht verbal in Gegensatz zur paulinischen Rechtfertigungslehre. Paulus will sagen, daß alle durch ihre Werke schuldig werden können, nicht aber, daß ihnen die Werke als solche Heil bringen. Jedenfalls bringt die Kenntnis des mosaischen Gesetzes im Gericht keinen wirklichen Vorteil. Es geht nicht um das Gesetz, sondern um das dort geforderte Handeln (13). Wenn die Heiden ohne Kenntnis des mosaischen Gesetzes "von Natur aus" das Gebotene tun, weil ihnen das Gesetz ins Herz geschrieben ist und ihr Gewissen davon Zeugnis gibt, dann handelt es sich hier nicht um eine bloße Erkenntnis der Naturordnung, sondern um eine Gewissenserfahrung, die im Sinne der biblischen Anthropologie durchaus als Erfahrung des in der Geschichte wirkenden Gottes zu verstehen ist. Paulus will hier keine Ausnahme aus seiner Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben zugestehen, bringt allerdings auch keine genauere Klärung, inwiefern die Heiden den Willen Gottes erkennen und dem Gericht Jesu Christi unterworfen werden. Jedenfalls wäre es falsch, die hier verwendeten Begriffe "Natur", "Gewissen" im strikt dogmatischen Sinn als Gegensatz zur Heilsordnung und zur Glaubenserkenntnis zu deuten. Tatsächlich ist ja auch die sittliche Erkenntnis der "Heiden" in geschichtlichen Erfahrungen begründet, die innerhalb der konkreten Heilsordnung stattfinden. Wie die Heiden nicht bloß natürliche Sünden begehen, sondern mit ihren Sünden tatsächlich Gott beleidigen und von Christus gerichtet werden, so sind auch ihre guten Entscheidungen Entscheidungen gegenüber der Gnade, die Gott ihnen anbietet.

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1.2.4 Exkurs 2): Zur Hermeneutik

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Lit.: B. Schüller, Das Proprium einer christlichen Ethik in der Diskussion. In: Ders., Der menschliche Mensch. Aufsätze zur Metaethik und zur Sprache der Moral. Düsseldorf 1982, 3-27; R. Schnackenburg, Paränese. In: LThK 8, 80-82 (Lit.); W. Kerber, Hermeneutik in der Moraltheologie. In: ThPh 44 (1969), 42-66.

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Die Begründung moraltheologischer Aussagen in der Bibel ist heute umstritten. Zunächst verweist man auf die hermeneutische Problematik: Kann eine biblische Aussage heute noch unverändert verpflichten? Kann man heute Moraltheologie auf biblische Normen aufbauen?

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1) Manche Aussagen und Aufforderungen sind nur bildlich gemeint. Vgl. Mt 5,29f! Können nicht auch andere Stellen so verstanden werden?

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 2) Sind manche oder alle Normen des NT unter der Voraussetzung der Naherwartung zu verstehen?

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3) Manche Forderungen sind zeitbedingt und heute nicht mehr in dieser Weise gültig. Vgl. 1 Kor 11,1-13; Apg 15,28f. Wie erkennt man solche Stellen? Wie sind sie auf die heutige Zeit anzuwenden?

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4) Die Bibel gibt auf viele heutige Probleme keine ausreichende Antwort (Wirtschaftsethik, medizinische Ethik usw.) Eine Moraltheologie, die nur Bibelstellen sammeln würde, wäre auch materialinhaltlich unvollständig und unzureichend.

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 5) Gibt es überhaupt eine biblische Moral, mit der man argumentieren kann?

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"Die biblische Ethik ist zum weitaus größeren Teil Paränese. Das erklärt, wieso Exegeten ausführliche und vorzügliche Arbeiten zur neutestamentlichen Ethik schreiben können, ohne daß sie sich irgendwann genötigt sehen, die eigentümliche Fragestellung und Problematik einer normativen Ethik ausdrücklich zu formulieren." (3)

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 In dieser Frage sind sich Moraltheologen und Exegeten nicht einig:

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R. Schnackenburg "stellte die für den Moraltheologen grundlegende Dualität der beiden 'Sprachspiele' von Paränese und Ethik selbst in Frage. Wie weit faßt das in der Moraltheologie gebrauchte Wort 'Paränese' den Sachverhalt der ntl. Texte zum Thema Ethik? Die sog. 'paränetischen' Texte enthalten mehr 'Rationalität' und Bemühen um rationale Begründung, als bei dieser Unterscheidung vorausgesetzt wird. Die in den ntl. Texten enthaltene 'Glaubensvernunft' könnte vom Moraltheologen als positiver Anknüpfungspunkt seiner auf Güterabwägung angelegten Argumentation genommen werden." (4)

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Manche Autoren sind der Meinung, daß die Sätze der biblischen Ethik nur soweit Geltung haben, wie sie in sachlichen Dringlichkeiten begründet sind. Die christologischen und theologischen Begründungen (weil Gott uns geliebt hat, sollen wir einander lieben, weil er uns verzeiht, sollen wir einander vergeben usw.) werden als Paränese, d.h. als fromme Motivation bezeichnet, die mit der eigentlichen ethischen Geltung dieser Sätze nichts zu tun habe. Diese Auffassung setzt voraus, daß ethische Verpflichtungen praktisch ausschließlich in Naturnotwendigkeiten begründet sind, nicht aber in personalen Entscheidungen von bleibender geschichtlicher Verbindlichkeit. In der Bibel hingegen wird das, was Gott für den Menschen getan hat und der Anspruch, der in diesen Taten liegt, als bleibende Verpflichtung für den Gläubigen aufgefaßt. In einer personalen Ethik darf dieses geschichtliche Denken nicht durch Interpretation als bloße Paränese entkräftet werden.

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Entsprechend der Kontroverse um den paränetischen Charakter der biblischen Moral gibt es auch verschiedene Meinungen darüber, ob in der Bibel wirkliche Ethik (reflektierte und argumentierende Sittlichkeit) vorliegt oder bloßes Ethos.

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Der entscheidende Unterschied der Meinungen in diesen Fragestellungen liegt im Grundverständnis von Moral: Viele Moraltheologen verstehen Moral von der einzelnen Norm her, deren Inhalt in bezug zur augenblicklichen Situation gesehen wird (z.B. Frage der Haartracht!). Die Exegeten verstehen hingegen Moral mehr als personale Beziehung des Menschen (bzw. der Gemeinschaft) zu Gott. Daraus erklärt sich die unterschiedliche Meinung, ob eine Person mit ihrer Vergangenheit (mit dem, was sie für einen anderen getan hat) verpflichten kann (Bundesgedanke!). So kann nach Meinung der Exegeten Jesus durch sein Leben und Sterben die Gläubigen späterer Zeiten in xxseine Nachfolge rufen.

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Viele Moraltheologen (vgl. z.B. Schüller, ebd. S. 9f) fragen hingegen, warum z.B. eine bestimmte Verhaltensweise Jesu heute verpflichtend ist und wollen als Begründung dafür nicht eine personale Beziehung, sondern Sachgründe finden. - Man wird also zur Zulässigkeit biblischer Argumente in der Moraltheologie sehr verschieden stehen, je nachdem, ob man Moraltheologie primär von personalen Beziehungen oder von einzelnen menschlichen Akten und Normen her versteht.

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1.3 Die weitere Geschichte der christlichen Moral

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1.3.1 Die Ethik der Stoa - die Naturrechtslehre

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Lit.: F. Böckle (Hg.), Das Naturrecht im Disput. Düsseldorf 1966; ders., Fundamentalmoral. München 1977, 235-258; A. Hertz, Das Naturrecht. In: Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1. Freiburg 1978, 317-338; H. Rotter, Kann das Naturrecht die Moraltheologie entbehren? In: ZkTh 96 (1974), 76-96; R. Ohlig, Die Zwei-Reiche-Lehre Luthers i.d. Auslegung d. dt. lutherischen Theologie der Gegenwart seit 1945. Frankfurt 1974.

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 Geschichte des Naturrechts

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Die nachbiblische Entwicklung ist entscheidend geprägt durch die Begegnung der biblischen Tradition mit der griechisch-römischen Antike. In ethischer Hinsicht geht es dabei vor allem um die Auseinandersetzung mit der antiken Naturrechtslehre. Wir haben hier besonders auf die theologischen Hintergründe dieser Tradition zu achten. Die biblische Ethik ist gekennzeichnet durch ihr besonderes Wirklichkeitsverständnis:

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 a) das durch Christus vermittelte Verhältnis von Mensch und Welt zum absoluten Gott

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b) das spezifische Verständnis von Geschichte (Christusgeschehen als Herkunft und Heil als Gegenstand der Hoffnung)

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c) das spezifische Verhältnis zum Du Gottes, das sich in der Liebe zum Nächsten symbolhaft vermittelt.

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Das Wirklichkeitsverständnis der stoischen Philosophie unterscheidet sich grundsätzlich vom christlichen und führt deshalb auch zu einem anderen Verständnis des Sittlichen und der sittlichen Werte.

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Die Naturrechtstheorie wurde erstmals in der stoischen Philosophie ausführlich entwickelt. Die Stoa sieht die Welt als eine stoffliche, kraftbegabte Substanz. Im Stoff wirken immanente, vernünftige Kräfte, die aus einer göttlichen Urkraft (nous) ausstrahlen. Natur und Gottheit sind letztlich identisch (Pantheismus) und damit auch Physik und Theologie. Die Naturnotwendigkeit bzw. das Schicksal ist gut und bildet die kosmische Ordnung. Zeit und Geschichte werden zyklisch verstanden. Geschichte ist also nicht linear gedacht, sondern im Sinn einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. Ziel des Lebens ist, daß der Mensch die volle Identität mit sich selbst und mit der Natur findet. Er soll in freier Selbstbestimmung sich dem göttlichen Weltgesetz einfügen. Menschliche Freiheit hat keine kreative Bedeutung, sondern mit ihrer Hilfe soll das Individuum im Allgemeinen der Natur aufgehen.

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Der verpflichtende Anspruch des Naturrechts ergibt sich hier einerseits aus der Identität von Gott und Natur und anderseits aus dem Ziel des Menschen, im Allgemeinen dieser Natur aufzugehen. Die Geschichte bringt nichts wesentliches Neues, sondern entfaltet nur das, was im Wesen der Natur liegt.

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Diese Denkstruktur findet sich auch bei den großen klassischen Denkern der griechischen Philosophie. Platon versteht die Wirklichkeit der We1t als Abglanz ewiger Ideen, also von ihrer Herkunft her. Aristoteles bestimmt das Wesen der Dinge von ihrem Ziel oder Endzustand her. Bei beiden ist ein zyklisches Zeitverständnis vorausgesetzt. In der Geschichte ereignet sich demnach nichts wirklich Neues, sondern jedes Geschehen ist eine bloße Entfaltung des schon Vorgegebenen oder das bloße Hinlaufen auf ein Ziel, das von Anfang an unveränderlich festliegt. Der Gott des Aristoteles ist ein unbewegter Beweger, also nicht ein Gott der Geschichte und des Heils. Der aristotelische Gott hält die Welt in Bewegung, aber er gibt ihr über ihr Selbstsein hinaus keine neue Bestimmung.

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 Ein klassischer Text des Aristoteles (Eth. Nic., 1134b):

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"Das polis-Recht ist teils Natur-, teils Gesetzesrecht. Das Naturrecht hat überall dieselbe Kraft der Geltung und ist unabhängig von Zustimmung oder Nicht-Zustimmung (der Menschen). Beim Gesetzesrecht ist es ursprünglich ohne Bedeutung, ob die Bestimmungen so oder anders getroffen wurden, wenn es aber festgelegt ist, dann ist es verbindlich, z.B. daß das Lösegeld (für einen Kriegsgefangenen) eine Mine betragen soll oder daß eine Ziege zu opfern ist und nicht etwa zwei Schafe. Und fernerhin all die Gesetze für Sonderfälle - z.B. daß ein Opfer für Brasidas stattfinden solle - und schließlich all das, was den Charakter eines Volksbeschlusses hat."

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Aristoteles unterscheidet also hier im Rechtsbereich ein Naturrecht und ein Gesetzesrecht. Das Naturrecht gilt unabhängig von menschlicher Zustimmung und ist in der Ordnung der Natur begründet. Letztlich steht dahinter eine Art Pantheismus, nämlich die Identifizierung von Naturordnung und dem göttlichen nous. Weil die Naturordnung letztlich etwas Göttliches ist, deshalb muß sich ihr der Mensch unterwerfen.

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Natur (physis) steht hier in Gegensatz zu dem, wozu die Zustimmung des Menschen erforderlich ist, also in Gegensatz zum positiven Recht, aber auch in Gegensatz zum Gewohnheitsrecht oder einem durch die Kultur geschaffenen Recht. Allerdings ist das Naturrecht bei Aristoteles nicht völlig unveränderlich:

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"Nun meinen manche, alles Recht sei von dieser Art (= positives Recht), weil Naturdinge unveränderlich seien und überall dieselbe Kraft hätten - z.B. brennt das Feuer bei uns genauso wie bei den Persern - während sich die Anschauungen über das Recht vor ihren Augen ändern. Indes so ohne weiteres ist das nicht richtig, sondern nur mit Einschränkung. Bei den Göttern allerdings mag das (die Veränderlichkeit) wohl ausgeschlossen sein; bei uns aber gibt es wohl auch manches, was von Natur gilt, aber das alles ist der Veränderung unterworfen - und dennoch besteht die Scheidung: 'von Natur' - 'nicht von Natur'." (Ebd.)

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Schon bei Aristoteles stoßen wir also auf die Diskussion um die Frage, ob alles Recht auch vom Menschen beeinflußt und von ihm abhängig sei, oder ob es ein Recht gäbe, das von menschlicher Entscheidung und Zustimmung völlig unabhängig ist.

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Daß Natur- und positives Recht aber nicht zu naiv auf eine Stufe gestellt werden, zeigen die folgenden Sätze in der NE:

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"Welche Art von Recht aber - innerhalb der Einrichtungen, die so oder anders sein können - auf Natur beruht und welche nicht, sondern auf Satzung und Übereinkunft, das ist, unter der Voraussetzung, daß beide veränderlich sind, ebenfalls leicht einzusehen. Und auch auf den anderen Gebieten wird die gleiche Unterscheidung zutreffen. So ist von Natur die rechte Hand stärker und doch wäre es möglich, daß alle so weit kommen, in beiden Händen dieselbe Kraft zu haben. Die Rechtsbestimmungen, die nach Übereinkunft und Zweckmäßigkeit festgelegt sind, kann man mit den Meßeinrichtungen vergleichen. (1135a) Die Öl- und Weinmaße sind nämlich nicht überall gleich: der Aufkäufer bevorzugt größere, der Verkäufer kleinere. Und ähnlich ist es bei den nicht naturgegebenen, sondern von Menschen geschaffenen Rechtsverhältnissen: Sie sind nicht überall gleich, es sind ja auch die Formen des staatlichen Lebens verschieden - und doch ist über allen nur e i n e Staatsform von Natur die beste."

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Hier wird also Natur als etwas Vorgegebenes verstanden, das in sich eine bestimmte Struktur hat, aber doch vom Menschen überformt werden kann. Das würde z.B. in der Moral bedeuten, daß es naturrechtliche Prinzipien gibt (z.B.: Achte das Eigentum!), daß aber die konkrete Ausformung der entsprechenden Normen durchaus von Tradition und staatlicher Gesetzgebung etc. modifiziert werden kann (z.B.: Verlange keinen Zins; oder: Verlange keinen Wucherzins! Oder: Verlange nur einen bestimmten, durch das Gesetz zugelassenen Zins!).

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Auffällig ist, daß Aristoteles nicht nach einer Letztbegründung des Naturrechtes in einer transzendenten absoluten Wirklichkeit fragt, daß er aber anderseits recht problemlos annimmt, daß die Natur den Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen verpflichtet. Der Grund für beides liegt wohl in der antiken Tradition mit ihrer Lehre vom nous. Jedenfalls liegt Aristoteles ein Denken ferne, in dem sittliche Verpflichtung in einem personal verstandenen Gott begründet ist, der in der menschlichen Geschichte handeln, sich im Laufe dieser Geschichte offenbaren und dadurch den sittlichen Anspruch an den Menschen begründen würde.

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Der Unterschied zwischen der aristotelischen bzw. stoischen Naturrechtslehre und der biblischen Ethik besteht nicht primär im Inhalt der Normen, sondern in der Verschiedenheit des Gottesbildes und des Wirklichkeitsverständnisses. Das wirkt sich insbesondere in folgenden Aspekten aus.

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a) Verständnis des sittlich Guten und der Sünde: In der Bibel geht es dabei um die personale Beziehung des Menschen zu Gott, der geehrt bzw. beleidigt wird, während in der Naturrechtstheorie vorwiegend die äußeren Handlungsfolgen das Verständnis von Gut und Böse bestimmen. Im christlichen Verständnis geht es bei einer Sünde um das Maß von bösem Willen, von Lieblosigkeit und Unglaube, im Naturrecht primär um das Gewicht der äußeren Handlungsfolgen.

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b) Für biblisches Denken sind nach der Gottesbeziehung die Grundwerte entscheidend, die Würde des menschlichen Lebens, die Freiheit, die biblisch verstandene gerechtigkeit usw. In der Naturrechtstheorie treten diese Werte stärker in den Hintergrund und werden auch anders verstanden als in der Bibel.

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1.3.2 Patristik und Scholastik

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Die Theologen der frühen Kirche mißtrauen vorerst der Philosophie der Stoa. Erst allmählich bekehren sich auch gebildete Schichten zum Christentum, sodaß eine Auseinandersetzung mit der philosophischen, besonders der stoischen Tradition notwendig wird. Dabei ergibt sich eine starke Beeinflussung des Christentums durch das stoische Erbe. Ambrosius (339-397) schreibt nach der Vorlage von Ciceros "De officiis" sein Werk "De officiis ministrorum" .

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Der wichtigste Theologe in dieser Auseinandersetzung ist Augustinus (354-430). Er ist sich der Werte der stoischen Ethik bewußt, aber auch, daß er diese nicht unverändert übernehmen kann. Vor allem war der stoische Pantheismus mit dem Christentum unvereinbar. Das Naturgesetz konnte für den Christen nicht deshalb verpflichtend sein, weil es von einem göttlichen nous getragen war. Augustinus suchte deshalb den antiken Pantheismus durch Gedanken der christlichen Schöpfungslehre zu ersetzen: Die geschaffene Welt setzt in Gott einen ewigen Willen (= lex aeterna) voraus, eine ewige harmonische Ordnung, die sich im Menschen als natürliches Gesetz abbildet. Diese lex naturalis wirkt im Gewissen als Prinzip der gerechtigkeit fort, dem das zeitliche Gesetz (= lex temporalis) als gesatztes Recht in der jeweiligen historischen Situation entspricht. Augustinus hat mit dieser Darstellung das antike Naturrecht gleichsam "getauft". Daraus ergab sich eine starke Wirkgeschichte der antik-christlichen Naturrechtstradition.

226
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Im Mittelalter behandelt man den Stoff der Moraltheologie einerseits innerhalb der systematischen Theologie, anderseits im Zusammenhang mit dem Bußsakrament in den "Bußbüchern". Hier entwickelt sich eine üppige Kasuistik. "So unterscheidet z.B. das weitverbreitete Bußbuch des Burkhard nicht weniger als 20 verschiedene Bußen für Mord, je nach dem sozialen Rang der Person, die getötet wurde, wobei das Töten eines Sklaven oder gar einer Sklavin nicht höher eingestuft wurde als Eigentumsdelikte." (5)

227
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In der systematischen Theologie findet sich zunächst zwar noch keine eigentliche Moraltheologie, wohl aber werden ethische Fragen im Anschluß an die Lehre von der Schöpfung, vom Sündenfall, von der Menschwerdung Christi und den Sakramenten behandelt.

228
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Erst Thomas v. Aquin (1225-1274) baut diese Fragen zu einer systematischen theologischen Ethik aus, die er in der Summa theologica im zweiten Teil vorlegt. Diese Einordnung ist von großer Bedeutung. Im ersten Teil spricht nämlich Thomas von Gott und der Schöpfung eher im Sinne einer philosophischen Gotteslehre, erst im dritten Teil werden Christus, die Sakramente, die Gnade usw. behandelt. Die Moraltheologie baut also systematisch nicht so sehr auf den heilsgeschichtlichen Gegebenheiten, sondern auf der bloßen Schöpfungsordnung auf. Entsprechend der aristotelischen Tradition beginnt Thomas mit der Lehre von Gott als dem Ziel und der Seligkeit des Menschen. Anschließend wendet er sich im Sinne der griechischen Tugendlehre den Handlungen zu, die zu diesem Ziel führen oder es verfehlen. Erst dann zeigt er das hinzutretende Heilshandeln Gottes durch Christus auf, wobei er den Kern der neutestamentlichen Ethik in der Tugendlehre unterzubringen sucht.

229
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Thomas greift die stoisch-augustinische Naturrechtslehre auf und verbindet sie mit der teleologischen Naturmetaphysik des Aristoteles. Hiedurch wertet er die natürliche Vernunft auf und leitet damit eine "Säkularisierung" des Glaubens ein. Mittels des Naturrechts soll nicht nur der lex evangelü, sondern auch der profanen Welt ein Mitspracherecht beim Auffinden der Wahrheit eingeräumt werden, wobei er sich auf Paulus (Röm 2,14f; 13,1ff) beruft. Die lex naturalis entstammt der höchsten Vernunft Gottes, ist vernünftig strukturiert und deshalb für den Menschen in den Ordnungen der Natur erkennbar. Allerdings haben die Normen, die der lex naturalis entspringen, einen solchen Grad der Allgemeinheit, daß sie als verbindliche Richtlinien für menschliches Handeln kaum ausreichen. Deshalb bedarf es zusätzlich einer lex humana, die Auslegung und Anwendung der lex naturalis innerhalb geschichtlicher Situationen darstellt ("ius naturale" oder "Naturrecht").

230
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Unkenntnis und Fehlinterpretationen des Naturrechts werden der allgemeinen Fehlbarkeit des Menschen und der durch die Erbsünde verursachten Gebrochenheit des menschlichen Geistes zugeschrieben.

231
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Die starke Abhängigkeit des Thomas von Aristoteles und der Stoa zeigt sich übrigens auch darin, daß Thomas seine Ethik nicht nach dem Dekalog, sondern nach dem Tugendschema gliedert! Die Tugendlehre ist ja sowohl bei Aristoteles wie in der Stoa breit entfaltet. Bei Thomas werden dann in die natürlichen Tugenden noch die theologischen Tugenden einbezogen und durch die Gaben und Früchte des Hl. Geistes ergänzt.

232
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Während Thomas und die Dominikanerschule primär von der Vernunft ausgehen, setzen Bonaventura, Duns Scotus und die Franziskanerschule beim Prinzip der Liebe an. Sie betonen auch stärker das Emotionale im menschlichen Handeln und werden der psychischen Dimension besser gerecht. Diese Richtung wäre systematisch z.B. in der Lehre vom Gewissen von großer Bedeutung, konnte sich aber in der Wirkgeschichte mit der thomistischen Tradition nicht messen. Die Reformation stützte sich auch in der theologischen Ethik sehr auf die Bibel und kritisierte die thomistische Naturrechtslehre, vor allem den Zusammenhang mit einer "natürlichen Theologie", die die Offenbarung Gottes als überflüssig erscheinen lasse. Auch könne der Glaube an die Wirkmächtigkeit der Erbsünde kaum aufrecht erhalten werden, wenn es eine Erkenntnis Gottes auf der Grundlage der bloßen Vernunft gäbe.

233
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Nach 1300 treten an die Stelle der Bußbücher mit ihren starren Taxen jetzt Poenitentialsummen. Die Bußauflagen stehen im Ermessen des Beichtvaters. Wieder erscheinen viele Summen über die "casus conscientiae". Das 4. Laterankonzil 1215 hatte die Osterbeichtpflicht eingeführt. Der Todsündenbegriff wurde erweitert. Es entstanden Anleitungen zur Beichte für die Hand der Laien (Beichtbüchlein), in denen es um die 10 Gebote, die Sakramente und die Pflichten gegen die Nächsten ging. Sie waren oft alphabethisch geordnet. Es drehte sich also nicht um eine systematische Reflexion der Moral, sondern um eine Mischung aus Moral, Recht, Liturgie und Pastoral der Sakramente. Oft kam es zu einer überreichen Kasuistik.

234
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Im Laufe der Rezeptionsgeschichte des Naturrechts durch die reformatorische Theologie nimmt die Zwei-Reiche-Lehre eine zentrale Rolle ein: Wenn Luther von den zwei Regimentern spricht, meint er damit das der Gnade und das der Welt. Liegt für das erste das Ordnungsprinzip der göttlichen Liebe vor, so besteht im zweiten eine äußere Zwangsordnung, die eine Zerstörung der weltlichen Gesellschaft durch die Menschen verhindert. Obgleich der Zwei-Reiche-Lehre eine dualistische Konzeption zugrundeliegt, darf die Ordnung der Welt dennoch nicht kurzerhand mit dem Reich des Satan verbunden werden.

235
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Der Christ gehört in seinem irdischen Dasein beiden Regimentern an. Die Gottesherrschaft wirkt sowohl durch das geistliche als auch durch das weltliche Regiment. Formal betrachtet sind beide Regimenter identisch, insofern sie beide aus dem einen Willen Gottes hervorgehen (Röm 13,1-7), inhaltlich besehen unterscheiden sie sich wesentlich. Gott will im weltlichen Regiment die Ordnung des natürlichen Lebens garantieren, während er im geistlichen den Menschen vor ihm rechtfertigt.

236
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Damit stellt die reformatorische Theologie die Naturrechtsordnung auf eine weltliche Basis und entzieht ihr das ontologisch-metaphysische Fundament. Luther hat allerdings den Wert eines "weltlichen" Naturrechts nicht bestritten. Als Lebenshilfen für die Menschen hat Gott den zweiten Teil des Dekalogs, die Goldene Regel und das Gebot der Nächstenliebe gegeben. - Die lex Dei jedoch kann nur durch die lex Christi erkannt werden, die sich im erwählten gläubigen Menschen allmählich verwirklicht.

237
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Im Zuge der theologischen Reflexion über das Verhältnis vom Evangelium zum Gesetz versuchten die evangelischen Theologen die Spannung zwischen beiden durch einen dreifachen Gebrauch des Gesetzes aufzulösen.

238
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- Der usus politicus legis bestimmt das Gesetz als Regulativ für das öffentliche Leben. In dieser Bedeutung umfaßt der Begriff "Gesetz" die Summe aller irdischen Ordnungen und Gesetze. Die Einsicht in die Notwendigkeit und in den Sinn dieser Ordnungen kann der Mensch mittels seiner Vernunft leisten.

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- Der usus theologicus oder elenchticus verweist den Menschen in seine schuldhafte Situation vor Gott. Durch die Verkündigung, durch die Predigt des ersten Gebotes, wird dem Menschen der Wille Gottes dargelegt, damit wird er allerdings auch der Sünde überführt. Dieser usus steht ganz und gar im Dienste des Evangeliums, indem dem Menschen, der glaubt, die Sündhaftigkeit und Heilsbedürftigkeit vermittelt wird.

240
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- Die Rede von einem tertius usus legis stellt eine Erweiterung und zugleich eine Verbindung zwischen den beiden erwähnten Deutungen dar. Man versteht darunter jene Lebensweisungen für den Christen, die ihm darüber Aufschluß geben, wie er sich in dieser Welt verhalten soll. Somit stellt sich wiederum in einem neuen Gewand die Frage nach der Allgemeingültigkeit einer rechtlichen Ordnung, die dem Evangelium "vorausliegt".

241
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Die Problematik rund um die Aussagen der Naturrechtslehre wurde besonders von Melanchthon, Zwingli und Calvin weiterverfolgt. In jüngster Zeit versuchen evangelische Theologen (E. Brunner, R. Niebuhr und P. Tillich) auf der Basis der Naturrechtstradition die Notwendigkeit eines allgemein zu bewährenden und verbindlichen christlichen Ethos hervorzuheben. In der evangelischen Sozialethik reicht die Spannung zwischen positiver Rezeption und kritischer Beurteilung der Naturrechtslehre bis in die gegenwärtige Zeit. Trotz theologischer und traditionsbedingter Bedenken wird dem Naturrecht zumindest ein heuristischer und gesellschaftskritischer Wert beigemessen.

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1.3.3 Die Neuzeit

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Angeregt durch das Konzil von Trient (1545-1563), speziell durch das Beichtdekret (DS 1679-1683) wird ein eigener Lehrstuhl für "Gewissensfälle" eingerichtet. Das Bußdekret hatte im 5. Kapitel über das Bekenntnis erklärt:

244
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"Dieses Bekenntnis ist für alle, die nach der Taufe fallen, nach göttlichem Recht notwendig, weil unser Herr Jesus Christus vor seiner Himmelfahrt die Priester als seine eigenen Stellvertreter zurückließ, als Vorsteher und Richter, vor die alle Todsünden gebracht werden müssen, in die die Christgläubigen fallen. Sie sollen kraft der Schlüsselgewalt das Urteil der Vergebung oder des Behaltens der Sünden fällen. Denn ohne Kenntnis des Tatbestandes könnten die Richter dieses Urteil nicht fällen noch bei Auferlegung der Strafe das rechte Maß wahren, wenn man seine Sünden nur allgemein statt einzeln und im besondern darlegt. Daraus ergibt sich, daß von den Büßenden a l l e Todsünden in der Beichte genannt werden müssen, deren man sich nach sorgfältiger Selbsterforschung bewußt ist, mögen sie noch so im Verborgenen geschehen sein, oder sich nur gegen die letzten zwei der zehn Gebote gerichtet haben, verletzen diese doch oft die Seele noch schwerer und sind noch gefährlicher als die Sünden, die ganz offen geschehen. Die läßlichen Sünden, die uns von der Gnade Gottes nicht ausschließen und in die wir häufig fallen, kann man zwar richtig, mit Nutzen, und ohne jede anmaßende Überheblichkeit beichten, wie es der Brauch gottesfürchtiger Menschen zeigt, man kann sie aber auch ohne Schuld verschweigen und mit vielen andern Heilmitteln sühnen." (Neuner-Roos 81971, Nr. 652).

245
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Aus dem Lehrstuhl für "Gewissensfälle" entsteht die Moraltheologie als eigene, von der Dogmatik unabhängige Disziplin. Eines der ersten Lehrbücher dieser Art, die "Institutiones morales" (3 Bde. 1600-1611) stammt von Juan Azor SJ. Es war für die Bedürfnisse des Beichtstuhls gedacht. Wichtig war im Sinne des Tridentinums die einzelnen Akte der Sünde genau zu definieren, damit sie nach Zahl und Art gebeichtet werden konnten.

246
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Die neue Disziplin der Moraltheologie nahmen einerseits die Tradition der Bußbücher (libri poenitentiales seit dem 8.Jh.) auf mit ihren Sündenkatalogen und der jeweiligen Buße für jede Sünde (Fasten, Geldbußen, Leibstrafen, Gebete usw.), der Ableistung durch den Sünder oder einen Stellvertreter die Verzeihung der Sünden verbürgte. Anderseits bezog man sich auf einige systematische Grundüberlegungen, die bisher innerhalb der Dogmatik (z.B. in der Summa des Thomas v.A.) vorgetragen wurden. Allerdings wurden diese spekulativen Teile in der Moraltheologie oft reduziert. So überließ man etwa den Gnadentraktakt meist der Dogmatik und kam in der Moraltheologie zu einer verstärkten Betonung des Juristischen. Aus der "Tugendmoral" der Hochscholastik wurde eine kasuistische Sündenmoral.

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Auch die spirituelle Theologie (Aszetik und Mystik) hatte hier keinen Ort mehr, sondern entwickelte sich zu einer eigenen Disziplin. Die Tendenz ging stark zu einer objektivistischen Aktmoral, in der nicht Grundhaltungen reflektiert, sondern die einzelnen sittlichen Handlungen isoliert betrachtet wurden und zwar kaum bzgl. ihrer subjektiven Aspekte, sondern primär bzgl. des objektiven Sachverhaltes.

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Dieser Objektivismus führte in der folgenden Zeit zunehmend zu der sterilen Fragestellung der "Moralsysteme". Es geht dabei insbesondere um die Frage, was zu tun ist, wenn das Gewissensurteil unmittelbar zu keinem eindeutigen Ergebnis kommt, weil Zweifel bestehen, ob ein geltendes Gesetz im Einzelfall verpflichtet, oder ob man sich davon dispensiert glauben kann.

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 "Auf diese so gestellte Frage antwortet

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1) der absolute Tutiorismus: Es ist immer zugunsten des Gesetzes zu entscheiden, auch wenn seine Existenz zweifelhaft ist, solange nicht jeder Zweifel an der Berechtigung einer Entscheidung zugunsten der Freiheit vom Gesetz beseitigt ist; eine rigoristische Haltung, die in der Praxis unmöglich ist, das sittliche Wesen der Freiheit als solcher verkennt und von der Kirche abgelehnt wird (DS 2302);

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2) der Probabiliorismus: Der Mensch darf nur dann zugunsten seiner Freiheit entscheiden, wenn die Gründe gegen die Existenz des Gesetzes wesentlich besser begründet, wahrscheinlicher sind. Doch kann dagegen eingewendet werden, daß ein Gesetz erst verpflichtet, wenn es sicher ist und die Präsumption für die Freiheit steht, die durchaus an sich als sittlicher, von Gott gewollter Wert zu betrachten ist. Doch ist diese Theorie kirchlich erlaubt (DS 2175ff);

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3) der Äquiprobabilismus: Von der Freiheit kann Gebrauch gemacht werden, wenn für sie gleich gute Gründe wie für die Existenz des Gesetzes sprechen;

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4) der einfache Probabilismus: Der Freiheit bleibt die Präsumption, wenn für sie ernsthafte Gründe sprechen, solange für den Anspruch des Gesetzes keine sicheren Beweise vorliegen. Da die Abwägung der Gründe für und wider selbst wieder eine undurchsichtige Sache und bis zu einem gewissen Grad dem redlichen Ermessen anheimgegeben ist, so kommen Probabilismus und Äquibrobabilismus in der Praxis wohl im allgemeinen zum selben Resultat. Sie bilden zusammen das meist vertretene M. und sind die Voraussetzung dafür, daß in solchen Zweifelsfällen Raum bleibt für andere Erwägungen (Kompensation der Gefahr der Gesetzesverletzung durch Erreichung anderer Werte; Erwägungen der Existentialethik);

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5) der Laxismus: Auch die leiseste Spur eines Rechtes der Freiheit genügt noch, um gegen das Gesetz zu entscheiden. Da es sich von vornherein meist nur um moralische Sicherheit, nicht um mathematische und metaphysische, handelt, also immer eine Spur von Grund gegen das Gesetz zu entdecken ist, wäre der Laxismus die Untergrabung jeden Gehorsams gegen das Gesetz und allgemeine Normen. Er ist von der Kirche verworfen (DS 2101-2165, 2167, bes. 2103)."

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 K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines Theologisches Wörterbuch 111978, S. 285f.

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Der wichtigste Autor dieser Epoche ist Alfons v. Liguori (1696-1787). Ursprünglich Jurist, wird er Priester und stiftet die Redemptoristen. In seiner "Theologia moralis" betont er gegenüber dem damals besonders im Jansenismus weitverbreiteten Rigorismus und Pessimismus nachdrücklich die göttliche Barmherzigkeit. Das Werk erscheint zunächst als "Adnotationes" zur "Medulla theologiae moralis" des Jesuiten Hermann Busenbaum, später als selbständiges Werk, das mehr als 70 Auflagen erlebte. Obwohl auch hier ein juristisch-kasuistisches Denken vorherrscht, wirkt sich die gemäßigte Haltung des Äquibrobabilismus und die pastorale Grundlinie positiv auf die weitere Entwicklung der Moraltheologie aus.

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Nachdem sich die Pastoraltheologie von der Moraltheologie abgespalten hatte, kam es im 19.Jh. zu verschiedenen Neuansätzen. Dem Geist der Romantik verpflichtet schrieb Johann Michael Sailer (1751-1832) das "Handbuch der christlichen Moral zunächst für künftige katholische Seelsorger und dann für jeden gebildeten Christen" (München 1817). Das Werk will nicht nur für Beichtväter dienen, sondern eine Anleitung "zu einem gottseligen Leben" für alle Christen sein. Sailer will eine systematische Darstellung des christlichen Ideals geben. Besonders gegenüber den Einflüssen der Aufklärung, die die Aspekte des Glaubens reduzierten und an der Theologie fast nur die praktische Moral gelten ließen, versuchte Sailer gerade den Zusammenhang der Moral mit den Grundgeheimnissen der Offenbarung wieder herzustellen.

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Einen ähnlichen Versuch machte Johann Baptist Hirscher (1788-1865) mit seinem Werk: "Die christliche Moral als Lehre von der Verwirklichung des göttlichen Reiches in der Menschheit" (Tübingen 1835f.). Er ist ebenso theologisch orientiert wie Sailer, dabei aber aktueller und systematischer.

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In der zweiten Hälfte des 19.Jh. kommt es zu einer neuen Thomas-Renaissance. Zwei Hauptströmungen beherrschen die deutschsprachige Moraltheologie: eine süddeutsche, die mehr dynamisch-psychologisch orienteirt ist, und eine norddeutsche, die mehr statisch-systematisch ausgerichtet ist.

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Im 19. Jahrhundert lassen sich vor allem drei Richtungen unterscheiden: 1. eine traditionelle-kasuistisch-juridische Moraltheologie; 2. Werke der Thomas-Renaissance; 3. Reaktionen auf den Deutschen Idealismus (so ist K. Werner von Kant abhängig, F.X. Linsenmann von Hegel).

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1.3.4 Das 20. Jahrhundert

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In der Vielfalt dieser Versuche zeigt sich schon die wachsende Selbstkritik und Unzufriedenheit in der Moraltheologie, die dann seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem immer lauter werdenden Ruf nach Reform führt. Besonders kritisiert man das bibelferne Denken, die untheologische Darstellung, die ausufernde Kasuistik und das Überwiegen des juristischen Denkens. Aber auch die Kritiker sind nicht immer in der Lage, das zu erfüllen, was sie fordern. Joseph Mausbach hatte ein ganzes Reformprogramm dargelegt, in dem er eine stärkere Verbindung der Moraltheologie mit der Dogmatik und die Rückführung der geistlichen Theologie in die Moraltheologie verlangt, sowie eine stärkere Betonung des Übernatürlichen, mehr Bezugnahme auf Bibel und Geschichte. Seine "Katholische Moraltheologie" erscheint seit 1915 und wird später von G. Ermecke betreut. - An Thomas orientiert sich Otto Schilling, der seine "Moraltheologie" auf das Grundprinzip der Liebe (caritas) begründet.

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Der wichtigste Versuch dieser Periode stammt von Fritz Tillmann (1874-1953). Tillmann hatte sich ursprünglich für Exegese habilitiert, wechselte dann aber wegen Schwierigkeiten mit dem Lehramt in die Moraltheologie über. Er brachte eine stark biblische Inspiration in die Moraltheologie ein, die er auf die Idee der Nachfolge Christi begründete. Allerdings blieb in der speziellen Moral durchaus die Naturrechtslehre vorherrschend.

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Die 30iger Jahre waren geprägt durch den Nationalsozialismus, die Verfolgung und Einengung der Kirche. Von den Christen war besonders das Bekenntnis gefordert. Bei den Protestanten kam es zur "Bekennenden Kirche". In der Katholischen Kirche verbreitete sich die Christ-Königs-Frömmigkeit. Nicht der Staat sollte der oberste Herr sein, sondern Jesus Christus. In dieser Situation plant Johannes Stelzenberger seine "Moraltheologie. Die Sittlichkeitslehre der Königsherrschaft Gottes". Allerdings kann er sie in den Kriegswirren nicht beenden und 1945 verbrannten bei einem Angriff auf Breslau das ganze Manuskript und alle Unterlagen. So konnte das Werk erst 1953 erscheinen, als sich die Zeit schon völlig gewandelt hatte.

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Die Situationsethik: Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg hatten eine schwere Erschütterung des ethischen Bewußtseins mit sich gebracht (KZs, Mißbrauch der Autorität und des "Gehorsams" im Krieg usw.). Eine erste Reaktion war die Renaissance des Naturrechts nach dem Krieg, die auch im Grundgesetz der BRD verausgesetzt wird. Man suchte nach einer Moral mit objektiver Gültigkeit, die von Autoritäten unabhängig ist. Dieses Denken hielt aber nicht lange stand. Wenn das Naturrecht beansprucht, die wahre Lehre zu sein und universal zu gelten, dann kann es intolerant und autoritär werden. Das wachsende demokratische Bewußtsein anerkannte aber mehr und mehr kulturellen und geschichtlichen Pluralismus.

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Darauf reagierte man mit der Entwicklung einer Theorie von einem wandelbaren Naturrecht. Dadurch relativierte man allerdings einen entscheidenden Aspekt der traditionellen Naturrechtslehre. So folgte bald als eine radikalere Reaktion die Situationsethik. Sie war freilich nicht ganz neu. Schon im Mittelalter gab es den Nominalismus, der die Freiheit Gottes dadurch schützen wollte, daß er behauptete, daß Gott alles Beliebige wollen und anordnen können, ohne durch irgendetwas, wie z.B. durch sittliche Naturgesetze eingeschränkt zu sein. Im 19. Jh. betonte S. Kierkegaard in extremer Weise den Wert des unverwechselbaren einzelnen. Diese Perspektive führten später die Existenzphilosophie weiter. Dazu kam die Mentalität des modernen technischen Pragmatismus, nach dem jedes Gesetz in Frage gestellt und durch weitere Experimente falsifiziert oder verfeinert werden kann. Auch die persönliche Lebenserfahrung führte oft zu der Einsicht, daß sittliche Normen als starre Einengung der Person relativiert und angepaßt werden sollten. - Unter Situation ist hier das Gesamt der konkreten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse gemeint, aber auch die persönliche Lebensgeschichte und die interpersoaneln Beziehungen.

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 So entstanden drei Formen der Situationsethik:

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1. Extreme Situationsethik, z.B. J.P.Sartre: Absolute Einmaligkeit von Situation und Norm. Zu verstehen aus der Erschütterung des Krieges!

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2. Relativierende Situationsethik bei Ernst Michel, J. Fletcher, A.T. Robinson: Die sittennormen sind zwar berechtigt und hilfreich, aber nicht in jeder Situation zutreffend und verbindlich. Sie lassen Ausnahmen zu.

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3. Ergänzende Situationsethik von K. Rahner: Normen behalten ihre Gültigkeit, brauchen aber eine Ergänzung im Sinne einer formalen Existentialethik. (Beispiel: Berufung zum Priestertum)

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Der aufgrund seiner Wirkung bedeutendste Moraltheologe der Nachkriegszeit ist Bernhard Häring. Sein "Gesetz Christi" erlebte 8 Auflagen und viele Übersetzungen und war das wohl einflußreichste Werk mit einem personalistischen, dynamischen Konzept gegenüber der Schultradition. Häring hatte einen starken Einfluß auf die Konzilstexte genommen. Sein Standardwerk wurde 1979 abgelöst durch "Frei in Christus".

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Vaticanum II: Das Dokument über die Priesterausbildung „Optatam totius" verlangt: „Besondere Sorge verwende man auf die Vervollkommnung der Moraltheologie, die, reicher genährt aus der Lehre der Schrift, in wissenschaftlicher Darlegung die Erhabenheit der Berufung der Gläubigen in Christus und ihre Verpflichtung, in der Liebe Frucht zu tragen für das Leben der Welt, erhellen soll." Hier wird die alte Kritik an der Moraltheologie bestätigt und eine größere Nähe zur Bibelwissenschaft und zur Spiritualität verlangt. - Inhaltlich am ausführlichsten geht die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes" auf moraltheologische Themen ein. Sehr wichtig war auch die Anerkennung der Religionsfreiheit in „Dignitatis humanae". - Das Konzil interpretierte

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einzelne Positionen neu, die vorher fast Tabu-Charakter hatten: Religionsfreiheit, Eheverständnis und Ehezwecke usw. Hier zeigte sich auch grundsätzlich ein neues Verständnis gegenüber früheren kirchlichen Dokumenten im Sinne einer personalistischen Sicht, die auch mehr pastoral orientiert war.

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Das meistdiskutierte Werk der Zeit nach dem Konzil war "Autonome Moral und christlicher Glaube" (1973) von Alfons Auer. Auer hatte sich seit langem besonders für den Laien in der Kirche eingesetzt. Er gehörte zu der vatikanischen Kommission, die Humanae Vitae vorzubereiten hatte. Nach dem Erscheinen diese Enzyklika schrieb er dann sein Werk als Reaktion, vor allem in der Absicht einer Klärung der Kompetenz des kirchlichen Lehramtes und der Laien.

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1.3.5 Zur derzeitigen Situation der Moraltheologie

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Die heutige Situation der Moraltheologie ist durch eine große Pluralität der Ansätze gekennzeichnet. Das begann schon in den Fünfzigerjahren und verstärkte sich seit dem Vaticanum II.

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1.3.5.1 Empirische Ansätze

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aa) Psychologie: Autoren wie Wilhelm Heinen und Marc Oraison analysieren das menschliche Handeln und Verhalten aus psychologischer Sicht. Sie beschäftigen sich besonders mit Begriffen wie Gewissen, Liebe, Sexualität usw. sowie mit Fehlformen wie Haß, Fanatismus, Manichäismus, Machtgier usw. Das ermöglicht einen Zugang zu ethischen Fragen, den heute viele Menschen akzeptieren. Moral nähert sich der psychologischen Beratung und Lebenshilfe.

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bb) Soziologie: Wilhelm Korff u.a. beschäftigen sich besonders mit Begriffen wie Natur, Norm, Autorität und deuten sie aus soziologischer Sicht. Man geht jetzt oft aus von Zeitanalysen und demoskopischen Befragungen, um das Gewicht einer Fragestellung zu verdeutlichen.

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cc) Vergleichende Verhaltensforschung: Hier ergeben sich neue Einsichten in die biologisch-psychologische Struktur des menschlichen Verhaltens. Liebe, Aggression, Sexualität, aber auch Eigentum, Sprache, Wahrhaftigkeit, Autorität usw. zeigen sich in neuem Licht.

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Empirische Ansätze zeichnen sich durch Konkretheit, Objektivität und Überprüfbarkeit aus. Aber sie analysieren nur den "Ist-Zustand" und sagen noch nichts über das Sollen. Es besteht die Gefahr, daß Zielvorstellungen unreflektiert in eine empirische Methode einfließen. Bibel und Offenbarung kommen oft zu kurz.

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1.3.5.2 Philosophische Ansätze

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aa) Analytische Philosophie (z.B. B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in der katholischen Moraltheologie. Düsseldorf 31987) Begriffe und Argumentationsweisen werden auf ihre logische Sauberkeit überprüft. Es geht nicht um anthropologische Zusammenhänge, sondern um die Sauberkeit der ethischen Argumentation.

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Ausgangspunkt: Kategorischer Imperativ ("Handle so, daß die Maxime deines Handelns Prinzip allgemeiner Gesetzgebung werden kann!") bzw. der "Goldenen Regel" ("Alles was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!"- Mt 7,12; Lk 6,31): Etwas ist sittlich, insofern es dem kategorischen Imperativ oder der Goldenen Regel entspricht. Dieser Ansatz ist primär philosophisch. Theologische Aspekte des biblischen Ethos (Christozentrik, Nachfolge Jesu, Bund, Eschatologie usw.) werden als Paränese bezeichnet, die nicht zur Ethik als solcher gehören. An die Stelle der deontologischen Argumentation soll die teleologische treten.

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Teleologische Argumentation: Von griechisch tò télos = das Ziel, die Folge. Eine Handlung ist danach zu beurteilen, welche Folgen sie nach sich zieht. Im Konfliktsfall ist unter den verschiedenen Handlungsmöglichkeiten jene auszuwählen, die die günstigsten Folgen hat, die also das geringere Übel, bzw. das größere Gut hervorbringt, bzw. wo die positiven Folgen überwiegen ("Güterabwägungsprinzip"). Die Begründung besteht darin, daß sittliche Handlungen, sofern sie sich nicht unmittelbar auf Gott, sondern auf innerweltliche Güter beziehen, nur endliche, keinen absoluten Wert anzielen (Eigentum, Ehre usw.). Wo solche endliche Werte miteinander in Kollision treten, kann man sich nicht einem Wert absolut verpflichtet fühlen, sondern muß die Güter gegeneinander abwägen und sich für den größeren entscheiden. Die sittliche Qualität der Akte hängt davon ab, ob das größere Gut vorgezogen wird. Eine solche Argumentation garantiert eine sachliche Beurteilung und berücksichtigt die Autonomie des Gewissens

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Deontologische Argumentation: Von griechisch tò déon = etwas, was getan werden muß, weil es gesollt ist, d.h. aufgrund seines Wesens, seiner Natur, oder aufgrund einer Autorität. Bestimmte Verbote (der Lüge, Unkeuschheit, Empfängnisverhütung usw.) dürfen aufgrund einer nicht weiter hinterfragbaren Natur nicht übertreten werden. Woher weiß man aber, daß die Natur etwas absolut verbietet? Das wird hier nicht aufgrund der Auswirkungen erkannt, sondern aufgrund einer Evidenz, bzw. wo man diese nicht hat, aufgrund einer Autorität. Eine solche Argumentation liegt auch vor, wenn man einfach mit Bibelzitaten, mit Tradition oder kirchlichem Lehramt argumentiert, ohne dabei Sachargumente zu berücksichtigen.

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 Kritik: Zur deontologischen Methode:

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a) Sie verlangt oft die Einbeziehung des teleologischen Argumentes: Im Konfliktsfall muß die Dringlichkeit verschiedener Verpflichtungen überprüft werden, ebenso, wenn Epikie anzuwenden ist. Deontologische Forderungen entstehen gewöhnlich aus oft wiederholten Erfahrungen. Dabei spielen Handlungsfolgen und ihre Deutung eine wichtige Rolle, aber auch Wertentscheidungen.

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b) Der Verzicht auf eine Überprüfung der Handlungsfolgen kann gefährlichste Auswirkungen haben. Er führt zu einer unkritischen Befolgung überholter Traditionen, zu einer Verfestigung des Bestehenden gegenüber der Notwendigkeit von Veränderungen usw. Beispiel: Zinsverbot.

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c) Die deontologische Methode allein verkennt die Eigenverantwortung des Gewissens und würde dadurch letztlich zu reiner Heteronomie des sittlichen Subjektes führen.

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 Zur teleologischen Methode:

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a) Die Bewertung der einzelnen Folgen wird bereits vorausgesetzt. Die Werturteile sind nicht wieder auf Güterabwägung zurückführbar, sondern fordern letztlich eine Art sittliche Evidenz des Guten, die ihrer Struktur nach eher dem deontologischen Argument zuzuordnen ist.

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b) Die Entscheidungen einer Autorität sind Fakten, die jedenfalls auch Einfluß auf die Folgen einer Handlung haben (Befehlsverweigerung oder Übertretung sozialer Normen können schwere Konflikte schaffen!)

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c) Man kann oft die Folgen einer Handlung nicht exakt kalkulieren. Oft sind Handlungsfolgen z.T. auch von äußeren Komponenten und Zufällen abhängig. Insofern ist eine Norm oft nur dadurch zu begründen, daß ihre Übertretung aufs Ganze gesehen ("ut in pluribus") Nachteile bringt. Sollte man hier im Einzelnen nicht eine Ausnahme machen können?

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d) Wenn man bei der Güterabwägung nicht nur äußere objektive Folgen berücksichtigt, sondern auch die innere Haltung (z.B. Treue zur Tradition, zur Gemeinschaft usw.) oder den demonstrativen Wert einer Handlung ("Ausdruckshandlungen"), dann überschneidet sich die teleologische mit der deontologischen Methode. Das ist der Sache nach zulässig, stellt aber die Sinnhaftigkeit einer grundsätzlichen Unterscheidung dieser beiden Methoden in Frage.

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 Kritik: Zu beiden Methoden:

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Wenn man die teleologische und die deontologische Methode grundsätzlich trennt, dann bedeutet das eine Trennung der überwiegend objektiven Gesichtspunkte (Auswirkungen) von den subjektiven (Wertintuition). Weil aber jeder sittliche Akt einen subjektiven und einen objektiven Pol hat, bedeutet eine völlige Trennung dieser Aspekte eine Einseitigkeit. Sie kann zwar durch Einbeziehung einzelner Aspekte der anderen Methode gemildert werden (z.B. durch die Theorie von den Ausdruckshandlungen), aber sie wird so lange nicht überwunden, wie nicht eine umfassende Metaphysik des sittlichen Aktes geleistet wird. Der Gewinn der Theorie von Schüller liegt in einer Klärung der Bedeutung objektiver Aspekte des sittlichen Handelns. Es scheint aber notwendig, daß subjektive und transzendentale Aspekte noch mehr reflektiert werden. Der sittliche Akt bezieht sich ja nicht nur auf einen begrenzten innerweltlichen Wert, sondern in ihm vermittelt sich immer auch die Begegnung mit dem Absoluten. Insofern bezieht er sich eben nicht nur auf den zwischenmenschlichen Bereich, sondern immer auch auf Gott selbst. "Weltethos" und "Heilsethos" durchdringen sich. (6)

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bb) Die Hermeneutik. Der Impuls kam besonders von H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Tübingen 21965. Ausführlichster Versuch in der Moraltheologie: K. Demmer, Sittlich handeln aus Verstehen. Strukturen hermeneutisch orientierter Fundamentalmoral. Düsseldorf 1980. Erkenntnis und Glaube werden geschichtlich vermittelt. Der Begriff der Heilsgeschichte wird wichtig, ebenso die Christozentrik.

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1.3.5.3 Die Autonome Moral

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Grundlegend: Alfons Auer, Autonome Moral und christlicher Glaube, Düsseldorf 21984. - Das Buch Auers ist zuerst 1971 erschienen. Das Wesen des Sittlichen liegt nicht primär im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes oder in der Liebe zu Gott, sondern in der Selbstverwirklichung des Menschlichen. Dieses ist unabhängig vom Glauben mit der bloßen Vernunft zu erfassen. "Der Christ ist Mensch wie jeder andere auch, es gibt für ihn kein anderes ethisches Einmaleins, kein anderes ethisches Alphabeth. Das Menschliche ist menschlich für Heiden wie für Christen." (7) Man geht hier davon aus, daß die eigene Vernunfteinsicht für jedermann Geltung haben müsse. Es handelt sich hier um eine Weiterentwicklung und Radikalisierung der Naturrechtstradition.

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Nach Auer hat der Glaube für die Autonome Moral die Funktion eines "neuen Sinnhorizontes": Damit "ist jenes neue Gesamtverständnis gemeint, in dem die durch Christi Tod und Auferstehung durchgesetzte fundamentale Neubestimmung der menschlichen und welthaften Wirklichkeit ausgelegt wird. Aus diesem neuen Sinnhorizont ergeben sich für das menschliche Handeln in der Welt neue Motivationen. Aus diesem Sinnhorizont ergibt sich darüber hinaus ein integrierender, kritisierender und stimulierender Effekt für den Prozeß der ethischen Normfindung." (ebd. 42). Der Glaube ist also einerseits nicht notwendig für das innere Verständnis des Sittlichen, er wirkt aber andererseits bei der sittlichen Einsicht bzw. bei der Normenfindung im Sinne einer Integration, einer Kritik und einer Stimulation.

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Ein besonderes Anliegen der Autonomen Moral ist die Allgemeingültigkeit der Normen. Man meint, daß durch eine Argumentation mit Glaube und Offenbarung nur der Christ angesprochen werden könne, während sie für Nichtchristen keine Geltung hätte. Auf diese Weise würde eine Ghetto-Moral geschaffen. - Ein zweites Anliegen ist die kritische Sicht der Kompetenz des kirchlichen Lehramtes in Moralfragen. Die ersten Entwürfe der Autonomen Moral waren ja eine Reaktion auf "Humanae vitae". - Ein drittes Anliegen zielt schließlich auf eine Aufwertung des Laien in der Kirche, dessen Erfahrungen und Einsichten ernst genommen werden sollen, sodaß er nicht nur passiver Empfänger der Weisungen des kirchlichen Lehramtes ist.

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Zur Auseinandersetzung zwischen autonomer und heilsgeschichtlicher Moral vgl. G. Virt (Hg.), Moral begründen - Moral verkünden. Innsbruck 1985, mit Aufsätzen von Auer, Rotter usw.; K. Golser, (Hg.), Christlicher Glaube und Moral, mit Referaten von Fuchs, Rotter und Roos. - Stoeckle, Münck, Schuster.

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1.3.5.4 Die Glaubensethik:

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H. Rotter, Christliches Handeln. Seine Begründung und Eigenart. Graz 1977; ders. (Hg.) Heilgeschichte und ethische Normen. Freiburg i.Br. 1984; ders. Christlicher Glaube und geschlechtliche Beziehung. In: K. Golser (Hg.), Christlicher Glaube und Moral. Innsbruck 1986, 43-67; G. Virt (Hg.), Moral begründen, Moral verkünden. Innsbruck 1985 (mit Darstellungen von A. Auer, H. Rotter und einem Gespräch zwischen beiden Autoren).

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Die Gegenposition zur Autonomen Moral hat man als Glaubensethik bezeichnet. Dieser Ausdruck ist unglücklich, weil auch die Vertreter der Autonomen Moral eine gläubige Theologie betreiben wollen und weil die Vertreter dieser Gegenposition verschiedene Ansätze vertreten und dabei dem Glauben nicht immer die gleiche Funktion zuweisen. Die einen argumentieren stärker positiv mit Schrift, Tradition und Lehramt, die anderen gehen stärker von einer theologischen Anthropologie aus im Sinne von GS22: "Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf.". Dabei setzt man nicht so sehr bei einer rationalen Naturordnung an, sondern bei der Heilsgeschichte, die einen neuen Sinn, eine neue Hoffnung und ein neues Verständnis der sittlichen Verpflichtung begründet. So ergeben sich Folgerungen für die Tugenden, die Grundwerte und erst dann für die Normen. Konkrete Handlungsnormen dürfen nicht ausschließlich aus der Offenbarung abgeleitet werden, sondern ergeben sich aus verschiedenen Dimensionen des Glaubens, natürlicher Vorgegebenheiten, sozialer Gesetzmäßigkeiten usw. Entsprechend ist auch ein Methodenpluralismus zu fordern.

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Die Glaubensethik, soweit sie nicht positivistisch, sondern heilsgeschichtlich ansetzt, kritisiert zunächst den Dualismus in der Autonomen Moral. Man kann Natur und Übernatürliches, Vernunft und Glaube nicht so trennen, wie das dort geschieht. Man kann dann auch natürliche Normen und Offenbarungsmoral nicht in dieser Weise unterscheiden (A. Auer unterscheidet Weltethos und Heilsethos). Man kritisiert weiter einen zu individualistischen Ansatz u.dgl. Diese Kritiken machen deutlich, daß es in der heutigen Diskussion nicht um irgendeine Teilfrage geht, sondern um das richtige Verständnis ethischer Grundbegriffe:

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aa) Natur = Das Geschaffene, dem Menschen Vorgegebene, Objektive, von objektiven Gesetzen Geordnete, nicht von der menschlichen Freiheit Abhängige. Oft wird dieses Vorgegebene eher als etwas Statisches, von sich aus Unveränderliches aufgefaßt. Ursprünglich bedeutet aber Natur (von nasci = werden, geborenwerden) einen Prozeß in der Zeit. So können Lebewesen nicht einfach zeitlos definiert werden, sondern sie müssen als ein Prozeß verstanden werden (Ei, Raupe, Puppe, Schmetterling), der in verschiedenen Phasen abläuft. Das gilt besonders auch für den Menschen und für Einzelaspekte seiner "Natur". Eigentum, Sexualität, Wahrhaftigkeit usw. können nicht in ihrem An-sichSein definiert werden, sondern sie bedeuten Verschiedenes, je nachdem ob sie auf ein Kind, einen Herangewachsenen oder einen alten Menschen bezogen werden. Schließlich gehört zur Natur auch, daß sie von menschlicher Vernunft und Freiheit, von Lernprozessen und gesellschaftlichen Traditionen mitgeformt ist. Was natürlich scheint, ist zwar vielleicht in einer bestimmter Kultur selbstverständlich, in anderen aber nicht. Deshalb ist auch das Naturrecht, das aus dem Naturbegriff abgeleitet wird, immer ein "Kulturrecht". (vgl. Eigentumsverständnis in Afrika, Wahrhaftigkeit und Höflichkeit in Ostasien usw.). Dazu steht Natur auch immer schon in einem theologischen Verständnishorizont, sodaß eine Unterscheidung von Natur und Übernatürlichem und eine entsprechende Begründung von Weltethos und Heilsethos unhaltbar erscheint.

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bb) Personalität: Zwar wird jeder christliche Theologe ein personales Denken für sich reklamieren. Denn wenn man vom Menschen spricht, geht es immer auch um die menschliche Person. Insofern ist jede Anthropologie personal. Die Differenzen zwischen den verschiedenen Standpunkten liegen aber im genaueren Verständnis des Personbegriffs.

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Die Neuscholastik versteht die Person mit Boethius als "naturae rationalis individua substantia". Ein Verständnis im Sinne des modernen Personalismus wird hingegen folgende Charakteristika besonders hervorheben: Einmaligkeit, Dialogik, Freiheit, Geschichtlichkeit, Leiblichkeit und Transzendenz (besonders im Sinne von Offenbarung und Glaube).

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- Einmaligkeit: Die Person ist nicht universalisierbar. Sie hat einen einmaligen Lebensauftrag. Deshalb kann sich auch Moral nicht in allgemeinen Normen erschöpfen, sondern muß auch den Aspekt der Einmaligkeit des Lebensauftrages berücksichtigen.

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- Dialogik: Das Ich verwirklicht sich nur in der Begegnung mit dem Du. Deshalb kann von Selbstverwirklichung als einem Grundbegriff der Moraltheologie nur insofern die Rede sein als sie eben nur in der Hinwendung zum Du und in der Begegnung gesehen wird.

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- Freiheit: Moraltheologie kann nicht ausschließlich in objektiven naturhaften Tatbeständen begründet werden, sondern muß auch der Freiheit Rechnung tragen. Dabei hat Freiheit nicht nur die Funktion in der Naturordnung begründete Normen zu befolgen, sondern der Freiheit ist auch Rechnung zu tragen, insoferne sie sich in der Gestaltung eines Lebensweges verwirklicht, beziehungsweise im sozialen Zusammenhang, insofern sie der Natur den Stempel einer bestimmten Kultur aufdrückt.

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- Geschichtlichkeit: Leben und speziell menschliches Leben stellt sich in einer bestimmten Zeitgestalt und in einer bestimmten Geschichte dar. Diese Geschichte ist in vielfältiger Hinsicht ethisch relevant. Sie stellt die Forderung einer gewissen Treue zu sich selbst und zur eigenen Vergangenheit und begründet Hoffnung auf eine bestimmte Zukunft. Sie verlangt Vergangenheitsbewältigung, sie ist für bestimmte Grundhaltungen wie Ängstlichkeit, Skrupulosität, Leichtfertigkeit etc. verantwortlich.

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- Leiblichkeit: Auch die geistigen Vollzüge des Menschen bleiben an Leiblichkeit gebunden. Sie können dadurch eingeschränkt werden wie etwa durch Schlaf, Bewußtlosigkeit, neurotische Störungen. Sie empfangen daher aber auch ihre Kraft und Fülle. Nur weil der Mensch leiblich existiert, hat er Gefühle wie Aggression, Angst, Eros usw. Allerdings sind diese Gefühle auch durch die Geschichte des Leibes bedingt. Gefährlich ist eine Ethik, die abstrakte Ideale aufstellt und den konkreten Menschen darauf verpflichten will. Es gibt eine Geschichte der Tugenden und der religiösen Berufung. Nicht alles ist vom ersten Augenblick an einsichtig und verpflichtend, sondern setzt eine Reifung voraus, deren einzelne Phasen eigene Gesetze haben.

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cc) Geschichte: In der traditionellen Moraltheologie wird Geschichte überwiegend als Veränderlichkeit verstanden. Es geht dann bei diesem Thema nur darum, daß die Veränderung äußerer Umstände auch eine Anpassung der Normen verlangt. Im heilsgeschichtlichen Ansatz wird Geschichte umfassender verstanden. Sie ist ein Geschehen, dem zwar einerseits biologische und anthropologische Gegebenheiten zugrundeliegen, in dem aber auch menschliche Freiheit gestaltend mitwirkt. Geschichte ist immer auch Ausdruck von Sinngebungen, Zielsetzungen, Werthaltungen. Eine Moral, die in Geschichte begründet wird, übernimmt deshalb die Einsichten der Naturrechtsethik, ergänzt sie aber durch weitere Dimensionen. Sie versucht nicht, aus rein naturhaften Ordnungen Handlungsforderungen abzuleiten, sondern erschließt diese aus Einsichten in Sinngehalte, die jeweils zu den naturhaften anthropologischen Gegebenheiten in Beziehung gesetzt werden. Geschichte ist letztlich immer auch ein theologischer Begriff, denn in Geschichte waltet nicht nur natürliche Notwendigkeit, auch nicht nur beliebige kulturelle Pluralität. Denn der Mensch versteht sich auch von Gott her und sucht den Sinn seines Lebens in einem entsprechenden Handeln zu finden

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dd) Offenbarung und Glaube: Die christliche Offenbarung wird in der Moraltheologie gelegentlich als bloße Wortoffenbarung verstanden. Das Argumentieren mit der Offenbarung erscheint dann als reiner Positivismus im Sinne von Autoritätsargumenten. "Dei verbum" (Vat. II) definiert hingegen Offenbarung als heilschaffende Selbstmitteilung Gottes in der Geschichte. Die Wortoffenbarung ist dann die Auslegung des allgemeinen Prozesses der Selbsteröffnung Gottes in der Heilsgeschichte. Wortoffenbarung ist ständig auf die gemeinte Wirklichkeit zu hinterfragen und auf sie zu beziehen. Wenn der Wille Gottes außerhalb der biblisch-christlichen Tradition erkannt wird, dann handelt es sich nach Dei verbum trotzdem um Offenbarung Gottes, die in Analogie zu der speziellen Offenbarung steht, wie sie uns in der Bibel gegeben ist. Daß etwas außerhalb des christlichen Raumes erkannt wird, beweist nicht, daß es sich um bloß natürliche Erkenntnis handelt.

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Dem Begriff der Offenbarung entspricht das Verständnis von Schöpfung. Diese ist ein Moment innerhalb der Heilsgeschichte. Das Gleiche gilt für die Natur. Es gibt deshalb keine Dualität von Schöpfungs- und Heilsordnung. Die Schöpfungsordnung ist vielmehr durch den Heilswillen Gottes zur Heilsordnung geworden. Wer dem Hungrigen zu essen und dem Durstigen zu trinken gibt, der tut das für Jesus Christus, auch wenn er sich dessen nicht bewußt ist (Mt 25,40).

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Mit der christlichen Offenbarung argumentieren, heißt nicht einfach, sich auf die Wortoffenbarung berufen, deren Autorität vom Gesprächspartner vielleicht gar nicht anerkannt wird, sondern auf die Tiefendimension der menschlichen Erfahrung verweisen, in der sich Gott dem Menschen eröffnet und mitteilt, in der dem Menschen Gnade und Hoffnung zukommt. Ihren Gipfelpunkt und ihre verbindliche Ausdeutung findet diese Erfahrung mit Gott freilich in der christlichen Heilsgeschichte.

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Dem Verständnis von Offenbarung entspricht der Begriff des Glaubens. Glaube ist nicht bloß Annahme einer ungewissen Wahrheit, sondern ein Akt der Begegnung, in dem sich der Mensch vertrauensvoll auf eine Person bezieht. Glaube sagt zunächst: "Ich glaube an dich." Nach K. Rahner "sollte primär das totale personale Verfügtsein des Menschen auf Gott hin im Glaubensakt gesehen werden"(8). Entsprechend dem Offenbarungsbegriff ist aber nun auch der Glaube zu differenzieren. Der expliziten Wortoffenbarung entspricht ein expliziter Glaube des Christen; der aus dem Wirken der Gnade kommenden inneren Erfahrung des Menschen und ihrer Annahme entspricht ein Begriff des Glaubens, der sich im Vertrauen auf die Sinnhaftigkeit der Liebe und im Ja zu dem darin erfahrenen Anspruch Gottes darstellt. Im sittlichen Akt folgt deshalb der Mensch nicht bloß einer zwingenden Vernunfteinsicht, sondern er entscheidet sich gegenüber der Wirklichkeit als Ganzer und damit auch gegenüber Gott. Im expliziten Glauben wird sich der Mensch seiner tiefsten Erfahrung von Gottesliebe und Barmherzigkeit besonders deutlich bewußt und dadurch auch besonders herausgefordert.

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Aus dem Glauben argumentieren ist weder irrational noch inkommunikabel. Denn man bezieht sich hier auf eine Tiefenerfahrung, die prinzipiell in ihrem innersten Gehalt jedem Menschen zugänglich ist, weil ja Gott jedem Menschen Heil schenken will. Die Tatsache, daß etwa das Liebesgebot jedem Menschen einsichtig ist, beweist also nicht, daß es sich hier um eine bloß natürliche, von der Offenbarung unabhängige Vernunfterkenntnis handelt, sondern nur, daß Gott seine Liebe jedem Menschen zuwendet und jeder den darin liegenden Anspruch erspüren kann. So schreibt K. Rahner: "Denn auch solche Moraltheologische Sätze wollen und müssen Sätze des Glaubens sein, implizieren einen Bezug auf Gott, sind erst sie selbst, wenn ihre Bezogenheit auf das absolute Mysterium mit realisiert wird. Sie sind nie nur naturgesetzliche Normen; selbst als solche stehen sie nochmals in der Geschichte der Wahrheit." (9)

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ee) Die Vernunft: Sie ist im Unterschied zur sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit ein geistiges Erkenntnisvermögen, eine Einsicht, die nicht bloß unsicher ist wie eine Vermutung, die sich auch nicht bloß auf Gehörtes oder auf Autoritäten stützt. Sie ist eine Tätigkeit des Vernehmens, des Verstehens, der Einsicht. Allerdings ist die Vernunft vom Glauben nicht eindeutig abzugrenzen, denn in sittlichen Fragen geht es nicht nur etwa um mathematisch Berechenbares oder um gegenständlich Verifizierbares oder Falsifizierbares, sondern um ein Sollen, das in vielfacher Hinsicht Interpretation voraussetzt. Vernunft ist hier immer "historische Vernunft", die in ihren Urteilen von einer historischen Situation und ihrem Vorverständnis ausgeht. Als solche impliziert sie aber immer auch einen theologischen Standpunkt. Wenn man etwa die Ehe als unauflöslich beurteilt, dann ist das zwar "vernünftig", aber nicht zwingend. In verschiedenen Zeiten hat man darüber verschieden geurteilt und je mehr man sich bemüht, ein solches Urteil zu begründen, desto mehr wird man auf eine bestimmte Glaubensposition zurückgreifen. (Wenn die Autonome Moral die Meinung vertritt, daß der Glaube kritisierend, stimulierend und integrierend auf das Gewissensurteil Einfluß nimmt, dann spricht er diesen Sachverhalt an. Es fragt sich nur, ob die Vernunft zunächst unabhängig von dieser Funktion des Glaubens als rein natürlich interpretiert werden kann.)

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ff) Die heilsgeschichtliche Methode: Die Moraltheologie kann keine sittlichen Verpflichtungen oder Normen aufstellen, sondern sie kann sie nur zur Kenntnis nehmen, reflektieren, ihre Legitimität überprüfen. Es geht also hier nur darum, den Grund anzugeben. Weil nun ein solcher Anspruch verschiedene Gründe hat, etwa naturhafte, kulturelle, situationsbedingte, autoritätsbedingte usw., läßt er sich in seiner Konkretheit nicht einfach von einem einzigen Grund ableiten. In der Moraltheologie geht es aber besonders um die Frage nach jenem Grund, der eine sittliche Verpflichtung als sittliche begründet, der also ausschlaggebend dafür ist, daß es sich nicht nur um ein Erfordernis der Nützlichkeit oder naturhafte Zwänge handelt, sondern um einen sittlichen Anspruch.

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Im Sinne der thomistischen Tradition ist etwas sittlich, insofern es auf den "finis ultimus", also auf das letzte Ziel des Menschen hingeordnet ist. Nach Thomas besteht dieses Ziel in der "beatitudo", also in der Glückseligkeit des Menschen, zu der dieser durch Gott in der Ewigkeit berufen ist. Es ist dazu nicht erforderlich, daß der Mensch im sittlichen Handeln ausdrücklich an dieses Ziel denkt, sondern entscheidend ist, daß die Dynamik seiner freien Entscheidung bloß innerweltliche Zielsetzungen übersteigt und sich dem Anspruch des Guten überhaupt stellt. Nur so wird auch verständlich, daß der Mensch das sittliche Sollen als absolutes erfährt, während alle innerweltlichen Güter immer nur als relativer Vorzug erscheinen, auf den man verzichten kann, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben.

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Diese thomistische Finalitätslehre wird nun in der heilsgeschichtlichen Methode übernommen, aber aus ihrer Abstraktheit herausgeführt. Denn das höchste Gut, auf das der Mensch im sittlichen Handeln abzielt, ist ja nicht bloß eine abstrakte Idee, sondern Wirklichkeit. Es besteht in der Seligkeit, die der Mensch in der Gemeinschaft mit Gott findet, und zwar in jener Gemeinschaft, die der wirkliche, d.h. der dreifaltige Gott, dem Menschen in seinem Heilswerk anbietet. Die Liebe Gottes vermittelt sich ja in der Geschichte der Menschheit und zwar in ganz spezieller Weise, aber nicht ausschließlich in der Geschichte des AT und des NT. Der Mensch erreicht also sein letztes Ziel nicht einfach unabhängig vom Wirken des Geistes Gottes in dieser Welt, nicht unabhängig von Gnade und Glaube.

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Bisher war die Rede vom eigentlich theologischen Aspekt des sittlichen Anspruchs. Eine konkrete sittliche Norm umfaßt aber auch andere Aspekte, die in der "Natur", in Traditionen, Gewohnheiten, individuellen Willensentscheidungen einer Autorität usw. begründet sind. Man kann deswegen solche Normen nicht allein aus dem Glaubensverständnis ableiten. Der Inhalt grundlegender Normen ist vielmehr so sehr sachbedingt, daß er oft für das Funktionieren einer Gemeinschaft unverzichtbar ist. Ja es finden sich sogar bei sozial lebenden Tieren Analogien zu solchen Normen, etwa dem Verbot zu töten (Tötungshemmungen gegenüber Artgenossen), Regelungen der Sexualordnung (oft massive Aggressionen gegenüber Sexualkonkurrenten!), Inbesitznahme und Verteidigung eines Reviers, eines Nestes usw., Kommunikation mit Hilfe einer Symbolsprache, die den Sachverhalt richtig wiedergibt usw. - Wieweit sich nun bei der Konstitution einer Norm ein bestimmter Glaube spezifizierend auswirkt und dadurch Unterschiede der christlichen Ethik gegenüber anderen Modellen hervorruft, darüber ist später zu sprechen.

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Unmittelbarer und eindeutiger als auf den Normenbereich wirkt sich der Glaube auf die personalen Haltungen aus. Es gibt ein spezifisch christliches Verständnis von gerechtigkeit (in der nicht die Unerbittlichkeit, sondern die Vergebung das letzte Wort hat), von Treue usw. Solche Haltungen sind aber ebenfalls nicht durch bloß rationale Logik aus dem Gottesbegriff abzuleiten, sondern sind zunächst bezeugt in der Geschichte der Bibel und des Christentums, ganz besonders durch die Gestalt Jesu Christi. Im Leben Jesu und anderer geschichtlicher Gestalten wird der christliche Glaube in einer schöpferischen Weise konkretisiert und bewirkt durch seine Glaubwürdigkeit Überzeugung. Solche Haltungen werden in einem weiteren Schritt wirksam für die Ausbildung konkreter sittlicher Normen.

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2 Zweiter Teil: Grundbegriffe einer theologischen Anthropologie und Ethik

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2.1 Zur philosophischen und theologischen Anthropologie

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2.1.1 Literatur

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Als grundlegend gelten die Werke von J.G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4 Bde., (1784 - 91) und ders., Über den Ursprung der Sprache (1772). Der Mensch ist "der erste Freigelassene der Natur". Das Tier ist in einen engen Kreis hineingeboren, in dem es lebenslang bleibt. Die Sinne des Menschen sind offen, seine Organisation ist unspezialisiert. Der Mensch steht dem Tier an Stärke und Instinktsicherheit nach. Dafür ist ihm Vernunft angeboren. Aber auch diese muß der Mensch erst lernen. Sie ist das, was der Mensch aus seiner Lage macht, eine gelernte Proportion und Richtung der Ideen und Kräfte. Der Mensch ist von Natur aus zur Freiheit organisiert. Er muß für seine Mängel Ersatz schaffen. Das Tier lebt dagegen in einem artspezifischen, unzerbrechlichen Umweltgehäuse.

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Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), hat einen neuen Anstoß zur philosophischen Anthropologie gegeben. Scheler will die Fülle des empirischen Materials der Naturwissenschaften zu einer philosophischen Deutung des Menschen auswerten: Nur der Mensch kann sich von der natürlichen Umwelt des Tieres distanzieren und ein Verhältnis zu ihr gewinnen. Er kann das unmittelbar Lebensrelevante transzendieren. Der Mensch ist der "Neinsagenkönner", weil er einen Geist besitzt, der allem Leben entgegengesetzt ist. Der Geist lenkt die Triebmächte, indem er ihnen Ideen vorhält. Der Sinn der Geschichte besteht in der schließlichen Vergeistigung der Triebmächte und in der Verlebendigung des Geistes.

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In eine ähnliche Richtung geht das Werk von Helmut Pleßner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928). Pleßner löst die philosophische Anthropologie aus der "metaphysischen Klammer". Weder der Gegensatz Geist - Leben (Scheler), noch Seele - Leib (Scholastik), noch Bewußtsein - Körper (Descartes) ist für das Verständnis des Menschen bestimmend. Die philosophische Anthropologie handelt nicht mehr von Substanz, sondern von Strukturen: Pflanze, Mensch und Tier werden jeweils im Verhältnis zu ihrer Sphäre, zu Umwelt und Welt untersucht. Der Mensch kann sich von sich selbst distanzieren. Er lebt "exzentrisch". Seine Daseinsform ist "gebrochen". Der Mensch ist immer auf Werkzeuge und Mittel angewiesen, die ihn immer wieder zum Gefangenen seiner Produkte machen. Der Mensch ist kein "Mängelwesen". Der Geist ist nicht als Surrogat für mangelnde Organanpassung zu verstehen, aber auch nicht als Überkompensation konstitutioneller Organminderwertigkeit. Warum wäre dann der Mensch nicht wie andere Lebewesen ausgestorben? Unsere biologischen Eigenarten sind notwendige, aber nicht zureichende Bedingungen des menschlichen Geistes. Sie sind Voraussetzungen, aber nicht Ursache der Menschwerdung.

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In "Macht und menschliche Natur" (1931) erweitert Pleßner den ursprünglich biologisch-naturphilosophischcn Ansatz zu einer geschichtlich orientierten Betrachtung des Menschen.

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Martin Buber, Das Problem des Menschen (1948), will nach kritischer Auseinandersetzung mit M. Scheler und M. Heidegger die Prolegomena einer künftigen philosophischen Anthropologie der menschlichen Gemeinschaft entwickeln ("dialogischer Personalismus").

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Arnold Gehlen, Der Mensch (71962), führt die Kategorien der Handlung und der Entlastung ein und liefert ein Standardwerk der philosophischen Anthropologie.

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Adolf Portmann, Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Wien ²1951, bringt die Sicht der vergleichenden Verhaltensforschung in die Anthropologie ein.

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2.1.2 Der Mensch im Unterschied zum Tier

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2.1.2.1 Methodischer Ansatz:

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Die moderne philosophische Anthropologie unterscheidet sich von der traditionellen metaphysischen vor allem dadurch, daß sie nicht einfach bei der Geistigkeit des Menschen und beim Ichbewußtsein ansetzt, sondern bei den Ergebnissen der empirischen Anthropologie, besonders bei Leiblichkeit und Welt. Der Grund muß nicht in Metaphysikfeindlichkeit liegen, sondern eher in der Ablehnung einer dualistischen Sicht des Menschen. Man versucht, von einer genaueren Analyse des empirischen Phänomens her einen Zugang zu Freiheit, Ichbewußtsein und Transzendenz zu gewinnen. Die Terminologie und die Denkkategorien der traditionellen spekulativen Anthropologie sind ja auch für die heutige Mentalität schwer zugänglich. Hingegen sind viele Ausdrücke und Vorstellungsmodelle der empirischen Humanwissenschaften in das allgemeine Bildungsgut eingegangen.

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Thomas v. A. hatte schon gewußt, daß jeder abstrakte Begriff aus der konkreten Erfahrung gewonnen ist und daß sich jeder geistige Vollzug leiblich vermittelt. In der heutigen Anthropologie will man diesen Vermittlungsvorgang besser begreifen. Man geht von der Vorausaussetzung aus, daß auch die sublimsten philosophischen Ansichten den Ansatz in der empirischen Erkenntuis nicht hinter sich lassen können. Das ist für die Moraltheologie besonders wichtig, weil sie ja den Prozeß der Abstraktion, den man in einer theoretischen Erkenntnis vollzieht, wieder rückgängig machen muß, um von theoretischen Aussagen zu Postulaten für das konkrete Handeln zu kommen. Denn auch die sittliche Handlung kann nie als bloß geistiger Akt verstanden werden. Eine konkrete Ethik, die nicht dauernd versucht, den Vermittlungszusammenhang zwischen empirischem Bereich und philosophisch-theologischen Axiomen herzustellen, gerät in die Gefahr der Ideologisierung und Wirklichkeitsfremdheit.

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2.1.2.2 Zum Problem des Unterschieds von Mensch und Tier:

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Eine besonders säkulare, unmetaphysische Betrachtung des Menschen begegnet uns in der Vergleichenden Verhaltensforschung. Sie geht nicht von religiösen Wahrheiten und auch nicht vom Ichbewußtsein aus, sondern sie betrachtet den Menschen zunächst als ein Stück Welt und als Lebewesen wie andere auch. Sie sucht allerdings in der Analyse des Phänomens zu zeigen, daß es sich hier nicht bloß um ein Tier handelt, sondern daß der Mensch eine deutliche Sonderstellung einnimmt. Der Vergleich zwischen Tier und Mensch bedeutet keine Gleichsetzung, sondern weist einerseits auf die Ähnlichkeiten im biologischen Bereich, anderseits aber auch auf die Unähnlichkeiten hin.

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Philosophisch gesehen ist der Vergleich zwischen Mensch und Tier von besonderem Interesse. Bei Aussagen über das Tier besteht ja die Schwierigkeit, daß man nicht in dieses Wesen hineinschauen und feststellen kann, ob es Ichbewußtsein hat, welche Gefühle es erfährt usw. Man kann das Wesen des Tieres nur von der äußeren Erscheinung und vom Verhalten her bestimmen. Dabei betrachtet man das Tier besonders in den Beziehungen, die es zur Umwelt aufnimmt. Man kann nicht unmittelbar feststellen, ob ein Tier Schmerz empfindet, wohl aber, ob es auf Verletzungen ähnlich reagiert wie der Mensch. Da man zudem weiß, daß die Nervenzelle und Sinnesorgane wenigstens bei höheren Tieren ähnlich gebaut sind wie beim Menschen, kann man mit einem gewissen Recht auch beim Tier von Schmerz sprechen.

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Wenn man zudem eine phylogenetische Entwicklung des Menschen aus dem Tierreich annimmt, woran ja nicht zu zweifeln ist, wird man auch von daher gewisse Analogien zwischen Mensch und Tier erwarten dürfen. Die oft recht überraschenden Gemeinsamkeiten im Verhalten (z.B. Brutpflege, Sexualität, soziale Beziehungen, Aggression usw.) lassen sich wohl am leichtesten durch eine gewisse Ähnlichkeit im Bereich der Instinkte und der psychischen Motivationen erklären.

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Selbstverständlich sind das jeweils nur Arbeitshypothesen, die im Einzelfall zu überprüfen sind. Tatsächlich haben sich aber diese Arbeitshypothesen für die Erforschung des Menschen bereits als sehr fruchtbar erwiesen. Würde man jede Analogie zwischen Mensch und Tier leugnen, dann müßte man äußerst komplizierte Theorien entwickeln, um die auffälligen Übereinstimmungen im äußeren Verhalten als rein zufällig behaupten zu können.

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Vertreter der vergleichenden Verhaltensforschung nehmen sich immer mehr auch ethischer Themen an und verstehen ihre Erkenntnisse als einen Beitrag zu einer anthropologisch fundierten Ethik. Es ist kaum möglich, diese sehr publikumswirksamen Arbeiten einfach zu übergehen und die Verhaltensforschung als Gesprächspartner der Moraltheologie abzulehnen. Dennoch gibt es eine starke Polemik gegen ihre Berücksichtigung. Das hat es auch in anderen Fällen (Psychologie, Soziologie) gegeben. Im Falle der Verhaltensforschung dürfte der Grund hauptsächlich darin liegen, daß diese Wissenschaft sich u.a. mit angeborenen Determinanten des menschlichen Verhaltens beschäftigt. Die Ergebnisse der Forschung zeigen also, daß menschliches Verhalten nicht aus einer absoluten Freiheit kommt, sondern von vorgegebenen Motivationen geprägt ist.

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2.1.2.3 Das Umweltverhalten des Tieres:

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Das Wesen eines Seienden zeigt sich vielleicht am deutlichsten in den Beziehungen zur übrigen Wirklichkeit. Das Tier ist in seinem Verhalten weitgehend festgelegt. Seine Aktionen sind durch die Anlage (z.B. die Instinkte) und durch die Reize der Außenwelt bestimmt. Das Zusammenspiel beider Komponenten kann verschieden sein. So kann z.B. gegenüber einem sehr häufigen Reiz eine Abstumpfung auftreten und umgekehrt das Fehlen eines Reizobjektes zu einem Appetenzverhalten führen, d.h. dazu, daß das Tier aktiv nach einem entsprechenden Reizobjekt sucht, um bestimmte Bedürfnisse abzureagieren.

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Das Tier ist aber in seinem Verhalten nicht völlig festgelegt. Aber auch die Lernprozesse des Tieres bleiben Reaktion. Das Tier ist nicht in der Lagc, sein Verhalten kreativ zu verändern, sein Leben selbst zu steuern, es bleibt außengesteuert. Die gleichbleibenden Anlagen und die in der Situation auftretenden Reize genügen, un Verhalten und Verhaltensänderungen des Tieres befriedigend zu erklären.

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Während das Tier auf bestimmte Reize reagiert, bleiben andere Objekte ohne Wirkung und somit für das Tier selbst bedeutungslos. Sie werden überhaupt nicht wahrgenommen. Die tierische Sinneswahrnehmung trifft also eine Auslese aus dem, was wir "Welt" nennen. Das Tier hat jeweils nur eine "Umwelt", die sich aus jenen Objekten zusammensetzt, die für das betreffende Tier relevant sind. Dieser Tatsache entspricht die körperliche Organisation. Der Körper und die Sinnesorgane des Tieres sind spezialisiert. Dadurch können wichtige Aktivitäten wirkungsvoll ausgeübt werden. Gleichzeitig werden andere Aktionen ausgeschlossen, die im Verhaltensprogramm des Tieres nicht angelegt sind.

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2.1.2.4 Das Weltverhältnis des Menschen:

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Entsprechend ihrem Ansatz geht die Verhaltensforschung nicht vom Ichbewußtsein aus, sondern von einer Analyse der äußeren Erscheinung des Menschen. Daraus werden dann Rückschlüsse auf Freiheit und personale Existenz des Menschen gezogen.

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aa) Körperbau und Haltung: Der Mensch steht aufrecht auf zwei Beinen. Das ermöglichet eine besondere "Wendigkeit". Die vorderen Extremitäten werden entlastet. Durch die Stellung und Beweglichkeit des Daumens ("Greifhand") werden verschiedenste Griffe, Schläge, "Manipulationen" möglich. Das entlastet die Mundpartie, die nicht wie beim Tier zum Fangen und Transportieren von Beute etc. benötigt wird, sondern auf Lauterzeugung (Sprache) spezialisiert ist. Der größeren Wendigkeit und vielfältigeren Aktivität des Menschen entspricht ein außerordentlich entwickeltes Gehirn.

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bb) Genese des Menschen: Charakteristisch ist die "extrauterine Schwangerschaft", das „extrauterine Frühjahr", die verlängerte Jugend, die Verzögerung der geschlechtlichen Reife und die überlange Lebensdauer (10). Das ermöglicht eine extreme Lern- und Anpassungsfähigkeit. "Der Mensch ist von Natur aus ein Kulturwesen." (A. Gehlen). Weil die Natur des Menschen immer durch Kultur überformt ist, zeigt sich das Naturrecht auch immer nur als "Kulturrecht".

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cc) Genese des menschlichen Verhaltens: Das Umweltverhältnis des Tieres ist festgelegt durch angeborene bzw. angelernte Verhaltensmuster und Umweltreize, die selektiv wahrgenomen werden. Änderungen des Verhaltens entstehen entweder durch zufälliges Probieren oder durch Dressur. Ein gezieltes Planen des Verhaltens auf Zukunft hin gibt es nur in minimalen Ansätzen. - Der Mensch kann zukünftige Situationen geistig durchspielen und sein Verhalten entsprechend planen. Diese Fähigkeit ist beim Säugling und Kleinkind noch nicht gegeben, sondern entwickelt sich erst allmählich im Reifungsprozeß des Menschen.

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2.1.2.5 Folgerungen aus der phänomenologischen Betrachtung des Menschen:

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aa) Die Entscheidung gegenüber der Zukunft setzt vergleichbare Erfahrungen in der Vergangenheit voraus. Man muß sich unter dem Ziel etwas vorstellen können!

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bb) Der Mensch weiß gleichzeitig um Unsicherheit und Unableitbarkeit zukünftiger Erfahrung.

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cc) Die richtige Entscheidung läßt sich gegenwärtig nicht berechnen, sondern muß gewagt werden.

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dd) Der Mensch wird in einer Weise aktiv, die sich weder aus seiner Anlage, noch aus "Außenreizen" bzw. objektiv vorgegebenen Motivationen errechnen läßt. In dieser Initiative zeigt sich die kreative Freiheit des Menschen.

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2.1.2.6 Ergebnis für die Struktur der Freiheit:

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aa) Freiheit ist nur möglich aufgrund geschichtlicher Erfahrungen, die ein emotionales Verhältnis zur Zukunft ermöglichen.

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bb) Freiheit ist nur möglich aufgrund des Bewußtseins um die Offenheit der Zukunft. Die Freiheit des Menschen gründet in der Geschichtlichkeit der Person.

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Die psychischen Motive stehen nicht in Gegensatz zur Freiheit. Freiheit setzt vielmehr diese Motive voraus, kann sie aber aufgrund ihrer Formbarkeit auf verschiedene Ziele hinrichten. Die psychischen Motive bedürfen der Einübung und Kultivierung, um sich den frei gewählten Zielen der Person voll zuordnen zu lassen.

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Freiheit besagt die Fähigkeit zu Initiativen, die nicht notwendig aus vorgegebenen Motiven und Reizen resultieren, sondern von der menschlichen Person gesetzt werden, um die ungewisse Zukunft zu planen. - Oft wird vorausgesetzt, daß Freiheit ausschließlich der Geistigkeit des Menschen zuzuordnen sei und sich deshalb im äußeren, leiblichen Verhalten des Menschen nicht zeige. Dieser äußere Bereich sei von naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten determiniert. Wenn das so wäre, dann hätte das äußere Handeln des Menschen nichts mit Verantwortung und Sittlichkeit zu tun. Wenn man aber auch in diesem äußeren Handeln die Freiheit am Werk sieht, dann scheint man mit den empirischen Humanwissenschaften in Konflikt zu geraten. - Die Lösung dieser Aporie liegt darin, daß man menschliches Verhalten geschichtlich betrachtet. Man kann zwar für das gegenwärtige Tun des Menschen hinreichende Motivationen finden, man kann aber aus diesen Motivationen nicht ableiten, wie der Mensch zu seiner Zukunft steht, wie er sie plant und dadurch selbst neue Motivationen für sein Handeln hervorruft.

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2.1.3 Freiheit und Bindung an die eigene Entscheidung

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Lit.: H. Rotter, Freiheit ohne Normen? Innsbruck 1977, 11-24; K. Demmer, Freiheit. In: Neues Lexikon der christlichen Moral, 188-194.

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Wie verhält sich der Mensch in der Freiheitsentscheidung genauer zu Vergangenheit und Zukunft? Die Entscheidung gegenüber der Zukunft schließt ein, daß man sie auch in Zukunft durchhalten will, bis man sein Ziel erreicht. Man will sich also für die Zukunft an diese Entscheidung binden. Geht man davon ab, dann bringt man nachträglich die Entscheidung um ihren Sinn. Dann bedroht man die Selbstentfaltung und Lebensgestaltung. Man distanziert sich von sich selbst, gefährdet die eigene Sinnorientierung und Entschlossenheit und tendiert zur Resignation. - Hält man seinem Entschluß, d.h. seiner Vergangenheit die Treue, dann erfährt man eine bleibende Sinnhaftigkeit, man achtet den Wert des eigenen Verhaltens und findet dadurch Hoffnung für die Zukunft.

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 Das alles schließt nicht aus, daß man

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 a) beweglich bleiben muß in der Wahl der Mittel, um sein letztes Ziel zu erreichen;

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 b) Fehlentscheidungen bereuen bzw. revidieren muß, wenn man sie als verfehlt erkennt.

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Im freien Akt verwirklicht der Mensch symbolhaft den Sinnentwurf seines Lebens und damit ein Stück seiner Person. Die Person ist der Freiheit nicht als neutraler Boden vorgegeben, sondern nimmt in der Freiheitsgeschichte ihre Gestalt an. Wenn man die Freiheitsentscheidung um ihren Sinn bringt, betrifft das die Sinnhaftigkeit der Person selbst.

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In diesem Zusammenhang spricht man von einer Optio fundamentalis (= Grundentscheidung). Eine Entscheidung, in der der Mensch über seine Zukunft verfügt, bedarf einer beständigen nachträglichen Bestätigung (Ratifikation), bis sie das Ziel erreicht. Aus der Einzelentscheidung wird dadurch eine Haltung. Hier kommt also eine Ausrichtung zustande, die nicht nur einzelne Teilziele betrifft. Erst in einer solchen Grundhaltung oder Grundentscheidung engagiert sich die sittliche Freiheit voll.

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2.1.4 Freiheit und Bindung an die Mitmenschen

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Freiheit bedeutet nicht primär Bindungslosigkeit, sondern die Fähigkeit, sich selbst Ziele zu setzen und sie zu verwirklichen. Wo solche Ziele nur in Zusammenarbeit erreicht werden können, verlangt die Freiheit eine Abstimmung der Aktivitäten verschiedener Menschen aufeinander (Norm, Gehorsam gegenüber Autorität usw.). Soziale Bindung kann allerdings auch Unfreiheit bringen, insofern sie die angestrebte Wertverwirklichung behindert. Durch die Bindung an andere setzt man sich ja auch dem Risiko aus, mißbraucht zu werden. Es wäre aber falsch, deswegen soziale Bindungen überhaupt abzulehnen. Anarchie wäre erst recht keine Freiheit, weil sie letztlich keine positiven Werte verwirklicht.

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Oft herrscht die Tendenz, in tausend Kleinigkeiten Regelungen zu treffen, um Reibungen zu minimieren und Konflikte auszuschalten. Dadurch wird aber der Bewegungsspielraum des einzelnen immer mehr eingeengt. Man erfährt nicht mehr seine „Autonomie" und fühlt sich als Person kaum geschätzt. Deshalb ist immer eine gewissen Ausgewogenheit zwischen sozialer Regelung und individuellem Gestaltungsraum anzustreben. Aus diesem Grund ist auch das Prinzip der Subsidiarität sehr zu beachten.

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Politische Freiheit: Das staatliche Leben enthält eine Unzahl von sozialen Bindungen und Beeinflussungen. Sie können die Form von polizeilichem Zwang oder auch von Manipulation durch Reklame haben. Politische Freiheit besteht nicht darin, daß solche Einflüsse ausgeschaltet werden, sondern darin, daß diese gegenseitigen Abhängigkeiten den einzelnen bei der Verwirklichung der von ihm angestrebten Werte nicht behindern sondern unterstützen. Zur politischen Freiheit gehört deshalb, daß die staatlichen Maßnahmen möglichst weitgehend mit dem in Übereinstimmung gebracht werden, was die Bürger des Staates in ihrem sittlichen Wollen verantwortlich anstreben. Um diese Übereinstimmung herzustellen, muß sich die Regierung am Willen des Volkes orientieren bzw. dem Volk die Möglichkeit geben, auf die Maßnahmen der Regierung Einfluß zu nehmen. - Das verlangt, daß sich die Regierung ständig um eine Legitimation ihrer Maßnahmen durch Übereinstimmung mit dem bemüht, was als Wille des Volkes gelten kann. Von Seiten des Volkes ist verlangt, daß es seinen Willen in der politischen Öffentlichkeit zum Ausdruck bringt.

379
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2.1.5 Theologie der Freiheit

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Lit.: Léon Roy, Befreiung - Freiheit. In: H. Léon-Dufour, Wörterb. z. bibl. Botschaft, 56-60.

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Was hat eigentlich die philosophische und die theologische Betrachtung der Freiheit miteinander zu tun? Die Philosophie sagt, daß der Mensch seinem Wesen nach frei sei. In der Bibel lesen wir hingegen, daß Christus uns zur Freiheit befreit hat (Gal 5,1). Ohne die Heilsgeschichte und den Glauben an Jesus Christus wäre der Mensch offenbar gar nicht frei ("Die Wahrheit wird euch frei machen." Joh 8,32). Im einzelnen wird gesagt, daß Christus uns befreit hat von der Sünde, vom Gesetz und vom Tod. Offenbar sieht die Bibel in Sünde, Gesetz und Tod Mächte, die den Menschen zutiefst in Unfreiheit versetzen.

382
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Man kann solche Aussagen nicht so behandeln, als ob es in der Philosophie um die eigentliche personale Freiheit des Menschen ginge, während die Bibel nur fromme spirituelle Gedanken hinzufüge, die an der philosophischen Feststellung nichts ändern. Um philosophische und theologische Betrachtungsweise vermitteln zu können, ist noch einmal auf die Geschichtsbezogenheit der Freiheit hinzuweisen. Freiheit besteht darin, daß sich der Mensch in der Zukunft Ziele setzen kann. Nur wenn diese Ziele erstrebenswert sind, stellen sie auch eine Motivation dar, die den Menschen anzieht und es ihm möglich macht, diese Ziele zu verwirklichen. Solche Ziele kann man nur verfolgen, wenn man entsprechende Werterfahrungen gemacht hat, die man mit diesem Ziel verbinden kann. Insofern ist menschliche Freiheit immer auf die Erfahrungen der Vergangenheit angewiesen.

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Das gilt insbesondere für die letzte Zielsetzung des Menschen, nämlich für seine Entscheidung auf das Heil hin. Auch die Gottesliebe setzt entsprechende Erfahrungen seiner Güte voraus. Wenn sich der Gott der biblischen Offenbarung nur als Richter und Rächer unserer Sünden offenbart hätte, dann könnten wir vor ihm nur erschrecken und verzweifeln, ihm aber nicht mit Vertrauen und Liebe begegnen. Tatsächlich hat er sich aber als verzeihender und liebender Gott offenbart, und zwar in Jesus Christus noch mehr als im AT. Deshalb können wir sagen, daß Christus uns die Möglichkeit gebracht hat, Gott zu lieben, auf ihn zu vertrauen und von ihm unser Heil zu erhoffen.

384
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2.1.5.1 Christus hat uns zur Freiheit befreit (Gal 5,1):

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Es geht hier nicht um bloße Bewegungsfreiheit und Undeterminiertheit. ("Handelt als Freie, aber nicht als solche, die die Freiheit als Deckmantel für das Böse nehmen, sondern wie Knechte Gottes." 1 Petr 2,16). Es geht vielmehr um die Möglichkeit, das entscheidende und umfassende Ziel unseres Lebens zu erreichen, nämlich die Gemeinschaft mit Gott. Diese Möglichkeit bekommen wir im Glauben an Christus, im Glauben daran, daß Gott uns liebt und uns seine Liebe gezeigt hat. - Diese Freiheit bezieht sich aber nicht nur auf unser Gottesverhältnis, sondern wirkt auch in die sozialen Beziehungen hinein. Wenn ich die Hoffnung habe, daß mein Leben sinnvoll ist, weil es von Gott angenommen ist, dann stehe ich auch den Mitmenschen anders gegenüber, kann vergeben, Vertrauen schenken usw. Ich bin frei, d.h. fähig, Nächstenliebe im sittlichen Sinn zu schenken.

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2.1.5.2 Freiheit von Sünde:

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"Denn das Gesetz des Geistes und des Lebens in Christus Jesus hat dich frei gemacht vom Gesetz der Sünde und des Todes." (Röm 8,2) Sünde ist Unglaube, Ablehnung des Angebotes von Liebe und Gemeinschaft mit Gott. Der Sünder kann diese Gemeinschaft nicht von sich aus wiederherstellen, weil sie auf der Freiheit Gottes beruht. Deshalb ist Vergebung durch Gott notwendig, wie sie im Erlösungswerk Christi zum Ausdruck kommt. Die Befreiung von Sünde bedeutet nicht bloß, daß Gott über unsere Sünden hinwegsieht. Er wirkt durch seine Gnade im Gläubigen und gibt ihm die Möglichkeit, wieder auf ihn zu vertrauen.

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2.1.5.3 Freiheit vom Tod:

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"Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde ist das Gesetz. Gott aber sei Dank, der uns den Sieg geschenkt hat durch Jesus Christus, unseren Herrn." (1 Kor 15,56 f.) - Hier ist nicht primär der biologisch-psychologische Bereich gemeint, sondern das Personzentrum des Menschen. Unter Tod versteht die Bibel die Zerstörung des Sinnes und der Erfüllung des Lebens, Hoffnungslosigkeit. Die Erlösungstat Christi hat diesen Tod überwunden und den Menschen neue Hoffnung und einen neuen Sinn geschenkt.

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2.1.5.4 Freiheit vom Gesetz:

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Gesetz bedeutet eine Auffassung, wonach das Heil des Menschen durch die Beobachtung einer äußeren Regel, also durch menschliche Anstrengung zu verwirklichen wäre. Freiheit vom Gesetz ist nicht Anarchie: das äußere Gesetz verliert nicht seine Gültigkeit. Aber unser Heil hängt nicht davon ab, sondern von der Gnade Gottes, die wir in Glaube und Liebe annehmen.

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Der Freiheitsbegriff des NT bezieht sich also nicht primär auf die äußere Bewegungsfreiheit (auf die "Freiheit wovon"), sondern primär auf die positive Fähigkeit, etwas zu verwirklichen ("Freiheit wozu"). Dabei geht es nicht primär um äußere Werte, sondern um den theologischen Letztwert, auf den alle anderen Werte hingeordnet sind. Der Mensch ist frei, den letzten Sinn seines Lebens zu finden. Die anderen Bereiche der Freiheit sind davon abgeleitet und nur noch in einem analogen Sinn als Freiheit zu bezeichnen.

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Das ist auch bedeutsam für die Frage, inwiefern die Annahme einer menschlichen Freiheit vom Glauben her verzichtbar oder unaufgebbar ist. Tatsächlich wäre die christliche Offenbarung ohne die Freiheit des Menschen sinnlos. Aber dabei ist primär die Freiheit in der Beziehung zu Gott gemeint (die Fähigkeit zu glauben!). In den äußeren Bereichen des menschlichen Handelns (Beziehung zu Mitmenschen und zu Sachen), schimmert die sittliche Freiheit noch durch, darüber hinaus ist aber die Annahme von Freiheit im Sinne einer bloß auf objektive Gegenstände bezogenen Wahlfreiheit vom Glauben her nicht zu fordern.

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Wenn Christus uns zur Freiheit befreit hat, wie steht es dann mit der Freiheit des Nichtchristen? - Sittliche Freiheit setzt, formal gesagt, eine sittliche Werterfahrung voraus, daß also das Leben im letzten sinnvoll ist, daß der Mensch nicht verdammt, sondern von einer letzten Wirklichkeit her angenommen ist. Diese Erfahrung vermittelt sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen; sie ist aber nicht rein "natürlich", sondern in ihr deutet sich tatsächlich Gottes freie Liebe zum Menschen an ("anonyme Gnade"). Wenn sich der Mensch auf diese Erfahrung einläßt, kann er in ähnlicher Weise Heil empfangen, wie das etwa die Menschen im AT konnten. Sie empfangen das Heil um jener Gnade willen, die in Christus ihren umfassenden und unüberbietbaren Ausdruck gefunden hat.

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Obwohl in diesem Sinn auch die Nichtchristen zum Heil berufen sind, hat doch das ausdrückliche Evangelium von Jesus Christus eine besondere Bedeutung. Denn es kann mehr als der Glaube anderer Religionen die Liebe Gottes und die Botschaft von der Vergebung der Sünde zum Ausdruck bringen.

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2.2 Anspruch und Vollzug des Sittlichen

397
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Wenn die Moraltheologie im Sinne des Vaticanum II heilsgeschichtlich begründet werden soll, wie das ja auch dem biblischen Ethos entspricht, dann stellt sich zunächst die Frage, ob Geschichte überhaupt einen sittlichen Anspruch begründen kann. Einem solchen Versuch scheint zunächst die in der heutigen analytischen Ethik geläufige Unterscheidung zwischen Genese und Geltung entgegenzustehen.

398
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2.2.1 Genese und Geltung

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Die Frage nach der Genese, der Entstehung einer Norm oder einer Aussage klärt nicht unbedingt die Frage nach der Verpflichtung bzw. der Wahrheit des betreffenden Satzes. Diese begriffliche Unterscheidung zwischen Genese und Geltung beweist aber anderseits auch nicht, daß die Begriffe nichts miteinander zu tun haben.

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a) Wenn in einer Rechnung zwei Fehler stecken, die sich gegenseitig aufheben, ist das Ergebnis gültig, auch wenn die Entstehung des Ergebnisses fehlerhaft ist. Hier handelt es sich um eine logische Richtigkeit, die nicht vom Verlauf des Erkenntnisprozesses abhängt. - Ähnlich kann z.B. ein Gesetz aufgrund einer sehr fragwürdigen Vorgeschichte entstehen, ohne daß diese Genese die Verbindlichkeit des Gesetzes einschränkt.

401
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b) Anders ist es z.B. bei einer Freundschaft und den daraus resultierenden Verpflichtungen. Die Freundschaft erwächst aus einer gemeinsamen Geschichte. Die Verpflichtungen, die zwischen den Freunden bestehen, hängen zusammen mit dem, was sie bisher füreinander getan und an Gemeinsamkeit erlebt haben. Wenn einer viel für den anderen getan hat, dann kann er höhere Ansprüche erheben als wenn das nicht der Fall war. Das Ausmaß dessen, was er vom anderen fordern kann, hängt zusammen mit dem Ausmaß dessen, was er bisher für den anderen getan hat. Dabei handelt es sich nicht bloß um präsentische Seinsverhältnisse, sondern die Ansprüche gründen wesentlich auch in vergangenen Ereignissen, an die man sich erinnert. Die Freundschaft wird durch die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte aktualisiert und in dieser Aktualisierung gründen bestimmte Ansprüche.

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c) Etwas von diesem Zusammenhang von Genese und Geltung findet sich auch in Gesetzen und Normen: Wenn man ein Gesetz befolgen will, dann muß man zuerst klären, wie es zu verstehen ist. Dabei sind grundsätzlich verschiedene Sinngebungen möglich. Verpflichtend ist jener Sinn, den man als Absicht des Gesetzgebers annehmen muß. Darauf beruht z.B. auch die Tugend der Epikie, bei der man nicht dem Buchstaben, sondern dem gemeinten Sinn unter Abweichung vom Buchstaben folgt. Besonders deutlich ist der Zusammenhang von Genese und Geltung natürlich in jenen Rechtssystemen, die nicht einfach anhand eines systematischen Gesetzeswerkes urteilen, sondern anhand von Präzedenzfällen ("Präjudizienrecht" in Gegensatz zum "gesatzten Recht").

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d) Daß Genese und Geltung nicht einfach voneinander getrennt werden können, ist natürlich bei jenen Verpflichtungen besonders klar, die sich aus einem Vorsatz, einem Versprechen oder einem Vertrag ergeben. Hier ist die Willensentscheidung die Genese der Verpflichtung, aber auch der bleibende Grund ihrer Geltung. Das hängt damit zusammen, daß die personale Entscheidung einen Ausgriff in die Zukunft darstellt, der eben auch in der Zukunft seine verpflichtende Geltung behält. Sachliche naturhafte Gegebenheiten sind hingegen nicht in gleichem Sinn geschichtliche Wirklichkeiten, sondern sie bestehen im Augenblick und unterliegen voll dem Wandel der Geschichte.

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e) Anderseits hat aber die Unterscheidung von Genese und Geltung nicht nur für die Logik, sondern auch für die sittliche Verpflichtung ihre Bedeutung. Der geschichtliche Wandel verlangt eine immer neue Auslegung und oft auch eine Adaptierung von Verpflichtungen. Es kann also nicht aus der Genese einer Verpflichtung allein die Geltung auch in voller inhaltlicher Hinsicht erwachsen. Auch der Inhalt einer Freundschaft ändert sich ständig. Was zwei Jugendliche miteinander verbunden hat, kann nicht die Form ihrer Freundschaft bis ins hohe Alter bleiben.

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Inwiefern kann nun aber Heilsgeschichte einen sittlichen Anspruch begründen? Inwiefern trägt sie nicht nur zum Entstehen einer sittlichen Forderung bei, sondern auch zu ihrer bleibenden Geltung?

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2.2.2 Heilsgeschichtliche Begründung des Sollens

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Lit.: F. Böckle, Glaube und Handeln. In: Mysterium Salutis, Bd. V. Zürich-Einsiedeln-Köln 1976, 21-115; H. Rotter, Christliches Handeln. Seine Begründung und Eigenart. Graz 1977, 34-40; ders. (Hg.), Heilsgeschichte und ethische Normen. Freiburg i.Br. 1984.

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Es gibt Werte, die nur in einem geschichtlichen Prozeß dargestellt werden können (Treue, Liebe usw.) Auch die Verpflichtung zu solchen Werten ist nur dort zu erkennen, wo jemand mit ihnen konfrontiert ist, d.h. sie in einer geschichtlichen Verwirklichung erfährt. Die Geschichte eines menschlichen Lebens bezeugt und eröffnet diese Sinngehalte. Je radikaler Liebe verwirklicht wird, desto tiefer wird man auch ihren Sinn und ihren Anspruch erkennen.

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Wenn es nun im christlichen Ethos nicht einfach nur um sachlich richtiges Handeln geht, das man vernunftmäßig deduzieren kann, sondern entscheidend um Liebe und Hingabe des Herzens, dann läßt sich ein solches Ethos letztlich nur von geschichtlicher Erfahrung her begründen. Dabei genügt selbstverständlich nicht irgendeine Erfahrung, sondern letzter Grund muß jene unüberbietbare Erfahrung sein, die die Menschen mit Jesus Christus machen, in dem die radikalste Liebe verwirklicht und bezeugt ist. Die Geschichte Jesu Christi gehört also nicht zu einer Genese, von der wir bei der Geltung der christlichen Moral letztlich absehen könnten. Sie ist bleibende Begründung, ohne die auch der Verpflichtungsanspruch wegfallen würde (vgl. Joh 15,22-24).

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Subjektiv letzter Grund dieser Verpflichtung ist nicht eine bloße Vernunfteinsicht in objektive Richtigkeit, sondern eine Evidenz der Liebe. Indem der Mensch sich auf das Gebot der Liebe innerlich einläßt, spürt er die Richtigkeit dieser Entscheidung. Er spürt, daß die Erfahrung der Liebe dem Verlangen nach einer letzten Sinnerfüllung des Menschen entspricht, und zwar im Gegensatz zum Haß und zur Lieblosigkeit. Diese Evidenz der Liebe und des Guten entspricht jener Evidenz, die im letzten auch für die Glaubensbegründung (vgl. Fundamentaltheologie!) angenommen werden muß.

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2.2.3 Glaube und Vernunft

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In der derzeitigen moraltheologischen Diskussion ist umstritten, wie weit Moral auf Vernunft und wie weit sie auf Glaube zu begründen ist. Dabei ist die Struktur menschlicher Erkenntnis zu berücksichtigen. Es gibt verschiedene Formen von Erkenntnis, die jeweils ein verschiedenes Maß an Objektivität bzw. Willensengagement einschließen.

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a) Sachbezogene Erkenntnis: Objektive Vernunft, die sich ihrer Erkenntnis gewiß oder ungewiß sein kann.

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b) Personbezogene Erkenntnis: Stellungnehmende Erkenntnis, die ein positives oder negatives "Vorurteil" einschließt und deshalb bereits auf einer ethischen Entscheidung beruht.

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c) Transzendente Erkenntnis: "Glaube". Dieser beruht nicht auf bloßer Sacherkenntnis, sondern auf der Annahme eines geschichtlichen Zeugnisses, in der sich eine letzte Evidenz des Guten ergibt.

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Dieser Strukturierung entspricht die Struktur des sittlichen Aktes. Der sittliche Akt hat Momente, die der Vernunft zuzuordnen sind. Er enthält aber auch Momente, in denen es um die Beziehung zum Mitmenschen und schließlich um die Beziehung zum transzendenten Gott geht. Entsprechend müssen hier objektive Vernunft, engagierte mitmenschliche Stellungnahme und theologischer Glaube vermittelt werden. Die Akzentsetzung wird auch davon abhängen, ob man die Frage nach der äußeren objektiven Richtigkeit, also die Frage nach der objektiven Norm, in das Zentrum der Betrachtung stellt oder die Frage nach dem theologischen Sinn.

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2.2.4 Das sittliche Sollen

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Als Zusammenfassung und Abschluß unserer bisherigen Überlegungen soll noch ein Begriff kurz analysiert werden: das sittliche Sollen. Was heißt das eigentlich, daß ich etwas soll, tun soll, lassen, annehmen soll? Hier handelt es sich um eine Beziehung, deren einzelne Aspekte näher zu betrachten sind:

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 a) Sollen bezieht sich auf Zukunft:

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Engl.: I shall = ich soll oder: ich werde! - Wenn ich etwas tun soll, dann ist es noch nicht getan. Sobald ich es tue, wird das Sollen überwunden durch das Sein. Sollen bezieht sich auf Noch-nicht-Sein, Prozeß, Werden, Zeit.

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 b) Sollen besagt ein Bedürfnis:

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Wenn etwas getan werden soll, besagt das eine Notwendigkeit, einen Notstand, der nur gewendet oder vermieden werden kann durch ein entsprechendes Verhalten. Worin besteht nun diese Not, dieses Bedürfnis? Es geht beim sittlichen Sollen nicht um ein Müssen, das durch unmittelbare Sanktionen erzwungen wird. Es geht nicht um ein Tun, das unmittelbaren Schaden oder Nutzen hervorbringt. Solche Zusammenhänge betreffen zwar etwas Wichtiges, aber nicht unmittelbar den Aspekt des sittlichen Sollens. Dieser ist gegeben, insofern es sich um das Verlangen des Menschen nach einer letzten Erfüllung, einem letzten Ziel handelt (Gemeinschaft mit Gott!). Der Mensch hat nicht nur körperliche und psychische Bedürfnisse, ihn verlangt es auch danach, daß sein Leben als Ganzes sinnvoll sei. Er bedarf nicht nur einzelner Teilziele, sondern einer transzendenten Zielsetzung. Nur in Bezug darauf kann von einem sittlichen Sollen gesprochen werden. Natürlich vermittelt sich das letzte Ziel in Teilzielen. Auch ihre Verwirklichung partizipiert am sittlichen Wert, insofern dieses Teilziel auf das letzte Ziel bezogen ist. Wichtig ist zu sehen, daß ein Teilziel nicht als solches schon ein sittlicher Wert ist! Daraus folgt, daß auch ein Teilziel als solches nicht einfach den Absolutheitscharakter eines sittlichen Zieles haben kann. Partikuläre Ziele können nicht heilsnotwendig sein: z.B. das Gelingen der Beziehung zu einem bestimmten Mitmenschen. Wenn Teilziele nicht absolut sind, sind sie offenbar auch nur relativ oder hypothetisch verpflichtend. Aber sie können Symbole des letzten Zieles sein und insofern "unbedingt" verpflichten, z.B. im Gebot der Nächstenliebe.

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 c) Sollen besagt ein Können:

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"Ultra posse nemo tenetur!" Was ich rein physisch nicht kann, zu dem kann ich auch sittlich nicht verpflichtet sein (Bedeutung der Natur als Ermöglichung!) Es gibt aber auch psychische Unfähigkeiten, die das sittliche Sollen einschränken. Dadurch wird eine Entfaltung der Freiheit und ihre Bezugnahme auf das transzendente Ziel ausgeschlossen. Denn nur insofern, Freiheit und Transzendenzbezug aktualisiert werden, kann von Sittlichkeit die Rede sein.

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Können setzt auch eine positive Motivation voraus und zwar eine Motivation, nicht bloß materielle Güter oder andere Teilziele anzustreben, sondern gerade den transzendenten Lebenssinn. Nur wenn man danach verlangt, hat man auch das Vermögen, danach zu streben. Dieses Vermögen erwächst aus zwei Voraussetzungen:

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aa) potentia oboedientialis = Vermögen des Menschen, innerweltliche Bezüge zu transzendieren und offen zu sein für die Begegnung mit Gott und das Geschenk seiner Gnade. Der Mensch muß so beschaffen sein, daß er sich Gott zuwenden kann.

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bb) Initiative Gottes und Erfahrung durch den Menschen: Weil der Mensch den Sinn seines Lebens nur in der Gemeinschaft mit Gott findet, diese aber nicht aus eigener Kraft herstellen kann, ist der sittliche Akt nur als Antwort auf die Gnade Gottes möglich. Diese muß im Menschen personal wirksam werden, d.h. in Bewußtsein und Freiheit. Sie muß sich deshalb dem Menschen in geschichtlicher Begegnung vermitteln. Eine solche Begegnung geschieht, wenn jemand einem wohlwollenden Mitmenschen begegnet und dadurch in Liebe, Vertrauen und Glaube gestärkt wird. Zentrale Bedeutung hat aber die Begegnung mit Christus in Wort und Sakrament, weil hier der Gesamtwirklichkeit eine letztgültige Deutung gegeben wird. Die Erfahrung des Sollens im Gewissen zeigt die gleiche Struktur wie das Sittliche. (Begründung in der geschichtlichen Dimension, in Vergangenheit und Zukunft).

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2.2.5 Der sittliche Akt

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Lit.: H. Rotter, Handeln, sittliches. In: Neues Lexikon der christlichen Moral, 316-323.

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Wenn man die Struktur des sittlichen Aktes vollständig zu erfassen versucht, dann sind vor allem folgende Aspekte herauszuheben:

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2.2.5.1 Bezugspunkte des sittlichen Aktes:

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aa) Jeder sittliche Akt ist ein Selbstvollzug des Menschen und insofern immer auch auf das eigene Subjekt bezogen. Im sittlichen Akt verwirklicht sich die menschliche Person im Sinne einer Vertiefung oder einer Veränderung ihrer Grundorientierung.

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bb) Der sittliche Akt ist immer auch bezogen auf andere Personen. Entweder direkt in einer mitmenschlichen Begegnung, oder mehr anonym im Sinne der Befolgung von Gewissensforderungen, die einem durch andere Menschen oder die Gesellschaft vermittelt sind. Der positive sittliche Akt trägt immer etwas von Liebe an sich und ist insofern dialogisch zu verstehen.

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cc) Der sittliche Akt transzendiert immer innerweltliche Bezugspunkte auf eine absolute Wirklichkeit hin. Insofern ist ein guter Akt immer auch ein Akt der Gottes1iebe.

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2.2.5.2 Objektivität und Subjektivität des Aktes:

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Im sittlichen Akt verleiblicht sich eine geistige Stellungnahme. Hier sind drei Ebenen zu unterscheiden:

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 aa) Das Subjekt bezieht sich auf Natur, ist von ihr mitbestimmt und begrenzt.

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bb) Diese Natur begegnet dem Menschen aber immer als Kultur, insofern sie von Lernprozessen, Traditionen usw. überformt ist und nur in dieser Weise verstanden werden kann.

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cc) Der sittliche Akt ist aber auch durch positive menschliche Entscheidungen mitbestimmt. Das gilt für Befehle und Gesetze, die durch eine menschliche Autorität erlassen sind, aber auch für allgemeinere Normen, insofern diese nicht mit Notwendigkeit eindeutig aus Natur oder Kultur abgeleitet werden können, sondern eine menschliche Geschichte haben, die von freien Entscheidungen einzelner Persönlichkeiten mitgestaltet ist.

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2.2.5.3 Die Geschichtlichkeit des Aktes:

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aa) Jeder sittliche Akt impliziert ein Gedächtnis (memoria), insofern dabei frühere Sinnerfahrungen vergegenwärtigt werden und für die Entscheidung maßgeblich sind.

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bb) Der sittliche Akt ist immer auch ein Akt der Hoffnung (spes), insofern er ein Risiko darstellt, das man in der Hoffnung auf Sinnerfüllung eingeht.

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cc) Der sittliche Akt ist aber auch ein Vollzug der Gegenwart (praesentia), insofern er eine freie Entscheidung darstellt, die sich weder aus dem Gedächtnis noch aus der Hoffnung eindeutig aufzwingt. Allerdings darf die Gegenwart nicht punktuell verstanden werden. Der sittliche Akt steht immer in einem geschichtlichen Zusammenhang (optio fundamentalis), in dem frühere Entscheidungen ratifiziert und zukünftige Situationen vorweggenommen werden.

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2.2.5.4 Einzelaspekte:

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aa) Umstände ("Circumstantiae"): Der sittliche Akt ist nicht abstrakt zu bewerten, sondern in seiner konkreten Situation, in der Ganzheit des Geschehens. Dabei sind sowohl die Umstände des Handelnden wie des Betroffenen zu berücksichtigen. Bei einem Diebstahl ist also zu berücksichtigen, ob der Dieb in großer Not etwas für ihn Lebensnotwendiges entwedet; ebenso, ob der Bestohlene etwas von seinem Überfluß verliert.

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bb) Sündige Strukturen: Die Umstände können auch von einer Art sein, daß man von sündigen Strukturen spricht. Man meint damit Verhältnisse, die meist selbst die Folgen von Unrecht sind und die andere wieder zu Unrecht verleiten. Eine extreme Ungleichheit in der Eigentumsverteilung (zwischen Großgrundbesitzern und armen Landarbeitern) kann aus einem ungerechten politischen System entstehen und immer neu zu Spannungen und Gewalttaten führen. Es ist eine ethische Verpflichtung sündige Strukturen zu ändern.

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cc) Der in sich schlechte Akt ("actus obsolute malus"): In sich böse ist ein Akt, der der Liebe, der Hoffnung und dem Glauben widerspricht. Kann das von einem konkreten Akt in seiner äußeren Darstellung für immer gesagt werden? In manchen Fällen hat das die Tradition getan, hat dann aber die entsprechende Handlung, wenn sie dennoch erlaubt schien, anders bezeichnet. Man sprach von einer an sich schlechten Lüge, dort wo eine Falschaussage nach dem Güterabwägungsprinzip erlaubt schien, sprach man von Vorbehalt. Entscheidend ist, daß zu einer Sünde die böse innere Intention gehört. Eine Handlung ist dann nicht böse, wenn sie bei vollem Wissen und Begreifen dessen, was man tut, etwa unter Anwendung der Güterabwägung als gerechtfertigt verstanden und in guter Absicht vollzogen werden kann.

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dd) Handlung mit Doppelwirkung: Jede Handlung hat verschiedene Auswirkungen. Wenn dabei positive und negative sittlich relevante Auswirkungen hervortreten, spricht man von einer Handlung mit Doppelwirkung. Sie kann nur gut sein, wenn sie als ganze Ausdruck eines guten Wollens ist. Die intendierte Wirkung muß gut sein und die vorauszusehende nachteilige Wirkung, die nicht in sich intendiert ist, mindestens aufwiegen. Die negativen Wirkungen lassen sich nur in Kauf nehmen, wenn sie nicht vermieden werden können, ohne daß auch die gute Wirkung verfehlt wird.

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ee) Der Zweck heiligt nicht die Mittel: Natürlich heiligt der Zweck ein sittlich indifferentes oder gar positives Mittel. Er rechtfertigt aber nicht ein negatives Mittel, das so bedeutend ist, daß es durch die positive Absicht nicht aufgewogen werden kann (z.B. Raubmord zum Zwecke der Lebensmittelbeschaffung).

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2.2.6 Die Gottesbeziehung des sittlichen Aktes

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Etwas vereinfachend läßt sich das Verständnis der Gottesbeziehung des sittlichen Aktes, wie es in der Naturrechtslehre einerseits und bei einem heilsgeschichtlichen Ansatz anderseits verstanden wird, folgendermaßen gegenüberstellen:

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2.2.6.1 Im Verständnis der neuscholastischen Naturrechtslehre:

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aa) Gott als Schöpfer: Wir finden in der Tradition einen doppelten Gottesbegriff: Gott als Schöpfer und als Gott der Offenbarung. Der Schöpfergott ist mit der Vernunft zu erkennen, der Gott der Offenbarung mit dem Glauben. Weil die Naturrechtslehre für alle Menschen gelten und deshalb ausschließlich mit der ratio argumentieren will, bezieht sie sich nur auf Schöpfergott und Schöpfungsordnung, nicht auf Offenbarung und Heilsordnung. Es handelt sich hier nicht um den dreifaltigen Gott, sondern um einen philosophischen Gottesbegriff, wie er durch philosophische Gottesbeweise erhoben werden kann.

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bb) Die Schöpfung: Die Schöpfung ist die von Gott geschaffene Natur, in die Gott sein Gesetz gelegt hat. Die Ordnung der Natur spiegelt den Willen Gottes wider. Deshalb hat sich der Mensch in seinem Handeln ganz an der Natur und ihren Gesetzen zu orientieren. Entscheidend ist die Frage nach der objektiven, sachlichen Richtigkeit. Die personalen Haltungen, wie Liebe, Glaube, Treue, Barmherzigkeit, treten in den Hintergrund.

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cc) Die Vernunft: Die Vernunft erkennt den Willen Gottes aus den Sachgesetzen der Schöpfung. Vernunft wird hier aufgefaßt als Beziehung der Erkenntnis zu einem Sachobjekt, also nicht etwa als interpersonale Kommunikation. Diese Erkenntnis erscheint sachlich und objektiv, nicht als persönliche subjektive oder interpersonale Stellungnahme. Der Glaube wird dem gegenüber als etwas Irrationales betrachtet, das sich vorwiegend negativ durch seine Unsicherheit von der Vernunfterkenntnis unterscheidet.

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dd) Das Verständnis des Sittlichen: Das Sittliche besteht primär in der Übereinstimmung mit den objektiven Erfordernissen der Natur. Man spricht z.B. von "objektiven Sünden", d.h. von Verletzungen einer Norm vorgängig zu den subjektiven Aspekten von Freiheit und Erkenntnis. Das Wesen der Sünde wird also vorwiegend durch eine sachliche Unrichtigkeit des Handelns definiert, nicht so sehr durch einen Verstoß gegen eine interpersonale Kommunikation.

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2.2.6.2 Die Gottesbeziehung im heilsgeschichtlichen Ansatz

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Gott als der mit dem Menschen Gehende: Gott ist zwar Schöpfer und Herr, aber er überläßt die Welt nicht sich selbst, wie im Deismus, sondern er ist in der Geschichte der Menschen da:

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 - Er ist der Gott Israels, der bei seinem Volke weilt.

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 - Er ist der sprechende Gott, an dem sich der Mensch im Gebet wenden kann.

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- Er ist der Gott der Bundesschlüsse, der seinem Volk Heil verheißt, dafür aber auch Forderungen stellt.

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Israel erfährt also den Herrn nicht bloß als Idee, die zur Erklärung der Schöpfung postuliert wird, sondern als eine gegenwärtige personale Wirklichkeit, die den Menschen in seinem Herzen (Gewissen) anfordert. Gott offenbart sich in seinem Wirken. Deshalb ist jede Gotteserfahrung auch Erfahrung des sich offenbarenden Gottes. Im NT wird dann Gott noch tiefer gedeutet. Er kommt den Menschen nahe in seinem Sohn. Das ist eine Offenbarung, die durchaus in Kontinuität zum alttestamentlichen Gottesverständnis steht, diese aber überbietet.

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Wir haben hier keine Dualität der Gottesbegriffe, keine Scheidung zwischen Schöpfer- und Erlösergott, zwischen Vernunft und Glaube, zwischen Welt- und Heilsethos. Allerdings wird dieser Gott, der in Jesus wirkt und sich dem Glaubenden mitteilt, schließlich als dreifaltiger Gott begriffen. Letztlich geht es dabei immer um eine Auslegung von Erfahrung, die man in Israel gemacht hat und immer noch da macht, wo man glaubt. Die Erfahrung des Gewissens, der Liebe, der Hoffnung ist eine Erfahrung der Nähe Gottes, seines Wirkens im Hl. Geist, eine Erfahrung, die in Jesus ihre unüberbietbare Gestalt gewonnen hat. Sicher gibt es auch weiterhin anonyme Formen der Gotteserfahrung und vieldeutige Weisen der Auslegung. Aber auch hier handelt es sich um eine Begegnung mit dem Gott der Geschichte und des Heiles, nicht bloß um ein Schöpfungsprinzip.

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3 Dritter Teil: Motivation und Freiheit

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Motivationen sind vorsittliche Antriebskräfte des menschlichen Lebens. Menschliches Handeln entspringt nicht aus absoluter Freiheit, sondern gründet zunächst in Motivationen, die aus der Umwelt, der menschlichen Anlage, der Kultur und der individuellen Geschichte stammen. Allerdings kann der Mensch sein Handeln in Freiheit kontrollieren und gestalten. Dadurch werden die unterpersonalen Motivationen nicht geleugnet, sondern nur auf ein bestimmtes Ziel hingeordnet und überschritten.

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3.1 Biologisch-psychische Motivationen

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Lit.: W. Korff, Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft. Mainz 1973, bes. 76-112; H. Rotter, Grundlagen der Moral. Einsiedeln 1975, bes. 42-99.

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Menschliches Handeln weist eine Struktur mit biologischen, psychologischen, personalen und transzendentalen Momenten auf. In diesem Zusammenhang sind die Motivationen zu sehen. (Thomas spricht von "inclinationes naturales").

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3.1.1 Lust - Freude - Glück

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Lit.: H. Röhrbein, Der Himmel auf Erden. Plädoyer für eine Theologie des Glücks. Frankfurt a.Main 1978; J. Bowlby, Das Glück und die Trauer. Herstellung und Lösung affektiver Bindungen. Stuttgart o.J.; P. Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein. München 1983; J.Weismayer, Glück. In: NLM 300-304.

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Jedes Lebewesen strebt nach Nahrung, günstiger Temperatur, günstigen Sinneseindrücken. Die Erreichung dieser Ziele wird bei höheren Lebewesen als Befriedigung empfunden. Viele Lebewesen sind durch die Nerven auf solche Reizempfindungen spezialisiert. Die Lustempfindung entspricht nicht immer dem biologischen Nutzen, sondern kann sich verselbständigen (euphorische Zustände des Körpers, Tabak, Alkohol, Drogen usw.). Der Bedarf an Lustempfindungen kann auch übermäßig sein (Freßgier, Sucht). Diese Empfindungen haben verschiedene Funktionen:

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a) biologische Funktion: Orientierung des Verhaltens, um Lebensbedürfnisse zu sichern (z.B. ausreichende und richtige Nahrung).

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b) soziale Funktion: Tiere, die sich gegenseitig füttern, gehen dadurch soziale Bindungen ein. Das schafft Sicherheit und Geborgenheit.

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c) kulturelle Funktion: Die verschiedenen Bedürfnisse werden im Leben des einzelnen, einer Gruppe, einer Kultur, verschieden entwickelt. Der Mensch braucht also nicht eine gleichmäßige Befriedigung aller Bestrebungen, sondern er kann die einen besonders pflegen und die andern mehr zurückstellen.

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d) ethische Funktion: Die Bedürfnisse lassen sich in eine Gesamtordnung des menschlichen Lebens einordnen, die durch freie Sinnorientierung im Glauben bestimmt ist. Man erweist auch dem andern nicht einfach umso mehr Liebe, je mehr körperliche und psychische Befriedigung man ihm bereitet (Hedonismus!). Man soll den andern vielmehr so behandeln, daß ihm das für die Gesamtorientierung seines Lebens möglichst dienlich ist. Man muß dem andern aber doch so viel Befriedigung zu schaffen versuchen, wie das sein Wohl erfordert und wie es notwendig ist, damit er in diesem Bemühen echtes Wohlwollen erkennt.

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 Die Empfindungen sind das naturhafte Organ für personale Kommunikation:

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 a) Wenn der andere nichts empfindet, kann man ihm keine Freude machen.

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 b) Wenn man ihm keine Freude machen kann, kann man ihm keine Liebe bezeugen.

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 c) Wenn man ihm keine Liebe bezeugt, kommen keine tieferen persönlichen Beziehungen zustande.

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Es gibt allerdings beim Menschen nicht nur die primitiven Grundempfindungen wie Hunger, Sättigung usw., sondern auch sublimere Formen: Die Erfüllung körperlicher Grundbedürfnisse bringt Triebbefriedigung = Lust. Die Erfüllung höherer psychischer Bestrebungen bringt Freude. Die Erfahrung der Sinnhaftigkeit des Lebens als Ganzes bringt Glück. Liebe verlangt, daß man den andern glücklich machen will.

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Wir betrachten die Funktionen der menschlichen Natur nicht als starre Naturgesetze, sondern als Momente der personalen Kommunikation. Deshalb sind sie nicht bloß als objektive Tatsachen zu sehen, sondern ihre Wertigkeit ist auch durch subjektive Deutung mitbestimmt.

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3.1.2 Schmerz - Leid - Unglück

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Lit.: G. Gerstenberger/W. Schrage, Leiden. Stuttgart 1977; H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Frankfurt/M. 1987; H. Küng, Gott und das Leid. (Theologische Meditationen 18). Freiburg 51974; C.S. Lewis, Über den Schmerz. München 1978; G. Roth, Schmerz. In: Praktisches Wörterbuch der Pastoralanthropologie. Wien 1975, 941-943. F. Sauerbruch/H. Wenke, Wesen und Bedeutung des Schmerzes. Frankfurt a.M. 1961; D. Sölle, Leiden. Stuttgart 1973; H. Vetter, Der Schmerz und die Würde der Person. Frankfurt a.M. 1980. H. Wiersinga, Leid: Herausforderung des Lebens. Auseinandersetzung mit einer Grundfrage. München 1982; B.Fraling, Leiden.In: NLM 435-439.

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Die Fähigkeit zur Schmerzempfindung ist für höhere Organismen von größter Wichtigkeit und durch ein komplexes System sichergestellt.

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3.1.2.1 Physiologische Ebene:

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Schmerz wird an den Schmerzrezeptoren der Haut, der Schleimhaut, der inneren Organe usw. rezipiert, durch die Nerven über die Schmerzbahnen im Rückenmark zum ersten Schmerzzentrum, dem Thalamus (Nervenfeld im Zwischenhirn) geleitet. Dort kommt es zur Wahrnehmung, Quantifizierung, Färbung und Wertung des Schmerzes. Dann wird die Empfindung zur Hirnrinde weitergeleitet, dort bewußt gemacht und lokalisiert.

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Schmerz kann durch Druck, Hitze, Kälte, elektrischen Strom und chemische Reize ausgelöst werden. Auf einer schnell leitenden Bahn wird die Tatsache des Schmerzes und dessen Ort angezeigt, auf einer langsam leitenden Bahn wird der Schmerzreiz zum wertenden Schmerzerlebnis integriert.

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Der Schmerz wird ungenau lokalisiert und hat einen brennenden, stechenden, schneidenden Charakter. Er kann kontinuierlich oder anfallsartig auftreten. Besonders starke Schmerzen strahlen über ihr Entstehungsgebiet aus. Schmerz kann auf das reflektorische Nervensystem einwirken (Erweiterung der Pupillen, Erhöhung des Blutdrucks, Beschleunigung des Pulses). Er kann zahlreiche psychische Phänomene, wie Unlustgefühle, Antriebsarmut, Schlafstörung, Übererregbarkeit und depressive Reaktionen hervorbringen. Schmerz kann übermäßig, zu gering oder überhaupt nicht empfunden werden (Hyperalgesie, Hypalgesie, Analgesie). Der Schmerz wirkt zunächst als Signal, daß etwas schädlich ist. Er stellt darüberhinaus eine Motivation dar, den Schaden zu beseitigen und seinen Ursachen künftig auszuweichen. Schmerz kann aber besonders bei Überfunktion selbst zu einer schockartigen Bedrohung werden. Die Schmerztherapie ist deshalb ein notwendiges spezielles Aufgabengebiet der Medizin.

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3.1.2.2 Personale Ebene:

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Subjektiv kann Schmerz verschieden wahrgenommen werden, je nach Bedeutung für die Person des Kranken. Er kann sich verstärken, wenn sich die Umgebung um den Patienten zuwenig kümmert. Das gilt speziell für das Kleinkind, bei dem sich körperliches Unwohlsein durch das Verlangen nach Zuwendung sehr verstärken kann. Der Ausdruck von Schmerz (Weinen) soll die Hilfsbereitschaft anderer mobilisieren. Allerdings kann er auch abstoßen, wenn er überstark wird und lange andauert. Man sucht dann sich dieser Anforderung zu entziehen.

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Der Schmerz hat auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation eine wichtige Bedeutung. Die gesellschaftlichen Normen werden dem einzelnen durch Sanktionen nahegebracht. Wenn er sie befolgt, findet er Anerkennung, wenn er sie übertritt, hingegen Ablehnung. Diese Ablehnung kann je nach Situation darin zum Ausdruck kommen, daß man dem andern sein Mißfallen zeigt, über ihn lächelt, ihn nicht ernst nimmt, ihm sein Vertrauen entzieht. Bereits diese Formen sind in einem psychischen Sinn für den Täter schmerzlich. Er merkt, daß er an Ansehen verliert. - Genügen derartige Sanktionen nicht, um gröbere Normverstöße zu ahnden, dann reagiert die Gesellschaft etwa durch die Polizei damit, daß sie dem einzelnen eine Geldstrafe auferlegt, daß sie ihm bei einem Verkehrsdelikt sein Auto wegnimmt oder ihn gar in ein Gefängnis steckt und seiner Freiheit beraubt.

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Auch in der Kindererziehung kann man auf negative Sanktionen nicht ganz verzichten. Es muß zwar die positive Reaktion im Vordergrund stehen, aber es wird oft auch ohne negative Formen nicht gehen, wenn man dem Kind eine helfende Einflußnahme nicht verweigern und es dadurch vielleicht viel größeren Gefahren aussetzen will.

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Die Fähigkeit zu leiden hat neben der biologischen und sozialen auch eine personale Funktion. Sie hängt davon ab, was der Mensch subjektiv aus dem Leid macht.

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 - Mögliche psychische Werte: Geduld, Demut, Dankbarkeit für Hilfe

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 - Soziale Werte: Einfühlung in andere

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 - Theologisch-sittliche Werte: Vertrauen auf Gott, Loslassen weltlicher Sicherheiten.

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Der Mensch sucht auch nach religiösen Erklärungen für das Leid. Er denkt etwa an Strafe für eigene oder anderer Sünden, an Erprobung, Läuterung oder Sühne. In der Sicht des christlichen glaubens ist das Leid (Kreuz) Christi die höchste Tat des Heilsgeschehens und verweist damit auch auf den Wert, den Leiden haben kann. Es kann zu einem Ja werden gegenüber den Anforderungen der Wirklichkeit und dem Willen Gottes. Allerdings ist dabei immer zwischen vermeidbarem und unvermeidbarem Leid zu unterscheiden. Das vermeidbare Leid, besonders auch wenn es das Leid des Mitmenschen ist, soll im Sinne des Liebesgebotes nach Möglichkeit ausgeschaltet und überwunden werden. Das unvermeidbare Leid soll ohne Verbitterung angenommen werden. Es stellt eine Vorstufe und Einübung des Todes dar. Der Mensch kann daran reifen - aber auch daran verbittern und zerbrechen. Der Sinn liegt hier also nicht im Schmerz und im Leid selbst, sondern entsteht durch die Art der Stellungnahme zum Leid.

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Wo Leid vermeidbar oder überwindbar ist, soll man entsprechend handeln. Thomas v.A. gibt zur Linderung des Leides folgende Möglichkeiten an:

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 1. jegliches Erfreuen,

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 2. Tränen,

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 3. mitleiden der Freunde,

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 4. Betrachtung der Wahrheit,

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5. baden und schlafen.(11)

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3.1.3 Die Angst

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Lit.: W. v. Baeyer/W. v. Baeyer-Katte, Angst. Frankfurt a.M. 1971; E.E. Levitt, Die Psychologie der Angst. Stuttgart 1971; F. Riemann, Grundformen der Angst. München 1975; V.E. v. Gebsattel, Imago hominis. Beiträge zu einer personalen Anthropologie. Salzburg 21968, 138-172 (Die phobische Fehlhaltung); K. Lorenz/P. Leyhausen, Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens. München 1968, 272-296 (Zur Naturgeschichte der Angst); R.M. Luschin, Angst. In: NLM 38-43.

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In Angst und Furcht reagiert der Mensch auf eine Gefahr und sucht ihr auszuweichen. Dabei gibt es vor allem zwei Formen von Verhalten, wie man sie schon bei Tieren beobachten kann: die Flucht und die Erstarrung oder Lähmung. Alle diese Reaktionen können sinnvoll sein. Deshalb ist auch die Angst/Furcht nicht prinzipiell negativ zu bewerten, sondern nur, wenn sie der Situation nicht gerecht wird und vielleicht in extremen Formen auftritt.

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Die Tradition hat oft einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Angst und Furcht gesehen, wobei die Furcht durch ihre Objektbezogenheit charakterisiert war als Furcht vor einer ganz bestimmten Gefahr, während man die Angst mehr als eine allgemeine Grundstimmung verstand, die ihre Begründung eher in der subjektiven Verfaßtheit, nicht aber in einem bestimmten bedrohenden Objekt besitzt. Diese Unterscheidung ist zu relativieren. Denn das Ausmaß einer konkreten Furcht wird immer auch davon abhängen, wie "ängstlich" eine Persönlichkeit insgesamt ist, und umgekehrt wird die Bereitschaft zu konkreter Angst ständig genährt oder auch abgeschwächt durch die konkreten Lebenserfahrungen, sodaß man in der Angst auch einen Nachhall von Furchterlebnissen und ihrer Verarbeitung sehen kann. Der Unterschied zwischen der Angst und der Furcht schließt deshalb einen inneren Zusammenhang nicht aus. Angst bezeichnet mehr die Gefühle, die aus der Grundeinstellung der Psyche kommen, Furcht mehr Gefühle aufgrund konkreter Bedrohung. So ist es nicht ganz falsch, wenn die Alltagssprache die Begriffe Angst und Furcht nicht genau auseinanderhält.

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3.1.3.1 Grundformen der Angst

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Man kann nach Riemann vier Grundformen unterscheiden:

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1. Typus der schizoiden Persönlichkeit: Hier geht es um die Angst vor der Selbsthingabe. Sie äußert sich darin, daß jemand versucht, die Nähe anderer zu meiden. Er wirkt kühl, abweisend und schwer zugänglich. Er möchte zwar vielleicht gerne freundschaftliche Beziehungen haben, aber er scheut instinktiv davor zurück, andere in sich hineinschauen zu lassen und ein Vertrauensverhältnis zu entwickeln. Es ist ein tiefes Mißtrauen, das ihn hindert, Zeichen der Zuneigung ernstzunehmen und sich darauf einzulassen. - Entsprechend ist ein solcher Mensch auch nur wenig fähig, auf andere zuzugehen, sich helfen zu lassen, sich bei andern geborgen zu fühlen. Dort, wo tatsächlich einmal ein näherer Kontakt zustande kommt, wird er häufig aus geringem Anlaß wieder abgebrochen. Immer ist die Furcht da, sich festzulegen und andern gegenüber zu verpflichten.

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Eine solche Haltung entsteht, wenn das Kleinkind in den ersten Lebensphasen nicht in der Lage ist, ein ausreichendes Grundvertrauen auf die Verläßlichkeit der Umwelt und besonders der Mutter aufzubauen. Ein Kleinkind erlebt etwa, daß es nicht erwünscht war und deshalb von seiner Mutter lieblos, gleichgültig, mit wenig Sorgfalt und Zuverlässigkeit betreut wird. Das Kind entwickelt dann Angst vor der Umgebung, weil es fürchtet, daß es in seinen Erwartungen und in seiner Zuwendung enttäuscht und verletzt werden könnte. Um sich also vor solchen Frustrationen und einem solchen Ichverlust zu schützen, zieht sich dieser Angsttypus von vorneherein in sein Schneckenhaus zurück. Ein solches Verhalten ist durchaus rational und berechtigt, wenn man an die Grunderfahrung des Kindes denkt, aber es wirkt sich dann für das weitere Leben oft sehr nachteilig und schädlich aus.

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2. Die depressive Persönlichkeit: Hier wird in einer übermäßigen Weise die Hingabe an ein Du erstrebt. Der Partner ist alles und man sucht eine Hingabe, die bis zur bedingungslosen Unterwerfung unter den Willen des Partners geht. Man erlaubt sich selbst keine Wünsche, die vielleicht in Widerspruch zum Willen des Partners stehen. Man kann nicht nein sagen zu dem, was andere erwarten und erbitten. Es könnte ja sein, daß sonst ein Konflikt entstünde und der andere sich von einem abwenden würde. Man hat kein Selbstvertrauen, man ist gehemmt, empfindet sich als ständigen Pechvogel, man steht nicht zum eigenen Ich.

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Solche Menschen sind verständlicherweise wenig konfliktfähig. Sie zeigen Bescheidenheit, Friedfertigkeit und Demut und machen bei Konflikten lieber sich selbst Vorwürfe als den andern. Natürlich können Konflikte auf diese Weise nicht richtig aufgearbeitet werden und die bestehenden Aggressionen wenden sich dann eher gegen das eigene Ich.

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Die lebensgeschichtlichen Voraussetzungen für eine solche Entwicklung können ansetzen bei einer zu starken Verwöhnung. Das Kind kann zunächst nicht lernen, sich selbst zu behaupten, zu protestieren usw., sondern es erfährt die bereitwilligste Erfüllung aller Wunschäußerungen. Die Mutter versucht auf diese Weise, das Kind an sich zu binden. Es erlaubt dem Kind nicht, sich zu einem eigenen Selbst zu entwickelt, und so kommt es unvermeidlich zu Schuldgefühlen auf seiten des Kindes. Einerseits möchte es sich die Liebe der Mutter erhalten, anderseits möchte es sich auch zu einem eigenen Menschen entwickeln. Aber in dem Maße, wie es das tut, gerät es in Konflikt mit der liebenden Mutter und wird dadurch schuldig. Das Kind wird in hohem Maße abhängig von der Zuneigung der Mutter und lernt nicht, auf sich selbst zu vertrauen und sich selbst zu behaupten. Das Kind lernt, sich an andere anzulehnen, und hat Angst vor Situationen, wo es Eigenständigkeit zeigen soll.

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Auch diese Form von Angst ist verständlich und als Reaktion auf die geschilderte Situation in der Kindheit durchaus zweckmäßig. Allerdings verläuft das weitere Leben dann nicht mehr immer so, wie es sich in der Kindheit dargeboten hat und wie es eingeübt wurde. Dann ist ein Mensch mit diesem Angsttypus dem Leben wenig gewachsen.

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3. Die zwanghafte Persönlichkeit: Sie zeigt sich besonders in der Angst vor der Vergänglichkeit. Hier geht es um den Menschen, der Angst hat vor jedem Wandel und ein starkes Bedürfnis entwickelt, daß alles bleibt, "wie es immer gewesen ist". Er behindert und bekämpft nach Kräften jede Neuerung. So zeigt sich ein starkes Bedürfnis nach allgemein und immer gültigen Regeln, nach unumstößlichen Grundsätzen und Prinzipien und nach Durchsetzung von Recht und Ordnung bis hin zum Verhalten eines Michael Kohlhaas. Im Verhalten solcher Menschen zeigt sich immer wieder das Bestreben, Vergänglichkeit zu überwinden und Dauer zu schaffen. Man kann nichts wegwerfen, sondern legt große Sammlungen an, man entwickelt Gewohnheiten, die man nicht mehr aufgeben will, man hält an Traditionen verschiedenster Art starr und unverrückbar fest. Hinter allem steckt eine fundamentale Angst vor Wandel, Vergänglichkeit, Chaos und Tod.

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Eine solche Einstellung entsteht wieder aufgrund bestimmter Lebenserfahrungen von der frühen Kindheit an. Es handelt sich hier oft um Kinder, die eher einen eigenständigen, eigenwilligen Charakter zeigen und nicht einfach nur immer brav und anpassungsbereit sind. Wenn nun solche Kinder ihre Neigungen nicht genügend ausleben können, sondern von den Eltern ständig eingeschränkt oder sogar gestraft werden, dann entwickeln sie die Einstellung, daß sie sich unbedingt an eine bestimmte Ordnung halten müssen. Eine besondere Rolle kann hier etwa eine verfrühte Sauberkeitserziehung spielen, wenn etwa gar jeder damit verbundene Trotz des Kindes mit harten Sanktionen gebrochen wird. Auch sonst lernen Kinder, die dann später zu zwangshaften Persönlichkeiten werden, frühzeitig, daß das ganze Leben nach strengen Normen abzulaufen hat und daß schwere Sanktionen zu erwarten sind, wenn man sich nicht an diese Ordnung hält. Erziehung wird hier oft zur Dressur und schon kleine Übertretungen lösen starke Schuldgefühle aus.

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Es handelt sich bei solchen zwangshaften Persönlichkeiten um Ängste, die an sich in jedem Menschen vorkommen, die aber hier in verstärktem Maß auftreten. In jedem Menschen ist ein gewisses Bedürfnis nach Ordnung, nach Tradition, nach Verläßlichkeit. Chaos würde jeden Menschen auf Dauer überfordern und muß ihn deshalb ängstigen. Aber es geht hier um das Ausmaß. Der zwangshafte Mensch hat von klein auf gelernt, in jedem Wandel, in jeder Unordnung eine Gefahr zu sehen und sich davor übermäßig zu ängstigen. Dieses Übermaß an Angst steht in Zusammenhang mit frühen Lebenserfahrungen, in denen auch die drohenden Gefahren in Form von Sanktionen übermäßig groß waren. Das Kind mußte lernen, sich vor Übertretungen und Unordnung zu fürchten, weil es sonst ein Übermaß an Strafen zu erleiden gehabt hätte. Daß auch hier das spätere Leben anders aussieht, daß dann mehr Selbständigkeit, Kreativität, Wandelbarkeit, Anpassungsfähigkeit usw. erfordert wären, macht das Unglück und das Leid zwangshafter Persönlichkeiten aus. Dadurch werden sie auch oft zu einer schweren Belastung für ihre Umgebung.

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Natürlich hat gerade der zwanghafte Typ bemerkenswerte Vorzüge. Die Eigenschaft, alles bis zum Ende ganz exakt und fachgerecht durchzuführen, macht ihn besonders geeignet etwa für Naturwissenschaftler, Juristen, Chirurgen, Finanzbeamte, Pädagogen, Geisteswissenschaftler usw. Die Präzision kann in solchen Berufen ein großer Vorteil sein, die unerbittliche Ordnungsliebe kann sich aber gerade auch in der Begegnung mit Menschen durchaus negativ auswirken.

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4. Die hysterische Persönlichkeit: Er ist interessiert an allem Neuen, er genießt den Tag und macht sich nicht viel aus kleinen Verstößen gegen die Ordnung. Diese wird nicht gar zu ernst genommen, es finden sich leicht immer wieder Hintertürchen und Ausreden. Was dieser Typus fürchtet, das sind Festlegungen und Begrenzungen, also Konventionen, Spielregeln, Vorschriften, Gesetze und schließlich Altern und Sterben.

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Der Hysteriker versucht, all diesen Notwendigkeiten zu entgehen, er versucht, Festlegungen zu bagatellisieren, Termine nicht einzuhalten, in einer Vogel-Strauß-Politik vom Ernst der Fakten wegzuschauen und sich eine Scheinwelt aufzubauen.

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Die hysterische Prägung geht etwa in das vierte bis sechste Lebensjahr zurück. Sehr häufig findet man dabei die Situation, daß ein Kind durch das Verhalten und die Erwartungen der Eltern überfordert wurde. Vielleicht war die Ehe der Eltern unglücklich, und das Kind wurde nun vom einen Elternteil als Partnerersatz benützt. Es sollte trösten, es sollte eine Reife zeigen, die in diesem Alter noch nicht bestehen kann, es sollte der Sonnenschein der Eltern sein, es durfte nicht versagen, es sollte fähig sein, starke psychische Belastungen zu ertragen.

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Die Folge kann dann sein, daß sich das Kind mit der ihm aufgezwungenen Rolle nicht identifizieren kann. Schwierigkeiten können besonders auch in der Identifikation mit dem eigenen Geschlecht entstehen. Oft bleibt das Kind zusehr an seinen Vorbildern hängen oder auch an der Rebellion gegen diese. Jedenfalls wirkt ein solcher Mensch dann später oft unecht, weil es ihm nicht mehr gelingt, die ihm aufgedrängte Rolle wirklich mit seinem Ich zu verbinden. Es bleibt eine ständige Angst vor Festlegungen und Endgültigkeiten, es bleibt die Frustration, daß man nicht sein darf wie man nun einmal ist, daß man nicht in seinem eigenen Sein anerkannt wird. Daraus ergibt sich das Bedürfnis, immer wieder in seiner Geltung bestätigt zu werden, man gewöhnt sich nur schwer an den Anspruch der Realität.

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Anderseits können solche Persönlichkeiten in der Gesellschaft glänzen, mehr vorspiegeln, als dann der Wirklichkeit entspricht. Besonders Künstler finden sich bei diesem Typus, sensible und ausdrucksfähige Menschen.

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Alle diese Typen der Angst haben immer auch ihre positiven Seiten. Da ist etwa der hysterische Mensch, der durch seine Phantasie Lebendigkeit, Unbesorgtheit und durch seine oft glänzende Erscheinung in der Gesellschaft sehr beliebt sein kann. Da ist der zwangshafte Mensch, der etwa in einer Stellung als Beamter außerordentlich gewissenhaft, verläßlich, gründlich arbeitet und ein stabiler Faktor in seiner Umgebung ist. Oder denken wir an den schizoiden Typ, der in seiner Scharfsinnigkeit, in seiner Kritik gegenüber allem Formalistischen zwar für bestimmte Erlebnisbereiche wenig Empfinden zeigt, aber doch auch z.B. in der Wissenschaft, scharfsinnige Beiträge leisten kann. Die depressiv orientierte Persönlichkeit wiederum kann ein großes Maß an Treue zeigen, sie kann sehr einfühlend und auch in gutem Sinn altruistisch sein und sosehr sie oft ausgenützt wird, große Hochschätzung genießen. Gerade diese verschiedenen Formen von Angst ermöglichen auch entsprechende Formen positiver Mitmenschlichkeit.

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3.1.3.2 Systematische Überlegungen zur Angst

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Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß ein gewisses Maß an Angst zum Haushalt der menschlichen Psyche gehört und durchaus gesund und normal ist. Es kann also nicht darum gehen, ein Ideal aufzustellen, als ob der Mensch völlig angstfrei sein sollte. Eine solche Verfassung würde dazu führen, daß jemand letztlich in totaler Leichtfertigkeit handeln würde und die Gefahren und Bedrohungen menschlicher Existenz gar nicht verstehen könnte. Nicht jede Empfindung von Angst ist deshalb besorgniserregend. Problematisch wird es hingegen, wenn diese Angst ein Ausmaß annimmt, das krank macht oder menschliches Leben und zwischenmenschliche Kommunikation sonst ernsthaft beeinträchtigt.

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Angst ist nicht einfach angeboren, obwohl die Anlage dazu zur menschlichen Natur gehört. Es kommt aber dann in großem Ausmaß darauf an wie diese Anlage gebildet wird. Dabei spielen die Lebenserfahrungen des Kindes in verschiedenen Altersphasen eine ausschlaggebende Rolle. Hier wird Angst in einer bestimmten Richtung entwickelt und kennzeichnet dann oft in großem Maße das Angstempfinden im gesamten weiteren Leben.

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Allerdings ist zu bedenken, daß dem Menschen auch für sein ganzes Leben Lernfähigkeit erhalten bleibt. Er ist nicht einfach dazu verurteilt, unverändert jene Einstellungen durch sein Leben zu tragen, die er sich in einigen wenigen Kinderjahren angeeignet hat. Er kann und muß an sich arbeiten. Er muß seine Angst zu überwinden suchen, wo z.B. ein offenes Wort erforderlich ist. Bei extremen Angstzuständen ist oft die Psychotherapie der einzige erfolgversprechende Ausweg. Aber was in einer solchen Therapie geschieht, ist ja nicht etwas völlig Außerordentliches, sondern nur der gezielte und systematische Einsatz jener Möglichkeiten, die menschliche Kommunikation überhaupt bietet. Jede verständnisvolle zwischenmenschliche Begegnung, jedes tiefere Gespräch, in dem man sich einander öffnet, einander zuhört, aufeinander eingeht, hat eine heilende Kraft. (12) So ist Angst nicht einfach nur Schicksal, sondern auch eine Aufgabe, die der Mensch bewältigen und an der auch reifen kann.

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Wenn es nun darum geht, ein Übermaß an Angst zu bewältigen und zurückzudrängen, dann wird man sich nicht nur bemühen, einzelne Symptome zu korrigieren. Wenn wir uns bewußt sind, daß große Ängste ihre Begründung in einem Mangel der Grundverfaßtheit der Persönlichkeit haben, dann wird es darum gehen, nach Möglichkeit diesen Mangel zu heilen. Man wird also dort anzusetzen haben, wo ein Mensch dadurch verstört wurde, daß er zu wenig Bejahung erfahren hat, daß er vielleicht in einem Übermaß verwöhnt wurde, daß er von einem despotischen Erzieher in eine starre Ordnung gepreßt oder in eine Rolle hineingedrängt wurde, mit der er sich nicht identifizieren konnte. Hier wird es darum gehen, zunächst einmal zur Einsicht über das eigene Fehlverhalten zu gelangen. Die Gründe dafür zu verstehen und in einem langen Lernprozeß die Mängel - soweit möglich - aufzuarbeiten.

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Besonders die Situation der Psychotherapie macht deutlich, daß Auseinandersetzung mit der Angst gewöhnlich kaum von der isolierten einzelnen Person geleistet wird, oder jedenfalls nur unter sehr erschwerten Bedingungen, sondern am ehesten in der Beziehung zu einem Therapeuten bzw. allgemeiner zu einem Gesprächspartner. Denn das Bedürfnis des Menschen nach Angenommensein, das ja den verschiedensten Angsttypen zugrunde liegt, wird gerade dann am ehesten beruhigt, wenn man diese Annahme durch einen andern, durch sein Zuhören und Verstehen konkret erfährt. Freilich kann eine solche Beziehung die Angst auch vermehren, wenn man durch das Verhalten des Partners zusätzlich verunsichert und in Frage gestellt wird. Es geht also nicht um irgendeine Beziehung, sondern um eine Kommunikation, in der sich der Klient verstanden und bejaht fühlt. Es soll hier die Erfahrung vermittelt werden, daß man im Grunde geliebt wird. Man soll aber auch eine Hilfe bekommen, um besser zur Realität hinzufinden, die Welt und sich selbst realistischer zu sehen. Die Kommunikation, die hier hilfreich wäre, wäre deshalb nicht nur ein Gespräch vor einer "Klagemauer", sondern eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Schwächen und Behinderungen der Angst im Gespräch mit einem Partner.

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Man ist in einer solchen heilenden Kommunikation auch auf die Einsicht und die Bereitschaft des Partners angewiesen. Dieser muß bereit sein, die Belastung der eigenen Psyche mitzutragen. Damit ist auch von ihm verlangt, daß er Wohlwollen schenken kann, daß er ein reifes Verhältnis zur Realität besitzt und nicht selbst übermäßig an Ängsten und ihren Kompensationen leidet. Jedenfalls wird sich ein extrem unter Angst stehender Mensch nicht einfach wie ein Münchhausen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen können, sondern er wird Hilfe brauchen, die so geartet ist, daß sie ihm mehr Sicherheit und inneren Frieden vermitteln kann. Ein gute Hilfe kann hier oft auch das Bußsakrament sein, um übermäßige Schuldgefühle und Ängste abzubauen.

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Aber auch dort, wo man die Solidarität eines Mitmenschen erfahren darf, wird die Überwindung von Angst, besonders schwerer Angst, immer einen längeren, leidvollen Prozeß verlangen. Kübler-Ross(13) hat einen solchen Prozeß bei Menschen beschrieben, die mit der Prognose eines baldigen Todes konfrontiert wurden. Die einzelnen Phasen der folgenden Auseinandersetzung werden beschrieben als Nichtwahrhabenwollen und Isolierung, Zorn, Verhandeln, Depression und Zustimmung. Ähliches wird sich auch bei der Überwindung anderer schwerer Ängste zeigen. Der Mensch braucht Zeit, um sich mit einer solchen Situation allmählich abzufinden und innerlich aussöhnen zu können. Angst wird im menschlichen Leben immer bleiben, beim einen mehr, beim andern weniger. Und dort, wo diese Angst nicht wirklich pathologisch ist und einer psychotherapeutischen Behandlung bedarf, wird es notwendig sein, mit seinem individuellen Maß an Angst zu leben.

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3.1.3.3 Glaube und Angst

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Was kann nun der Glaube zur Bewältigung der Angst beitragen? (14) Wenn wir einen kurzen Blick in die Bibel werfen, dann ist dort an vielen Stellen von Angst die Rede. Sie betrifft nicht nur etwa die kleingläubigen Jünger, sondern auch von Jesus selbst wird bei seinem Gang zum Ölberg erwähnt, daß ihn Angst und Traurigkeit ergriff (Mt 26,37). Allerdings heißt es dazu im Hebräerbrief (5,7): "Als er auf Erden lebte, hatte er mit lautem Schreien Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden." Demnach hat Jesus, der sündlose Sohn Gottes, unter Angst gelitten. Offenbar ist das kein Widerspruch zu seiner Gottessohnschaft

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Auf der andern Seite finden wir in der Bibel immer wieder die Aufforderung, keine Angst bzw. keine Furcht zu haben. "Fürchte dich nicht!", fordert der Engel den Zacharias auf (Lk 1,13) und ebenso Maria und auch Josef (Lk 1,30 und Mt 1,20). Ebenso sagt Jesus zu dem erschrockenen Simon nach dem reichen Fischfang: "Fürchte dich nicht!" (Lk 5,10). Zuversichtlich betet deshalb auch der Psalmist (Ps 27,1): "Der Herr ist mein Licht und mein Heil: vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist die Kraft meines Lebens: vor wem sollte mir bangen?"

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Man darf wohl aus den Schriftstellen folgern, daß einerseits auch durch den Glauben die Empfindungen der Angst nicht einfach ausgeschaltet werden, daß aber anderseits der Glaube bei der Bewältigung der Angst eine grundlegende Rolle spielt. Wie ist das zu verstehen? Zunächst schaltet der Glaube Angstempfindungen nicht aus, weil sie ja auch zur Sicherung und Bewahrung der menschlichen Existenz notwendig sind. Angstempfindungen sind ja einfach die spontane Reaktion auf die tatsächliche Gefährdung der menschlichen Existenz. - Auf der andern Seite sagt der Glaube aber dem Menschen, daß sein Leben in der Hand Gottes ist, daß er auf Gott vertrauen darf und daß er hoffen darf auf ein ewiges Heil in der Gemeinschaft mit Gott. In dem Maß, in dem der Mensch aus dieser Überzeugung lebt, kann er sich immer wieder sagen, daß dadurch seiner tiefsten Angst die Spitze abgebrochen ist. Zwar werden vordergründig die verschiedensten Gefahren bleiben. Auch ein gläubiger Mensch kann sich etwa fürchten vor besonders schweren Aufgaben und Prüfungen, die ihn oder vielleicht auch seine Angehörigen, seine Kinder etc. bedrohen. Es wäre geradezu unmenschlich, wenn jemand von solchen Gefahren gar nicht betroffen wäre. Aber der Gläubige darf sich auch sagen, daß Gott mit ihm ist und daß dieser Gott ihm alles zum Heil werden lassen kann, wenn sich der Mensch nur vertrauensvoll diesem Gott hingibt. Nicht die Beseitigung der Angst ist also die Wirkung des Glaubens, sondern die Relativierung und Entschärfung, und auch diese Wirkung geschieht nicht einfach mit einer Art Automatik, sondern hängt davon ab, wie tief der Mensch glaubt und aus seinem Glauben lebt.

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Si ist dann die Aussage aus dem Ersten Johannesbrief zu verstehen (1 Joh4,18): "Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn die Furcht rechnet mit Strafe, und wer sich fürchtet, dessen Liebe ist nicht vollendet." In diesem Sinne findet auch Jesus am Ölberg in seinem Gebet Trost und ein Engel vom Himmel erscheint, der Jesus stärkt (Lk 22,43).

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Es kann dem Menschen eine große Hilfe sein, wenn er in seiner Angst einen Gesprächspartner findet, der ihn beruhigt und tröstet. Angst steht aber ganz allgemein auch im Zusammenhang mit einem größeren sozialen Kontext. So gibt es eine unterschiedliche Angstbereitschaft in verschiedenen Kulturen, nicht zuletzt in Zusammenhang mit den jeweiligen religiösen Vorstellungen. Auch in der abendländischen Geschichte finden wir kollektive Ängste, die in bestimmten Zeiten aufgetreten sind und zum Teil phantastische Vorstellungen von Hexen, Satanismus u.dgl. entwickelt haben. (15)

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Umgekehrt kann eine Glaubensgemeinschaft ein wirksames Gegenmittel gegen derartige kollektive Ängste darstellen. Es geht in solchen Zusammenhängen nicht sosehr um rationale Einsichten und Argumentationen, sondern um die gegenseitige Bezeugung innerer Einstellungen, um narrative Begründungen, um die Einbindung des Glaubenslebens in eine Überzeugungsgemeinschaft. Angst darf nicht absolut gesetzt werden. Glaubende Menschen bestärken sich gegenseitig in der Überzeugung, daß wir Gott vertrauen dürfen und daß nicht der Untergang das letzte sein wird, sondern Rettung und Heil. Gerade die Botschaft, daß Jesus die Erniedrigung der Angst bis zum letzten durchgestanden hat, darf und ein Trost sein, der uns aufatmen läßt. Sicher werden uns dadurch Bedrückungen nicht erspart, aber wir sind überzeugt, daß in aller Not Gott selbst uns nahe ist.

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Sicher ist die Kirche dieser Aufgabe, Angst überwinden zu helfen, nicht immer gerecht geworden. Ja sie hat wohl manchmal auch zur Verbreitung von Angst beigetragen. Es ist wichtig, das zu sehen und Fehler und Schuld nicht zu verdrängen, sondern zuzugeben. Die Konsequenzen aus solchen Einsichten zu ziehen, wird freilich nicht einfach zu sein, weil ja jeder Wandel neue Ängste auslösen kann. So wird die Aufgabe, das "Fürchte dich nicht!" in unserer Welt zu bezeugen, wohl ein bleibendes Bemühen der Kirche verlangen.

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3.1.4 Die Aggression

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Lit.: G.R. Bach, Streiten verbindet. Gütersloh 1970; K. Frielingsdorf, Aggression stiftet Beziehung. Wie aus destruktiven Kräften lebensfördernde werden, Mainz 1999; K. Lorenz, Das sogenannte Böse. Wien 1963; A. Mandel u.a., Einübung in die Partnerschaft. München 1971, 150ff; E.Schockenhoff, Zorn. In: NLM 885-889.

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Aggression v. lat. aggredi = angehen ist etwa das Gegenteil von Flucht. ist eine Triebkraft bzw. ein Verhalten, das auf Selbstdurchsetzung abzielt, was oft Zerstörung eines Gegenstandes bzw. Beseitigung eines Hindernisses bedeutet.

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3.1.4.1 Triebtheorie (K. Lorenz):

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Die Aggression ist ein angeborener Trieb. Sie ist biologisch notwendig (Sicherung des Nahrungsraumes in der Revierverteidigung, natürliche Auslese, Selbstbehauptung). - Einwand: Die Schuld des Menschen wird übersehen. Aggressionen, Kriege usw. scheinen biologisch notwendig zu sein und werden gerechtfertigt, ein Weg zu ihrer Vermeidung wird nicht aufgewiesen. Antwort von Lorenz: Damit die Aggressivität im Einzelfall nicht zerstörerisch wird, soll der Mensch ein Übermaß durch gezielte Abreaktion unschädlich machen (Sportveranstaltungen mit dem Gegner, sonstige Auseinandersetzungen, die nicht zerstören!).

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3.1.4.2 Lernpsychologie:

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Im Sinne der Lernpsychologie ergibt sich Aggression aus einem Lernprozeß, konkret aus falscher Erziehung. Es ist eine frustrationsfreie (antiautoritäre) Erziehung zu fordern. Auch wenn hier eine gewisse Naturanlage zur Aggressivität nicht ganz geleugnet wird, glaubt man doch in einem extremen Optimismus, durch Vermeidung von Frustrationen beim Kind sehr friedliche Menschen heranbilden zu können.

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Einwand: Ohne die Frustration wachsen die Ansprüche rasch ins Maßlose. Weil sie dann doch nicht mehr befriedigt werden können, wächst die Aggression umso stärker. "Antiautoritär" erzogene Kinder können deshalb besonders unerträglich und aggressiv sein, weil sie zu wenig gelernt haben, sich anzupassen und einzufügen.

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3.1.4.3 Vermittelnde Theorie:

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Aggression gehört zu den natürlichen Anlagen, ist aber durch Erziehung und Lernprozesse erheblich formbar. Das Ziel der Erziehung soll weder die Ausschaltung noch die übermäßige Verstärkung der Aggression sein.

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3.1.4.4Bemerkungen zur Geschichte:

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Unsere Tradition steht Aggressionen überwiegend negativ gegenüber. So stellte man z.B. Heilige (Maria, Josef, Aloisius usw.) als extrem geduldige Menschen dar, ohne Zeichen von Leidenschaft. Eine solche Sicht kann heute nicht mehr begeistern. Hier würde es sich nicht mehr um lebende Menschen handeln, sondern um blasse, unleibliche Wesen, die in dieser Form dem Leben kaum standhalten könnten.

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Diese Darstellung kommt aus der Tradition der griechisch-römischen Stoa. Dort galt es ja als sittliche Zielvorstellung, zu einer Apathie (= Leidenschaftslosigkeit") zu gelangen, in der man sich nicht mehr von seinen Leidenschaften hinreißen läßt und in einer erheblichen Distanz zu seinem inneren Gefühlsleben steht.

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Die Evangelien zeigen, daß Jesus selbst durchaus zu leidenschaftlichen und aggressiven Verhaltensweisen fähig war. Wiederholt wird von erregten Worten und Handlungen berichtet. Jesus tritt dem Satan heftig entgegen (Mt 4,10; 16,23). Er fährt die Dämonen an (Mk 1,25). Er kann vor allem gegenüber selbstgerechten und heuchlerischen Menschen scharfe Worte sprechen: "Ihr habt den Teufel zum Vater und wollt nach dem Gelüste eures Vaters tun." (Joh 8,44) Er nennt die Pharisäer Schlangenbrut (Mt 12,34) Als Petrus ihn nach einer Leidensvorhersage beiseite zieht, um ihn von solchen Gedanken abzubringen, heißt es: "Er aber wandte sich um, blickte seine Jünger an und wies Petrus mit den Worten zurecht: Weg von mir, Satan! Denn du denkst nicht was Gott will, sondern was die Menschen wollen." (Mk 8,33) Vor allem gerät Jesus auch da in Zorn, wo Menschen, die selbst Schuld auf sich geladen haben, anderen nicht verzeihen wollen (z.B. Lk 15,28; Mk 3,5). Der Zorn Jesu kommt auch darin zum Ausdruck, daß er schwere Strafen beim 1etzten Gericht androht. Im Gleichnis vom großen Gastmahl wird der Hausherr zornig, weil die Geladenen nicht kommen (Lk 14,21). - Besonders deutlich wird der Zorn Jesu in der Erzählung von der Tempelreinigung (Joh 2,13-17). Jesus macht sich eine Geißel, verschüttet das Geld der Geldwechsler, stößt ihre Tische um und treibt Mensch und Tier aus dem Tempel. Das Ideal einer christlicher Lebensweise kann offenbar nicht allein in Sanftmut und Affektlosigkeit gesehen werden.

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Anderseits war Jesus auch nicht einfach ein unbeherrschter Choleriker. Auch in seinem Zorn bleibt deutlich, daß es nicht darum geht, anderen zu schaden oder sie zu hassen. Jesus droht den Pharisäern nicht, um sie zu verdammen, sondern um ihnen ihren falschen Weg bewußt zu machen und sie zur Umkehr aufzurufen. Er droht mit dem Gericht, nicht um die Menschen in Verzweiflung zu treiben, sondern um sie zur Bekehrung zu veranlassen. Er reinigt den Tempel, nicht um die Existenz von Händlern zu zerstören, sondern um Raum für einen würdigen Gottesdienst zu schaffen. Es geht nicht um Zerstörung, sondern um Sorge für das Heil der andern. Entsprechend verkündet Jesus auch nicht einen Gott, der erbarmungslos straft, sondern einen Vater, der seinen Kindern Barmherzigkeit erweist. Jesus ist gekommen, um die Menschen vor dem kommenden Zorn zu bewahren (Mt 3,7; Thess 1,10; Röm 5,9). In diesem Willen Jesu, allen Menschen zu dienen und sie zum Heil zu führen, liegt die Rechtfertigung für seinen Zorn.

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 ##4 3.1.4.5 Systematische Überlegungen:

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Aggression hat an sich einen ambivalenten Charakter. Sie kann konstruktiv oder destruktiv sein. Als Emotion verbindet sie beide Aspekte. Die Tradition hat eher den destruktiven gesehen und Aggression danach negativ bewertet.

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Die Motivationen schließen Freiheit nicht aus, sondern liefern Energie für das menschliche Verhalten. Sie müssen sich aber guten sozialen Beziehungen einordnen. Die Verdrängung von Emotionen führt zu deren unkontrollierter Wirksamkeit im Unterbewußten.

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Emotionen können unwillkürlich das richtige Verhalten erleichtern. Die Mutter wird aggressiv, wenn ihr Kind bedroht ist. Jüngere Geschwister wehren sich gegen ältere. Wichtige Werte werden besonders engagiert verteidigt. So sind z.B. Religionskriege oft besonders grausam.

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Wo Emotionen nicht richtig entwickelt sind (kein Ehrgeiz, Gleichgültigkeit) kommt es zu Leistungsschwächen. Wo sie verdrängt sind, kommt es zu zerstörerischen Aktivitäten (exzessive Verhaltensweisen ohne entsprechenden Anlaß). Motivationen müssen kultiviert werden und unter der Kontrolle von Wohlwollen und Liebe bleiben, ja sie müssen sogar deren Ausdruck sein.

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3.1.4.6 Regeln im Umgang mit Aggression: (Nach G.R. Bach und A. Mandel u.a.):

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a) Auf Vorzeichen achten (Zuschlagen der Türe, auf der Straße ausweichen etc.) und einander helfen, ins Gespräch zu kommen.

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b) Äußerungen des Ärgers dürfen den anderen nicht verletzen und unangenehme Verhaltenskonsequenzen provozieren, sonst vergrößert sich der Konflikt. Man muß versuchen, Vorwürfe in einer schonenden Weise so nüchtern und möglichst objektiv vorzubringen, daß der andere nicht zusätzlich gereizt wird. Er soll vielmehr verstehen, daß man ihm nicht wehtun oder sich an ihm rächen will.

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c) Aggressionen sollen von innerem Druck entlasten und indirekte Ausdrucksformen überflüssig machen. Diese (z.B. Schmollen) dauern meist länger und belasten die Partnerschaft mehr als eine kurzfristige, klare Auseinandersetzung. Hingegen ist es oft nicht das Beste, zu schweigen, den Ärger in sich weiterarbeiten zu lassen und dem andern aus dem Weg zu gehen. Das kann den zwischenmenschlichen Beziehungen auf die Dauer sehr schaden.

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d) Die Aggression soll möglichst zu einem Gespräch führen, in dem die störenden Punkte geklärt werden. Häufig wissen Konfliktsgegner gar nicht genau, was einer gegen den andern hat. Man interpretiert dann Falsches in den andern hinein und hält ihn für bösartiger als er ist. Hier könnte ein klärendes Gespräch oft helfen. Man sollte den andern so positiv wie nur möglich einschätzen. Böswillige Unterstellungen zerstören die Beziehung. (Vgl. auch den Stil politischer Auseinandersetzungen!

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e) Allerdings ist es auch möglich, daß der Gegenstand des Konflikts nicht so leicht zu beseitigen ist. Der andere kann sich vielleicht in dem betreffenden Punkt nicht mehr ändern. Wenn man ihm nun ständig einen solchen Fehler vorhält, wird das leicht als Ablehnung der Person selbst empfunden. Ein Gespräch ist aber nur dann sinnvoll, wenn eine Besserung möglich (und zu erwarten) ist, nicht aber dann, wenn es voraussichtlich eine Verschlechterung bewirkt.

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f) Zu beachten ist die "Gemeinderegel" bei Mt 18,15-17: Zunächst ist ein Konflikt unter vier Augen zu klären. Wenn das nicht zum Ziel führt, wenn man sich nicht ernst genommen fühlt etc., soll man Zeugen oder auch eine größere Öffentlichkeit einbeziehen.

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g) Destruktiv sind Auseinandersetzungen, die über die genannten Ziele hinausgehen: den andern schlagen, ihm Dinge sagen, die ihm sehr weh tun, absichtlich seine empfindlichen Stellen treffen wollen. Ironische Beleidigungen zeigen oft, daß man dem andern nicht vergeben kann. Sie nehmen ihm zusätzlich die Möglichkeit, sich sachlich zur Wehr zu setzen. Ein Gespräch kann auch dadurch vereitelt werden, daß man auf einen Vorwurf sofort durch Gegenklagen antwortet. Störend sind auch Generalisierungen: "Du machst das ja immer so!" Überhaupt ist es in diesem Zusammenhang besser, den "Du-Stil" zu vermeiden und dafür im "Ich-Stil" zu sprechen: "Das verletzt mich, tut mir weh, wie Du mich behandelst!" - Gewöhnlich soll man Streitigkeiten auch nicht in Gegenwart Dritter austragen, weil das eine zusätzliche Bloßstellung bedeutet. Es kann aber sein, daß z.B. der schwächere Teil das bewußt sucht, um Unterstützung zu bekommen.

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h) Den andern nicht demütigen: man darf den andern nicht neu beleidigen, indem man ihm sein Versagen und seine Unterlegenheit spüren läßt. Man kann etwa einen Tadel mit Lob verbinden. (Ich schätze Dich sonst sehr!) Oder man kann auf die eigenen Schwächen hinweisen. (Ich habe diesen Fehler auch oft gemacht!) Der Ausdruck des Respektes vor dem andern schafft die Bereitschaft zur Versöhnung. Nicht den Sieger spielen!

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i) Vergeben und sich versöhnen: Es kann nicht immer Ausgleich und volle objektive gerechtigkeit hergestellt oder Wiedergutmachung geleistet werden. Trotzdem muß man den gegenseitigen Frieden wollen. Man sll auch zu Vorleistungen bereit sein, selbst wenn man riskiert, daß sie nicht belohnt werden. - Man kann allerdings nur dann wirkliche Versöhnungsbereitschaft zeigen, wenn man auch mit sich selbst versöhnt ist. Wer mit sich in einem inneren Konflikt steht, wird immer dazu neigen, diesen auch nach außen in der Beziehung zu andern auszudrücken.

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Seinen Ärger richtig zu kultivieren ist eine Kunst, die hohe Selbstbildung verlangt. Diese ist aber auch von jenen gefordert, denen Vorwürfe gemacht werden. Sie sollen in der Lage sein, die Berechtigung solcher Vorwürfe einzugestehen, nicht mit Gegenvorwürfen zu kommen und nicht den Beleidigten zu spielen. Das alles ist aber auch nicht nur eine Frage psychologischer Technik, sondern auch eine Frage der Selbstbildung und der Spiritualität.

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3.1.5 Sexualität

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3.1.5.1 Biologische Funktion:

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Während die anderen Triebkräfte mehr der Selbsterhaltung dienen, geht es hier biologisch gesehen primär um Weitergabe des Lebens. Um diese sicherzustellen, ist Sexualität auch mit anderen Motivationen (Lustbefriedigung, Aggression) verbunden.

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3.1.5.2 Psychische Funktion:

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Sexualität ist biologische Basis für Dubezogenheit. Es macht Freude, dem andern Freude zu machen. Das gilt besonders, aber nicht nur für das andere Geschlecht. In jedem Menschen steckt eine männliche und eine weibliche Komponente. Sexualität ist formbar und verlangt nicht blinde Befriedigung. Das ist hier besonders wichtig, weil es auch um andere Menschen (Partner, Kind) geht.

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3.1.5.3 Ethisch-religiöse Funktion:

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Basis für Nächsten- und Gottesliebe. Genaueres in der Sexualethik!

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3.1.6 Exkurs: Lebenskrisen

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Lit. : T. Brocher, Stufen des Lebens. Stuttgart 1977; L. Rosenmayr (Hg.), Die menschlichen Lebensalter. Kontinuität und Krisen. München 1978; H. Schreiber, Midlife Crisis. Die Krise in der Mitte des Lebens. München 1977; G. Sheehy, In der Mitte des Lebens. Die Bewältigung von vorhersehbaren Krisen. München 1976.

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Motivationen sind Triebkräfte für den einzelnen Akt: Hunger, Aggression, Schmerz usw. Aber diese Motive streben in verschiedene Richtungen und genügen nicht, ein Leben sinnvoll zu gestalten. Es geht für den Menschen darum, diesem Leben eine Richtung zu geben und die Motivationen dieser Zielsetzung ein- und unterzuordnen. Die Motivationen sind auch keine feststehenden und gleichbleibenden Größen. S. Freud spricht vielmehr von einem "Triebschicksal". Dabei sind an die menschliche Freiheit oft hohe Anforderungen gestellt. Wenn man seiner Natur und seinen Wünschen einfach freien Lauf läßt, muß das zur Desintegration der Bestrebungen führen, so daß sinnvolle Wertziele nicht mehr möglich sind. Wenn man hingegen die Natur vergewaltigt, dann wehrt sie sich oder sie nimmt Schaden. (16) Wenn man sie verdrängt, kann sie sich auf unerwartete Weise umso störender bemerkbar machen. - Man kann die Motive auch so einsetzen, daß ihre Energie für höhere Ziele fruchtbar wird, als es ursprünglich in ihrer Natur zu liegen schien (Sublimation). Jedenfalls ist in der Frage des menschlichen Reifens eine zentrale ethische Aufgabe gestellt, auch wenn es in diesem Umgehen mit mir selbst nicht um das geht, was wir als "Norm" bezeichnen.

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Der Mensch muß in vielen Erfahrungen und Lernprozessen, in Handeln und Erleiden dem Sinnziel näherkommen, auf das er sein Leben ausgerichtet hat. Dabei müssen die einzelnen Triebkräfte so geformt und integriert werden, daß sie die Ausrichtung des Handelns nicht stören oder einengen, sondern unterstützen. Der Vorgang, in dem diese Integration der Antriebe geschieht, heißt Reifung.

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Allerdings ereignet sich dieser Prozeß nicht kontinuierlich, sondern in verschiedenen Phasen, die wiederholt in Krisen geraten können. Besonders die Psychologie wendet dem Ablauf dieses Prozesses wachsende Aufmerksamkeit zu. Eigenartigerweise hatte sie sich bisher vorwiegend mit der Kindheit beschäftigt. Es ist ziemlich genau erforscht, welche Lernvorgänge beim Säugling und in der weiteren Kindheit ablaufen müssen, damit der Mensch dazu kommt, mit sich selbst richtig umzugehen, sich in die menschliche Gesellschaft einzufügen und darin auch selbst ein zufriedener und glücklicher Mensch zu werden. Dieses Ziel ist freilich nicht mit 20 Jahren erreicht, sondern es ist durch immer neue Krisen und Lernprozesse hindurch anzustreben.

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1) Eine erste Krise spielt sich sicher schon in der frühen Kindheit ab. Das Kind ist zunächst ganz auf die Mutter angewiesen und erwartet, daß die Mutter ganz für es da ist. Später wird dann in ähnlicher Weise der Vater in den Wahrnehmungshorizont des Kindes einbezogen. Das Kind verläßt sich ganz und gar auf seine Eltern. Aber dann können Erfahrungen kommen, die dieses Vertrauen erschüttern. Das kann sein, wenn die Eltern das Kind mit seinen Nöten allein lassen oder zum Kind ungerecht sind. Besonders schlimm kann es sein, wenn es zu einer Ehescheidung kommt, unter der das Kind enorm leiden kann.

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Was hier das Kind schon von Anfang an allmählich immer mehr lernen muß, ist folgendes: Die Welt ist nicht so, wie das Kind es sich wünscht und erträumt. Das Kind muß vielmehr lernen, die Wirklichkeit wahrzunehmen und, soweit es in seinen kindlichen Kräften steht, sich nach der Wirklichkeit zu richten ("Realitätsprinzip").

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2) Eine besonders auffällige Krise in der weiteren Entwicklung liegt dann in der Zeit der Pubertät. Die jungen Menschen wollen sich nichts mehr sagen lassen, wollen ihre eigenen Wege gehen und hören manchmal auf eine vielleicht zweifelhafte Gesellschaft, in der sie sich bewegen, mehr, als auf den guten Rat ihrer Eltern. Auch religiös können jetzt plötzlich große Schwierigkeiten auftreten.

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Tatsächlich ist diese Phase für die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit unverzichtbar. Der junge Mensch hat jetzt das Bedürfnis, selbständig zu werden, selbst entscheiden und sich selbst verantworten zu können. Auch im religiösen Leben muß der junge Mensch durch diese Krise hindurch, um dann wieder zu seinem eigenen Glauben zu finden.

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Diese Entwicklung hat ebenfalls ihre bleibende Bedeutung für das ganze Leben. Der Mensch will sich selbst bestimmen und eigenverantwortlich leben können. Wo diese Selbständigkeit nicht genügend entwickelt ist, entsteht der Eindruck eines infantilen Menschen. Selbstverständlich gibt es Lebensformen und Lebensbereiche, in denen man sich einer Autorität unterordnet. Aber gerade dazu braucht es auch diese Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Denn sonst kommt es zu dem Menschentyp, der äußerlich oder wenigstens in seinen Gedanken ständig kritisiert, mit nichts zufrieden ist, glaubt, daß alles anders sein müsse, der sich aber in Wirklichkeit nicht auf die Notwendigkeiten der Realität einläßt. Das wäre ein Mensch, der sich gleichsam ständig in der Pubertät befindet und nicht zu einer eigenständigen, reifen Haltung hindurchgefunden hat. Es ist wichtig, daß der junge Mensch diese Probleme ausreichend ausleben kann. Er gewinnt dadurch Selbstvertrauen und Sicherheit. Wenn das aber in der Jugend nicht geschieht, ist es später schwer nachzuholen.

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3) Bei der Krise der Lebensmitte geht es um die Zeit, wo ein Mensch vielleicht schon mit 35 Jahren oder mit 40 oder 45 Jahren spürt, daß er eigentlich die Möglichkeiten seines Lebens, seiner beruflichen Laufbahn, seiner Ehe und Familie schon voll ausgeschöpft hat, und daß es jetzt keinen weiteren Anstieg in der Karriere mehr gibt, sondern allmählich mehr und mehr einen Abstieg. Vielleicht sind die glücklichsten Jahre in Ehe und Familie schon vorbei und beim Ausziehen der Kinder aus dem Elternhaus kehren allmählich Einsamkeit und Langeweile ein.

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Entscheidend für das Eintreten dieser Krise ist nicht so sehr das Alter des Körpers, sondern die Lebensposition, die man in dieser Phase gewöhnlich erreicht hat. Jetzt fängt der Mensch allmählich an, sich die Erfolge und die Werte seines Lebens nicht mehr einfach von der Zukunft zu erhoffen. Er kommt zu der Einsicht, daß, jedenfalls bei Weiterführung des bisherigen Lebensweges, schon weithin erreicht ist, was möglich ist. Wenn jemand in seinem Leben Zufriedenheit gefunden hat, dann entwickelt er zunehmend Interesse für seine Vergangenheit. In dieser Zeit fängt man oft wieder an, Klassentreffen mit früheren Schulkameraden zu organisieren und alte Beziehungen wieder zu beleben.

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Hier geht es also darum, einmal Bilanz zu ziehen und uns zu fragen, wie es denn bisher mit dem Leben gelaufen ist und ob es so weitergehen kann. Hier sind auch ernsthafte Konsequenzen für die Gestaltung des weiteren Lebens zu ziehen. Man muß sich fragen, was man im Leben ändern muß, um z.B. gesünder zu werden oder sich religiös zu vertiefen oder ein besseres Verhältnis zur Gemeinschaft zu finden. - Der junge Mensch hat ein hohes Lebenstempo. Er klettert sehr rasch die Leiter seiner Erfolge hoch und ruht sich bei diesen nicht aus, sondern setzt sich immer neue Ziele. Jetzt muß man allmählich einsehen, daß es in diesem Tempo und in dieser Richtung nicht mehr so weitergeht.

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Ja es tritt sogar das Gefühl "von da an ging's bergab" zunehmend in das Bewußtsein. So sind die Wünsche bezüglich Ehe und Familie nicht nur im wesentlichen erfüllt, sondern die Kinder verlassen bereits wieder das Elternhaus. Die Eltern sind plötzlich mit sich allein und das Ausfallen eines Hauptinhaltes ihres Lebens, der sie seit vielen Jahren ausgefüllt hatte, hinterläßt das Empfinden der Leere. Es kann zu einer Ehekrise kommen, es kann sein, daß die Hausfrau nach Wegfall vieler Mutterpflichten sich nun unausgefüllt vorkommt und sich mit ihrer Situation nicht mehr abfinden will. Der Mann wird im Beruf jetzt oft von Jüngeren überholt. Gesundheit und Kräfte lassen allmählich nach. Die Frau fürchtet körperliche Schönheit und Attraktivität zu verlieren.

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So stellt sich die Frage, ob man mit dem zufrieden ist, was einem das Leben bisher an Erfüllung gebracht hat, und ob man dieses Leben im gleichen Sinn weiterführen soll. Manche Menschen versuchen einen völlig neuen Anfang. Sie verlassen ihren Ehepartner und gehen eine neue Ehe ein. Andere geben ihren Beruf auf und versuchen etwas Neues. Sie fangen an, zu malen, zu komponieren, Bücher zu schreiben oder auch einen neuen bürgerlichen Beruf auszuüben. Manche dieser Versuche gelingen, andere nicht. Oft sind aber auch die Verhältnisse so, daß man gezwungen ist, sich mit seinem bisherigen Leben abzufinden.

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Zu einer Lebenskrise kann es dann kommen, wenn man das bisherige Leben als nicht genügend sinnvoll erkennt. Diese Einsicht läßt sich einige Zeit, etwa durch erhöhte Aktivität verdrängen, aber wenn dann diese Hektik reduziert werden muß, meldet sich die innere Frustration umso stärker. Der tiefere Sinn des Lebens liegt nicht einfach in dem, was einem von außen geboten wird, sondern in den inneren Werten. Man kann sehr arm sein und doch glücklich. Aber wenn man das Gefühl hat, man hätte aus einem Leben mehr machen können, dann ist man leicht unglücklich.

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4. Krise des Eintritts in den Ruhestand: Plötzlich stellt sich die Frage: Wofür und für wen werde ichjetzt noch gebraucht, wie kann ich mein Leben noch sinnvoll gestalten. Diese Fragen sind um so schmerzlicher, je weniger man sich auf diese Zeit vorbereitet hat, je weniger Interessen außerhalb des eigenen Berufes man gepflegt hat, die man jetzt noch weiterführen kann. Insbesondere wäre es wichtig, daß man noch genügend freundschaftliche Beziehungen weiterführen kann. Denn im Alter ist es schwerer, neue Interessen zu entwickeln und neue Freundschaften einzugehen. Anderseits leidet man dann um so mehr unter seiner Einsamkeit.

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Zudem melden sich in den verschiedenen Lebensphasen immer wieder Konflikte aus den frühen Lebensjahren, bis sie einmal wirklich aufgearbeitet werden. Denn oft bestehen Reste kindlicher Erwartungen, bis man einsieht, daß sie unrealistisch sind. Bei der Bewältigung der Krise der Lebensmitte geht es insbesondere um mehr Selbsterkenntnis und um Aussöhnung mit seinem eigenen Leben.

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a) Die Selbsterkenntnis betrifft hier nicht äußere Eigenschaften, sondern das Verstehen des eigenen Verhaltens und seiner Motive, sowie der Wirkung, die man auf andere ausübt.

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b) Die Aussöhnung mit seinem Leben besteht vorzüglich in der Anerkennung der eigenen Grenzen, im Annehmen der Begrenztheit der Lebensgüter. Darin liegt auch das Schöne des Älterwerdens, daß man lernt, die eigenen Grenzen anzunehmen und dadurch auch fähig wird, andere mit ihren Fehlern zu bejahen und so in einem tieferen Sinn zu lieben, als es in jüngeren Jahren möglich ist.

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Im Sinne tieferer Selbsterkenntnis und der Möglichkeit der Stellungnahme sollte man sich öfter folgende Fragen stellen:

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a) Wie bin ich an diese Stelle meines Lebens gekommen? Warum ist mein Leben so und nicht anders verlaufen?

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 b) Stimmt mein jetziges Leben mit dem überein, was ich ursprünglich einmal wollte?

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c) Was müßte ich heute tun oder ändern, um das erweiterte oder veränderte Ziel später auf anderem Wege zu erreichen? Was ist unerreichbar geworden und muß aufgegeben werden?

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d) Welchen Preis muß ich zahlen, wenn ich meine augenblickliche Lebensweise unverändert fortsetze? (Rauchen, ungesunde Lebensweise usw.)

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e) Was brauche ich für die nächsten fünf oder zehn Jahre? (Freundschaftliche Beziehungen, tiefere Erlebnisse)

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f) Welche Einsicht ist für mich am schmerzlichsten zu ertragen? (Diese Dinge werden am ehesten verdrängt, bedürfen aber umso mehr der bewußten Erkenntnis und Aufarbeitung)

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Die Krise in der Ehe: Eigentlich ist hier von Ehekrisen in der Mehrzahl zu sprechen. Das Zusammenleben von Eheleuten und ihre Beziehungen zu Kindern, die sie haben, wird auf Dauer nicht problemlos bleiben können. Es kann z.B. für einen Mann viel bedeuten, wenn er mit seiner junger Frau einige Zeit sehr glücklich ist, wenn dann das erste Kind kommt und plötzlich die Frau offenbar dem Kind mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmet als dem Mann. Wenn sich das beim zweiten und dritten Kind verstärkt und die Frau vielleicht ziemlich absorbiert ist von der Sorge um die Kinder, dann kann sich der Mann wirklich vernachlässigt vorkommen und in seiner Liebe zur Frau in eine Krise geraten. Ähnlich ist es natürlich bei den Kindern, die unter Umständen, wenn wieder ein Geschwisterchen geboren wird, in eine ganz starke Eifersucht hineingeraten. Natürlich kann es dann weitere Probleme zwischen Mann und Frau geben, wenn z.B. der Mann sich sehr stark in seine beruflichen Aufgaben hineinsteigert, von denen die Frau nichts versteht. Oder wenn gar Annäherungen an außereheliche Partner aktuell werden.

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Diese Krisen sind zu einem gewissen Teil kaum zu vermeiden und bedeuten eine erhebliche Herausforderung, aber auch eine Chance zur weiteren Reifung. Die Eheleute werden sich bewußt, daß sie sich nicht einfach gegenseitig beliebig beanspruchen können, daß sie auch lernen müssen, einmal mit ihren Wünschen zurückzutreten. Sie müssen lernen nachzugeben oder sich jedenfalls wieder zu versöhnen, wenn es zu einem Streit kommt, und all das fördert einfach das Bewußtsein, daß man sich das Leben und den Partner nicht nach Belieben richten kann, sondern daß man dankbar sein muß für alles Gute, was einem geschenkt ist, aber auch bereit sein muß, auf manches zu verzichten, was im Augenblick oder auf Dauer eben nicht möglich ist.

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Denken wir schließlich an die Krise, die es für einen Menschen bedeutet, wenn er aus dem Arbeitsleben ausscheiden und in Pension gehen muß. In einem bäuerlichen Haushalt kann das auch die Gestalt haben, daß an die Jungen übergeben wird und nun die alten Menschen sich plötzlich überflüssig vorkommen. Auch diese Krise ist eine Möglichkeit zu einer weiteren Reifung und Vertiefung des Lebens. Man ist vielleicht manchmal zu sehr in unserer beruflichen Leistung aufgegangen und hat darüber manches vergessen, was wesentlich wäre. Jetzt wird man darauf gestoßen, daß man sich neu besinnen muß.

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Auch diese Erfahrung ist für die weitere Reifung des Charakters wichtig. Man sollte sich in dieser Phase nicht gehen lassen und sich nun einfach der Einsamkeit überlassen, sondern man sollte sich hier bewußt bemühen, für andere ein Auge zu behalten, auf andere zuzugehen, nicht nur den Dienst der Gemeinschaft zu erwarten, sondern selbst der Gemeinschaft auch etwas zu geben.

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Es gibt noch manche weitere Krisen im menschlichen Leben, z.B. den Punkt, wo ein Schwerkranker einsieht, daß der Tod unmittelbar bevorsteht, den Tod eines Ehegatten, den Verlust eines Kindes, berufliches Scheitern, Mißlingen einer Ehe, die Erfahrung, geringgeschätzt zu werden, das Verfehlen wichtiger Lebensziele usw. Alle diese Krisen stellen an den Menschen ganz grundsätzliche Sinnfragen. Liegt der Sinn nur im äußeren Gelingen des Lebens, im Beruf, im Wohlstand, im Genuß, im Ansehen oder kann man hier einen tieferen Sinn sehen?

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Es geht bei den Gehalten der Lebenskrisen letztlich darum, daß wir lernen, nicht in einer Traumwelt zu leben und in kindlichen Allmachtsphantasien, sondern daß wir uns auf die Wirklichkeit einstellen. Wir müssen lernen, unseren Platz im Leben mit all seinen Grenzen und Beschwernissen anzunehmen. Wir müssen lernen, Einsamkeit zu ertragen im Glauben, daß wir von Gott geliebt sind. Wir müssen lernen, ja sagen zu können zum Tod. Die Lebenskrisen sollen uns aber auch bewußt machen, daß wir unser Leben nicht einfach selbst in der Hand haben und mit Sinn erfüllen können, sondern daß das Glücken unseres Lebens immer ein Geschenk ist, für das wir dankbar sein müssen. Die Dankbarkeit gegenüber dem Leben ist eine unverzichtbare Haltung menschlicher Reife. Unreif sind jene, die ständig etwas auszusetzen haben und sich nicht in ihre Grenzen einfügen können. Wir müssen weiter lernen, selbständige, eigenverantwortliche Menschen zu werden, die nicht ständig andere brauchen, sondern selbst einen konstruktiven Beitrag für andere leisten können. Wir müssen lernen, tolerant zu werden. Das heißt nicht, daß uns alles gleich ist, was andere denken, sondern daß wir den andern annehmen, auch wenn er anders denkt oder anderes anstrebt, als es mir gefällt.

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3.2 Soziale Motivationen

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Die sittliche Freiheit steht nicht in Gegensatz zu den Motivationen, sondern bezieht sie in ihren Sinnentwurf ein. Das gilt für die psychischen Motivationen, aber auch für soziale Einflüsse. Diese sollen nicht einfach abgeschirmt, sondern als Kraftquellen für das eigene Handeln nutzbar gemacht werden. Freilich darf man von solchen Einflüssen nicht unkritisch abhängig werden, sondern muß sich selbst verantwortlich die Ziele seines Handelns setzen, um sich mit seinem Verhalten identifizieren zu können.

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Die Beeinflussung des menschlichen Verhaltens beginnt im vorgeburtlichen Leben und zeigt sich nach der Geburt immer stärker, auch im Einfluß auf Emotionalität und Gewissen. Besonders wichtige Formen der Einflußnahme sind Norm, Rolle, Gesetz, Macht und Autorität.

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3.2.1 Die Norm

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Lit.: H. Oberhem, Norm. In: Wörterbuch christlicher Ethik, Freiburg 1975, 193-198;. H. Popitz, Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, Tübingen 1967; G. Spittler, Norm und Sanktion, Olten 1967; Th. Luckmann/Pl. Berger, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 31972.

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Oft wird unter Norm eine individualistisch begründete Handlungsregel verstanden, die sich aus der sittlichen Einsicht des einzelnen ergibt. In diesem Sinn zeigen manchmal auch moraltheologische Normierungstheorien, wie das sittliche Subjekt die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten gegeneinander abwägt und dann jene als verpflichtend erkennt, die gegenüber anderen das größere Gut bzw. das geringere Übel darstellt.

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In dieser Tradition wird Norm auch manchmal in einem allgemeineren Sinn als sittliche Verpflichtung verstanden. Damit kann ein allgemeines sittliches Prinzip gemeint sein, wie die Aufforderung, das Gute zu tun. Das Individualistische und Rationalistische dieses Verständnisses besteht darin, daß hier angenommen wird, der einzelne Mensch leite die Norm jeweils aus seiner eigenen Vernunfterkenntnis ab, ohne dabei von anderen Menschen oder von Gesellschaft und Tradition abhängig zu sein.

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Die Soziologie interpretiert Norm primär als soziologisches Phänomen (nicht als ethisches oder theologisches). Sie ist dabei aber genauer und differenzierter.

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Soziologische Definition der Norm: "Eine Norm ist eine allgemein anerkannte und in der Mehrzahl der Fälle befolgte Regel für das Zusammenleben der Menschen in Gruppen."

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Erklärung: Normen entstehen nicht einfach nur durch die rationale Einsicht des einzelnen, sondern insbesondere das Kind und der Jugendliche übernehmen sie im Prozeß der Sozialisation von den Erziehern und der Umwelt. Voraussetzung dafür ist, daß die betreffenden Normen von den Erziehern selbst und von der Umwelt anerkannt werden. - Ähnlich ist es, wenn man sich irgendeiner Gruppe anschließt, etwa einem Kegelklub, einer Ordensgemeinschaft, der Gemeinschaft der Studierenden an einer Fakultät usw. Auch hier übernimmt man Normen unter der Voraussetzung, daß sie von den anderen anerkannt sind und deshalb auch dem neu hinzukommenden Mitglied verbindlich auferlegt werden.

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Die Norm muß in der Mehrzahl der Fälle befolgt werden, weil sonst nicht mehr deutlich genug zu sehen ist, ob die betreffende Gemeinschaft tatsächlich die Beobachtung dieser Norm verlangt. Wenn allerdings Normen häufig übertreten werden, dann ist zu unterscheiden, ob das im Bewußtsein der Rechtmäßigkeit dieser Übertretung geschieht oder ob es nur mit schlechtem Gewissen geschieht. Solange das schlechte Gewissen mit der Übertretung verbunden ist (z.B. bei Lügen), setzen auch häufige Übertretungen die Norm nicht außer Kraft.

624
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Es geht dabei um eine Regel für das Zusammenleben der Menschen in Gruppen. Es geht also nicht um eine Verpflichtung im Bereich der reinen Intentionalität, sondern um Verhaltensweisen, die nach außen erkennbar sind und von anderen beurteilt und beeinflußt werden können.

625
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Wie werden in diesem soziologischen Verständnis Normen erkannt und übernommen? Beim Kind (vgl. Gewissensentwicklung!) werden die ersten Normen in einer Art Dressur durch positive und negative Sanktionen erlernt. Das Kind wird belohnt, wenn es sich so verhält, wie es die Mutter erwartet und verlangt, es wird bestraft, wenn es gegen den Willen der Mutter handelt. Diese Sanktionen können natürlich beim heranwachsenden und erwachsenen Menschen sehr viel feinere Formen annehmen. Eine sehr wirksame Sanktion wäre, wenn man ausgelacht wird, Bewunderung erntet, wenn man finanziell bestraft wird oder die Gunst der Vorgesetzten gewinnt usw. Inhaltlich handelt es sich bei den Normen nicht um bloße objektive Sachnotwendigkeiten, sondern um Verhaltensweisen, die von der Umgebung als erforderlich betrachtet werden. In diesem Urteil der Gruppe ist natürlich auch subjektive Deutung und eine ganz bestimmte Tradition mit eingeschlossen. Deshalb werden u.U. gleichlautende Normen (z.B. das Verbot, einen andern zu beleidigen) in den verschiedenen Kulturen, etwa bei Südländern, bei Menschen der unteren oder der obersten Gesellschaftsschicht, bei Chinesen usw. jeweils verschieden ausgelegt.

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Die geschichtliche Perspektive der Norm: Eine Norm entsteht nicht in einer zeitlos zu verstehenden Einsicht, sondern oft in einem langen historischen Prozeß. Dazu einige Beispiele:

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a) Normierung des Spuckens: Im Mittelalter verlangte der Anstand, daß man es vermied, einen andern beim Spucken zu treffen. Später wurden dann Spucknäpfe aufgestellt, schließlich war das Spucken mindestens in Gegenwart anderer überhaupt verpönt.

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b) Verbot des Tötens: Als Ausnahme galt im Mittelalter das selbstverständliche und kaum eingeschränkte Recht der Obrigkeit, bei den verschiedensten Vergehen die Todesstrafe zu verhängen. Später wurde die Legitimität der Todesstrafe mehr und mehr in Frage gestellt. Heute halten es viele für unerlaubt, auch nur ein Tier zu töten. (Vgl. auch die Bewertung des Duells!)

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c) Schamhaftigkeit: Im Lauf der Zeit hat sich die Auffassung davon, was bei der Kleidung als anständig oder schamlos zu gelten hat, drastisch verändert, einmal in Richtung einer größeren Strenge, einmal in Richtung großer Liberalität.

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Normen sind also nicht bloß Ergebnis einer scharfen intellektuellen Einsicht, sondern sind wesentlich auch durch einen oft sehr differenzierten und vielfältigen sozialen und geschichtlichen Prozeß bedingt. Die Erfahrungen, die man mit einer Norm macht, lassen sie dann auch wieder neu sehen. Das ist besonders zu beachten, wenn Normverhalten geändert werden soll, bzw. wenn man das Verhalten gegenüber einer Norm kritisiert.

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 Wir verstehen Norm im Sinne einer strukturierten Anforderung:

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a) als unmittelbare sachliche Notwendigkeit: Ein normwidriges Verhalten hat unmittelbar negative sachliche Folgen, ist also ein objektives Übel. (z.B. schädigt ein Diebstahl den Besitzer). - Die sachliche Notwendigkeit kann je nach Situation stark variieren: z.B. wenn es darum geht, einem Kranken die Wahrheit zu sagen! Dennoch muß es eine einheitliche Norm geben, die allgemein gilt. Die Norm hat eine Entlastungsfunktion: Von der Sache her wären manchmal verschiedene Lösungen möglich (z.B. Strafen für ein Delikt, Rechtsfahren auf der Straße!). Aber weil es eine gewisse Einheitlichkeit des Verhaltens geben muß, wird durch die Norm eine bestimmte Verhaltensweise vorgeschrieben. Der einzelne wird dadurch von der Aufgabe entlastet, in oft komplexen und unüberschaubaren Situationen die optimale Verhaltensweise zu finden und sich darüber mit anderen zu verständigen.

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b) als soziale Forderung: Die Übertretung einer Norm gefährdet die guten Beziehungen zu den Mitmenschen, verstößt also gegen das Gemeinwohl und gegen das Eigenwohl. Die sachlichen Forderungen begegnen mir immer in der Interpretation durch die Gesellschaft. Die Erfüllung der Norm ist insofern auch ein Zeichen meiner Identifikation mit der Gesellschaft.

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c) als Forderung Gottes: Ich muß versuchen, dem Anspruch der Norm so zu entsprechen, wie es die Haltungen der Liebe, der Hoffnung und des Glaubens sowie der christlichen Grundwerte (Freiheit, Toleranz, Achtung der Person usw.) verlangen. Darin vermittelt sich die Beziehung zu Gott. Die Übertretung einer Norm verstößt insofern nicht nur gegen die Nächstenliebe, sondern auch gegen die Gottesliebe und ist dann Sünde. Allerdings verpflichtet nicht unmittelbar die konkrete Inhaltlichkeit einer Norm, sondern der darin gegebene Anspruch Gottes. Deshalb kann es im konkreten Einzelfall sein, daß man dem Anspruch Gottes nicht durch eine buchstäbliche Erfüllung der Norm gerecht wird, sondern durch eine Handlung, die vielleicht dem Sinn der Norm, also dem Gebot der Nächstenliebe, entspricht, nicht aber dem Buchstaben ("Epikie!").

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Eine Norm kann aus verschiedenen Motiven beobachtet werden (Anpassung, Angst, Bequemlichkeit, Gedankenlosigkeit, Heuchelei, Interesse am Gemeinwohl usw.). Nur insofern in der Beobachtung der Norm ein Ja zu Mitmensch und Gemeinschaft enthalten ist und darin symbolisch das Ja zu Gott, hat die Beobachtung der Norm einen sittlichen Wert. Andernfalls kann immer noch ein hoher sozialer Nutzwert gegeben sein. So ist z.B. die Beobachtung bestimmter Verkehrsregeln oft lebenswichtig, ohne daß damit ein eigentlich sittlicher Wert verbunden sein müßte.

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Da die Norm von der Gesellschaft durch das Gewissen an den einzelnen herangetragen wird, verpflichtet sie auch dann, wenn dieser nicht alle Gründe für die Geltung dieser Norm erkennt. Eine bestimmte Vorfahrtsregel im Straßenverkehr gilt auch dann, wenn der einzelne nicht recht einsehen will, warum sie notwendig ist. Die Gültigkeit einer Norm ist nur dann in Frage gestellt, wenn jemand positive Gründe hat, die ihn zur Übertretung veranlassen. Diese Gründe müssen entsprechend gewichtig sein und Gegengründe überwiegen. Würde man eine Norm schon deshalb in Frage stellen, weil man ihre Begründung nicht genügend erfaßt, dann würde man damit fordern, daß jeder mit der betreffenden Verhaltensweise erst solange experimentiert, bis er - vielleicht aus schwerem Schaden lernend - dazu kommt, die Sinnhaftigkeit dieser Norm voll zu begreifen. Die Norm verpflichtet den einzelnen eben nicht nur aufgrund einer rationalen Sacheinsicht, sondern sie verpflichtet zunächst aufgrund der Zugehörigkeit des einzelnen zu der betreffenden Gemeinschaft oder Gesellschaft.

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Es gibt neben der sittlichen Norm, die eine allgemeine Handlungsregel ist, auch eine individuelle sittliche Verpflichtung, die man nicht als Norm bezeichnen kann. So kommt z.B. jemand zu der Gewissenseinsicht, daß er Priester werden sollte, oder daß er in einer bestimmten Situation jemandem verzeihen sollte usw. Ebenso sollte man allgemeine Prinzipien (Tue das Gute!) nicht als Norm bezeichnen, weil sie nicht durch soziale Sanktionen in dieser allgemeinen Form gesteuert werden, sondern nur in bestimmten Konkretisierungen von der Umwelt gefordert werden.

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3.2.1.1 Normative Kraft des Faktischen

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Aus faktischen Gegebenheiten läßt sich nicht ohne ein weiteres Prinzip ein Sollen ableiten (naturalistischer Fehlschluß). Rein empirische Feststellungen genügen noch nicht zu einer Norm, trotzdem haben sie eine Bedeutung für das sittliche Handeln. Mit der "normativen Kraft des Faktischen" ist aber nicht nur das "sekundäre Naturrecht" gemeint, also die Tatsache, daß eine Veränderung einzelner Sachgegebenheiten auch eine Veränderung von Normen bewirken kann. Vielmehr denkt man dabei gewöhnlich auch an einen Wandel des Bewußtseins, wenn z.B. gesagt wird, daß es im Gegensatz zu früher, heute nicht mehr zulässig wäre, wenn Eltern den Ehepartner für ihren Sohn oder ihre Tochter aussuchen. Manche befürchten deshalb auch, daß eine Anerkennung der "normativen Kraft des Faktischen" bedeuten würde, daß man einfach jede Änderung der öffentlichen Meinung in sittlichen Fragen unkritisch mitmachen müsse; das ist sicher nicht zulässig. Dennoch ist folgendes festzustellen:

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 a) Das tatsächliche Verhalten beeinflußt die Erwartungen.

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b) Wer sich dem Verhalten der Mehrheit anpaßt, wird eher positive Reaktionen der Gesellschaft auslösen.

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 c) Die Rechtsansprüche der Gemeinschaft orientieren sich weitgehend am Verhalten der Mehrheit.

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 d) Das Gewissen des einzelnen wird besonders in der Erziehung vom Verhalten der Umgebung geformt.

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e) Selbst wenn das faktische Verhalten sittlich zu tadeln ist, wird dadurch das Gewissen beeinflußt und die Verantwortung des einzelnen gemindert.

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 f) Das faktische Verhalten kann die Form einer verpflichtenden Gewohnheit annehmen.

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g) Unterscheide zwischen dem faktischen Verhalten an sich und einem Verhalten mit dem Bewußtsein der Rechtmäßigkeit. Normativ ist eher das sittliche Bewußtsein einer Gruppe als das bloß faktische Verhalten ohne solches Bewußtsein.

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Die soziale Bedingtheit des Ethos ist freilich nicht unbegrenzt. Der einzelne ist ihr nicht restlos ausgeliefert. Es bleiben Möglichkeiten der Kritik an der öffentlichen Meinung:

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a) Die Pluralität sittlicher Auffassungen erlaubt einen kritischen Vergleich verschiedener Positionen und eine gegenseitige Relativierung.

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b) Besonders wichtig ist die Kenntnis der Pluralität von Auffassungen im Lauf der Geschichte, weil diese die Folgen des Verhaltens in einem größeren Zusammenhang sichtbar macht.

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c) Neben der Bibel bedeutet auch das Zeugnis vorbildlicher Menschen eine Kritik am Durchschnittsverhalten der Mehrheit.

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Moral ist nicht unabhängig von Gesellschaft (bzw. Kirche). Allerdings ist dadurch dem einzelnen die Verantwortung nicht erlassen, im Blick auf Bibel, Tradition, vorbildliche Menschen, aber auch mit Rücksicht auf empirische Einsichten das Verhalten der Gesellschaft kritisch zu beurteilen und zu einer weiteren Humanisierung beizutragen.

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3.2.1.2 Spezifisch christliche Normen?

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Wenn der sittliche Anspruch eine Begründung in Gott hat, dann muß sich auch das genauere Verständnis Gottes (Dreifaltigkeit, Offenbarung in der Heilsgeschichte) auf das Verständnis des Sittlichen auswirken. Anderseits sind aber sittliche Normen eben nicht nur theologisch, sondern auch anthropologisch, sozial und geschichtlich begründet. Diese Faktoren stimmen aber in den verschiedenen Kulturen weitgehend überein. Deshalb ist nicht zu erwarten, daß es völlig exklusive christliche Normen geben könnte.

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Zudem ist ja auch die Offenbarung Gottes in der Geschichte der Menschheit nicht als etwas für die biblisch-christliche Tradition völlig Exklusives zu verstehen. Jeder Mensch ist in seinem Innersten von der Liebe Gottes angesprochen. Das Besondere der biblisch-christlichen Tradition besteht also nicht darin, daß hier Wahrheiten weitergegeben würden, die sonst völlig unzugänglich wären, sondern darin, daß diese Wahrheit von der sich selbst mitteilende Liebe Gottes im Zeugnis vom Leben und Sterben Jesu Christi in einer unüberbietbaren Weise dargestellt wird und daher auch besonders eindringlich die Antwort eines entsprechenden Glaubens und einer entsprechenden Nachfolge verlangt.

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Dieser Anspruch der Offenbarung verlangt also zunächst einen liebenden und hoffenden Glauben. Daraus ergeben sich dann an zweiter Stelle bestimmte Grundhaltungen wie Barmherzigkeit, ein bestimmter gerechtigkeitssinn, Treue, volle Anerkennung der Personwürde usw.

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Erst an dritter Stelle wirkt sich dann dieser christlich verstandene Anspruch auch in der Bildung und Gestaltung von Normen aus. Denn die Normen ergeben sich nicht einfach nur aus sachlichen Notwendigkeiten, sie stellen immer auch eine sozial vermittelte Regelung verschiedener Interessen dar. Wie diese Regelung getroffen wird, hängt auch davon ab, wozu der einzelne bereit und in der Lage ist. Wenn bestimmte Ideale z.B. dem einzelnen als unrealisierbar erscheinen, und wenn diese Auffassung in einer größeren Gruppe oder Gesellschaft geteilt wird, dann empfindet man dieses Ideal nicht mehr als verpflichtend und normierend. Wenn hingegen z.B. in einer religiös inspirierten Gruppe hohe Ideale allgemein akzeptiert werden, dann wird man auch ihren verpflichtenden Charakter anerkennen und in der Lage sein, ihm wenigstens teilweise zu entsprechen. In diesem Sinn kann innerhalb des Christentums eine andere Einsicht in sittliche Forderungen gegeben sein als in anderen Kulturräumen.

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Beispiel: Die Unauflöslichkeit der Ehe. Diese Norm braucht nicht exklusiv christlich zu sein. Man kann sich auch verschiedene Gründe denken, weshalb eine Kultur die Ehe als unauflöslich betrachtet. Es geht aber hier in sittlicher Sicht nicht nur um das juridische Faktum der Unauflöslichkeit, sondern um die Werthaftigkeit dieser Norm. Im christlichen Verständnis soll die Unauflöslichkeit der Ehe aus einer tiefen gegenseitigen Liebe erwachsen, die wiederum die Antwort auf die Liebe Gottes zu den Menschen bzw. die Liebe Christi zur Kirche (Eph 5,25) darstellt.

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Die Verbundenheit mit Jesus Christus und der Wille zur Nachfolge bewirken eine Bereitschaft, das Ideal der unauflöslichen Liebe anzuerkennen und nach Kräften anzustreben. Wo man die Ehe mehr säkular versteht, wird man nicht so leicht dazu kommen, die Unauflöslichkeit als realistische und sinnvolle Norm tatsächlich anzuerkennen, auch wenn man rein theoretisch gerne zustimmen würde, daß es am besten wäre, wenn eine Ehe dauernden Bestand hätte. Die Norm der Unauflöslichkeit der Ehe kann also insofern als spezifisch christlich betrachtet werden, als sie aus einer christlichen Motivation erwächst. Das heißt nicht, daß sie rational unverständlich wäre. Wohl aber müßte man damit rechnen, daß bei Wegfallen der Glaubensbasis das christliche Ideal so sehr an Wirksamkeit verlieren würde, daß andere Interessen stärker in den Vordergrund treten und dann die Auflösbarkeit der Ehe immer mehr als Selbstverständlichkeit betrachtet würde.

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3.2.2. Die Rolle

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Lit.: P.R. Hofstätter, Einführung in die Sozialpsychologie. Stuttgart 31963; Ders., Sozialpsychologie. Berlin 21964; R. Dahrendorf, Homo sociologicus, Köln 61967; U. Coburn-Stage, Der Rollenbegriff, Heidelberg 1973; H. Joas, Die gegenwärtige Lage der soziologischen Rollentheorie. Frankfurt 1973.

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Rolle kommt aus der Theatersprache: Papierrolle mit dem Text für einen Schauspieler. Beispiele für Rollen: Professor, Student, Hausfrau, Parteimitglied, Priester, Bischof, Kurienkardinal, Außenseiter, Geschlechterrollen usw.

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Definition: Die Rolle ist ein System von Erwartungen, die die Gruppe (Gesellschaft) einem bestimmten Individuum entgegenbringt und die es diesem ermöglicht, in stabile und gesellschaftlich anerkannte Formen zwischenmenschlichen Verhaltens einzutreten.

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 Erklärung:

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- System von Erwartungen: Menschliche Begegnungen beginnen nie bei einem Nullpunkt, sondern sie treffen auf Erwartungen der anderen Seite, die das eigene Verhalten beeinflussen. Dabei reagiert man auf diese Erwartungen indem man sie bestätigt oder enttäuscht. Diese Erwartungen wirken als Motivationen des eigenen Verhaltens. Man weiß, daß man entweder auf Ablehnung oder auf Anerkennung treffen wird.

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- Ermöglichung stabiler Formen zwischenmenschlichen Verhaltens: Wenn ich die Rollenerwartungen anderer ständig enttäusche, dann wissen diese nicht mehr woran sie mit mir sind. Diese Unsicherheit verhindert eine tiefere Kommunikation. Freundschaft verlangt, daß man sich kennt und weiß, was man voneinander zu halten und zu erwarten hat.

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- Ermöglichung gesellschaftlich anerkannter Formen des Verhaltens: Wenn man den Erwartungen anderer entspricht, ist man gesellschaftlich akzeptiert, fühlt sich bestätigt. Das hilft dem Selbstbewußtsein und der Selbstsicherheit. Es braucht einige Zeit, bis man in eine neue Rolle hineingewachsen ist.

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- Die Rolle wird durch Sanktionen gesichert: Wer aus der Rolle fällt, kann mit Geringschätzung, Verachtung, Gelächter, peinlichem Wegschauen etc. bestraft werden.

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- Gefahr: Bei zu starker Anpassung an die Rollenerwartungen anderer wird Eigenverantwortung und Identität beeinträchtigt ("Marionette"!). Zu einer guten Beziehung gehören Anpassung und Abhebung vom andern. Nur so gibt es eine fruchtbare Interaktion. Das verlangt eine gefestigte Persönlichkeitsstruktur! Jeder muß seine Rolle individuell gestalten; er darf nicht in der Bestätigung von Rollenerwartungen aufgehen, obwohl diese notwendig sein Handeln beeinflussen. Die eigene Identität ist nur dialektisch zu verstehen als richtiges Umgehen mit der eigenen Rolle.

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3.2.2.1 Unterschied zur Norm

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Die Norm regelt eine einzelne Handlung (z.B. nicht lügen). Die Rolle regelt hingegen eine umfassendere Funktion des einzelnen in einem sozialen Zusammenhang (z.B. die Rolle des Vaters in der Familie). Die Rolle schließt verschiedene Normen ein, verlangt aber auch individuelle Entscheidungen der Persönlichkeit, die nicht durch allgemeine Normen eindeutig geregelt werden können. Die Rolle als Aufgabe ist vielfältiger, elastischer und individueller zu interpretieren.

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Insofern der Mensch verschiedenen Gruppen angehört, spielt er auch verschiedene Rollen (Vorgesetzter im Betrieb, Ehemann, Vater, Mitglied im Kirchenchor usw.). Er kann sich in diesen Rollen verschieden fühlen und verhalten. Diese Rollen können sich gegenseitig beeinflussen und sehr tief auf das Verhalten des Menschen einwirken. Ein Rollenwechsel kann zu einer tiefgreifenden persönlichen Krise führen, wenn keine genügende Kontinuität der Lebensorientierung gewahrt werden kann (z.B. Änderung des Berufes, Ehescheidung und neue Heirat, Schicksal eines Flüchtlings, der in eine neue Umgebung kommt, wo er sich in eine neue Schicht integrieren soll usw.). Verlangen die verschiedenen Rollen, in denen jemand steht, gegensätzliche Verhaltensweisen, so kann es zu Rollenkonflikten und dabei gelegentlich zu psychischen Erkrankungen kommen.

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Rollen ändern sich im Lauf der Zeit, insofern der einzelne und die betreffende soziale Struktur einem Wandel unterliegt. Rollen ändern sich auch insofern als die betreffende Funktion in einer Gesellschaft an Bedeutung verliert oder gewinnt, bzw. wenn sich die benötigten Funktionen ändern. So hat sich z.B. die Rolle des Lehrers im Dorf, oder die Rolle des Priesters in der modernen Gemeinde gegenüber früher vielfach geändert.

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3.2.2.2 Ethische Aspekte der Rolle

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Rolle beinhaltet auch eine Funktionsteilung im Rahmen der sozialen Kommunikation. Der einzelne muß bereit sein, seine Rolle im Interesse des Gemeinwohls zu übernehmen. Das bringt eine Verschiedenheit von Rechten und Pflichten mit sich. Ein wichtiges ethisches Problem besteht darin, daß trotz der verschiedenen Rollen die gleiche Würde der menschlichen Person anerkannt wird. Das ist nicht durch Nivellierung der Rollen zu erreichen (z.B. gleich viel Frauen in Männerberufen), sondern letztlich nur von der Anerkennung einer transzendenten Sinngebung her.

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Die Erfüllung der Rollenerwartung kann aus verschiedenen Motiven geschehen. Sittlich handelt man nur insofern, als man die einem zugewiesenen Funktionen aus dem Geist der Liebe heraus erfüllt.

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Die Rolle bedeutet nicht eine Einschränkung der Freiheit, sondern eine soziale Einordnung des einzelnen, die für die Gestaltung der mitmenschlichen Beziehung positive, allerdings auch negative Möglichkeiten bietet (z.B. Rolle des Priesters: sie bringt gewöhnlich einen Vertrauensvorschuß, der die seelsorgerliche Arbeit erleichtert). Gefahren der Rollenerwartungen: Man darf sich eine Rolle nicht nur aufdrängen lassen und sie als Maske übernehmen, der dann die innere Einstellung nicht entspricht. Es kommt darauf an, sich mit der Rolle so zu identifizieren, daß ihre positiven Möglichkeiten verwirklicht werden können.

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3.2.3 Die Macht

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Lit.: R. Guardini, Die Macht. Versuch einer Wegweisung. Würzburg 21952; G. Ritter, Dämonie der Macht. Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit. München 61948; D. Russel, Die Macht. Eine sozialkritische Studie. Zürich 1947; R. Schwager, Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften. München 1978; P. Tillich, Die Philosophie der Macht. Berlin 1956.

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"Macht" kommt von mögen im Sinne von vermögen = können. Der Mächtige ist derjenige, der etwas kann. Dabei geht es in einem spezielleren Sinn nicht um technisches oder künstlerisches Können ("Kunst"), sondern um ein Können im Umgang mit anderen Menschen.

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Definition: Macht ist die Fähigkeit eines Menschen, seinen Willen gegenüber anderen Menschen durchzusetzen.

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In der Bibel kommt Macht manchmal in einem positiven, manchmal in einem negativen Sinn vor. So ist Gott der Allmächtige, aber auch derjenige, der Mächtige vom Thron stürzt.

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Heute wird Macht oft in einem negativen Sinn verstanden. Die Mächtigen müssen bekämpft werden (aber diejenigen, die den Kampf führen, sind selbst oft um nichts besser, wenn sie an die Macht kommen).

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Macht ist nicht einfach wertneutral, so daß sie nur durch guten oder schlechten Gebrauch eine positive oder negative Bedeutung bekommt. Der Mensch kann ja der Macht gegenüber nicht einfach neutral bleiben. Denn die Menschen, die einer Autorität durch ihre Anerkennung Macht zubilligen und verleihen, haben dabei gute oder zweifelhafte Erwartungen. Sie übergeben der Autorität nicht einfach Macht, ohne gleichzeitig von ihr einen bestimmten, auch sittlich zu bewertenden Gebrauch zu erwarten.

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Zur Psychologie der Macht: Macht kann auf den Menschen eine faszinierende Anziehungskraft ausüben. Das ist psychologisch im Streben des Menschen nach Selbstbehauptung und Selbstdarstellung begründet. Jeder Mensch möchte von anderen angenommen und geachtet sein. Gerade wenn jemand sich seines Selbstwertes nicht sicher ist, strebt er besonders nach Bestätigung, oft auch durch Machtausübung (vgl. z.B. A. Hitler).

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Allerdings ist Macht als Mittel der Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung ambivalent. Es gibt auch ängstliche und schwache Persönlichkeiten, die sich lieber einer starken Führung unterordnen. Sie haben Angst vor eigener Machtausübung, weil sie zu unsicher sind. So bildet sich in jeder Gruppe ein bestimmtes Machtprofil heraus, es entstehen Über- und Unterordnungen.

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Ähnliches wie von der Einzelperson ist auch von Gruppen innerhalb größerer gesellschaftlicher Verbände zu sagen. Auch eine Gruppe strebt nach Selbstbehauptung und Ansehen innerhalb eines Verbandes. Solche Gruppen sind z.B. innerhalb einer Fakultät die einzelnen Institute, aber auch die Gruppen der Studenten, des Mittelbaus und der Professoren. Es geht in der Auseinandersetzung solcher Gruppen nicht bloß um objektiv zu bewertende Argumente, sondern immer auch um die psychologische Selbstbehauptung.

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Nicht jeder ist der Versuchung der Macht gleich gut gewachsen. Manche werden durch sie verdorben, obwohl sie zunächst guten Willens sind. Sie haben nicht die Kraft, ihre positiven Grundsätze gegenüber der Versuchung durchzusetzen.

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Macht und Wissen: Je größer die Macht ist, desto mehr bedarf sie der Kontrolle, wenn nicht das Risiko des Mißbrauchs zu groß werden soll. Dazu ist Verantwortungsbewußtsein und Wissen notwendig. Letzteres deswegen, weil man sehr gut wissen muß, wie sich Maßnahmen auswirken, wenn man keine Fehler begehen will. Wo das Wissen fehlt, geben in einseitiger Weise die eigenen Interessen den Ausschlag. Hier liegt ein Grund für die Notwendigkeit politischer Bildung, wenn man politische Macht ausüben will und kann.

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Mißbrauch der Macht: Ebensowenig wie die Macht von vorneherein böse ist, ist sie von vorneherein gut. Sie kann auf verschiedenen Ebenen schwer mißbraucht werden: Das Versagen der Mutter in ihren Pflichten gegenüber dem Kind kann dieses für das ganze Leben schwer belasten (vgl. den Begriff der Erbsünde!). Auch die physische Macht kann einen Menschen so einengen und manipulieren, daß sein Leben dadurch schwer geschädigt wird. Macht kann den Menschen auch verführen, indem sie ihn bewegt, sich negativen Zielsetzungen anzuschließen, und korrumpieren, indem sie Idealismus zersetzt und Opportunismus fördert. Ein Mensch, der nach Macht strebt, kann auch einem Machtrausch verfallen und die Macht verabsolutieren.

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Diese Gefahren der Macht dürfen aber nicht dazu führen, daß man sich von ihr unter allen Umständen distanzieren will, um sich nicht z.B. durch politische Tätigkeit die Hände schmutzig zu machen. Denn dadurch überläßt man die Macht anderen, die sie vielleicht mißbrauchen. Es geht vielmehr darum, Macht verantwortungsbewußt von einem christ1ichen Ethos her zu gebrauchen.

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Machtverhältnisse und Rechtsansprüche: Machtverhältnisse können auch Rechtsansprüche bestimmen und verändern. Wenn z.B. die ungerechte Eroberung eines Landes Verhältnisse geschaffen hat, die praktisch nicht mehr rückgängig gemacht werden können (Vertreibung der Bevölkerung, Ansiedlung anderer Menschen, politische und militärische Stabilisierung der Situation usw.), dann können z.B. die ursprünglichen Rechte der Flüchtlinge auf die Dauer nicht mehr geltend gemacht werden. Das würde allerdings nicht für unverzichtbare Rechte des Menschen gelten.

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3.2.4 Die Autorität

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Lit.: G. Krems u. R. Mumm (Hg.), Autorität in der Krise. Regensburg 1970. S. Milgram, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Rheinbek b. Hamburg 1974. W. Molinski, Autorität. In: SN I, 445-458; A.K. Ruf, Konfliktfeld Autorität. Zur Ethik eines dialogischen Gehorsams. München 1974; J.N. Tott (Hg.), Probleme der Autorität. Düsseldorf 1967; H.J. Türk (Hg.), Autorität. Mainz 1973.

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Autorität kommt von auctor, d.h. Schöpfer, Vermehrer, Bürge. Autorität stellt eine soziale Grundfunktion dar, durch die Zusammenarbeit und Kommunikation in einer Gruppe ermöglicht und gefördert wird.

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a) Sachautorität: sozial anerkannte Überlegenheit in Wissen, Klugheit oder Können. Ihr entspricht die Bereitschaft, sich Orientierung und Rat geben zu lassen.

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b) Persönliche Autorität: sozial anerkannte Überlegenheit in personalen und ethischen Qualitäten. Ihr entspricht Bewunderung, Nachahmung, Entwicklung ähnlicher Wertvorstellungen.

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c) Soziale (Amts- oder Leitungs-)Autorität: sozial anerkannte Leitungsfunktion aufgrund rechtlicher Ermächtigungen. Ihr entspricht Gehorsam.

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Bei der Leitungsautorität sollte auch ein gewisses Maß an Sach- und persönlicher Autorität gegeben sein. Aber auch die anderen Formen von Autorität sind nicht völlig isoliert voneinander denkbar.

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In einer statischen Gesellschaftssituation wird das Handeln weithin durch Traditionen und feste Normen bestimmt. In einer dynamischen, einem starken Wandel unterworfenen Gesellschaft kommt der Leitung eine größere Bedeutung zu. Aus diesen und anderen Gründen ergibt sich heute die Forderung nach mehr Kontrolle und mehr Mitbestimmung. Allerdings kann die Gruppe durch ihre Kontrolle die Funktion der Autorität auch mindern, denn der Wille der Mehrheit ist oft schwerfällig, konservativ und modischen Zeitströmungen unterworfen. Die Einzelpersönlichkeit kann besser zwischen verschiedenen Gruppen vermitteln und Minderheiten schützen.

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Weil der Mensch nie vollkommen ist, wird es auch die Autorität nie sein. Eine übermäßig scharfe Kritik an deren Fehlern ist besonders dann verfehlt, wenn geeignetere Führungspersönlichkeiten nicht zur Verfügung stehen. Es muß deshalb ein optimaler Ausgleich zwischen der freien Eigenverantwortung der Autorität und der kritischen Kontrolle durch die Untergebenen gefunden werden. Dabei sind besonders folgende Momente zu beachten:

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a) Subsidiarität und Delegation: Übergeordnete Autoritäten müssen Funktionen abgeben, die von Untergeordneten erfüllt werden können. Dabei muß die übergeordnete Instanz der untergeordneten echte Eigenverantwortung zugestehen.

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b) Transparenz und Kommunikation: Die Autorität muß ihre Anordnungen möglichst ausreichend begründen. Es muß aber auch möglich gemacht werden, daß ihr von den Untergebenen genügend "feedback" zukommt.

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c) Die Information: Die Autorität muß bestrebt sein, jene Informationen an die Mitglieder der Gruppe weiterzugeben, die für wichtige Entscheidungen notwendig sind.

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3.2.4.1 Zur Psychologie der Autorität:

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Lit.: S. Milgram, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Reinbek b. Hamburg 1974.

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Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Anerkennung und zwar nicht nur vom einzelnen Mitmenschen her, sondern auch von der Gruppe als ganzer her. Weil nun die Gruppe in besonderer Weise durch ihre Leitung repräsentiert wird, sucht der einzelne ganz besonders deren Anerkennung. Ein Lob der Autorität wiegt besonders schwer, ebenso ein Tadel! Man bringt der Autorität auch ein besonderes Vertrauen hinsichtlich ihrer personalen, ethischen und sonstigen Qualitäten entgegen. Dieses Vertrauen kann mißbraucht werden.

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Das Milgram-Experiment zeigt, wie weit die Möglichkeiten des Mißbrauchs gehen:. Als Autoritäten auftretende Personen können den Untergebenen zu Handlungen verleiten, die er, auf sich allein gestellt, entschieden ablehnen würde.

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Es genügt nun nicht, in der Pädagogik Autorität zu kritisieren, um die mögliche Abhängigkeit von ihr einzuschränken. Auf diese Weise würde man nur erreichen, daß der einzelne statt wirklichen Autoritäten Pseudoautoritäten folgen würde. Es geht darum, den Menschen zu einer solchen Selbstsicherheit zu erziehen, daß er trotz Kommunikationsfähigkeit und Vertrauen noch genügend Distanz zur Autorität behält.

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3.2.4.2 Zur Theologie der Autorität:

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Röm 13,1f und eine lange christliche Tradition sieht im Vorgesetzten einen Stellvertreter Gottes. Besonders ist diese Sicht auch in der reformatorischen Theologie bezüglich der staatlichen Obrigkeit zu finden. Ebenso gibt es die Auffassung des Oberen als Stellvertreter Gottes in der Ordensspiritualität.

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Hier geht es nicht notwendig um eine falsche Sakralisierung der Autorität und ihrer Befehle. Es geht vielmehr um einen Zusammenhang, der dem Finden Gottes im Mitmenschen zu vergleichen ist. Wie sich in der Not des Mitmenschen der Wille Gottes vermittelt und man in der Abhilfe nicht nur dem notleidenden Nächsten dient, sondern Gott selbst, so verhält es sich auch mit der Autorität. In ihr und in ihren Anordnungen wird für den einzelnen Untergebenen konkret, was das Gemeinwohl von ihm fordert. Und indem er sich in den Dienst des Gemeinwohls stellt, entspricht er auch dem Willen Gottes. Das schließt allerdings nicht aus, daß der Obere falsche und sogar unsittliche Befehle geben kann. In diesem Fall ist vom Untergebenen nicht verlangt, daß er diese Befehle wörtlich ausführe, sondern daß er sich dem Gemeinwohl und damit dem sittlich Guten mehr verpflichtet weiß als einem vielleicht in Irrtum oder Bösartigkeit gründenden Befehl des Vorgesetzten. Allerdings ist auf der andern Seite auch anzuerkennen, daß es innerhalb eines gewissen Rahmens Sache der Autorität ist, die Erfordernisse des Gemeinwohls zu formulieren. Der Vorgesetzte ist also nicht nur insofern Stellvertreter Gottes, als er den Anspruch des Gemeinwohls darstellt und sich darin letztlich auch der Wille Gottes vermittelt; der Obere ist auch Stellvertreter Gottes, insofern es Gottes Wille ist, daß das Gemeinwohl durch das Wort der legitimen Obrigkeit interpretiert wird. Insofern ist der Untergebene gegenüber seinem Oberen auch zu Loyalität, Mitverantwortung und wohlwollender Zusammenarbeit verpflichtet.

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Wenn heute die Aussage, ein Vorgesetzter sei als Stellvertreter Gottes zu betrachten, oft nur mit Widerwillen aufgenommen wird, dann beruht das vor allem auf einem stark objektivistischen Verständnis der Moral. Denn inhaltlich kann selbstverständlich jeder Vorgesetzte schweren Irrtümern erliegen. Aber personal gesehen ist er Repräsentant des Gemeinwohls, und der Dienst an den Mitmenschen kann nicht daran vorbei, sich auch zum Gehorsam gegenüber der legitimen Autorität bereit zu finden. Die Fragen der Kritik, der Befehlsverweigerung und des aktiven Gehorsams schließen auch dort, wo sie berechtigt sind, den Respekt vor der Person der legitimen Obrigkeit nicht aus.

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3.3 Zur Ethik des Rechts

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3.3.1 Das Gesetz

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Lit.: Gesetz. In: K. Hörmann, Lexikon der christlichen Moral, 21976, 699-701; A. K. Ruf, Grundkurs Moraltheologie I (Gesetz und Norm). Freiburg 1975; B. Schüller, Gesetz und Freiheit. Düsseldorf 1966.

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3.3.1.1 Definition:

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Das Gesetz ist eine allgemein formulierte Rechtsvorschrift, nach der Staatsbürger und Behörden handeln sollen. Oder: Das Gesetz ist eine Hinordnung der Vernunft auf das Allgemeinwohl, die von demjenigen verkündet ist, der die Sorge für die Gemeinschaft trägt (Thomas I-IIq 90 a4).

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Im Gegensatz zu den bisherigen Motivationen erwächst das Gesetz weder eindeutig aus der menschlichen Naturanlage noch aus selbstverständlichen kulturellen Auffassungen, sondern es wird vom Gesetzgeber nach seinem Urteilen und Wollen erlassen. Der Gesetzgeber hat seine Vollmacht von einer Institution. Um Struktur und Wesen eines Gesetzes zu erfassen, muß gezeigt werden, daß sittliche Verpflichtungen nicht zuletzt auf sozialen Konventionen und sogar z.T. auch auf personalen Entscheidungen beruhen.

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 Beispiel:

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Zwei Menschen lieben einander. Solange sie sich das gegenseitig nicht mitteilen, bleibt diese Liebe ohne besondere Verbindlichkeit. Die Betreffenden können auseinandergehen und sich anderen Partnern zuwenden, ohne dadurch die Treue zu brechen. Wenn sie sich hingegen ihre Liebe eingestanden und dadurch tiefreichende Erwartungen und gegenseitiges Vertrauen geschaffen haben, dann sind sie einander in einer neuen Weise verpflichtet. Die Gemeinsamkeit des Wissens, die Zusage des Wortes hat eine neue Verbindlichkeit geschaffen. - Diese Verbindlichkeit erhält eine neue, noch weitergehende Qualität, wenn Freundschaft und Liebe nicht nur unter vier Augen eingestanden, sondern auch vor der Öffentlichkeit bekannt werden. Oder: Man kann zwar eine natürliche Verpflichtung darin sehen, daß die Bürger für die Leistungen des Staates Abgaben zu entrichten haben. Aber wie hoch sie sein sollen, worin also die Steuergerechtigkeit besteht, das ist mit einer gewissen Willkür vom Gesetzgeber festzulegen. Durch die Bekanntmachung dieser Entscheidung und den Konsens der Bürger bekommt die konkrete Festlegung ihre Verbindlichkeit.

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Sittliche Verpflichtungen haben also oft die Form einer sozialen Konvention, die von den einzelnen Bürgern oder auch von einer Autorität festgelegt wird. Dazu kommt ein weiteres: Manche Zielsetzungen sind zwar notwendig, können aber auf verschiedenem Wege verwirklicht werden. Zudem ist es oft erforderlich, daß man sich auf einen dieser Wege einigt (z.B. Regelungen des Straßenverkehrs, Konventionen des Anstandes, Sprache usw.). Bei manchen dieser Ziele ergibt sich der gemeinsame Weg durch Gewohnheiten und Traditionen (z.B. Formen des Grüßens).

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Manche Ziele erfordern hingegen, daß relativ oft und rasch neu geklärt wird, wie sie zu erreichen sind. So verlangt z.B. das materielle Wohl eines Volkes, daß man nicht nur auf Marktgesetze vertraut, die automatisch die richtigen Auswirkungen haben, sondern daß je nach Situation immer neu von der Regierung Gesetze erlassen werden, die die notwendige Lenkung bewirken (Subventionen oder höhere Steuern, Zölle oder Zollabbau usw.). Manche Gesetze enthalten deshalb Bestimmungen, nach denen sie in bestimmten Zeitabständen zu überprüfen und wenn nötig zu aktualisieren sind.

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Ganz allgemein ergeben sich Gesetze nicht eindeutig aus der Natur der Sache. Daraus ergibt sich höchstens die Notwendigkeit einer gesetzlichen Ordnung, aber welche von vielen möglichen Gesetzen dann erlassen werden (z.B. Rechtsverkehr oder Linksverkehr auf der Straße) muß die staatliche Autorität entscheiden. Natürlich müssen Gesetze auch rational, d.h. vernünftig und zweckdienlich sein. Aber sie sind aus den Zielsetzungen noch nicht konkret abzuleiten. Welche von verschiedenen Möglichkeiten einer Gesetzgebung gewählt wird, kann von zeitlichen Umständen, von sozialen Gegebenheiten, von der Ideologie der herrschenden Partei, von der Durchsetzungskraft der Regierung usw. abhängen. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß Gesetze möglichst einfach und verständlich und in nicht zu großer Zahl erlassen werden sollen, damit sie die Fassungskraft der Bürger nicht übersteigen.

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Gesetze sind Erfordernisse, die mit Gesellschaft und Gemeinwohl zu tun haben. Sie sind Forderungen, die von zuständigen Machtträgern formuliert werden. Sie sind Forderungen, auf die sich eine Gruppe oder Gesellschaft einigt, indem sie sie von der Autorität annimmt und anerkennt.

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 Zur sittlichen Verbindlichkeit des Gesetzes:

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 1. In einer religiös bestimmten Kultur sieht man im Gesetz den Willen Gottes (vgl. Ps 119!).

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2. Die Säkularisierung hat an die Stelle der theologischen eine politische Begründung gesetzt: Pflichtbewußtsein und Loyalität gegenüber Obrigkeit. Andere Modelle stützen sich mehr auf ein naturrechtlich verstandenes Gemeinwohl.

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3. In der Philosophie Kants wird diese Begründung noch abstrakter in einem bloßen Pflichtgedanken gesehen.

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In der Moraltheologie ist die Verpflichtung und die Bedeutung eines Gesetzes entsprechend seiner anthropologisch-ethischen Struktur zu sehen. Der letzte Grund, warum eine sittliche Verpflichtung den Menschen absolut angeht, liegt im absoluten Anspruch Gottes an den Menschen. Dieser Anspruch vermittelt sich aber in interpersonalen Beziehungen und diese wiederum in Sachnotwendigkeiten. Das Gewicht einer Verpflichtung hängt entscheidend davon ab, wieweit sich mir der verpflichtende Wille Gottes offenbart, wieweit sich der Wille des Mitmenschen bzw. einer Autorität in einem Anspruch engagiert und wie notwendig bestimmte sachliche Maßnahmen sind, um dem Willen des andern zu entsprechen. So ist der Wille Gottes umso verpflichtender, je mehr der Mensch zu der Erkenntnis gekommen ist, daß es einen Gott gibt und was dieser Gott für den Menschen getan hat. Der Wille des Mitmenschen ist umso verbindlicher, je entschiedener der Betreffende seinen Wunsch und Willen ausdrückt und die Sachgesetze sind umso drängender, je gravierender die Folgen sind, die sich aus ihrer Beachtung oder Übertretung ergeben.

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Ein Gesetz kann natürlich im Laufe der Zeit auch einen Schwund an Verbindlichkeit aufweisen, wenn die Sache bedeutungslos wird oder wenn die positiven Auswirkungen zunehmend durch negative Folgen aufgewogen werden. So kann z.B. die Einhebung eines Zolles (oder die Strafverfolgung von Schwarzarbeit) notwendig sein, um die heimatliche Wirtschaft in einer bestimmten Entwicklungsphase zu schützen. In dem Maß, wie sich die Wirtschaft konsolidiert und international wettbewerbsfähig wird, kann aber das entsprechende Gesetz bedeutungslos oder sogar nachteilig werden. Es mag zwar als Gesetz noch gelten und die Beamten mögen verpflichtet sein, es weiterhin durchzuführen. Aber weil es vielleicht vom Gemeinwohl her nicht mehr notwendig ist und für den einzelnen zudem bedeutende Nachteile bringt, kann die sittliche Verbindlichkeit weitgehend erlöschen. Die traditionelle Moraltheologie spricht dann von "Pönalgesetzen". Darunter versteht man Gesetze, die einen inhaltlich nicht mehr im Gewissen verpflichten, sondern nur noch die Bereitschaft verlangen, die entsprechende Strafe auf sich zu nehmen, wenn man bei der Übertretung ertappt wird.

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Eine solche Auffassung erweist sich zwar als begründet, ist aber nicht ungefährlich; denn man kann bei der Übertretung solcher Gesetze, besonders wenn das häufig geschieht, schweres Ärgernis geben, weil die Öffentlichkeit nicht immer genau unterscheidet zwischen der Übertretung solcher Gesetze und der Übertretung anderer, die im Gewissen verbindlicher sind.

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Im Zusammenhang mit der Legitimität von Gesetzen ist auch die Frage zu stellen: In welchem Rahmen kann die staatliche Autorität Gesetze erlassen? Selbstverständlich darf sie nicht Sündhaftes befehlen. Aber abgesehen davon ist auch nicht einfach jede Politik legitim. Wie weit hat der Staat ein Recht, Eigentum umzuverteilen? (Verteilung der Steuerlasten, Privilegien für gewisse staatliche Unternehmen, Nachteile für Bauern usw.) Kann er mit Berufung auf 51% der Wähler eine Politik betreiben, die gegen die Interessen der anderen 49% ist? Hier kann Legalität leicht in Unrecht umschlagen. Man muß mindestens versuchen, das Unrecht zu minimalisieren!

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 Was die Regierung verfügen darf, hängt von vielen Faktoren ab:

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 l. Wille und Wünsche der Mehrheit des Volkes;

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 2. Funktionieren von Staat und Wirtschaft;

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 3. Zukunftsaussichten;

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 4. Internationale Rücksichten;

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 5. Machterhaltung (Stimmen!)

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Ethik des Regierens verlangt also nicht bloß, daß man sich an die geltenden Gesetze und die Möglichkeiten der Macht hält, sondern auch, daß man sich den einzelnen Volksgruppen ernsthaft verantwortlich weiß.

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3.3.1.2 Zur Interpretation des Gesetzes

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Das Gesetz weist immer eine gewisse Allgemeinheit auf. Es will eine Handlungsregel für viele Fälle geben. Nun kann es vorkommen, daß diese Regel im Einzelfall der Situation nicht ganz gerecht wird. Hier wird es darauf ankommen, das Gesetz richtig zu interpretieren.

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a) Epikie: Epikie (von griech. epikeia=Anständigkeit, Billigkeit, Milde, Nachsicht; bzw. von epieikes=passend, angemessen, gebührend, anständig, ordentlich, nachsichtig, tüchtig) ist "jene Tugend, die den Menschen befähigt, in der Situation, in der eine Gesetzesformel aufgrund ihrer Allgemeinheit in der konkreten Situation das Gerechte nicht trifft, dennoch sittlich richtig zu handeln." (Virt, Epikie, 141). Man soll also ein Gesetz nicht dem Buchstaben, sondern dem Sinne nach befolgen, wenn der Buchstabe der betreffenden Situation nicht gerecht wird. Nach Platon hatte nur der weise Philosophenkönig das Recht, das starre Gesetz anzupassen oder zu verändern. (Politeia 294c) Später gestand er das auch dem richterlichen Ermessen zu. (Nomoi 867e) Nach Aristoteles muß jeder freie Bürger die generell formulierten Gesetze verbessern, wenn deren buchstäbliche Anwendung in einer bestimmten Situation unsinnig würde. Später spielte Epikie nur noch in den Fürstenspiegeln eine Rolle. Bei Thomas wird Epikie mit der Aequitas gleichgesetzt.

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b) Aequitas: Der Begriff Aequitas ist an sich die lateinische Übersetzung des griechischen Wortes Epikie. Aber durch den Rechtsgebrauch im lateinischen Bereich hat der Begriff Äquitas doch eine spezifische Bedeutung erhalten. Das Kirchenrecht spricht von "aequitas canonica" als von einem Prinzip der Billigkeit bei der Anwendung des kirchlichen Rechtes. Es soll also nicht der Buchstabe verabsolutiert werden, es soll nicht das Recht durch eine solche Verabsolutierung zum Unrecht werden. Man soll bei der Anwendung immer auf die Angemessenheit und Billigkeit achten.

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3.3.1.3 Aufhören der Gesetzesverpflichtung

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Die Verpflichtung eines Gesetzes hört auf, wenn es abgeschafft bzw. grundlegend verändert oder durch den Wandel der Situation unanwendbar wird. Der einzelne kann auf folgende Weise von der Verpflichtung entbunden werden:

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a) Rechtmäßige Entschuldigung: Physische oder moralische Unmöglichkeit, übermäßiger Schaden für das Gemeinwohl oder den einzelnen. ("Ultra posse nemo tenetur.")

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b) Pflichtenkollision: Wenn man gleichzeitig zwei Pflichten befolgen soll, die sich ausschließen, dann hat man die dringlichere wahrzunehmen (Wegbleiben vom Sonntagsgottesdienst wegen notwendiger Krankenpflege).

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c) Dispens: Aufhebung der Verpflichtung durch die Obrigkeit in einem bestimmten Fall. Dafür müssen Gründe vorliegen, sonst wäre die Dispens gegen die Gleichheit. Aber diese Gründe brauchen nicht so dringend zu sein wie bei einer Pflichtenkollision.

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Gesetze sind nicht eng und ängstlich auszulegen, man darf sich aber auch nicht leichtfertig über sie hinwegsetzen. Nur in einer verantwortlichen ethischen Einstellung wird man hier die richtige Mitte finden.

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3.3.1.4 Recht und Sittlichkeit

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Lit.: A. Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, Tübingen 1964.

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Säkularisiertes Rechtsverständnis versucht, auf weltanschauliche Positionen zu verzichten. Nun sind aber Recht und Moral nicht völlig von einander zu trennen (vgl. Eherecht, Abtreibung, Sexualstrafrecht). Wie verhält sich beides zueinander?

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a) Zielsetzung: In der Sittlichkeit geht es um das Heil des Menschen, im Recht um immanente Werte des sozialen Lebens; aber beides läßt sich nicht völlig trennen, weil auch die Sittlichkeit innerweltliche Aktivität verlangt und das Recht, immer ein bestimmtes Menschenbild und eine bestimmte Sittlichkeit voraussetzen muß. Wenn sich das Recht aus ethisch und theologisch bestimmten Problemen zurückzieht, kommt man zu einem Minimalismus und zu einer Nivellierung.

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b) Der Geltungsbereich: Der sittliche Anspruch, wie er im Gewissen erfahren wird, gilt immer. Das Recht klammert besonders private Probleme aus und kann nur wichtigere Fragen regeln, um dem Bürger genügend bekanntgemacht werden zu können und kontrollierbar zu bleiben. (Sparsamkeitsprinzip) Aber wie weit lassen sich privater und öffentlicher Bereich trennen? Sind z.B. außereheliche Lebensgemeinschaften bloße Privatsache oder sollten sie Gegenstand rechtlicher Bestimmungen sein? Wenn das Zweite zu sagen ist, wo beginnen dann solche Gemeinschaften einer Regelung zu bedürfen?

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c) Das Kriterium: In der Sittlichkeit geht es primär um die gute oder böse Intention, im Recht geht es primär um die Auswirkung des Handelns auf das Gemeinwohl (Sozialschädlichkeit). Aber auch für die Sittlichkeit sind die äußeren Auswirkungen des Handelns nicht belanglos und ebenso bleibt für das Recht die Intention und damit die Frage nach der sittlichen Schuld wichtig.

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Das menschliche Handeln stellt ein Symbol dar, in dem eine sittliche Intention sich verleiblicht und damit auch in vielen Fällen Auswirkungen auf das Gemeinwohl hat und von der Gesellschaft beeinflußt werden kann. Im menschlichen Handeln bilden also sittliche Entscheidung und soziale Bedeutung eine Einheit. Moral hat immer Auswirkungen auf den sozialen Bereich; rechtliche Maßnahmen haben Auswirkungen auf Gewissen- und Werteinstellung der Bürger. Sittlichkeit und Recht haben ein verschiedenes Formalobjekt und setzen verschiedene Akzente, lassen sich aber nicht grundsätzlich trennen.

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In diesem Zusammenhang sei noch auf die Theologie von Recht und Gesetz in der lutherischen Tradition hingewiesen. Dort wird in einem personalen, heilsgeschichtlichen Denken herausgehoben, daß das Gesetz dem Menschen oft seine Unfähigkeit, richtig zu handeln, bewußt macht, und daß nicht das Gesetz an sich und seine Erfüllung an sich das Heil bewirken. Es geht hier um eine theologische Interpretation der personalen und das Heil betreffenden Relevanz des Gesetzes, eine Betrachtungsweise, die in der katholischen Tradition mit ihrer vorwiegend objektiven Sicht vielfach nicht verstanden wurde.

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3.3.1.5 Der Zielcharakter des sittlichen Anspruchs

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Lit.: B. Häring, Zielethik. In: LThK 10, 1369.

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In seinem Bemühen, eine juridische Betrachtung der Moral zu überwinden, hat B. Häring die Unterscheidung zwischen Ziel- und Erfüllungsgebot eingeführt. Zielgebote sind Ideale, auf die der Mensch zwar verpflichtet ist, die er aber nie völlig verwirklichen kann (z.B. vollkommen zu sein wie der Vater im Himmel: Mt 5,48). Sie entsprechen der Transzendenz Gottes, der die Begründung jedes sittlichen Anspruches ist. Erfüllungsgebote sind hingegen Mindestforderungen, die der Mensch erfüllen muß (z.B. Tötungsverbot).

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Allerdings läßt sich beides nicht exakt trennen. Denn eine Norm enthält auch Werte, die ein Ideal darstellen. Das Tötungsverbot besagt z.B. positiv, daß man das Leben achten muß. Das läuft letztlich auf das Liebesgebot hinaus! Umgekehrt muß ein Ideal in die konkrete Form von Gesetzen oder Normen gebracht werden, um praktisch anwendbar zu sein. Jede konkrete Norm enthält also eine ideale Zielvorstellung und gleichzeitig eine konkrete Handlungsanweisung im Sinne des Erfüllungsgebotes.

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Daraus folgt, daß die Erfüllung einer Norm nicht eindeutig aussagt, wie weit man das sittliche Ideal verwirklicht, bzw. ob man überhaupt einen sittlichen Akt gesetzt hat. Umgekehrt kann man dem sittlichen Ideal näherkommen, auch wenn man vielleicht die Norm nicht zu erfüllen vermag.

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Vor allem ging es in der Diskussion um das Zielgebot darum, daß der Mensch immer nur soweit verpflichtet sei, wie er die moralische Kraft besitze. Wenn er darin überfordert ist, ist er auch sittlich nicht gebunden. Es wurde diskutiert, ob es Normen gäbe, die man nur insoweit beobachten müsse, als man dazu moralisch fähig sei (z.B. Unauflöslichkeit der Ehe).

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Kritik: Tatsächlich sind Ideale nur annäherungsweise zu verwirklichen. Der Mensch ist nur dazu verpflichtet, den nächsten Schritt in der Richtung des Ideals zu machen, soweit seine Fähigkeiten reichen. Aber Normen und Gesetze müssen auch als Anforderung und Rechtsanspruch der Gemeinschaft gesehen werden. Wenn man Normen aus moralischem Unvermögen übertritt, widerspricht man dennoch den Anforderungen der Gemeinschaft. Man ist dann zwar vielleicht nicht unmittelbar moralisch schuldig geworden, aber man kann sich in diesem Handeln auch nicht als gerecht betrachten, weil man doch gegenüber den Rechtsansprüchen der Mitmenschen schuldig geworden ist. Diese Schuld kann auch in einem schlechten Beispiel mit seinen sozialen Auswirkungen liegen (z.B. bei Ehescheidung).

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Richtig ist die Betonung des dynamischen und prozeßhaften Charakters der Moral. Das Ideal der Liebe verlangt eine ständige Vertiefung. Man kann nicht von jedem Menschen das gleiche erwarten, man muß ihn pastoral dort abholen, wo er steht. Dieser dynamische Charakter der Moral geht nicht voll in die Gesetze und Normen ein. Die gesellschaftlichen Erwartungen verlangen jeweils eine Art Mittelmaß, das die überwiegende Mehrheit leisten kann. Die Theorie von B. Häring berücksichtigt einseitig die personalen Aspekte des Handelns und trennt sie zu sehr von den sozialen Aspekten.

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3.3.2 Theologische Rechtsbegründung

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Lit.: W. Pannenberg, Christliche Rechtsbegründung. In: A. Hertz u.a. (Hrsg.) Handbuch der christlichen Ethik II, Freiburg 1978, 323-338.

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Das staatliche Recht stellt in vielfacher Hinsicht einen Kompromiß zwischen den Interessen von Gruppen und einzelnen dar (z.B. Verteilung von Steuerlast u.ä.). Gesetze können damit teilweise, überwiegend oder eindeutig Unrecht sein. Woher kommt dieses Unrecht und wie ist es zu erkennen? Gibt es ein Kriterium für die Richtigkeit des Rechts. Gibt es ein Kriterium dafür, wie man Gesetze auszulegen hat und in welchem Sinn sie der Gesetzgeber zu formulieren hat. Solche Fragen können letztlich nur noch von der Theologie her beantwortet werden.

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In der Antike beriefen sich Gesetzgeber in der Regel auf Götter oder sakrale Institutionen (Orakel): Hammurabi v. Babylon berief sich im 18. Jh. v. Chr. auf Enlil, Marduk und den Sonnengott Schamasch. Minos v. Kreta berief sich auf Zeus. Lykurg v. Sparta oder Solon v. Athen beriefen sich hingegen auf das Delphische Orakel und damit auf Apollo.

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Nach dem AT empfängt Mose den Dekalog von Jahwe. Natürlich hatte dieser Dekalog eine lange Vorgeschichte und drückt eindeutig zeitbedingte Auffassungen (z.B. Frau als Besitztum des Mannes) aus. In dem Sinn hat der Dekalog durchaus eine irdisch-historische Entstehung. Dennoch bekundet der Dekalog den Willen Gottes. Dadurch daß Gott den Menschen liebt, verlangt er auch dessen Gegenliebe und die Zuwendung des Menschen zu seinem Nächsten. Der letzte Verpflichtungsgrund des Gebotes der Nächstenliebe liegt also in Gott. Um dieser Nächstenliebe willen sind nun auch die Gebote und Gesetze zu beobachten. Denn sie sind um des Gemeinwohles willen notwendig. Aus dem gleichen Grund ist auch Gehorsam gegen die Obrigkeit notwendig.

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Die Stoa hatte davon gesprochen, daß der Mensch mit dem Verlust des Goldenen Zeitalters auch die dem Naturrecht gemäße Lebensform verloren hatte. Das Christentum sah in diesem Gedanken eine Ahnung vom Sündenfall. Dieser hatte die ursprüngliche Freiheit und Gleichheit des Menschen eingeschränkt. Besonders zeigt sich das in den Institutionen von Eigentum, Sklaverei, hierarchischer Familienordnung und Staatsgewa1t. Diese Institutionen stellen demnach eine Folge und zugleich ein Heilmittel gegen die Sünde dar.

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Während im Altertum und Mittelalter diese theologische Grundlage klar bewußt war, aber in der Reformationszeit verschiedene Interpretationen erfuhr, die miteinander in Widerspruch gerieten, machte sich dann die Naturrechtslehre in der weiteren Entwicklung von den Offenbarungslehren unabhängig. Freilich wirkt eine theologische Begründung des Rechts noch lange nach. In der katholischen Kirche zeigt sich das z.B. insofern, als das Lehramt in Anspruch nimmt, schwierigere Fragen des Naturrechts entscheiden zu können, die für den einzelnen Menschen aufgrund der Folgen der Erbsünde nicht mehr sicher erkannt werden können. Außerdem interpretieren selbstverständlich Christen das Naturrecht im Kontext der christlichen Tradition und des Evangeliums.

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In dem Maße, wie sich die Rechtslehre von einer theologischen Begründung abwendet und zu einem bloß auf die staatliche Autorität bauenden Rechtspositivismus wird, wird sie immer unfähiger, zwischen gerechtem Recht und gesetzlichem Unrecht zu unterscheiden. So wird heute die Wichtigkeit einer theologischen Rechtsbegründung immer deutlicher: Warum und wieweit sind wir dem Recht verpflichtet? - Diese theologische Rechtsbegründung wird besonders bei protestantischen Theologen diskutiert: E. Troeltsch, E. Wolf, J. Ellul, H. Dombois, K. Barth. Ein Beispiel für dieses Thema ist das Widerstandsrecht.

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3.3.3 Das Recht auf Widerstand

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Das AT kennt das Widerstandsrecht (WR), ohne es genauer zu präzisieren. Ein Beispiel ist die Geschichte von Ehud (Richter 3,12-23), der Eglon, den König von Moab, umbringt, nachdem dieser Israel besiegt und 18 Jahre als König beherrscht hatte. Dazu kommen mehrere Erzählungen in den Makkabäerbüchern (1 Makk 2,19ff.; 2 Makk 7,30ff), in denen von der Gehorsamsverweigerung der Israeliten gegenüber dem König berichtet wird.

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Ähnliche Stellen finden wir im NT z.B. in Apg 4,19f.: "Ob es vor Gott recht ist, euch mehr zu gehorchen als Gott, darüber urteilt selbst. Denn wir können unmöglich von dem schweigen, was wir gesehen und gehört haben." Vgl. auch Apg 5,29: "Petrus und die Apostel erwiderten, man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen." Hier wird selbstverständlich eine über dem staatlichen Recht stehende Letztinstanz angenommen. Allerdings wird nicht genauer geklärt, wer Widerstand leisten darf und unter welchen Umständen.

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Bei den Kirchenvätern galt der passive Widerstand (Unterlassung vorgeschriebener Handlungen) unter bestimmten Umständen als erlaubt und sogar geboten. Hingegen hielt man im allgemeinen den aktiven Widerstand (aktives Handeln gegen die Staatsgewalt) für unerlaubt.

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Das WR ist in der germanischen Rechtsauffassung und in der mittelalterlichen Rechtsentwicklung deutlich greifbar. Das Verhältnis zwischen Untertan und Herrscher wird hier nicht durch einseitigen Gehorsam bestimmt, sondern ebenso durch die Verpflichtung der Treue des Herrschers gegenüber dem Untertan. Bei den christianisierten spanischen Westgoten im 6.Jh. wurden z.B. von 35 Königen 17 abgesetzt und getötet. Der Sachsenspiegel (III,78 § 2) formuliert ausdrücklich: "Der Mann muß auch wohl seinem König und Richter, wenn dieser Unrecht tut, widerstehen und sogar dazu helfen, ihm zu wehren in jeder Weise, selbst wenn jener sein Verwandter oder Lehensherr ist." Die Treueverpflichtung wird auch in den Krönungsgelübden der Herrscher deutlich genannt.

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Im Mittelalter wird das WR von einem christlichen Naturrecht her begründet. Dabei macht sich die Kirche selbst zu der Instanz, die vor allem seit Gregor VII. z.B. durch Verhängung des Kirchenbanns über Herrscher und durch die Inanspruchnahme eines Absetzungsrechts über die Berechtigung konkreten WR entscheidet und zum Widerstand geradezu herausfordert. Freilich lehnten andere diese Interpretation ab.

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Das Konzil von Konstanz verurteilt 1415 die Auffassung, daß man einen Tyrannen ohne weiteres hinterlistig töten dürfe (DS 1235). Dabei werden aber so negative Umstände genannt, daß ein wohlüberlegter Tyrannenmord aus schwerwiegenden Gründen nicht ausgeschlossen ist. Nach diesem Konzil gibt es in der katholischen Kirche nur geringfügige Modifikationen des Standpunktes, daß passiver Widerstand gegen die Obrigkeit aus entsprechenden Gründen erlaubt sei und bei extremen Situationen auch Tyrannenmord. Im Sinne einer sozialen Notwehr dürfen dann die Bürger auch in bewaffneter Weise gegen die Staatsgewalt vorgehen.

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Die Einstellung der Reformatoren in unserer Frage ist nicht sehr eindeutig. Calvin kennt vor allem den Widerstand gegen die kirchliche Obrigkeit. Nur zögernd anerkennt er auch Widerstand gegen die Staatsgewalt. Allerdings ist dieser nicht sosehr Sache des einfachen Bürgers, sondern der niedrigeren Stände. Hinter dieser Position stehen Schriftworte wie Röm 13,1-5:

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"Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt. Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen. Vor den Trägern der Macht hat sich nicht die gute, sondern die böse Tat zu fürchten; willst du also ohne Furcht vor der staatlichen Gewalt leben, dann tue das Gute, sodaß du ihre Anerkennung findest. Sie steht im Dienst Gottes und verlangt, daß du das Gute tust. Wenn du aber Böses tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut. Deshalb ist es notwendig, Gehorsam zu leisten, nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen."

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Tatsächlich sind diese Äußerungen aber sehr zeitbedingt und setzen eine Situation voraus, in der es fast nur die Alternative gab, entweder sich dem Kaiser zu unterwerfen oder in einer Revolution Leben und Wohl vieler Menschen aufs Spiel zu setzen.

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Zwingli spricht ausdrücklich davon, daß man der Obrigkeit gehorchen muß, auch wenn sie sich schrecklich gebärdet. Wenn aber die Obrigkeit gegen Gottes Wort gebietet, ist sie abzusetzen. Es bleibt aber unklar, wer sie abzusetzen hat, ob das nur Sache gesetzlich eingerichteter Institutionen ist oder ob es eine Notwehr der Bürger auch außerhalb gesetzlicher Berechtigung gibt.

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Luther ist in der Frage des WR ebenfalls unklar und macht verschiedene Aussagen, deren Verständnis bis heute umstritten ist. Er meint, daß man die Beseitigung ungerechter Obrigkeit Gott überlassen soll. Bis 1529 lehnt er jedes aktive WR ab. Im Hinblick auf die Bedrohung der Reformation durch den Kaiser gibt er dann allmählich juristischen Argumenten nach und nähert sich etwas mehr dem Standpunkt des WR. Zugleich wächst bei ihm der Gedanke einer theologisch begründeten Widerstandspflicht gegenüber dem Papst; sonst ist nur persönliche Notwehr erlaubt sowie passiver Widerstand, d.h. Gehorsamsverweigerung mit der Bereitschaft, die Konsequenzen auf sich zu nehmen. Die Fürsten dürfen hingegen dem Kaiser widerstehen. Ein aktives WR ist aber nur dort gegeben, wo entsprechende Verfassungsbestimmungen vorliegen. Der Gedanke des WR wird in der weiteren Entwicklung durch Unrechtserfahrungen vorangetrieben. So baut etwa Althusius in seiner Politica (1603) unter Bezugnahme auf die Erfahrungen der Bartholomäusnacht (Ermordung von 13.000 Hugenotten) die Lehre vom Gesellschaftsvertrag und von der Volkssouveränität aus. Daraus folgt das WR, wenn die Obrigkeit ihren gottgegebenen Auftrag verletzt. Weiterhin bewegt sich die Rechtsphilosophie auf einem gewissen Kompromiß zwischen naturrechtlicher Begründung der Notwehr einerseits und staatsrechtlichem Absolutismus, der den Gedanken der Notwehr sehr einschränkt. Das WR des Volkes gegen den Mißbrauch der Regierungsgewalt und gegen eine gewaltsame Aneignung der Regierungsmacht wird dann wieder sehr deutlich in der Virginia Bill of rights von 1776 sowie in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 betont.

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Der deutsche Idealismus steht dem WR kritischer gegenüber. Kant will nur ein gesetzlich verankertes WR gelten lassen, sieht aber darin einen Widerspruch in sich selbst. Auch Schleiermacher lehnt ein WR ab.

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Besonders aktuell wird dann die Frage nach dem WR im Dritten Reich. Die protestantischen Kirchen zeigen hier noch stark das Erbe der Tradition und sind oft zu kritisch gegenüber dem Gedanken des WR. Karl Barth betont hingegen ausdrücklich, daß der Glaube an Jesus Christus unsere aktive (politische) Resistenz ebenso notwendig machen könne wie den passiven Widerstand.

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Die katholische Kirche zeigt hier eine größere Distanz gegenüber den staatlichen Machtträgern. Sie spricht dem Bürger zunächst das Recht zu passivem Widerstand zu. Wenn jedoch die unheilvolle Tätigkeit der Regierung das Volk dem Untergang zutreibt, verliert sie ihre Legitimation. Dann hat das Volk das Recht, wenn andere Mittel nicht zur Verfügung stehen, aktiven Widerstand zu leisten. Dieses Recht haben jene, die über genügend Einsicht und Einfluß verfügen. Auch die Tötung eines ungerechten Herrschers im Sinne des Tyrannenmordes ist nicht auszuschließen.

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3.3.3.1 Systematisches zum Widerstandsrecht:

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a) Formen des Widerstandes: Unter passivem Widerstand versteht man die Nichtbefolgung bestimmter Anordnungen und Gesetze. Aktiver Widerstand umfaßt gewaltlose Mittel (private und öffentliche Kritik, Protestkundgebungen, Streik). Gewaltsamer Widerstand bezieht sich auf Sachen oder auch Personen bis hin zur Ermordung von Machthabern und Aufstand.

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b) Moralische Legitimation: Unrecht der Machthaber, das Widerstand von unten provoziert, tritt nicht völlig unvermittelt auf, sondern hat eine Geschichte. So wird etwa in einer Demokratie eine Partei gewählt, die ein bestimmtes Konzept vertritt und bestimmte Persönlichkeiten zur Wahl stellt. Wer diese Partei wählt, übernimmt bereits eine gewisse Mitverantwortung für die Folgen. Der einzelne Bürger hat die Verpflichtung, ausreichend zu prüfen, wem er seine Stimme geben will. Natürlich sind die Möglichkeiten des Bürgers oft sehr eingeschränkt. Er muß bei der Partei, die seinen Vorstellungen am meisten entspricht, auch negative Aspekte in Kauf nehmen. Er behält aber über die Wahl hinaus noch eine Verantwortung insofern, als er auf die Maßnahmen der Regierung und anderer Parteien in verschiedener Weise (auch öffentlich) reagieren kann. Er muß das im Maße des Notwendigen und Zumutbaren nützen, um seiner bleibenden Mitverantwortung gerecht zu werden.

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Wo durch die Machthaber dennoch Unrecht geschieht und dieses Unrecht bekämpft werden kann, kann und soll der Bürger nach Möglichkeit proportioniert passiven bzw. aktiven Widerstand leisten. Der Fall eines radikalen aktiven Widerstandes wird gewöhnlich erst dann eintreten, wenn Dialog und konstruktive Mitarbeit versagen und eine Art "soziale Notwehr" gegeben ist.

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Aktiver Widerstand hat vielfach die Form der Gewaltanwendung. Diese stellt ein physisches Übel dar bzw. bewirkt ein solches. Das gilt in besonderer Weise dort, wo nicht nur irgendeine Gewalt angewendet wird, sondern Menschen getötet werden. Eine solche Maßnahme kann immer nur soweit ethisch akzeptabel erscheinen, wie sie das geringere Übel gegenüber der Alternative darstellt. Der Bürger hat ja auch eine Verantwortung, wenn er z.B. die Führer des Staates widerstandslos gewähren läßt, wo sie Unrecht tun. So hatten die deutschen Offiziere im letzten Weltkrieg auch eine Mitverantwortung, wenn sie es Hitler möglich gemacht haben, sein Wahnsinnsregime weiterzuführen. Wenn das Unrecht, das ein solcher Mann wirkt, wesentlich größere Ausmaße annimmt als das Übel, das man in Kauf nehmen muß, um ihn zu beseitigen, dann ist eben diese Beseitigung vorzuziehen.

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c) Zum Begriff des Rechtes: Unter Recht versteht man gewöhnlich ein gesatztes, also vom zuständigen Gesetzgeber formuliertes Recht. In diesem Sinn ist aber gewöhnlich der Widerstand nicht rechtlich gedeckt. Es kann sich hier nur um eine Legitimation des Handelns durch das Gewissen des einzelnen oder einer kleinen Gruppe handeln. Nun kann es aber der Staat nicht jedem einzelnen Bürger überlassen, ohne weiteres über die Legitimität der Staatsführung zu urteilen, und sich das Recht herauszunehmen, die legitime Autorität zu beseitigen, weil sie nicht nach der betreffenden Gewissensauffassung handelt. Es könnte ja, besonders in modernen pluralistischen Staaten, ganz verschiedene Auffassungen über die Rechtmäßigkeit der Machtausübung geben. Hat nun der einzelne Bürger oder eine kleine Gruppe die Gewissenslegitimation, eine Autorität zu beseitigen, die vielleicht im Sinne anderer Teile des Volkes richtig handelt?

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d) Subjekt des Widerstandes: Nicht jeder kann sich anmaßen, beliebig über die Staatsführung zu befinden und sie gegebenenfalls durch ein Attentat zu beseitigen. Auf diese Weise wäre in einem pluralistischen Gemeinwesen kaum einmal Ordnung und Sicherheit zu erreichen. Man wird wohl verlangen müssen, daß Widerstand nicht einfach nur auf einer privaten Einsicht oder einem privaten Vorurteil beruht, sondern daß diejenigen, die Widerstand leisten wollen, versuchen, ihre Unterlassungen oder aktiven Maßnahmen auch durch einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens zu legitimieren. Das kann etwa dadurch geschehen, daß man sich auf Anschauungen stützt, die von einem Großteil der Bevölkerung vertreten werden (z.B. im Dritten Reich die Auffassungen des christlichen Glaubens, besonders die Ablehnung eines Angriffskrieges). Eine solche Legitimation durch eine möglichst große Zahl von Mitbürger ist schon deshalb wichtig, weil sonst wohl auch der Widerstand auf Dauer kaum einen Erfolg hätte, da er nicht genügend Unterstützung im Volk fände, oder weil sonst die Maßnahmen gegen die Staatsgewalt nur durchgesetzt werden können, indem die Widerstehenden selbst eine Art neuer Diktatur aufrichten, die dann von vorneherein durch den Widerstand anderer erneut bedroht ist.

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e) Aussicht auf Erfolg: Die Tradition spricht im Zusammenhang mit Revolution davon, daß ein bewaffneter Aufstand nur zu rechtfertigen sei, wenn er genügend Aussicht auf Erfolg hat. Sonst würde man nur Blutvergießen verursachen und die Verhältnisse eher zum Schlechteren verändern. - Bei der Frage des aktiven Widerstandes ist dieser Gesichtspunkt wohl etwas anders zu sehen. Es geht nämlich nicht nur darum, ob man durch eine Handlung des Widerstandes das Unrecht völlig beseitigen kann, sondern es kann auch sinnvoll sein, durch seinen Widerstand ein Zeichen zu setzen, das der öffentlichen Bewußtseinsbildung dient, aber auf Dauer auch sehr positive ethische Auswirkungen haben kann. So hatte z.B. der Widerstand der Weißen Rose in München kaum Aussichten auf Erfolg und brachte tatsächlich die Mitglieder in höchste Gefahr und in den Tod. Aber der hier geleistete Widerstand zeigte der Nachwelt und auch der internationalen Öffentlichkeit, daß das Unrechtsregime Hitlers in breiten Kreisen nicht bejaht, sondern oft nur wegen schwerster Strafandrohungen stillschweigend hingenommen wurde. Wenn einzelne ein solches Zeichen geben, kann das moralisch gesehen größte Bedeutung haben.

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f) Das Verständnis der Staatsgewalt: Das NT betont, daß die Obrigkeit von Gott sei, und daß man sich unterordnen müsse. Hier spielen in den theologischen Einsichten auch zeitbedingte politische Auffassungen in dem Sinn mit, daß bei Gestaltung des Staates nicht im Sinne der Demokratie der einzelne mitreden kann, sondern die Obrigkeit einfach allein die Macht in Händen hält. Infolgedessen kennt man dort nicht die verschiedenen zunächst gewaltlosen Mittel des Widerstandes als demokratisches Recht, sondern man steht nur vor der Alternative, entweder die verschiedenen Maßnahmen des Unrechts der Herrscher hinzunehmen, oder diese zu beseitigen, was kaum anders als durch einen bewaffneten Aufstand und die Verursachung noch größeren Unglückes möglich ist. Hier ist es offenbar das Beste, die Obrigkeit einfach hinzunehmen und durch Gehorsam und Unterordnung dem Gemeinwohl zu dienen.

798
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Die protestantische Tradition, die sehr stark am Wortlaut der Bibel hängt, hat in der Nazizeit dazu geführt, daß man sich nur mit Mühe zum Widerstand gegen dieses Unrechtsregime aufraffen konnte. Kirchenmänner, aber noch mehr Beamte und Offiziere, hatten eben vielfach geglaubt, man müsse der rechtmäßig an die Macht gekommenen Obrigkeit gehorchen.

799
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Das naturrechtliche Denken der katholischen Kirche fragt in solchen Situationen nicht sosehr, wie weit man einer Obrigkeit verpflichtet sei, sondern prüft unmittelbarer, ob Recht oder Unrecht geschieht, und denkt im zweiten Fall rascher daran, ein Unrechtsregime zu beseitigen. Hier besteht das Problem darin, daß andere Aspekte, wie die Beauftragung durch die Mehrheit des Volkes weniger beachtet werden, was u.U. zu Situationen führt, wo man kaum mehr wirklich Ruhe und Ordnung schaffen kann, weil jeder glaubt, sich selbst gerechtigkeit verschaffen zu müssen. Dennoch wird in einem demokratischen System die kritische Einsicht des einzelnen und die Notwendigkeit, daß die Regierung ihre Maßnahmen vor dem Volk rechtfertigt, sehr viel mehr zu betonen sein als in einem Obrigkeitsstaat.

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Voraussetzung des Widerstandes ist, daß die Führung eines Staates nicht willkürlich handeln darf, sondern selbst an Recht und gerechtigkeit gebunden ist. Je mehr sich die Staatsführung daran hält, je verantwortlicher sie ihre Regierung gestaltet, desto weniger Anlaß und Legitimation zum Widerstand gibt es.

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4 Vierter Teil: Das Bewußtsein von Freiheit und Verantwortung

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4.1 Das Gewissen

803
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Lit.: J. Blühdorn (Hg.), Das Gewissen in der Diskussion. In: Wege der Forschung. Darmstadt 1976; J. Eckert, Gewissen und Glaube bei Paulus. In: J. Reiter u.a. (Hg.), Aus reichen Quellen leben. Trier 1995, 15-35; B. Fraling, Überlegungen zur Gewissensbildung. Biblische Impulse. In: J. Reiter u.a. (Hg.), ebd., 37-54; K. Golser, Gewissen und objektive Sittenordnung. Zum Begriff des Gewissens in der neueren katholischen Moraltheologie, Wien 1975; G. Griesl, Gewissen. Ursprung - Entfaltung - Bildung. Augsburg 1970.

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Das Gewissen ist jene subjektive Instanz im Menschen, in der er die sittliche Qualität von Handlungen und Anforderungen erfährt. Es darf weder bloß deterministisch - psychologisch als Über - Ich verstanden werden, noch als bloße Vernunft. Das Gewissen beruht vielmehr neben der Vernunft auch auf der Affektivität des Menschen, die aber in den Horizont von Geschichte und Transzendenz tritt. Im Gewissen sammeln sich die Erfahrungen der Person im Umgang mit der Welt. Das Gewissen ist kein eigenes Organ, sondern ein Aspekt der Personalität des Menschen, die durch Bewußtsein und Freiheit ausgezeichnet ist.

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4.1.1 Geschichte des Gewissensbegriffes

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Lit.: K. H. Neufeld, Das Gewissen. Ein Deutungsversuch im Anschluß an Röm 13, 1-7. In: Bibel und Leben 1971, 32-45; H. Reiner, Gewissen. In: J. Ritter, HWPh 3, 574-592 (Lit.!); J. Stelzenberger, Gewissen. In: HthG I 520 - 526 ders., Syneidesis - Conscientia - Gewissen. Paderborn 1963.

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Die griechisch-römische Antike: Bei Homer werden Schande und Schuld noch nicht genau auseinandergehalten. In den Dramen des Aischylos nehmen die Gewissensbisse die Gestalt der Erinnyen an. Bei Sophokles beruft sich Antigone auf ihr Gewissen, um die Leiche ihres Bruders gegen das bestehende Gesetz zu begraben. Sokrates beruft sich schließlich auf sein "daimonion", diese göttliche Instanz in sich. So kommt es allmählich zu einer vertieften, autonomen Sicht des Gewissens.

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Die großen alten Kulturen haben meist keinen Fachausdruck für Gewissen. Sie beurteilen gut und böse nicht nach der subjektiven Intention des "autonomen Gewissens", sondern etwa nach Tabus, sozialen Normen und objektiven Gegebenheiten. Ein Ersatzwort für Gewissen ist aber oft der Begriff Herz. Man soll die Normen nicht rein mechanisch befolgen, sondern ein Herz haben für die Mitmenschen.

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So spricht das AT von Herz und Nieren, vom Inneren des Menschen oder vom Auge Gottes. Das "Auge Gottes" wacht über die Einhaltung der Gebote. Das Schuldgefühl wird auch als Scham (Adam und Eva!) beschrieben. Der Begriff syneidesis erscheint zweimal in Spätschriften (Pred 10,20; Weish 17,10) als inneres Zeugnis der Gottlosigkeit. - Das AT sieht im Gewissen einfach den Personkern des Menschen. - Während der spätere Begriff "Gewissen" vom Wissen ausgeht und zu einer einseitig rationalen Sicht neigt, ist der Begriff "Herz" ganzheitlicher und spricht stärker auch die emotionale Seite des Erkennens und Stellungnehmens an. Herz bedeutet die Mitte des menschlichen Lebens, das Zentrum personalen Handelns, nicht nur den Sitz der Affekte, sondern auch des Denkens und Wollens.

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Die verschiedenen Termini werden auch in der Einheitsübersetzung oft mit "Gewissen" wiedergegeben: Buch der Richter 19, 3: Da machte sich ihr Mann auf den Weg und zog ihr mit seinem Knecht und zwei Eseln nach, um ihr ins Gewissen zu reden und sie zurückzuholen. Die Frau brachte ihn in das Haus ihres Vaters, und als der Vater der jungen Frau ihn sah, kam er ihm freudig entgegen.

811
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1 Samuel 24, 6: Hinterher aber schlug David das Gewissen, weil er einen Zipfel vom Mantel Sauls abgeschnitten hatte.

812
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1 Samuel 25, 31: Dann sollst du nicht darüber stolpern, und dein Gewissen soll meinem Herrn nicht vorwerfen können, daß du ohne Grund Blut vergossen hast und daß sich mein Herr selbst geholfen hat. Wenn der Herr aber meinem Herrn Gutes erweist, dann denk an deine Magd!

813
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2 Samuel 24, 10: Dann aber schlug David das Gewissen, weil er das Volk gezählt hatte, und er sagte zum Herrn: Ich habe schwer gesündigt, weil ich das getan habe. Doch vergib deinem Knecht seine Schuld, Herr; denn ich habe sehr unvernünftig gehandelt.

814
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Jesus Sirach 37, 14: Das Gewissen des Menschen gibt ihm bessere Auskunft als sieben Wächter auf der Warte.

815
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Auch das NT verwendet Begriffe wie Herz oder schildert die Funktion des Gewissens als Reue (Mk 14,72; Mt 27,3.S) oder Verzweiflung (Mt 27,3.5). Jesus vertieft das Gewissensverständnis durch Kritik am Legalismus und Betonung der Gesinnungsethik (bes. Mk 7,18-23). - Im Briefwerk findet sich dann häufig auch der Begriff syneidesis (Paulus 20 x, Hebr 5 x, Apg 2 x, 1 Petr 3 x). Die Begriffe Gewissen und Glaube können dabei in völlig gleicher Bedeutung auftreten. So wird beim Problem des Götzenopferfleisches in genau gleichem Sinn einmal von der Schwäche des Glaubens (Röm 14,1) und einmal von der Schwäche des Gewissens (1 Kor 8,7) gesprochen.

816
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Auch die Heiden können in ihrem Gewissen gut und böse unterscheiden, werden aber ebenso wie die Christen durch Jesus Christus gerichtet (Röm 2,14-16), sodaß auch hier Gewissen und die Heilsbedeutung Christi in einen Zusammenhang gebracht werden. Der Christ soll sich im Gewissen als freier Mensch fühlen, aber diese Freiheit bleibt den Mitmenschen verpflichtet (vgl. 1 Kor 8,8f!).

817
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Das Kriterium menschlichen Handelns ist nicht einfach die Meinung der Mitmenschen, ist auch nicht das eigene Ich, sondern der Herr, der ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und die bewegenden Absichten des Herzens offenbar machen wird (1 Kor 4,3f). Die Entscheidung zum Glauben an Christus ist deshalb in gleicher Weise Bedingung für das Heil wie der Gehorsam gegenüber dem Gewissen (1 Jo 2,22f; S,1f). Nicht vom Gewissen zu trennen ist schließlich auch die Lehre von der Unterscheidung der Geister (1 Kor 12,10b; 1 Jo 4,6). Die Unterscheidung zwischen gut und böse ist also nicht bloß Sache einer natürlichen Vernunft, sondern ein Charisma, in dem der Geist Gottes wirksam ist.

818
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Der Gewissensbegriff des NT ist ganz von der biblischen Anthropologie her zu verstehen. Das Gewissen ist nicht nur ein rationales Vermögen, in dem bestimmte ethische Grundprinzipien erkannt würden; vielmehr geht es hier um den ethischen Aspekt des personalen Erkennens und Bewußtseins. Der Mensch weiß sich im Gewissen vor Gott gestellt, er glaubt an diesen Gott und spürt den Anspruch Gottes. Aus dieser Erfahrung heraus versucht er sein Leben zu ordnen. Zentrum des Gewissensurteils ist der Vollzug des Glaubens. Weil sich der Glaube an Gott in den zwischenmenschlichen Beziehungen vermittelt, geht es im Gewissen auch entscheidend um die Beziehung zur Person des Nächsten (Liebe, Barmherzigkeit, Vergebung usw.). Erst im Zusammenhang mit der sachlichen Vermittlung interpersonaler Beziehungen bekommen dann Gesetze, Normen, Güterabwägung usw. ihre Bedeutung.

819
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In der griechisch-römischen Antike gilt meist das Glück des Menschen als oberstes sittliches Kriterium. Das Gewissen wird ähnlich wie ein Gefühl - etwa für das Ästhetische -verstanden. Sokrates interpretiert allerdings das Gewissen als ein daimonion, als innere Leitung durch die Gottheit. In der Stoa finden sich ähnliche Überlegungen. Hier haben wir eine individualistische Deutung: Das Gewissen wird in Gegensatz zur Meinung der Menge gebracht. Es ist eher eine individuelle Vernunfteinsicht.

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Seneca: Conscientia = Gott in uns. Das ist im Sinn des stoischen Pantheismus als Teilhabe am göttlichen Logos zu verstehen.

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In der Patristik stoßen biblische und griechisch-römische Tradition aufeinander. In spirituellen Schriften leben biblische Begriffe weiter (Herz, Inneres, Auge Gottes usw.). Bei Ignatius von Antiochien und Clemens von Rom wird die Übereinstimmung von Urteil und Handeln mit den Vorschriften kirchlicher Vorgesetzter als Kriterium für das gute Gewissen gesehen. In den mehr systematischen Schriften zeigt sich aber in der Individualisierung und Intellektualisierung des Gewissensbegriffes überwiegend ein antiker Einfluß.

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Wie Cicero und Seneca stellen auch Tertullian, Ambrosius und Augustinus das Gewissen und die Meinung der Mitmenschen gegeneinander.

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Augustinus betont stark die Beziehung des Gewissens zu Gott. Die von Gott ins Herz geschriebenen Gesetze sind nichts anderes als die Gegenwart des Hl. Geistes. Im biblischen Sinn weiß sich der Mensch im Gewissen unmittelbar von Gott angesprochen. Besonders ausführlich beschreibt Augustinus die Schuldgefühle und damit auch die emotive und personale Funktion des Gewissens.

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Im Ezechiel-Kommentar des Hieronymus stand in einer korrumpierten Randglosse statt syneidesis das Wort synteresis (= Bewahrung). Man glaubte, daß damit jener Funke des Gewissens gemeint sei, der auch nach dem Sündenfall noch bewahrt worden war und daß dieser Funke (scintilla animae) vom Gewissen selbst zu unterscheiden sei.

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In der Scholastik wird, abgesehen von den allegorisch-spirituell-praktischen Bibelauslegungen der Gewissensbegriff immer mehr auf einen naturrechtlichen Sinn eingeengt. Abaelard: "Nur was gegen das Gewissen ist, ist Sünde.

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Bonaventura deutete den Funken des Gewissens als affektive Potenz. Er schränkte also das Gewissen nicht auf bloße Rationalität ein, sondern öffnete auch den Weg zur Psychologie des Gewissens. Aber diese Lehre blieb weitgehend auf die Franziskanerschule beschränkt.

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Thomas v. Aquin versteht die Synteresis als eine von Natur aus bestehende Einsicht in die ersten Prinzipien des Handelns, in die grundlegenden Prinzipien des Naturrechts. Das Gewissen wird hier zunächst ganz von der Vernunft her interpretiert. Es ist ein individualistisches Verständnis, nicht etwa ein dialogisches wie in der Bibel. Die Gewissenserkenntnis ist ein natürliches Erkenntnisvermögen, dem eine in der Natur angelegte ethische Ordnung im Sinne der Naturrechtslehre entspricht. Das Gewissen verpflichtet unbedingt, sodaß einer, der davon überzeugt ist, daß die katholische Kirche nicht die Wahrheit besitzt, diese nicht nur verlassen darf, sondern soll, um seinem Gewissen treu zu bleiben.

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Luther will das Gewissen im Sinne der Bibel verstehen. Er läßt die Lehre von der synteresis fallen und bestimmt das Gewissen als "virtus judicandi". Der Christ kann aber das Urteilen nur als Verurteilen vollziehen. Als Sünder hat er immer ein schlechtes Gewissen, aber der Glaube befreit ihn von dieser Bedrückung. Das Gewissensurteil wird also mit dem Glauben verbunden. So kann Luther von einem getrösteten, unverzagten, fröhlichen Gewissen sprechen, was bei Thomas undenkbar wäre. Die Freiheit des Gewissens ist identisch mit der christlichen und evangelischen Freiheit. Hier zeigt sich ein Sündenpessimismus und eine Unterbetonung der Vernunft.

829
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Melanchton lehnt sich an die lutherische Auffassung an, nimmt aber den Synteresis-Begriff und die intellektuelle scholastische Sicht mit herein.

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Melchior Cano behandelt das Gewissen im Rahmen der Lehre von den Erkenntnisquellen. Diese ist in der Theologie besonders für die Dogmatik entwickelt worden. Es ist für die Moraltheologie vorteilhaft, sich an diese Tradition anzuschließen. Insbesondere ist in unserem Fach aber zu bedenken, daß diese Quellen qualitativ sehr verschieden sind. Das betrifft dann besonders den Sicherheitsgrad der theologischen Aussagen. Als Quellen moraltheologischer Erkenntnis sind vor allem zu unterscheiden:

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 1. die göttliche Offenbarung und der sie aufnehmende Glaube;

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 2. das kirchliche Lehramt und die Tradition;

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 3. das Gewissen;

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 4. empirische Erkenntnisse.

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Das objektivistische Moralverständnis und der intellektualistische Gewissensbegriff führen im 17. bis 18. Jahrhundert zum Probabilismus-Streit. Man sucht nach eindeutigen objektiven Kriterien, die bei einem Zweifel über die objektive Verpflichtung eines Gesetzes entscheiden sollen. Die verschiedenen Lösungen in dieser Streitfrage werden als Moralsysteme bezeichnet.

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Nach Humanismus und Aufklärung, die das Gewissen meist allgemein als (sittliches) Bewußtsein des Menschen verstehen, folgt der Deutsche Idealismus: Bei Immanuel Kant (1724-1804) zeigen sich allerdings Unklarheiten. Er nimmt einen Gedanken von Philo auf und bezeichnet das Gewissen als "Gerichtshof". Er läßt aber offen, ob der Richter eine wirkliche oder bloß idealistische Person ist.

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"Gewissen... hat nun das Besondere in sich, daß, obzwar dieses sein Geschäft ein Geschäft des Menschen mit sich selbst ist, dieser sich noch durch seine Vernunft genötigt sieht, es als auf das Geheiß einer anderen Person zu treiben... daß aber der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren. Also wird sich das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten einen anderen (als den Menschen überhaupt) d.i. als sich selbst zum Richter seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen soll. Diese andere mag nun eine wirkliche oder bloß idealistische Person sein, welche die Vernunft sich selbst schafft." (17)

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Es ist nicht ganz klar, wer hier der Richter ist. Doch will Kant offenbar diese Instanz nicht mit dem eigenen Ich identifizieren. Das Gewissen ist eine furchtbare Stimme, die den Menschen überall hin verfolgt. Es ist unfehlbar, wird allerdings auch nur als eine sehr formale Funktion verstanden, die entscheidet, ob der Mensch gut oder böse handelt, bei der aber von der konkreten Urteilsfindung offenbar abstrahiert wird. Bei Kant liegt also eine Gewissenslehre vor, in der ohne eindeutigen Rekurs auf einen persönlichen Gott das Gewissen zum entscheidenden Maßstab des sittlichen Handelns gemacht und als "autonom" dargestellt wird.

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Für Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) ist die Stimme des Gewissens ein "Orakel aus der ewigen Welt, das mir verkündigt, wie ich an meinem Teile in die Ordnung der geistigen Welt ... mich einzufügen habe". (Die Bestimmung des Menschen, 1800, III, 4). - "Das Gewissen irrt nie und kann nie irren", denn es ist "selbst Richter aller Überzeugung", der "keinen höheren Richter über sich anerkennt". (System der Sittenlehre, 1798, III, § 15).

840
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Bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) wird der Gedanke der Autonomie noch entschiedener betont: "Das Gewissen drückt die absolute Berechtigung des subjektiven Selbstbewußtseins aus, nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist." (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 137).

841
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Ähnlich ist bei Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (1768-1834) das Gewissen die Beziehung des "Überzeugungszustandes in den auf das Wollen bezüglichen Denkbestimmungen", auf die "allgemeine Zustimmung". (Dialektik, 1903, 213). Er versteht das als ein "Zusammensein des Gattungsbewußtseins und des Individuellen in uns". (Ebd.,214)

842
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Seit der Aufklärung wird also das Gewissen nicht mehr dialogisch aufgefaßt als Anspruch Gottes, sondern als eine autonome Instanz. Es wird nicht mehr von Freiheit und Wille oder gar von den Affekten her (Bonaventura!) verstanden, sondern ganz von der Vernunft her. Die Abhängigkeit von Mitmenschen und Kirche wird geleugnet. Empirische Aspekte werden ausgeschieden, das Gewissen wird sehr spekulativ und formal betrachtet. Auf diese Entwicklung folgt nun eine Reaktion. An die Stelle einer abstrakt metaphysischen Betrachtung tritt die empirische Sicht.

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Arthur Schopenhauer (1788-1860) grenzt sich zunächst von einem verbreiteten Verständnis des Gewissens ab. Was mancher für sein Gewissen halte, sei "eigentlich zusammengesetzt ... etwa aus 1/5 Menschenfurcht, 1/5 Deisidämonie, 1/5 Vorurteil, 1/5 Eitelkeit und 1/5 Gewohnheit". (Über die Grundlagen der Moral, § 13). Dann wendet er sich gegen ein autoritätshöriges Gewissen: "Religiöse Leute, jeden Glaubens, verstehen unter Gewissen sehr oft nichts anderes als die in Beziehung auf die Dogmen und die Vorschriften ihrer Religion vorgenommene Selbstprüfung". (ebd.) - Auch der Begriff eines "Gerichtshofes" wird abgelehnt. Das Gewissen hat allerdings auch einen metaphysischen Ursprung, es sagt uns, "daß unser wahres Selbst nicht bloß in der eigenen Person... da ist, sondern in Allem, was lebt". (Die Welt als Wille und Vorstellung § 66) - Vgl. die stoische Gewissenstheorie!

844
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Nach Ludwig Feuerbach (1804 - 1872) ist das Gewissen "die Furcht" etwas zu tun, worauf Strafe steht, bestehe diese Strafe auch nur in dem mißbilligenden Urteil der andern - ein Urteil, das aber der Mensch zu seinem eigenen Urteil und Richtmaß macht". (Theogonie 1857, 169f)

845
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Charles Darwin (1809 - 1882) glaubt, daß die Evolution nach der biologischen Zuchtwahl durch die Überlegenheit der Moral und des Gewissen weitergetrieben wird. Das Gewissen besteht in der Reue über eigene Handlungen, in denen der Mensch eigenen Begierden statt seinen sozialen Trieben gefolgt ist. (The descent of men, 1871, chap. 3)

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John Henry Kardinal Newman (1801-1890) interpretiert das Gewissen in einem betont personalen, heilsgeschichtlichen Sinn. Das Gewissen ist ein Gefühl, in dem Gott als Richter erlebt wird, ein religiöses Organ, das Echo der Stimme Gottes vernommen wird. Die Gewissensstimme ist die "göttliche Autorität, auf der in Wahrheit die Kirche selbst aufgebaut ist." Newman hat sich besonders auch zum Verhältnis von Gewissen und kirchlichem Lehramt geäußert. (Letter to the Duke of Norfolk, 1875) Er sei gerne bereit, auf den Papst (und mit ihm die Kirche, das geliebte Volk Gottes) anzustoßen, zuvor aber wolle er auf das Gewissen trinken. Er warnt davor, vom Glauben anderer mehr zu fordern, als die Kirche ausdrücklich verlangt.

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Georg Simmel (1858 - 1918) sieht das Gewissen mehr in soziologischer Perspektive: "Das Gewissen ist der individuelle Nachhall der in der Gattung oft genug erlittenen und mit angesehenen Strafen." (Einleitung in die Moralwissenschaft 1, 1892, 407)

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Nach Sigmund Freud (1856 - 1939) ist das Gewissen eine Repräsentantin des "Über-Ich". Es wird dadurch erworben, daß das Kind die Sanktionen in sich hineinnimmt ("internalisiert"), die einer unkontrollierten Erfüllung seiner Triebwünsche entgegenstehen. Das Gewissen wird zu einer Kontrollinstanz, die jene Wünsche verdrängt oder mindestens negativ besetzt, welche zu negativen äußeren Sanktionen führen könnten. In diesem emotionalen Bereich des Gewissens gibt es auch die Möglichkeit von Konflikten und Fehlfunktionen. Es kann zu krankhaften Schuldgefühlen kommen. Das Gewissen kann auch ängstlich, skrupulös oder zwanghaft sein. Diese empirischen Aspekte des Gewissens müssen auch in einem moraltheologischen Gewissensbegriff reflektiert werden. Freilich machen sie nicht die ganze Wirklichkeit des Gewissens aus.

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C.G.Jung meint, daß Freuds Theorie zu einer Versklavung des Gewissens unter die Elternmoral und zu einer Spaltung der Persönlichkeit führt. Nach Jung vollzieht sich die Entwicklung des Gewissens in der Entwicklung der Persönlichkeit. Die Inhalte des wertenden Gewissens sind wesentlich durch die "Archetypen" bestimmt. In diesen manifestieren sich ererbte instinktive Verhaltensweisen, die im Gewissen zusammen mit gesellschaftlich vermittelten Normierungen weitergegeben werden. Das "ethische Gewissen" ist die Instanz, in der der Mensch personal und individuell Verantwortung für sich selbst übernimmt. Dieses bildet sich in einem Persönlichkeitsprozeß, der "Indivivduation". Hier wird der Mensch eigenständig, "autonom". Dieser Prozeß dauert ein ganzes Leben lang an.

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Nach der Zeit der großen Philosophen des deutschen Idealismus zeigt sich also eine Kehre zur Empirie. Das Gewissen wird nicht mehr als Aspekt der autonomen Vernunft, sondern als Ergebnis des Einflusses der menschlichen Gesellschaft auf das Individuum verstanden. In dieser Hinsicht gibt es keine Unfehlbarkeit und keine Absolutheit des Anspruches. In einer systematischen Behandlung des Gewissens dürfen die metaphysische und die empirische Betrachtung des Gewissens nicht gegeneinander ausgespielt, sondern müssen miteinander vermittelt werden.

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Auf die Frage, ob das Gewissen unfehlbar sei, ist also mit einer Unterscheidung zu antworten: Das Gewissen sagt mir unfehlbar, was meine sittliche Pflicht ist. Wenn ich also nach bestem Wissen und Gewissen handle, handle ich sittlich gut. Dann begehe ich keine Sünde, auch nicht irrtümlich. Das Gewissen kann sich aber in inhaltlicher Hinsicht irren. Ich kann das Falsche tun, wenn ich dem Gewissen folge.

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4.1.2 Zur Anthropologie des Gewissens

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Lit.: V. Satura, Die Genese des Gewissens psychologisch gesehen. In: ZkTh 89 (1967), 51-58; H. Kasten, Die Entwicklung von Moralvorstellungen und Moralbegriffen beim Kinde. Donauwörth 1976; F. Oser, Das Gewissen lernen. Olten und Freiburg 1976. J. Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde. Zürich 1954.

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Die Geschichte des Gewissensbegriffes zeigt eine Tendenz zur empirischen Betrachtung des Phänomens. Die empirische Erforschung beschäftigt sich zunächst mit der Entwicklung des Gewissens vom Kind bis zum reifen Menschen. Dieser Entwicklung entspricht auch das Verständnis von Sittlichkeit und die sittliche Verantwortung.

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Das Gewissen entwickelt sich in verschiedenen Phasen. In diesem Sinn ist es nicht angeboren, sondern das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses. Es ist aber dennoch nicht eine zufällig angeeignete Fähigkeit, sondern ein wesentlicher Aspekt der Leib-Geistigkeit des Menschen. Das Gewissen ist jener Aspekt des Bewußtseins, in dem sich die Person auf den obersten Wert ihrer Existenz bezieht.

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a) Die Babyjahre (1. bis 2. Lebensjahr): nur "moralanaloges" Verhalten! Das Kind wird durch Sanktionen der Mutter gelenkt. Es geht ihm um die fundamentale Frage, ob es angenommen ist oder nicht. Deshalb versucht es, auf den Willen der Mutter einzugehen, obwohl sehr starke Bedürfnisse zu bezähmen sind. Fühlt sich das Kind angenommen, dann entwickelt es das "Urvertrauen", eine Hauptvoraussetzung für Selbstbejahung und Liebesfähigkeit. Sind die Sanktionen sehr streng, dann bildet sich ein überstrenges Gewissen. Ist die Beziehung zu Mutter und Vater unverläßlich, dann entstehen Unsicherheit, Mißtrauen und Angst. Hier wird die erste affektive Basis für das Gewissen gelegt.

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b) Nachahmungsphase (ca. 2. bis 4. Lebensjahr): das Kind wird nicht nur auf einzelne Handlungen durch entsprechende Sanktionen dressiert, sondern es versucht, die Eltern nachzuahmen. Wichtig ist, daß die Eltern nachahmenswert sind. Es verunsichert das Kind und stört seine Idealbildung, wenn die Eltern selbst etwas vormachen, wofür das Kind bestraft würde. Für das Kind sind die Eltern die eigentliche Orientierung, die Garanten der Ordnung.

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c) Spielphase (ca. 3. bis 6. Lebensjahr): die Kinder suchen Verhaltensregeln, um ihre Beziehungen ausweiten und dabei Konflikte vermeiden zu können. Hier bildet sich besonders das Empfinden für gerechtigkeit. Diese wird allerdings zunächst noch sehr starr verstanden. Einer Übertretung der Spielregeln wird mit großer Aggressivität entgegengetreten.

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d) Fragealter (ca. 5. bis 10. Lebensjahr): das Kind will Zusammenhänge finden und kann damit Handlungsfolgen immer mehr voraussehen. Erkenntnis und Verhalten werden objektiver, weniger ausschließlich emotional. Allerdings müssen die Begründungen, die das Kind erfrägt, nicht streng kausal sein.

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e) Versuch und Irrtum (10. bis 11. Lebensjahr): Die emotionale Außensteuerung wird noch weiter abgebaut. Das Kind fängt an, ohne böse Absicht, bisher beobachtete Normen zu übertreten. Es will selbst überprüfen und erfahren, ob diese Normen wirklich gelten. Wenn entsprechende Sanktionen folgen, wird wieder Gehorsam geleistet.

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f) Pubertät (ca. 12. bis 17. Lebensjahr): Streben nach Selbständigkeit und Ablösung von den Eltern. Der Jugendliche möchte sein Verhalten selbst verantworten. Er kämpft gegen Autoritäten und traditionelle Normen, ohne diese aber wirklich entbehren zu können. Wenn die Autoritäten vor dieser Infragestellung einfach zurückweichen, bedeutet das eine Verunsicherung des Jugendlichen. Auf der anderen Seite ist zunehmend dessen Eigenverantwortung anzuerkennen.

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g) Die sittliche Reife: Weil das Gewissen als das "Herz" der menschlichen Person zu verstehen ist, geht es bei der Reifung des Gewissens um die Reifung der gesamten Person, insbesondere ihrer Beziehungen zu Mitmenschen, zur Sachwelt und zu Gott. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Reifung der Emotionalität und die der Vernunft.

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aa) Emotionalität: Im Gewissen wirken die Erfahrungen der Kindheit weiter. Die emotionale Funktion des Gewissens hängt mit der Art der bisherigen sozialen Beziehungen zusammen. Der Mensch hat auch weiterhin ein Bedürfnis, von Mitmenschen angenommen zu sein. Er weiß, daß er deshalb gesellschaftlichen Erwartungen und Normen entsprechen muß. Er muß aber auch lernen, mit anderen mitzuempfinden und sich in sie hineinzufühlen. Wenn er aus anderen stark ichbezogenen Interessen die Norm übertritt, kommt es zu einem inneren Konflikt und es entstehen Schuldgefühle. Beim reifen Gewissen soll diese Funktion weder zu schwach (Laxismus) noch zu stark (Skrupulosität) entwickelt sein. Beides würde auf unreifen und unausgewogenen zwischenmenschlichen Beziehungen beruhen.

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bb) Vernunft: Das Kind ist anfangs noch ganz von Emotionen geleitet. Es kann auf ungewöhnliche Situationen nicht zweckmäßig reagieren. Allmählich lernt es, sich besser anzupassen. Es entwickelt einen Sinn für Kausalzusammenhänge. Insofern die Person die eigene Affektivität richtig verarbeitet und integriert, lernt sie zweckmäßig und sinnvoll über sich selbst zu verfügen und dadurch innerlich frei zu werden. Insofern sie aber nicht mehr bloß von Gefühlen beherrscht wird, sondern mit ihnen umgehen kann, setzt sie mit Vernunft und Glauben in Freiheit dem eigenen Leben seine Ziele. Diese können nicht willkürlich angenommen werden, sondern bedürfen der Legitimation in einer letzten Sinndeutung, die im Glauben bejaht wird. Allerdings steht bereits der ganze Prozeß der Gewissensbildung von klein auf unter dem Einfluß von weltanschaulichen und religiösen Wertorientierungen, durch die die Erwachsenen geleitet sind und die sie auch dem Kind zu vermitteln suchen. Es gehört aber zum reifen Gewissen, daß man sich darüber Rechenschaft gibt und sich in Freiheit gegenüber dieser Sinnfrage entscheidet.

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 Zur bewußten Gewissenbildung gehören vor allem folgende Momente:

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 a) eine gesunde emotionale Entwicklung;

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 b) Bildung der Vernunft (Information, Erfahrung)

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 c) richtige Wahl des sozialen Kontextes und geschichtlicher Vorbilder;

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 d) Beeinflussung "ungerechter Strukturen" zum Besseren.

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4.1.3 Theologie und Ethik des Gewissens

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Lit.: D. Mieth, Gewissen. In: Böckle u.a. (Hg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Bd.12 Freiburg 1981, 137-184, bes. 169-175.

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a) Die theologische Dimension: Gegen eine unmittelbare Identifikation des konkreten Gewissensurteils mit dem absoluten Willen Gottes ist einzuwenden, daß das Gewissen von Eltern und Umwelt abhängig ist, daß es sich irren kann und durch die Sündigkeit des Menschen geschwächt ist. Intoleranz und schwärmerischer Intuitionismus sind zu meiden.

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Gegen eine rein säkulare Auffassung des Gewissensurteils ist einzuwenden, daß damit letztlich jede Kommunikation zwischen Mensch und Gott geleugnet wäre und der Mensch unabhängig von seinem Gewissensurteil zufällig sündigen oder Gott gefallen könnte.

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In der Sicht einer theologischen Anthropologie vermittelt sich im Gewissensurteil symbolhaft der Wille Gottes. - Gott will vom Menschen nicht beliebige Einzelaktionen, sondern er will dem Menschen Gemeinschaft und Heil anbieten, die sich in Glaube, Hoffnung und Liebe vermitteln. Diese Grundentscheidung muß der Mensch auch in seinem äußeren Handeln zum Ausdruck bringen. Menschliche Vernunft kann sich in der Wahl der äußeren Mittel täuschen, nicht aber in der Sinnhaftigkeit und Sittlichkeit der inneren Intention, gut zu handeln. Das Gewissen ist "Stimme Gottes" insofern der Mensch im Gewissen den absoluten Anspruch erfährt, sein Leben sinnvoll in Glaube, Hoffnung und Liebe zu gestalten. Die Unfehlbarkeit des Gewissens bezieht sich auf diesen theologisch-sittlichen Aspekt, nicht auf die Einsicht in äußere Kausalzusammenhänge.

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b) Zur Christologie des Gewissens: Die neuere Moraltheologie hatte die Gottesbeziehung des Menschen im transzendentalen Horizont menschlicher Geistigkeit gesehen: "Und sie (= die göttliche Beanspruchung) wird nur recht verstanden, wenn man sie als den universalen Horizont und das letzte Fundament der menschlichen Freiheit sieht." (18)

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Eine geschichtstheologische Methode sieht hingegen die Beziehung des Menschen zu Gott vermittelt durch das geschichtliche Handeln Gottes, besonders in Jesus Christus. Er ist das Wort, das Gott in die Welt gesprochen hat. Wenn das Gewissen etwas mit Stimme Gottes zu tun hat, dann muß es auch etwas mit dem "logos", mit Jesus Christus zu tun haben. Dieses Wort nimmt der Mensch im Glauben auf. Er beantwortet sich von daher die Frage nach dem Sinn des Lebens. Christus gibt ihm Hoffnung auf Heil und damit einen entscheidenden Maßstab, um die Welt und sein Handeln zu beurteilen. Der Mensch orientiert ja sein Gewissen nicht nur an einem transzendentalen Horizont, sondern an Wertvorstellungen, die in einer Gesellschaft bzw. von Bezugspersonen vertreten werden und zu denen er sich schließlich selbst in Freiheit bekennt.

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Auch das Gewissen von Nichtchristen funktioniert, indem es das Handeln auf das letzte Ziel des Lebens hinordnet. Dieses Ziel wird dort anders gedeutet und führt deshalb auch zu anderen Wertungen und Urteilen. Auch dort wird aber das Gewissen nicht bloß durch Theorien sondern entscheidend durch geschichtliche Erfahrungen geformt, in denen der Geist Gottes wirksam ist. Insofern sind auch diese Menschen vom Wort Gottes angesprochen, wenn auch nicht in jener Eindeutigkeit und Radikalität, wie es durch das Evangelium von Jesus Christus gegeben ist. Jeder Mensch ist in seinem Gewissen geformt durch die Tradition und diese ist wieder entscheidend geprägt durch konkrete Vorbilder, also sittliche Persönlichkeiten.

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c) Zur Ethik des Gewissens: Das Gewissen ist die letzte subjektive Instanz, mit deren Hilfe der Mensch sein Handeln beurteilt und sittliche Anforderungen erkennt. Er muß deshalb seinem Gewissensurteil folgen und darf sich nicht gegen die eigene Einsicht von einer anderen Instanz leiten lassen. Allerdings ist das Gewissen als subjektive Anlage immer auch auf objektive Gegebenheiten verwiesen. Im Handeln hat der Mensch auch Bedacht zu nehmen auf andere Menschen, ihre Wünsche, ihre Rechte und Interessen. Der Handelnde ist nicht nur dem eigenen Wohl, sondern auch dem der Mitmenschen und der Gemeinschaft verpflichtet. Weiters muß das Gewissen die Handlungsfolgen beachten und einkalkulieren. Denn davon ist ja sowohl das eigene wie fremdes Wohl abhängig. Allerdings sind diese Folgen nicht immer im voraus berechenbar. So geht es oft darum, das Risiko abzuwägen und aus unerwarteten Erfahrungen immer neu zu lernen. Ebenso muß der Mensch bereit sein, die Erfahrungen anderer ernst zu nehmen und in seine Überlegungen einzubeziehen. Das Gewissen urteilt bezüglich der konkreten inhaltlichen Handlungsmöglichkeiten nicht aufrund einer Intuition, sondern aufgrund von Erfahrungen und den daraus erschlossenen Gesetzmäßigkeiten.

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d) Autonomie des Gewissens: "Autonomie" verneint Außensteuerung. Der Mensch ist sich selbst Gesetz. Sittliche Autonomie besagt "die Selbstbindung des Subjekts an das Gesetz vernünftiger Selbstbestimmung"(19) Dahinter steht ein philosophisches Konzept etwa im Sinne Kants, wie es im neuzeitlichen Denken weit verbreitet ist. Die Gewissenseinsicht als Akt des Subjekts gilt als absolut verbindlich. Natürlich soll dadurch die Geltung des positiven Rechts nicht geleugnet werden, denn auch hier erscheint es letztlich als Forderung subjektiver Klugheit, daß man ein vernünftigen Gesetz befolgt.

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Die Theorie vom autonomen Gewissen faßt dieses als eine rationale Instanz auf, die sich einem objektiven Sachverhalt gegenübersieht. Hier verfügt der Mensch über die Wahrheit. - In einem personal-dialogischen Verständnis begreift man das Gewissen nicht sosehr von der Vernunft, sondern eher von der Liebe her. Der liebende Mensch findet den Sinn seines Lebens in der Begegnung mit dem Du, im Vollzug von Liebe und Hingabe. Die Eigenständigkeit der Person wird dadurch nicht aufgegeben, weil ja jede Person einmalig ist. Aber die Person verwirklicht sich nur in Kommunikation mit anderen.

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In dieser Sicht gründet sich der sittliche Anspruch nicht ausschließlich im Gesetz der eigenen Vernunft, sondern im "Zwischen", im Sinnanspruch der Liebe. Auch Gottes Wille vermittelt sich hier nicht bloß in der individuellen Vernunft, sondern im Sinnanspruch der zwischenmenschlichen Begegnung. Dieser beruht letztlich darauf, daß der Mensch nicht selbst absolut, sondern auf eine absolute Wirklichkeit hingeordnet ist. Die Hinordnung auf Gott muß sich in der Hinordnung auf den Mitmenschen und die Welt vermitteln. In den welthaften Beziehungen verwirklicht der Mensch symbolhaft die Stellungnahme zu Gott.

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Der Begriff "theonome Autonomie" (F. Böckle) soll besagen, daß die menschliche Autonomie durch die Gottesbeziehung vermittelt ist. Weil der Mensch aber sein Ja zu Gott symbolhaft im Ja zur Welt und zum Mitmenschen sprechen muß, deshalb müßte folgerichtig auch von einer "heteronomen Autonomie" gesprochen werden; denn die Nächstenliebe läßt sich nicht nur vom eigenen Willen und der eigenen Vernunft leiten, sondern auch vom Willen des geliebten Partners. Wie die menschliche Person konstituiert wird durch die Beziehung zu anderen Menschen, so auch das Gewissen.

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Das Heilsangebot Gottes und sein Anspruch richtet sich letztlich nicht an ein Kollektiv, sondern an die einzelne Person, die darauf in Glaube und Liebe zu antworten hat. Das sind Akte personaler Freiheit, die nicht von außen erzwungen werden können. Insofern sind diese Akte "autonom". Diese Autonomie ist mit dem Wesen menschlicher Freiheit gegeben, ist aber wie diese immer als vermittelt zu verstehen.

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Autonomie des Gewissens bedeutet also, daß sich der Mensch in seiner Freiheit angefordert weiß, sein Heil in Liebe und Glaube zu suchen und sein Verhalten zu einem Ausdruck dieser inneren Sinnentscheidung zu machen.

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Die Frage nach der äußeren Richtigkeit des Handelns ist hingegen nicht autonom zu entscheiden. Sie ergibt sich aus den Handlungsfolgen, die nicht unfehlbar vorauszusehen sind, aus dem Anspruch der Mitmenschen, über den es Zweifel geben kann, aus dem Lebenszusammenhang des Handelnden selbst usw. Die Berufung auf eine Gewissenseinsicht besagt deshalb zwar, daß man etwas gut meint und insofern auch sittlich gut handeln kann (insofern ist das Gewissen "unfehlbar"); aber weil das Gewissensurteil hinsichtlich seines konkreten Inhaltes fehlbar ist, bleibt es prinzipiell diskutierbar und anfechtbar. (Insofern ist das Gewissen "fehlbar").

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Allerdings kann die Suche nach der inhaltlichen Richtigkeit einer Entscheidung nicht endlos dauern. Wo die Entscheidung drängt, hat man auch ein Recht dazu. Dabei kann zwar das Risiko hoch sein, daß man sachlich falsch handelt, aber sittlich gesehen ist die Handlung eindeutig gut, wenn sie nicht aufgeschoben und weiter überlegt werden kann, sondern "nach bestem Wissen und Gewissen" vollzogen wird.

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4.2 Das kirchliche Lehramt

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Lit.: K. Rahner, Lehramt. In: Sacramentum mundi III. 1969, 177-193; A. Riedl, Die kirchliche Lehrautorität in Fragen der Moral nach den Aussagen des I. Vatikanischen Konzils. Freiburg 1979; H. Schlögel, Kirche und sittliches Handeln. Mainz 1981; K. Demmer, Die Weisungskompetenz des kirchlichen Lehramts im Licht der spezifischen Perspektivierung neutestamentlicher Sittlichkeit. In: R. Demmer/ B. Schüller (Hrsg.), Christlich glauben und handeln. Fragen einer fundamentalen Moraltheologie in der Diskussion. Düsseldorf 1977. 124-144; K. Rahner, H. Vorgrimler, Kleines Theologisches Wörterbuch. Freiburg i.Br. 111978, 253-255.

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4.2.1 Zur Geschichte

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Um die Funktion des kirchlichen Lehramtes für das Gewissen und damit auch für die Moraltheologie näher bestimmen zu können, ist es hilfreich, einen kurzen Blick in die Geschichte zu werfen. Hier soll gezeigt werden, inwiefern die von der Kirche verkündete Lehre zuverlässig und kompetent oder aber auch irrig gewesen ist.

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4.2.1.1 Ethische Einsichten in der Bibel:

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In der Bibel finden sich Aussagen, die sicher Gültigkeit haben, solange es Christentum, gibt, so z.B. das Gebot "Liebet einander, wie ich euch geliebt habe!" (Joh 15, 12b). Ähnlich sind Gebote der Vergebung, der Treue usw. zu bewerten. - Wo die ethische Einsicht als Imperativ einem Indikativ folgt, der eine unmittelbare Glaubensaussage darstellt, ist der Imperativ unfehlbar. Wenn also die ethische Forderung unmittelbar aus einem Glaubensgeheimnis folgt, dann ist die ethische Forderung eben durch das Glaubensgeheimnis garantiert.

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Es gibt in der Bibel aber auch sehr wandelbare Aussagen. So z.B. das Ergebnis des Apostelkonzils (Apg 15,28f): "Denn der Hl. Geist und wir haben beschlossen, euch keine weitere Last aufzuerlegen als diese notwendigen Dinge: Götzenopferfleisch, Blut, Ersticktes und Unzucht zu meiden. Wenn ihr euch davor hütet, handelt ihr richtig. Lebt wohl!"

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Schon die Paulusbriefe zeigen, daß diese Forderungen nicht gehalten haben. Ähnlich steht es etwa mit den Normen, die Paulus über die Haartracht der Männer und Frauen aufstellt (1 Kor 11,3-16). Dabei zeigen solche Texte unmittelbar nicht, daß sich die biblischen Autoritäten der Wandelbarkeit solcher Aussagen bewußt waren.

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4.2.1.2 Die nachbiblische Geschichte:

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Man kann von vorneherein vermuten, daß das kirchliche Lehramt nicht unfehlbarer ist als die Bibel. Vielmehr zeigt sich in der Lehrgeschichte der gleiche Befund: Es gibt Aussagen wie das Liebesgebot, die durchaus als Dogma verkündet werden könnten. Zu den Forderungen der Nächstenliebe, der Verzeihung usw. mag hier auch noch die Unauflöslichkeit der Ehe gerechnet werden. Allerdings zeigt dieses letzte Beispiel besonders deutlich (was sich aber auch bei den andern nachweisen läßt), daß zwar die abstrakte und generelle Forderung unwandelbar und für das Christentum unaufgebbar ist, daß aber solche Weisungen umso unklarer werden, je konkreter man sie anwenden will.

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 Einige Beispiele zur Frage der Kompetenz des kirchlichen Lehramtes:

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a) Das Zinsverbot: Im AT durften die Juden nur von Nichtjuden Zins verlangen, unter den eigenen Volksgenossen galt das als Wucher und war verboten (Ps 14,5; Ez 18,7ff; Lk 6,34). Die nachbiblische Kirche hielt am Zinsverbot fest. So die Synode von Arles 314, das Konzil von Nikaia 325. Den Klerikern waren Zinsgeschäfte unter Exkommunikation verboten. In der Karolingerzeit wurde das Zinsverbot zum allgemeinen Gesetz gemacht und auch für Laien unter die Strafe der Exkommunikation gestellt. Noch das V. Laterankonzil (1517) erneuerte die kirchlichen Zinsverbote. Die Reformatoren schlossen sich dieser Auffassung an und der Calvinismus hielt bis zur Mitte des 17. Jhdts. am Zinsverbot fest. Die wirtschaftlichen Verhältnisse gaben dem Leihgeld aber allmählich immer mehr Bedeutung, und so wurde es im staatlichen Gesetz etwa vom 16. Jh. an mehr und mehr anerkannt. Im 19. Jh. wurden dann diese staatlichen Regelungen auch von seiten des Apostolischen Stuhles mehrfach anerkannt, wenn der Zins nicht übermäßig hoch war.

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b) Religionsfreiheit: Die traditionelle Lehre der Kirche, die auch noch in einem Entwurf für das II. Vatikanum formuliert wurde, besagte: Die nichtchristlichen Religionen weichen von der Wahrheit ab und sind insofern ein Übel. Da sie zudem Gelegenheit zu Abfall und Irrlehre bieten, sind sie negativ zu bewerten und können keine Religionsfreiheit für sich beanspruchen. Wenn der Staat mehrheitlich katholisch ist, muß er sich zum Verteidiger der Wahrheit machen und den Irrtum möglichst einschränken. Wenn der Staat hingegen mehrheitlich nicht-katholisch ist, muß er sich am Naturrecht orientieren. Er darf die Wahrheit nicht behindern, muß also den katholischen Glauben und damit evtl. auch den anderen Glaubensauffassungen gesetzliche Freiheit einräumen. Besonders Pius IX. hatte im Syllabus von 1864 entgegenstehende Auffassungen verurteilt. Erst das II. Vatikanum verkündete die Religionsfreiheit als ein Recht der menschlichen Person, unabhängig davon, um welche Religion es sich handelt.

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c) Neben diesen besonders bekannten Beispielen gibt es viele andere Fragen wie etwa die Einstellung des kirchlichen Lehramtes zur Ketzerverbrennung (Leo X. hat 1520 noch die These Martin Luthers verurteilt, es sei gegen den Willen des Geistes, Häretiker zu verbrennen: D 1483), zur Hexenverbrennung, zur Kastration von Sängerknaben, zur Folter usw., in denen das kirchliche Lehramt im Laufe der Zeit Auffassungen, die es zunächst sehr entschieden vertreten hatte, allmählich aufgab oder widerrief. - Gerade diese negativen Beispiele zeigen, daß es nicht im Sinne einer kirchlichen Haltung ist, alle Äußerungen des Lehramtes in gleicher Weise als unfehlbar zu betrachten und von jeder Kritik abzusehen.

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Thomas v.A. unterscheidet das "magisterium cathedrae magisterialis", also das Magisterium der Theologen in der Kirche, von dem "magisterium cathedrae pastoralis", d.h. dem Lehr- und Hirtenamt der Bischöfe. Im 19. Jh. beobachten wir eine Zentralisierung des kirchlichen Lehramtes. Während in früheren Zeiten weder die Bischöfe (oft "Fürstbischöfe", die kaum einmal gepredigt haben) noch auch Rom so eindeutig das Lehramt ausgeübt haben, sondern z.B. in theologisch strittigen Fragen theologische Fakultäten beauftragt haben, ein Gutachten zu erstellen, kam es nun im 19. Jh. zu einer starken Zentralisierung, die insbesondere durch die Aufwertung des päpstlichen Primates im Vaticanum I unterstützt wurde. Zudem machten die modernen Medien eine viel schnellere und bessere Kommunikation Roms mit der ganzen Kirche möglich, was wiederum die Wirksamkeit der Überwachung der Lehre in der ganzen Kirche verstärkte. - Das Vaticanum II brachte zwar einen korrigierenden Ansatz in Form des Gedankens der Kollegialität in der Kirchenleitung zur Sprache, stellte aber kein wirkliches Gegengewicht gegen die inzwischen erfolgte Zentralisierung dar.

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4.2.2 Zur Systematik der Frage

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4.2.2.1 Bildung des Gewissens und Lehramt:

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Das Gewissen des Kindes bildet sich zunächst an Mutter, Vater, Geschwistern, Erziehern, Lehrern, Katecheten, Seelsorgern usw. Diese Bezugspersonen habe nicht nur durch ihr Wort, sondern fast noch mehr durch das Zeugnis ihres Lebens und Verhaltens einen sehr starken Einfluß auf das Kind. Sie üben auch in Fragen des Glaubens und der Moral ein fundamentales "Lehramt" aus. Im weiteren muß sich dann das Gewissensurteil auch im eigenen Verhalten bewähren. Die Vernunfteinsicht hat hier eine korrigierende und weiterführende Funktion. Das kirchliche Lehramt in Form von Bischöfen und Päpsten hat eine leitende und korrigierende Aufgabe in der Gesamtkirche, berührt aber das Gewissen des einzelnen Gläubigen gewöhnlich nur wenig. Nur wenige Gläubige haben ein genaueres Wissen über Lehrschreiben von Päpsten und Bischöfen. So ist es auch bei guten Katholiken durchaus möglich, daß sie in Gewissensfragen von Lebensgeschichte, Einsicht und Bezugspersonen her andere Auffassungen haben als die vom kirchlichen Lehramt vertretenen.

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4.2.2.2 Analogie zum Gewissen:

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Ähnlich wie beim Gewissen ist auch beim kirchlichen Lehramt in Fragen der Moral zu unterscheiden zwischen ethischen Grundprinzipien ("Du sollst Gott und deinen Nächsten lieben!") und konkreten Anwendungen, die der Hilfe der Vernunft und der Erfahrung bedürfen. Während erstere vom kirchlichen Lehramt durchaus mit dem Anspruch auf Unfehlbarkeit verkündet werden könnten, ist das bei letzteren nicht möglich. Denn die kirchlichen Aussagen beziehen hier Tatbestände ein, die in sich wandelbar sind und bei denen deshalb notwendig unsicher bleibt, ob ihnen eine bestimmte ethische Forderung genügend Rechnung trägt. Aus diesem Grund finden sich auch im Bereich der Moraltheologie so gut wie keine sittlichen Dogmen, und die Kirche erhebt nicht den Anspruch, in konkreten Sachbereichen wie Wirtschaftsethik, politischer Ethik usw. konkrete, unfehlbare Entscheidungen treffen zu können. Im Bereich der medizinischen Ethik (z.B. Empfängnisverhütung) scheint man geteilter Meinung zu sein, ob hier eine unfehlbare Äußerung möglich ist. Die Antwort hängt davon ab, ob in solchen Aussagen empirische Voraussetzungen gemacht werden müssen, die sich ändern können, oder ob die entscheidenden Äußerungen unmittelbar und ausschließlich aus theologischen Voraussetzungen deduziert werden können.

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4.2.2.3 Prophetische Funktion des kirchlichen Lehramtes:

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Im Unterschied zum Gewissen ist das kirchliche Lehramt von vorneherein in seinen Äußerungen auf Gemeinschaft ausgerichtet. Es will nicht nur für sich selbst etwas erkennen, sondern die Wahrheit für die Gemeinschaft der Kirche und schließlich der Welt überhaupt fruchtbar machen. Es stützt sich dabei auf Bibel und Tradition. Wünschenswert wäre, daß die Meinungsbildung des kirchlichen Lehramtes stärker auch das Urteil derer einbeziehen würde, die als unmittelbar Betroffene und mit der Sache Befaßte wichtige Einsichten beibringen können. Das widerspräche der kirchlichen Lehrautorität ebenso wenig, wie die Tatsache, daß vor der Verkündigung eines Dogmas, die Meinung der ganzen Kirche eingeholt wird.

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Anderseits ist die kirchliche Verkündigung nicht bloß von einem demokratischen Prozeß her zu erklären. Die Kirche muß Jesus Christus verkünden. Sie muß bestrebt sein, ungeschmälert die Botschaft zu vertreten, die in der Offenbarung ergangen ist. Die Kirche kann sich deshalb nicht einfach dem Zeitgeist anpassen, sondern muß prüfen, was an diesem Zeitgeist der Offenbarung entspricht und was davon abweicht. Dabei ist aber in Fragen der Moral mehr als etwa in der Dogmatik zu bedenken, daß man traditionelle Auffassungen immer wieder zu prüfen und zu revidieren hat, insofern sie empirische Voraussetzungen machen, die durch neuere Erkenntnisse überholt sein könnten.

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Die Kirche darf sich aber nicht damit begnügen, nur allgemeine und abstrakte Aussagen zu machen, um sich Irrtümern zu entziehen. Sie muß vielmehr versuchen, der Menschlichkeit zu dienen, indem sie auch zu sehr konkreten Fragen Stellung nimmt. Allerdings ist dann die Gefahr eines Irrtums größer, und die Kirche muß bereit sein, hier auch Äußerungen zu revidieren. - Um auch solche Äußerungen wirksam werden zu lassen, muß unter den Gläubigen die Bereitschaft herrschen, nicht jede kirchliche Stellungnahme sofort zu kritisieren und dadurch um ihre Wirkung zu bringen, sondern sie gutwillig aufzunehmen und sich ihr Anliegen anzueignen. Auch wenn eine Lehräußerung nicht unfehlbar ist, ist sie doch als authentisch zu respektieren.

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Allerdings sind dann solche Aussagen eben nicht unfehlbar, und es bleibt die Verantwortung Sachkundiger, sich über solche Aussagen ein kritisches Urteil zu bilden und gegebenenfalls ihre Stimme zu erheben, wenn ein Irrtum vorliegt, der Schaden oder größere Unzukömmlichkeiten hervorbringen muß.

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Die Kirchlichkeit des Katholiken verlangt also nicht eine völlig unkritische Hinnahme von Urteilen, die seiner eigenen Einsicht widersprechen, sondern sie verlangt zunächst die ehrliche Bereitschaft, die Anliegen der Kirche zu übernehmen, ihr Vertrauen entgegenzubringen und sich ihrer Leitung unterzuordnen. Wo aber gute Gründe bestehen, an einer Lehräußerung der Kirche zu zweifeln, Gründe, die auch von Experten immer wieder bestätigt werden, dort ergibt sich dann die Berechtigung des Widerspruches. Dieser sollte allerdings in Bescheidenheit und möglichst zunächst im inneren Kreis der Verantwortlichen und der Experten geäußert werden, bevor man damit an die Öffentlichkeit tritt. Es sollte möglichst vermieden werden, daß durch eine solche vielleicht notwendige Kritik Schaden in der Kirche entsteht. Anderseits besteht diese Verantwortung auch insofern als von der Kirche durch unkritische Hinnahme nicht nachvollziehbarer Standpunkte größerer Schaden entstehen kann.

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5 Fünfter Teil: Der Mißbrauch der Freiheit

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5.1 Zur Philosophie von Gut und Böse

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5.1.1 Das Gute

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Lit.: B. Welte, Thomas von Aquin über das Gute. In: Ders., Auf der Spur des Ewigen, 170 - 184; J.B. Lotz, Das Gute als Gegenstand des sittlichen Handelns. In: G. Teichtweier, Herausforderung und Kritik der Moraltheologie, 64 - 85; D. Bonhoeffer, Ethik, München 1966, 227-237.

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Platon versteht die Idee des Guten als eine letzte Wirklichkeit, die durch die verschiedensten Wirklichkeiten in der Welt abgebildet wird. - Thomas interpretiert das Gute nicht so seinshaft-objektiv, sondern als Beziehung: "Bonum est id, quod appetitur." Das Gute wird also durch das Streben konstituiert. Anderseits sagt er aber auch: "Bonum movet voluntatem." Demnach ruft das Gute die Aktivität des Sollens hervor. Thomas entgeht hier einem Circulus vitiosus dadurch, daß er jedem Seienden insofern eine Gutheit zuschreibt, als es von Gott geschaffen und gewollt ist. Der Wille Gottes braucht aber keine Aktivierung durch seinen endlichen Gegenstand, weil Gott bonitas und amor subsistens ist. Jedes Seiende ist also gut und kann den menschlichen Willen bewegen, ohne von diesem erst als gut konstituiert worden zu sein.

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Modell für solche Darlegungen ist die Beziehung zu objektiven Dingen, die man erstrebt. Deshalb ist es von diesem Ansatz her schwer, etwa das Wesen des sittlich Guten zu verstehen, das ja in Zusammenhang mit Freiheit, Kommunikation, Zukunft und Heil gesehen werden müßte. Das sittlich Gute wird in der Tradition vielfach als Vervollkommnung der menschlichen Person, als Selbstvollzug und Selbstverwirklichung gedeutet.

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D. Bonhoeffer hat sich sehr scharf von einem solchen Begriff des Guten distanziert. Man dürfe nicht nach dem eigenen Gutsein und dem Gutsein des eigenen Handelns fragen, sondern müsse die Frage nach dem Willen Gottes stellen: Ethik 200f:

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"Es ist eine Zumutung sondergleichen, die an jedem, der das Problem einer christlichen Ethik zu Gesicht bekommen will, gestellt werden muß, die Zumutung nämlich, die beiden Fragen, welche ihn überhaupt zur Beschäftigung mit den ethischen Problemen führen: 'Wie werde ich gut?' und 'Wie tue ich etwas Gutes?' von vornherein als der Sache unangemessen aufzugeben und statt dessen die ganz andere, von jenen beiden unendlich verschiedene Frage nach dem Willen Gottes zu stellen. Diese Zumutung ist darum so einschneidend, weil sie eine Entscheidung über die letzte Wirklichkeit und damit eine Glaubensentscheidung voraussetzt. Wo sich das ethische Problem wesentlich in dem Fragen nach dem eigenen Gutsein und nach dem Tun des Guten darstellt, dort ist bereits die Entscheidung für das Ich und die Welt als die letzte Wirklichkeit gefallen. Alle ethische Besinnung hat dann das Ziel, daß ich gut bin und daß die Welt - durch mein Tun - gut wird. Zeigt es sich aber, daß diese Wirklichkeiten des Ich und der Welt selbst noch eingebettet liegen in eine ganz andere letzte Wirklichkeit, nämlich die Wirklichkeit Gottes, des Schöpfers, Versöhners und Erlösers, dann tritt das ethische Problem sofort unter einen völlig neuen Aspekt. Nicht, daß ich gut werde, noch daß der Zustand der Welt durch mich gebessert werde, ist dann von letzter Wichtigkeit, sondern daß die Wirklichkeit Gottes sich überall als letzte Wirklichkeit erweise. Daß also Gott sich als der Gute erweist, auf die Gefahr hin, daß dabei ich und die Welt als nicht gut, sondern als durch und durch böse zu stehen kommen, wird nun dort zum Ursprung des ethischen Bemühens, wo Gott als letzte Wirklichkeit geglaubt wird."

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Das sittlich Gute ist nicht als Ergebnis menschlicher Leistung zu verstehen, sondern als Teilnahme des Menschen am Leben Gottes, die Gott in seiner Freiheit dem Menschen anbietet. Dieses Angebot Gottes ist vermittelt durch Jesus Christus. Das sittlich Gute im vollen Sinne ist identisch mit dem Heil. Sittlich gut kann eine Handlung innerhalb des irdischen Lebens nur im analogen Sinn genannt werden, insofern sie Heil vorwegnimmt. Sittliches Handeln ist ein Realsymbol dieses eschatologischen Heiles. Sittliches Handeln weist folgende Aspekte auf:

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a) Weil das Heil endgültige Erfüllung der menschlichen Hoffnung ist, muß sich im guten Handeln eine Befriedigung personalen Strebens, d.h. eine positive Sinnerfahrung, andeuten.

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b) Weil das Heil noch nicht vollendet ist, kann diese Erfahrung nur den Charakter eines Versprechens größerer Erfüllung haben.

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c) Weil die Erfüllung menschlicher Hoffnung alle innerweltlichen Grenzen überschreitet, geht es in der Erfahrung des Guten um eine absolute Sinnhaftigkeit.

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d) Weil das Heil primär Geschenk Gottes ist, darf auch die Erfahrung des Guten nicht bloß Bewußtsein eigener Leistung sein.

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Sittlich gut handeln heißt also, so handeln, daß die unmittelbar angezielte Wirklichkeit Symbol des Heiles ist. Weil das volle Heil aber noch Zukunft ist, kann es nur in Freiheit geglaubt und erhofft werden. Die Erfahrung des Guten schließt deshalb einen Akt des Glaubens ein. Gut ist eine menschliche Handlung, wenn sie Ausdruck von Liebe, Glaube und Hoffnung ist, wenn sie also ein Symbol der Kommunikation mit Gott darstellt.

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5.1.2. Das Böse

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Lit.: B. Welte, Über das Böse (Quaest. Disp. 6), Freiburg 1959; J. Splett/Kl. Haemmerle, Das Böse. In: Sacramentum Mundi I, 617 - 624; J. Gründel, Überlegungen zum Wesen und zur Eigenart der Sünde. In: G. Teichtweier/W. Dreier (Hg.), Herausforderung und Kritik der Moraltheologie, Würzburg 1971, 131 - 148.

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Das Böse ist das in Freiheit gesprochene Nein zum Guten. Die scholastische Tradition hat das Böse vielfach als Mangel an geforderter Vollkommenheit gesehen. Diese Definition ist ungenügend. Wie will es sich hier die Macht erklären, die doch das Böse im menschlichen Leben ausübt?

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Die Transzendentalphilosophie sucht die Erklärung in der ontologischen Differenz im Menschen, die zwischen Existenz und Essenz, zwischen der endlichen Selbstverwirklichung und dem unendlichen Seinsgrund des Menschen besteht. Am deutlichsten zeigt das B. Welte,:

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"Der endlich-unendliche Wille des Menschen aber kann seinen eigenen Grund und damit die Grundlage der Möglichkeit seiner Akte, weil dieser Grund zu ihm in Differenz steht und er also seiner nicht sicher ist, quoad apprehensionem (De ver. XXII, 6) als nicht-gut nehmen und sich von ihm ablösen, er kann im Akte aufhören zu wollen, was er im Wesensgrunde immer und notwendig will, das Gute, er kann diesen Widerspruch mit sich selbst vollziehen."

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Das Böse würde also darin bestehen, daß der Mensch nicht bloß endlich ist, sondern diese Endlichkeit in seinem Wollen festhält und nicht nach einer Überschreitung seiner Begrenztheit strebt. Um gut zu sein, müßte der Mensch über alle Grenzen hinaus streben. Er müßte letztlich eine grenzenlose Aktualisierung seiner Freiheit wollen und damit jene Definition erfüllen, die Welte von Jesus Christus, dem Sohne Gottes, gibt. (20) Die Gottheit Christi besteht nämlich nach Welte darin, daß der Mensch seine unendliche Möglichkeit voll aktualisiert. Demnach wäre eigentlich jeder Mensch dazu berufen, wesensmäßig Sohn Gottes zu sein. Wenn er dieser Berufung nicht entspricht, wird er bereits sündig. Hier wird also entweder gefordert, daß eigentlich jeder Mensch ein Christus sein müsse, oder er ist schon wegen der Endlosigkeit seiner Liebesfähigkeit sündig.

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Hier wird zu wenig beachtet, daß das unendliche Sein dem Menschen nur in einer innergeschichtlichen Vermittlung zukommt. Die Kraft der Liebe muß durch die Begegnung mit den Mitmenschen vermittelt werden, und nur so weit, wie der Mensch die Kraft hat, ist er auch zum Guten berufen. Auch der Gedanke der Solidarität im Bösen (Erbsünde) und im Guten (Erlösung) wird zu wenig herausgearbeitet. Ebenso fällt hier der Aspekt einer "Beleidigung" Gottes weg.

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5.2 Die Sünde

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Lit.: F. Böckle, Fundamentalmoral. München 1977, 121-149; F. Böckle/G. Condrau, Schuld und Sünde. In: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Bd. 12. Freiburg i.Br. 1981, 91-135; K. Demmer, Entscheidung und Verhängnis. Die moraltheologische Lehre von der Sünde im Licht christologischer Anthropologie. Paderborn 1976; P. Schoonenberg, Theologie der Sünde. Einsiedeln 1966; B. Welte, Über das Böse. Freiburg i.Br. 1958.

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Der Begriff der Sünde wird entsprechend der vorausgesetzten Philosophie verschieden interpretiert werden. Im objektiven Denken der griechischen Tradition erscheint die Negation des Guten als Fehlen eines (gesollten) Seins. Das eigentliche Wesen des Bösen und der Sünde kommt dadurch kaum in den Blick. Gerade im Begriff der Sünde geht es um einen personalen Sachverhalt, der auch nur von personalen Denkkategorien angemessen erfaßt werden kann.

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5.2.1 Geschichte der Sündenlehre

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Lit.: H. Gauly, Wissen um Schuld. Die Bedeutung der nachtridentinischen Lehre über die subjektiven Bedingungen der Todsünde für die Pastoraltheologie. Mainz 1972; B. Häring, Sünde im Zeitalter der Säkularisation. Graz 1974; R. Knierim, Die Hauptbegriffe für Sünde im AT. Gütersloh 1965; A. M. Landgraf, Dogmengeschichte der Frühscholastik. 4. Teil. Regensburg 1955f; L. Ligier, Die Offenbarung der Sünde im Mysterium Christi. In: Communio 2 (1973) 505-534; A. K. Ruf, Sünde - was ist das? München 1972.

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In primitiven Kulturen findet man meist ein sehr dinghaftes Sündenverständnis. Wesentlich ist dabei nicht die menschliche Freiheit und die böse Absicht, sondern die Verletzung von Tabus, Reinheitsgesetzen und objektiv umschriebenen Normen. Spuren dieser Auffassung finden sich noch im AT. Man denke an die Bewertung des Abfalls vom Glauben und die vorsorgliche Maßnahme des Bannes gegenüber Andersgläubigen, an Reinheitsgesetze und Reste des Tabudenkens (Transport der Bundeslade: 2 Sam 6,6f (21); Abimelechs Beziehung zu Sara: Gen 20,1-18).

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Sünde ist nicht bloß Sache des einzelnen, sondern der ganzen Volksgemeinschaft. Denn Jahwe hat seinen Bund mit dem ganzen Volk geschlossen und die Sünde des einzelnen gefährdet damit die Verheißung Jahwes und das Wohlergehen des ganzen Volkes. Auf wichtigen Vergehen stand Todesstrafe oder Ausschluß aus der Volksgemeinschaft. - Sünde und Strafe werden noch nicht genau voneinander getrennt. Wie das Wohlergehen des Menschen als Zeichen der Gnade Gottes verstanden wird, so das Unglück als Zeichen der Ungnade Gottes. Die subjektive Intention wird jedenfalls in der älteren Zeit noch nicht so deutlich als eigentliches Kriterium der Sittlichkeit verstanden. - Eine Vertiefung des Sündenverständnisses zeigt sich aber dann besonders bei den Propheten. Sie betonen stärker die Bedeutung des Subjektiven und des Personalen.

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Im NT wird der überlieferte Sündenbegriff weiter vertieft. Der Anspruch Gottes vermittelt sich nicht mehr nur in den Bundesschlüssen des AT (Noah, Abraham, Mose auf Sinai, David, Levitischer Bund), sondern im Neuen Bund, der durch den Tod Jesu besiegelt wird. Besonders zu beachten sind am Sündenbegriff des NT fo1gende Punkte:

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a) Christozentrik: Im AT war die Sünde im Rahmen des Bundes zu sehen. Weil Gott seinem Volk Gutes getan hatte, war das Volk Gott verpflichtet. Sünde war "Ehebruch"! Im NT begründet nun Christus den Neuen Bund. Das Ja Gottes zum Menschen zeigte sich in viel radikalerer Weise als im AT. Daraus ergibt sich die Verbindlichkeit der Gebote und das Gewicht der Sünde.

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"Wäre ich nicht gekommen und hätte ich nicht zu ihnen geredet, so hätten sie keine Sünde; nun aber haben sie keine Entschuldigung für ihre Sünde. Wer mich haßt, haßt auch meinen Vater. Hätte ich nicht die Werke unter ihnen getan, die sonst keiner getan hat, so hätten sie keine Sünde; jetzt aber haben sie gesehen und haben mich wie meinen Vater gehaßt." Joh 15,22-24)

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Ähnliches sagt das Gleichnis von den bösen Winzern, die den Sohn des Hausherrn töten (Mt 21,33-46). Die Sünde wird hier heilsgeschichtlich gesehen. Sie betrifft Gott selbst in seinem Sohn Jesus Christus, der die Sünde der Menschen auf sich genommen hat.

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b) Sünde und Sünden: Die Mehrzahl "Sünden" besagt, daß Sünde nicht bloß in einer geistigen Haltung besteht, sondern sich in den einzelnen Handlungen des Menschen darstellt. "Sünde" in der Einzahl (bes. bei Johannes) verweist auf das einheitliche Wesen der Sünde und ihren innersten Grund. Die Sünde ist in ihrem Wesen Unglaube (Joh 8,21 u.ö.). Hier wird Sünde nicht bloß als äußeres Tun gesehen, sondern als personaler Vollzug, in dem sich der Mensch auf Gott und die Heilsverheißung in Christus bezieht.

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c) Die allumfassende Sündenmacht: Besonders Paulus spricht von einer Sündenmacht, die die ganze Menschheit beherrscht (Röm 3,9.23; 5,18f; Gal. 3,22). Diese Sündenmacht ist nicht als biologisches Erbe zu verstehen. Es geht um ein personales Denken, nach welchem der Mensch seine sittliche Haltung nicht nur aus sich selbst entfaltet, sondern von vorneherein in einem Solidaritätszusammenhang mit der Menschheit.

947
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 d) Die unvergebbare Sünde:

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"Darum sage ich euch: Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden, die Lästerung des Geistes aber wird nicht vergeben werden. Und wer ein Wort gegen den Menschensohn sagt, dem wird vergeben werden; wer aber gegen den Heiligen Geist spricht, dem wird nicht vergeben werden, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt." (Mt 12,31f.)

949
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Auch hier wird Sünde nicht als bloß äußeres Werk begriffen, sondern als personale Antwort auf das absolut verpflichtende Liebesangebot Gottes. Wo die Entscheidung zum Bösen nicht bloß in einem einzelnen Augenblick, sondern bis zum Ende des Lebens gegeben wird, ist keine Vergebung mehr möglich.

950
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 Lit.: E. Kinder, Sünde und Schuld dogmengeschichtlich. In: RGG VI, 489-494.

951
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Urkirche: In der frühen Kirche bestand eine Spannung von Sündenverständnis und Erlösungsbewußtsein insofern, als man glaubte, durch die Taufe grundsätzlich von Sünde frei zu sein. Zugleich war ständige Buße und Kampf gegen Sünde gefordert. Daraus erwuchs die Unterscheidung zwischen "Todsünden" und "kleineren Sünden" (vgl. 1 Joh 5,16f.). Auf diese kleineren Sünden bezogen sich die innerchristlichen Mahnungen und Sündenbekenntnisse.

952
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Nach der Gnosis entsteht Sünde aus der Materieverhaftung des Menschen (Dualismus!). Die Kirchenväter betonen hingegen die Verantwortung des Menschen für die Sünde ("Ungehorsam gegen Gott"). Gegenstand der öffentlichen Kirchenbuße waren nur die Kapitalsünden (Abfall vom Glauben, Unzucht, Mord). Die kleineren Sünden waren oft Gegenstand einer Seelenführung, wie sie z.B. von den Wüstenvätern geübt wurde. Anfangs wurde auch das Problem diskutiert, ob Vergebung von Kapitalsünden nach der Taufe öfter als einmal gewährt werden könne (Hirt des Hermas, Tertullian).

953
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Augustinus sieht in der Sünde eine Abwendung des Menschen von Gott in Überheblichkeit und Selbstliebe. Sünde ist also kein metaphysisches Prinzip im Sinne des Dualismus (gegen Manichäer!), sondern kommt aus der Freiheit des Menschen, allerdings begründet in seiner Begierlichkeit. Der Mensch kann aus seiner Freiheit heraus die Sündhaftigkeit nicht überwinden, sondern ist dazu auf Gottes Gnade angewiesen (gegen den Pelagianismus). Im Kampf gegen den Pelagianismus vertritt Augustinus eine geradezu zwangshafte Neigung zum Bösen.

954
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Anselm von Canterbury sieht die Sünde auf dem Hintergrund des germanischen Lehensrechtes im Verhältnis zur Würde und gerechtigkeit Gottes. Die Erbsünde liegt bei ihm nicht in der concupiscentia als einer verkehrten Natur, sondern in der Disharmonie zwischen untermenschlichen Trieben und Vernunft, die nicht zur Synthese kommen. Ein besonderes Problem dieser Zeit ist die Frage nach der Schwere der Sünde und die Habituslehre.

955
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Thomas von Aquin definiert die Sünde als Tat, Wort oder Begehren gegen die lex aeterna. Die Sünde ist das Gegenteil der Tugend. Der Mensch verfehlt sich in der Sünde gegen die Vernunft, verstößt damit gegen das ewige Gesetz, das ihm seine Vernunft in der Naturordnung zeigt und dadurch mittelbar auch gegen den Schöpfergott.

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Das ausgehende Mittelalter ist von zwei Trends geprägt: Einerseits von einer Wende zu einem personalen, relationalen Verständnis des Menschen (vgl. Nominalismus); anderseits von einem starken Pessimismus, von Sündenangst und einem strengen Gottesbegriff (vgl. devotio moderna).

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In der Bußpraxis wurden Unterscheidungskriterien zur Beurteilung der Schwere der Sünde systematisiert. Während im 4. Laterankonzil der Beichtvater noch als Arzt gesehen wird, sieht ihn das Tridentinum vorwiegend (nicht nur!) als Richter.

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Martin Luther sieht die Sünde in ihrem theologischen Wesen als Unglaube. Sünde entspringt der Verachtung Gottes und besteht in der Verweigerung der Furcht, des Vertrauens und der Liebe zu Gott. Sünde hat ihren Sitz nicht in der Sinnlichkeit des Menschen, sondern sie besteht in der Verkehrtheit des Herzens und des Willens. Die Erbsünde ist wirkliche Schuld, die den Menschen unter das Zorngericht Gottes bringt. Im Vordergrund steht die sündige Grundhaltung, nicht die einzelne sündige Tat. Rechtfertigen kann den Menschen nicht sein eigener guter Wille oder sein Handeln, sondern nur die Gnade Gottes. Erkenntnis der Sünde ist keine natürliche Einsicht, sondern eine Glaubensaussage im Lichte der Offenbarung.

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Das Konzil von Trient (sess. VI) dogmatisiert die katholische Erbsündenlehre. Durch Fortpflanzung, nicht durch Nachahmung, geht die Sünde Adams auf die Menschen über. Das Bußsakrament wird als ein Gerichtsvorgang aufgefaßt. Der Beichtvater hat zu richten, der Pönitent ist der Angeklagte. Diese Akzentsetzung fördert ein juristisches Verständnis der Moraltheologie.

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Der Catechismus Romanus (1564) übernimmt zur Beurteilung der Schwere der Sünde die Lehre von den Umständen. Die Frage nach dem Subjekt tritt zurück. Das führt zu einer Verstärkung der Kasuistik.

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Die Tübinger Schule (Hirscher, Sailer) betont die Freiheitsentscheidung und Gesinnung in ihrer Bedeutung für die sittliche Beurteilung einer Handlung. Auch die Humanwissenschaften mit ihren empirischen Einsichten werden herangezogen.

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Das Vaticanum II (bes. Gaudium et spes) sieht in der Sünde nicht mehr so sehr den objektiven Tatbestand, sondern den Menschen in Zusammenhang seiner Berufung durch Gott, d.h. vom eschatologischen Heil her. Hier werden also theologische, eschatologische, aber auch ekklesiale Aspekte betont.

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5.2.2 Anthropologie und Psychologie von Sünde und Schuld

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Lit.: Battke, Marion, Das Böse bei Sigmund Freud und C.G. Jung. Düsseldorf 1978; Goetschi, Rene, Der Mensch und seine Schuld. Zürich 1976; Laplanche, J./Pontalis, J.-B., Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1972; Ricoeur, Paul, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld, 2 Bde; Condrau, Gion, Angst und Schuld als Grundprobleme der Psychotherapie. Frankfurt a.M. 1976.

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Schuld ergibt sich aus dem Widerspruch zwischen sittlichem Sollen und tatsächlichem Tun. Sie äußert sich im Schuldbewußtsein und in Schuldgefühlen.

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B. Ricoeur spricht von der Beschränkung und Fehlbarkeit des Menschen. Nach einer Analyse der Lebenswelt versucht er, die Spannung zwischen den Bedürfnissen und deren mangelhafte Befriedigung anhand des Urkonflikts zwischen willentlicher Entscheidung für etwas und dessen Negation im Handeln zu erörtern. Die entsprechende Symbolik, die phänomenologisch erschlossen wird, findet in allen großen Religionen ihre spirituell verankerten Ausdrucksformen (Reinigungsriten, Klagelieder, Schuldbekenntnisse).

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Die Existenzphilosophie spricht von existentieller Schuld, die aus dem Zurückbleiben hinter den Anforderungen der menschlichen Existenz resultiert. Das Wissen um dieses Versagen erlebt der Mensch in Schuldgefühlen, die sich bereits in frühkindlichen Erfahrungen mit den Kontaktpersonen manifestieren und sogar im Tierreich ihre Analogien haben. Der soziale Gehalt der Schuld gewinnt allerdings erst in der erwachsenen Persönlichkeit seine volle Bedeutung. Damit wandelt sich die Qualität des Schuldgefühls.

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Der Dialogismus sieht die Schuld in der Verweigerung der Liebe zum Du. Weil aber der Mensch nur in der Hinwendung zum Mitmenschen er selbst werden kann, beeinträchtigt die Schuld auch die Selbstverwirklichung. - Die Wertschätzung einer Person kann auch zur Überforderung des einzelnen führen, sodaß krankhafte Schuldgefühle entstehen. Hiebei sollten Vernunft und Gemeinschaft eine kritische und entlastende Funktion erfüllen. Wo das nicht geschieht, kann es zu Entfremdung und Unterdrückung kommen.

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5.2.2.1 Tiefenpsychologische Aspekte:

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Zu Beginn unseres Jahrhunderts hat sich besonders die Psychoanalyse mit den Ursachen und Deutungen der Schuldgefühle auseinandergesetzt. S. Freud hat zwar bekanntlich selbst keine Moral erstellt, aber er hat sich mit dem befaßt, was aller Kulturbildung zugrundeliegt. Seine Theorie des Schuldbewußtseins umfaßt eine phylogenetische und eine ontogenetische Betrachtungsweise. Freud geht aus vom Bild der Urhorde. Stammesgeschichtlich betrachtet lägen die Ursachen für die menschlichen Schuldgefühle in der Reue über den Vatermord. Die herangewachsenen Söhne eines starken Vaters, der die Frauen und Kinder für sich beanspruchte, haben aus Haß über diese väterliche Beanspruchung den Vater ermordet und aus Reue über diese Tat die Liebe entdeckt (Ödipussage!).

971
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Das Schuldgefühl, das aus diesem Mord entsteht, setzt ein Urverbot voraus: das Inzestverbot. Der Vater stellt hier die verbietende Instanz dar, indem er die Mutter als Begehrensobjekt andern vorenthält. Jenseits des realen Vaters, den sich die verschiedenen Gefühle des Menschen ausdenken, ist es eigentlich der symbolische Vater, der das festgefügte Gesetz gibt, das dem Begehren entgegensteht. Freud wollte so gleichsam das fundamentalste Gesetz finden, das Gesetz nämlich, das dem Begehren die unmittelbare Befriedigung untersagt, ihm damit eine ständige Entbehrung aufzwingt und so seine Entfaltung ermöglicht. Somit gründet das unbewußte Schuldgefühl in dem Akt, durch den man den Vater vertreibt, um sich an seine Stelle zu setzen, ein Akt, der mit den Bedingungen zusammenhängt, unter denen alle und jeder zur Kultur gelangen. - Ontogenetisch besehen sind die Schuldgefühle mit den vielen fremden Autoritäten verwoben, die das Menschenleben bestimmen.

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Freud hat das Über-Ich immer als Erbe des Ödipuskomplexes gesehen. Sämtliche Tabuvorschriften richten sich gegen Vatermord und Inzest. Demnach kann die Konzeption der drei Schichten des Menschen: Ich, Es und Über-Ich nicht ohne diese phylogenetische Vorannahme verstanden werden. Freud hat natürlich gesehen, daß zunächst fremde Autoritäten bestimmen, was als gut oder böse zu gelten hat (Einfluß der Eltern, Erzieher). Aber trotz dieser heteronomen Einwirkungen geht das Gewissen nicht in ihnen auf. In jeder Individualgeschichte vollzieht sich das gleiche Spiel der Über-Ich-Entwicklung, die Identifikation mit dem "Prototyp" des Vaters oder auch mit der Vaterinstanz, die das Abklingen des Ödipuskomplexes kennzeichnet. Zugunsten dieser Identifikation setzt im jungen Menschen eine Funktion ein, die zugleich als Ich-Ideal und als kritische Instanz, als sittliches Urteil wirksam ist.

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Das sittliche Übel liegt letztlich in der Überschreitung des Gesetzes, das der gesamten menschlichen Ordnung zugrunde liegt. Die Schuldgefühle können zwar mit gewissen realen Schuldannahmen einhergehen, müssen es aber nicht. Die Schuldhaftigkeit berührt die Erfahrung des Bösen. Vergehen gegen Erwartungen und Forderungen von außen lassen Strafen befürchten, die im wesentlichen einen Liebesentzug bedeuten. Was im Menschenleben mit "schlechten Gewissen" wegen einer Verbotsübertretung beginnt, entwickelt sich im Lauf der Ausbildung des Über-Ichs zum Schuldbewußtsein, das schon wirksam wird, wenn noch gar keine reale Untat begangen wurde, sondern erst der Wille darauf gerichtet ist. Ständiger Begleiter der Schuldgefühle ist die Angst. Die Sehnsucht nach dem Vater und die moralische Instanz des Gewissens erzeugen die Schuldgefühle, die sich aus Mangel an Abwehr untersagter Wünsche und Begehrensobjekte einstellen. Das umfangreiche, komplizierte Theoriengebilde Freuds hat zu vielen Mißverständnissen und oft oberflächlichen Deutungen geführt. Einige theorie- und zeitbedingte Mängel haben Freuds Schüler zu beseitigen versucht.

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Alfred Adler: Er fragt weniger nach der Ursache, sondern mehr nach dem Zweck der Schuldgefühle. Sie sind der Versuch, sich von der Gemeinschaft und dem Dienst an ihr zu distanzieren. Ursache ist eine falsche Leitlinie, die man schon in der Kindheit erwirbt. Dabei gewinnt die Betonung des Ich die Oberhand vor der Tendenz zur Gemeinschaft.

975
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C.G. Jung unterscheidet zwischen einem ethischen und einem moralischen Gewissen. Dieses regt sich, wenn tradierte moralische Gebote übertreten werden, jenes, wenn eine eigene, bewußt gesetzte Entscheidung konkret nicht getroffen oder eine eigenständig angenommene Norm übertreten wird. Der ethische Konflikt durchzieht den ganzen Individuationsprozeß . Erst die Anerkennung des "Schattens" als einer Art Spiegelbild der verdrängten Eigenschaften führt zur reifen Persönlichkeit.

976
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Die Daseinsanalyse, (L. Binswanger, M. Boss, von Gebsattel u.a.) machte sich zur Aufgabe, phänomenologische, existentialontologische Erkenntnisse mit denen der Psychoanalyse zu kombinieren, um einem Psychologismus zu entkommen. Das Hauptanliegen besteht in der Aufdeckung der menschlichen Selbstverborgenheit. - Daseinsanalytisch stellt das Schuldig-Sein ein Existenzial dar. In der Terminologie M. Heideggers heißt es, daß das Schuldigsein das als Sorge bezeichnete Sein konstituiert. Schuld hat dann eine anthropologisch grundlegende Bedeutung, die sich nicht in einer einzelwissenschaftlichen Sprache aufarbeiten läßt. Die Tiefenpsychologie hat viele Konnexe und Komplexe der menschlichen Psyche entdeckt und sie kann für die "großen Wörter" des christlichen Glaubens einen wichtigen Verstehenshorizont beisteuern.

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5.2.2.2 Die Schulderfahrung:

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Lit.: Laplanche, Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse (Suhrkamp-Taschenbuch) II, 458-460.

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Man beklagt heute oft das Schwinden des Sündenbewußtseins. Ein Grund dafür liegt sicher in einem verbreiteten Schwächerwerden des Glaubens an Gott in der modernen Gesellschaft. Sünde ist ein religiös-personaler Begriff und setzt Glauben voraus. - Der moderne Mensch ist sich wohl seiner Fehler und seines Versagens bewußt, wenn er gegen ein Gesetz oder eine Vorschrift verstößt, wenn er aus Unachtsamkeit einen Mitmenschen ärgert oder verletzt, oder wenn er gar mit der Polizei in Konflikt kommt. Beim Übertreten von Regeln und Normen empfindet man vielleicht so etwas wie Unkorrektheit oder Scham. Sehr geschwunden ist aber das Bewußtsein einer Verantwortung vor Gott. Man hätte vielleicht kein Verständnis dafür, daß man in einer bösen Tat nicht nur gegen eine sachliche Handlungsregel verstößt, sondern gegen das Gute überhaupt und damit gegen Gott und seine Heiligkeit.

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Schon manche Tiere zeigen Verhaltensweisen, als ob sie ein "schlechtes Gewissen" hätten (Hund, der sich trotz andressierten Verbotes eine Wurst vom Tisch holt!). - Analog können sich Konflikte zwischen biologischen Bedürfnissen und "andressierten" Verhaltensnormen beim Kleinkind auswirken. Beim Übertreten einer Norm empfindet das Kind Angst und Unbehagen gegenüber der internalisierten Autorität. Daraus kann sich ein Strafbedürfnis ergeben, damit das Gewissen wieder in Ordnung kommt.

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Die Schulderfahrung hängt in ihrer Qualität besonders von den frühkindlichen Erfahrungen mit den Erziehungspersonen ab. Wo das Verhältnis zu den Eltern gestört war, kann ein ausgesprochen pathologisches Schuldgefühl auftreten. In dem Maße, wie sich das Verhältnis des Menschen zur Zeit in Zukunft und Vergangenheit hinein ausweitet, beurteilt der Mensch sein Handeln nicht mehr bloß nach einer konkreten internalisierten Verhaltensnorm, sondern immer mehr nach den zu erwartenden äußeren Folgen und nach dem sozialen Bedeutungsgehalt, der nicht so starr festgelegt ist wie beim Kleinkind das Bedürfnis, von anderen anerkannt und geliebt zu werden. Entsprechende Gefühle, wenn man diesem Bedürfnis zuwidergehandelt hat, bleiben jedoch für die Schulderfahrung konstitutiv.

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Schulderfahrung ist aber nicht nur von der Mitmenschlichkeit her zu verstehen. Menschliche Hoffnung geht letztlich auf ein transzendentes Heil. Der Mensch sucht in seinem Handeln etwas von der Heilserfahrung vorwegzunehmen. Wo er dieser inneren Ausrichtung widerspricht, kommt es zu einer Enttäuschung der tiefsten menschlichen Hoffnung. Diese Frustration stellt eine eigentlich sittliche Komponente des Schuldgefühls dar. Auch wenn jemand die gesellschaftlichen Normen beobachtet, kann er sich schuldig fühlen, weil er seiner inneren Ausrichtung, d.h. seiner Berufung, nicht genügend entsprochen hat.

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Insofern das Schuldbewußtsein mit sozialen Gefühlen zusammenhängt, kann es zu krankhaften Entartungen kommen. Insofern sind Schuldgefühle auch nicht letztes Kriterium für die sittliche Bewertung einer Handlung. Sie müssen vielmehr noch einmal von der Vernunft und der Gemeinschaft her kritisiert werden. Wo die Vernunft zu einer sicheren Einsicht kommt, muß ein entgegenstehendes pathologisches Schuldgefühl überwunden oder in Geduld ertragen werden. Die Gemeinschaft ist hier von besonderer Wichtigkeit, weil die zur Frage stehenden Gefühle auf einem gestörten Verhältnis zur Gemeinschaft beruhen. Der Beichtvater kann u.U. klärend einwirken und die Verantwortung dafür übernehmen, daß der andere seinen Weisungen folgen darf. - Vorsittliche Gefühle und die eigentlich sittliche Erfahrung sind hier in ähnlicher Weise miteinander vermittelt wie die Nächstenliebe, die ja aus verschiedensten Motiven kommen kann, mit Gottesliebe vermittelt ist!

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Eine besondere Belastung ist die Skrupulosität. Skrupulose Pönitenten haben z.B. in der Beichte die Neigung, lange Sündenregister vorzubringen mit vielen Wiederholungen, weil sie ständig fürchten, etwas ausgelassen zu haben. Sie greifen auf frühere Dinge zurück, die oft gar keine Sünde sind usw. Obwohl sie um ihr Problem wissen, sind sie von ihrer Praxis kaum abzubringen, weil sie in der Beichte eine wenigstens kurze Entlastung suchen. Solchen Menschen könnte man am ehesten mit psychotherapeutischen Mitteln helfen. Denn die Ursachen der Zwangsneurose, die allerdings nicht ganz geklärt sind, "dürfte neben einer leiblich-seelischen Konstitution auf frühkindlichen Traumen durch eine lieblose strenge Erziehung, falsche Reinlichkeits- und Schamerziehung zurückzuführen sein." (22)

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5.2.3 Die Schwere der Sünde

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Lit.: H. Rotter, Konflikte um das Leben, Innsbruck 1976, 84-93; ders., Bemerkungen zu einer personalen Sicht der Sünde. In: J. Reiter u.a. (Hg.), Aus reichen Quellen leben. Trier 1995, 275-284.

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Zur Begriffserklärung: 1. Hinsichtlich des äußeren Tatbestandes unterscheide schwere und leichte Sünde.

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2. Hinsichtlich des theologischen Charakters unterscheide Todsünde (Verlust des Gnadenstandes) und läßliche oder Wundsünde (Minderung des Gnadenstandes).

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3. Todsünde - Sünde zum Tod (1 Jo 5,16) - Sünde wider den Hl. Geist (Mk 3,28f). Diese Begriffe besagen eine gewisse Steigerung hinsichtlich der Endgültigkeit.

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Die Naturrechtslehre geht von objektiven Sünden aus und definiert oft bestimmte Einzelhandlungen als schwere, bzw. Todsünden. Ein personales Verständnis, das von Freiheit, Liebe, Glaube usw. ausgeht, kann nicht so leicht die äußere Handlung als Kriterium für die Schwere heranziehen. Wenn man aber die Schwere der Sünde vom Maße der innersten Bosheit herleitet, dann gibt es kein so eindeutiges Kriterium mehr, wo die Grenze zwischen schwerer und läßlicher Sünde verläuft. Deshalb hat auch die protestantische Ethik diese Unterscheidung vielfach abgelehnt. Trotzdem ist die Frage nach der Schwere einer Sünde wichtig, besonders auch, um das soziale Verantwortungsbewußtsein zu schärfen.

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 Kriterien für eine schwere Sünde sind:

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 1) klare Erkenntnis

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 2) freier Wille

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 3) wichtige Sache

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5.2.3.1 Die klare Erkenntnis:

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Die sittliche Handlung als Akt innerster Freiheit wird zwar immer bewußt vollzogen. Es ist dem Menschen aber nicht möglich, den innersten Kern seiner Person reflex zu erfassen. Das Urteil, das er sich reflex über sich selbst bildet, muß sich auf die Verleiblichung personaler Freiheit im äußeren Handeln und in den psychischen Auswirkungen (Schuldgefühle!) stützen. Dem Menschen ist seine Bosheit im Handeln zunächst durchaus bewußt, er kann sie aber nicht reflex exakt bemessen. Deshalb ist es auch unmöglich, eindeutig zu wissen, ob man im Einzelfall eine Todsünde begangen hat und dadurch aus der Gnade Gottes herausgefallen ist, oder ob die Sünde nicht von so großer Schwere war.

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Ganz sicher genügt für eine schwere Sünde nicht ein bloß theoretisches Lernwissen, sondern entscheidend ist die Bewußtheit des existentiellen Vollzuges und der Bedeutung der entsprechenden Handlung. Es muß erfaßt werden, daß die Handlung etwas mit Glaube, Hoffnung und Liebe, also mit der Anforderung Gottes und dem Sinn des Lebens zu tun hat. Dabei spielt auch die soziale Deutung eine Rolle.

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Die sittliche Erkenntnis wird bei einer negativen Entscheidung zum Schuldgefühl, das ja ebenfalls umfassender zu verstehen ist als ein bloß rationales Feststellen einer Normwidrigkeit. Im Schuldgefühl wird Sinnerfahrung, die zutiefst auf ein personales Du bezogen ist, pervertiert. Man spürt, daß eine Normübertretung o.ä. der eigenen Berufung widerspricht. Psychische Schuldgefühle sind Symbole, aber nicht eindeutiges Kriterium von Schuld. (Man hat z.B. größere Hemmungen, einen Menschen in direkter Konfrontation zu töten als ihn aus der Ferne, z.B. durch Bomben, ums Leben zu bringen.)

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5.2.3.2 Der freie Wille:

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Die Tradition neigt zu der Annahme, daß der Mensch, wenn seine Freiheit nicht durch Bewußtlosigkeit, durch Trunkenheit, außerordentlichen psychischen Druck u.dgl. eingeschränkt war, über volle Freiheit verfüge. Tatsächlich ist diese Freiheit aber durch die verschiedensten Motivationen im einzelnen Augenblick immer in hohem Maße eingeschränkt. Tiefere Änderungen der sittlichen Grundorientierung sind nur möglich, wenn ein Mensch über längere Zeit die Entscheidung zum Guten oder zum Bösen festhält und dadurch gegenüber äußeren und inneren Motivationen immer mehr durchsetzt. Freiheit ist ein personales Vermögen, Sinn zu verwirklichen. Dieses Vermögen ist nur in einer ausreichenden geschichtlichen Erstreckung realisierbar. Nur wenn eine Handlung personal "vorbereitet" ist, wenn sie auch im nachhinein von der Person ratifiziert wird, d.h., wenn man sich mit ihr identifiziert, kann sie voller Ausdruck der inneren freien Einstellung werden. Nur wenn sich im äußeren Tun eine personale Grundentscheidung ausdrückt, kann die Möglichkeit einer Todsünde bestehen. Bei einer Einzelhandlung, die nicht in den Kontext der bisherigen Lebensgeschichte hineinpaßt, muß man annehmen, daß sie nicht aus der Grundhaltung der Person kommt, sondern durch äußere Motive ausgelöst wurde ("Entgleisung"). Natürlich ist auch dann eine Normübertretung nicht belanglos. Vielleicht haben andere Schaden gelitten und es hat sich die Neigung zur Wiederholung verstärkt. Deshalb muß man sich auch mit Handlungen, in denen wenig Freiheitsengagement steckt, auseinandersetzen und sich von ihnen distanzieren.

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5.2.3.3 Die wichtige Sache:

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Es gibt keine objektive Sünde in dem Sinne, daß Gott unabhängig von Erkenntnis und Freiheit einfach durch die Handlung beleidigt werden könnte. Anderseits richtet sich die Freiheitsentscheidung immer auf etwas Objektives und nur in Verleiblichung und Beziehung auf das Materielle kann sich der Mensch selbst als Person finden. Dabei ist es nicht gleichgültig, auf welche Objekte sich der Mensch und sein Verhalten bezieht.

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Das Gewicht einer Handlung und die Schwere einer Verfehlung hängen von der Bedeutung ab, die die Gesellschaft der betreffenden Handlung beimißt. Das Werturteil der Gesellschaft bestimmt nämlich die Bewertung des Handelnden mit.

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Auch die "Natur der Sache" ist zu bedenken. Manchmal sind die Auswirkungen einer Handlung so groß, daß die Schäden kaum rückgängig zu machen sind. In anderen Fällen kann eine Normübertretung (Übertretung einer Verkehrsvorschrift ohne Gefährdung der Sicherheit) in den Auswirkungen belanglos sein.

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Eine zu hohe Bewertung des Unterschiedes von schwerer und leichter Sünde ist aber pastoral nicht unproblematisch. Denn entscheidend für das Heil ist letztlich die Orientierung der Lebensgeschichte. Diese kann auch sehr fragwürdig sein, wenn man aufgrund einer strengen Erziehung schwere Verstöße gegen die Normen unterläßt, aber immer nur egoistisch um sich selbst besorgt ist. Unter einem scheinbar korrekten Verhalten kann sich Selbstgerechtigkeit, Stolz und Lieblosigkeit verbergen, während ein schwereres Vergehen Anlaß zu Buße und Bekehrung sein kann. Vielleicht wäre der Gesichtspunkt der Lebensgeschichte auch in der Frage der Sakramentenpastoral (Empfang der Eucharistie) mehr zu berücksichtigen.

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Unterschied zwischen schwerer Sünde und Todsünde: Die schwere Sünde ist äußerlich feststellbar (z.B. schweres Vergehen gegen das Wohl des Mitmenschen). Sie geschieht durch eine bestimmte (äußere) Tat und kann im Plural vorkommen. Die Todsünde meint den "Tod des Gnadenlebens", also ein völliges Herausfallen aus der Verbundenheit mit Gott. Sie geschieht in einer längeren lebensgeschichtlichen Erstreckung, weil nur so der Mensch seine ganze Freiheit in ein Nein zu Gott einbringen kann. Von Todsünde kann man deshalb eigentlich nur in der Einzahl reden. Die Todsünde ist nicht eindeutig reflektierbar. Ob ein Mensch im Heil oder im Unheil ist, kann letztlich nur Gott beurteilen. Die eschatologische Konsequenz der Todsünde ist die ewige Verdammnis. Die Furchtbarkeit der Hölle entspricht also der Furchtbarkeit des eigentlichen Wesens der Todsünde. Deshalb darf nicht leichtfertig davon gesprochen werden, daß sich jemand in der Todsünde befindet, auch wenn er äußerlich betrachtet schwer gesündigt hat.

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5.3 Bekehrung und Vergebung

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5.3.1 Die Bekehrung

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Lit.: K. Rahner, Reue. In: SM IV, 300-306.

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Wenn man von Sünde spricht, dann muß man auch auf jenen Akt eingehen, in dem sich der Mensch von der Sünde abwendet, nämlich von der Bekehrung, die in Reue und Buße geschieht.

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Das Konzil von Trient definiert Reue (DS 1676, 1705) als "Schmerz der Seele und Abscheu über die begangene Sünde mit dem Vorsatz, in Zukunft nicht mehr zu sündigen". Was bei dieser Formulierung auffällt, ist das Fehlen eines interpersonalen Aspektes. Es wird nur hervorgehoben, daß der reuige Sünder Schmerz und Abscheu gegenüber seiner Handlung empfindet, aber nicht die Beziehung zu demjenigen, dem er durch eine Sünde Unrecht getan hat, also zum Mitmenschen und zu Gott. Der eigentlich ekklesiologische und theologische Aspekt wird nicht artikuliert. Wichtig ist dagegen, daß bereits im Begriff der Reue die Beziehung zur Zukunft gesehen wird. Denn nur bei einem solchen Willen für die Zukunft kann man sich auch von der Vergangenheit distanzieren.

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Die Dimension der Zeit: Man kann die Beziehung zur Vergangenheit, wie sie in der Reue gegeben ist, in verschiedener Weise sehen. Manche halten Reue als Abänderung der Vergangenheit deswegen für möglich, weil die vergangenen Entscheidungen in der Gegenwart des Menschen nachwirken und enthalten sind. Wenn nun der Mensch zu sich selbst Stellung beziehen und auf diese Nachwirkungen Einfluß nehmen kann, dann erhalten die vergangenen Handlungen selbst eine neue Bedeutung.

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Diese Erklärung befriedigt nicht ganz. Die geschichtliche Erstreckung der menschlichen Wirklichkeit scheint hier nicht genügend gesehen zu sein. Tatsächlich ist eine Handlung nicht nur geprägt von dem Willen dessen, der sie setzt, sondern sie ist auch bestimmt von den leiblichen und umweltlichen Bedingungen, unter denen sie vollzogen wird. Die Person des anderen, gegen den sich eine Sünde richtet, die verschiedenen äußeren Bedingungen, die die Handlung beeinflussen, bestimmen wesentlich den Ausdruck und damit auch den sittlichen Gehalt einer Handlung. Man kann nicht säuberlich unterscheiden zwischen dem rein Geistigen an einer Tat und ihrer äußeren Gestalt. Das rein Geistige ist von den äußeren Bedingungen nicht unabhängig . Wenn die Situation, unter der man eine Sünde begeht, einmal vergangen ist, dann wirkt die betreffende Handlung zwar im Sünder nach, aber sie bleibt nicht mehr in ihrer vollen Gestalt gegenwärtig. Deswegen kann man sie auch nicht einfach zurücknehmen.

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Wenn es echte Reue gibt, dann muß man voraussetzen, daß der Mensch durch seine gegenwärtige Entscheidung in die Vergangenheit zurückwirken kann. Die vergangene Handlung war also in sich noch keine abgeschlossene Entscheidung, sondern ist für spätere Stellungnahmen offengeblieben. Das darf nicht so verstanden werden, als ob die Verantwortung, die man bei einer Entscheidung auf sich nimmt, durch einen späteren Widerruf einfach ausgelöscht wurde. Jede Handlung hat etwas Einmaliges und Unwiderrufliches an sich. Es gibt zwar eine Einheit der menschlichen Grundentscheidung, d.h. einen inneren Zusammenhang aller einzelnen freien Entscheidungen des Menschen. Es gibt aber gleichzeitig auch eine echte Pluralität der sittlichen Handlungen. d.h. eine Eigenart der einzelnen Entscheidungen, die durch spätere Reue nicht völlig aufgehoben werden kann.

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Hier kann eine Unterscheidung zwischen Sünde und Schuld Klarheit schaffen. Schuld besagt dann die bleibende Belastung menschlicher Verantwortung, die man durch eine Fehlentscheidung auf sich geladen hat. Wenn man sündigt und wenn man das nachher bereut, dann hat man zwar den Egoismus der früheren Entscheidung wieder aufgebrochen, man hat sich Gott und den Mitmenschen aufs neue zugewendet, aber die Verfehlung als historische Tat ist dadurch nicht einfach ausgetilgt. Sie gehört weiterhin zur Gesamtgeschichte des menschlichen Lebens.

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Aber auch diese Schuld, weil sie eben ein personales Moment ist, bleibt nicht einfach wie ein erratischer Block im Leben des Menschen stehen, sondern auch sie kann getilgt werden, und zwar durch die Buße. Eine wirkliche Sünde trifft den Menschen viel zu tief in seiner Personalität, als daß er sich durch einen einmaligen Akt der Reue davon freimachen könnte. Eine sündige Vergangenheit kann nur dadurch bewältigt werden, daß man sich seiner bleibenden Schuld voll bewußt wird und in anhaltender Buße und in der Hoffnung auf Gottes Vergebung eine Neubegründung seines Lebens zu finden sucht.

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Wie sich die Sünde gewöhnlich in einer äußeren Handlung darstellt, so kann auch die Buße nicht bloß ein innerer Wandel der Intention sein. Auch sie muß sich im Verhalten des Menschen ausprägen. Es geht dabei nicht etwa nur um körperliche Züchtigung, sondern vor allem darum, daß das gestörte Verhältnis zum Mitmenschen und zum Leben überhaupt wieder in Ordnung kommt und daß man seinen Dienst für andere umso gewissenhafter versieht in dem Bewußtsein, daß man sich hier nicht eigene Verdienste sammelt oder ein Werk der Übergebühr verrichtet, sondern daß man vor Gott und den Menschen sehr viel mehr hätte tun müssen, als man tatsächlich getan hat.

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5.3.2 Vollkommene und unvollkommene Reue

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Es gibt einen alten Streit über die Frage, wie weit eine "unvollkommene" Reue zur Sündenvergebung genügt. Unter unvollkommener Reue versteht man dabei einen Akt, dessen Motiv nicht die Liebe zu Gott ist. Wenn man aber die Liebe bzw. den Glauben als das innerste Wesen jedes sittlichen Aktes auffaßt, dann muß natürlich auch die Reue, insofern sie ein sittlicher Akt ist, immer "Liebesreue" sein, selbst wenn man dabei nicht ausdrücklich an Gott denkt.

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Dennoch gibt es natürlich in der sittlichen Qualität solcher Akte bedeutende Unterschiede. Die Anhänglichkeit an das Böse kann auch im Akt der Reue mehr oder weniger stark nachwirken, je nachdem, ob die Abwendung von der Sünde in tiefem Glauben geschieht oder in einem recht zaghaften Willen, sich zu bessern. Der Unterschied zwischen unvollkommener und vollkommener Reue kann auch theologisch wichtig sein. Denn ein Mensch, der grundsätzlich das Gute bejaht, kann dennoch auch Böses tun; er kann läßliche Sünden begehen. Entsprechend muß man natürlich auch sagen, daß ein Mensch, der in der Todsünde lebt, gelegentlich ein leichtes Bedauern über seine Haltung verspüren kann. - Ein solcher Akt von geringem sittlichen Gewicht würde natürlich die sittliche Grundentscheidung nicht aufheben. Heilswirksam kann Reue erst dann werden, wenn sie der Grundhaltung des Menschen die Richtung zum Guten zu geben vermag. Dann könnte man von vollkommener Reue sprechen.

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Das Bewußtsein, von Gott angenommen zu werden, ist dem Menschen nicht unvermittelt gegeben, sondern bedarf auch der Bejahung, die man vom Mitmenschen her erfährt. Deswegen hat die Bekehrung immer auch einen Gemeinschaftsaspekt. Sie lebt aus der Kraft, die man aus der Anerkennung und aus dem Vertrauen der Umwelt empfängt. Diese Kraft hilft einem, verborgene, d.h. der Umwelt unbekannte Sünden zu bereuen. Sie ist aber in weit höherem Maße gegeben, wenn man sich mit einer Schuld auseinandersetzt, die anderen bekannt ist und von ihnen vergeben wird. Bekehrung hat immer einen ekklesiologischen Aspekt. Man braucht die Hilfe derer, die an das Gute und an Gott glauben. Diese Hilfe ist besonders wirksam, wenn der Mensch von der Gemeinschaft der Kirche bzw. ihrem Vertreter seine Schuld eingesteht und durch das Gebet der Kirche die Kraft zur Bekehrung empfängt. Vergebung der Kirche ist ein gnadenhaftes Zeichen für die Vergebung durch Gott.

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Neben dem gemeinschaftlichen Bußgottesdienst sollte auch der Wert des individuellen Sündenbekenntnisses gesehen werden. Es geht dabei um eine besonders intensive Möglichkeit, die eigene Vergangenheit vor Gott zu bekennen und sich zu bekehren.

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Gelegentlich hat eine Sünde sehr positive Folgen, die man nicht bereuen kann, weil sie in sich einen hohen Wert darstellen. So kann jemand z.B. durch eine Lüge einem anderen, ohne es zu wissen, das Leben retten. Wie soll er nun die Sünde bereuen, wo er sich doch über ihre Folgen freuen muß? - In dem Augenblick, als die Lüge ausgesprochen wurde, war sie eine Sünde und wurde als solche aufgefaßt. Insofern war sie Lieblosigkeit und Egoismus, indem man gerade nicht die guten Folgen gesucht hat. Die Reue muß sich darauf beziehen, daß man einen Mangel an gutem Willen gehabt hat. Die konkrete äußere Gestalt der Entscheidung hat aber einen Bedeutungswandel erfahren. Sie ist nicht mehr bloß Ausdruck von Lieblosigkeit, sondern sie ist zu einem Faktum geworden, das Bejahung verlangt.

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5.3.3 Vergebung

1025
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Lit.: H. Rotter, Grundgebot Liebe, S. 94-99; A. Auer, Vergebung der Sünden. In: Sandfuchs (Hg.), Ich glaube. Würzburg 1975, 139-152.

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Für eine bestimmte Moral ist jeweils besonders charakteristisch, wie weit sie Schuld als unauslöschbar oder als vergebbar betrachtet, wie weit sie der Meinung ist, daß der Mensch Barmherzigkeit und Vergebung üben soll oder nicht.

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5.3.3.1 Zur Auffassung der Antike:

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"Die Auffassung und ethische Bewertung der Barmherzigkeit ist in der Antike bis zuletzt unsicher, uneinheitlich und in weitem Umfange von der jeweiligen Geistesart und Kulturlage, von den verschiedenartigen religiösen und sittlichen Voraussetzungen, von sozialen und selbst politischen Anschauungen abhängig geblieben." (W. Schwer, Barmherzigkeit. In: Reallexikon für Antike und Christentum 1, 1200). Zwar zeigt sich immer wieder, daß das Mitempfinden mit Menschen, die in Not sind, im natürlichen Fühlen angelegt ist. Gelegentlich, etwa in Ägypten, ist die Barmherzigkeit auch von der Religiosität her begründet und gesichert. Dort gehören Barmherzigkeit und gerechtigkeit zusammen. Allerdings ist in Ägypten der Gedanke entscheidend, daß es im sozialen und politischen Interesse des Staates liege, freiwillige Fürsorge zu üben, weil sozialpolitische Maßnahmen fehlen. Die ägyptische Ethik zeigt hier einen stark utilitaristischen Zug.

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Selbstverständlich kennen auch die Griechen das Mitleid. Die Athener hatten ihm sogar einen Altar errichtet und hielten es für ein göttliches Wesen. Aber dennoch war für das Verständnis der gerechtigkeit die Dike und die Nemesis entscheidend. Recht verlangt, daß Schuld bestraft wird. Die griechischen Tragödien zeigen, wie unerbittlich den Übeltäter die Strafe um der gerechtigkeit willen ereilen muß. - Die griechische Ethik sieht deshalb die Barmherzigkeit nicht als wertvolle seelische Haltung oder als Tugend an. Für Platon ist Mitleid ein Affekt, der Verweichlichung bedeutet. Für tätiges Mitleid sollte in einem wohlgeordneten Staat kein Raum bleiben (Leg. 11,14p. 936). Der Minderwertige verdient ohnehin weder Teilnahme noch Unterstützung. - Auch Aristoteles lehnt die Barmherzigkeit als Tugend ab. Sie ist ihm ein seelisches Leiden, des reifen und weisen Mannes unwürdig und nur bei jungen oder alten Leuten entschuldbar. In der Nikomachischen Ethik (2,4p. 1105b) stellt er das Erbarmen neben Begierde, Liebe, Furcht, Neid, Haß und andere nicht von der Vernunft beherrschte Affekte. - Noch weiter geht die Stoa, die in der Barmherzigkeit geradezu eine Erkrankung der Seele und eine Bedrohung der gelassenen Seelenruhe des Weisen sieht.

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Die Römer sind hier etwas gemäßigter. Bei ihnen entwickelt sich allmählich eine positivere Bewertung von mansuetudo und misericordia. Cicero fordert diese Tugenden sogar vom Richter. Allerdings hat sich diese Haltung im öffentlichen Leben und im Strafvollzug nur sehr langsam in der Zeit des frühen Christentums durchgesetzt.

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Die Barmherzigkeit ist also auch in der Antike als Gefühlsregung immer bekannt gewesen. Aber sie wurde ethisch nicht hochgeschätzt. Dieser Befund ließe sich durch Einbeziehung anderer Religionen, auch der östlichen Großreligionen noch weiter bestätigen.

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5.3.3.2 Vergebung in der Bibel:

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Im AT spielen Vergeltung und Vergebung eine wichtige Rolle. Das steht in Zusammenhang mit dem Bundesgedanken. Die Sünde widerspricht nicht nur den Gesetzen der Natur, sondern der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk. Sie kann deshalb nicht durch die Wiederherstellung einer zerstörten Sachordnung, sondern nur durch Vergebung und Versöhnung überwunden werden.

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In der nomadischen Gesellschaft der Frühzeit Israels gab es noch die Blutrache. Hier wurde der Rächer noch als Rechtsvollstrecker betrachtet (Num 35,12.19). Wenn die gerichtliche Verfolgung nicht ausreichend war, um Rechtssicherheit zu schaffen, dann wurde auf diese Weise ein gewisses Minimum an Recht und Strafverfolgung garantiert. Diese Rechtspraxis wurde allmählich gemildert. Es sollte nur noch bei einem überlegten Mord Blutrache geben (Dt 24,16). Es wird die Einrichtung der Asylstadt eingeführt, wo ein Mörder nicht unmittelbar vom Bluträcher getötet werden darf, sondern zuerst ein Prozeß stattfinden muß (Num 35,24.30; Dt 19). Weiters wird die Tötung des Straffälligen in gewissen Fällen durch finanzielle Bestrafung ersetzt (Ex 21,18f.26f.). Der äußeren Milderung entspricht die Forderung nach einem Wandel der Gesinnung: "Hege in deinem Herzen keinen Haß gegen deinen Bruder!... Räch dich nicht und hege keinen Groll gegen die Söhne deines Volkes! Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" (Lev 19,17f). Die Rache wird immer mehr als Sache Gottes gesehen, dem der Mensch seine Angelegenheiten überlassen soll.

1035
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Das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn (Ex 21,24) hat eigentlich einen einschränkenden Sinn: Man soll dem Übeltäter nicht mehr Schaden zufügen, als dieser angerichtet hat. Von diesem Gleichheitsrecht (Jus talionis) geht aber die Entwicklung immer mehr hin zum Prinzip der Barmherzigkeit im Gedanken daran, daß die Strafe Sache Gottes sei. Zudem kommt auch im AT schon die Einsicht, daß das Erbarmen Gottes groß sei (2 Sam 24,14) und daß Gott ein Gott der Vergebung sei. Gott vergibt auch dem Sünder, wenn er seine Schuld bekennt (Ps 32,5 vgl. 2 Sam 12,13). Die Vergebung Gottes soll allen Menschen zuteil werden (Jonas 3,10).

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Im NT gehört die Barmherzigkeit ganz zentral zum Evangelium. Jesus ist vom himmlischen Vater nicht als Richter sondern als Erlöser gesandt (Joh 3,17f; 12,47). Es ist die Freude Gottes, zu vergeben (Lk 15), denn es ist sein Wille, daß niemand verlorengehe (Mt 18,12ff). Jesus selbst bezeugt durch sein Tun, daß Gott der Vergebende ist (Mk 2,5-11; Joh 5,21). Jesus vergießt selbst sein Blut (Mk 14,24) zur Vergebung der Sünden. Denn er hat die Sünden der Menschen auf sich genommen.

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Aber wie Gott den Menschen vergibt, so sollen auch die Menschen untereinander sich vergeben. In Mt 23,23 hält Jesus den Pharisäern vor: "Ihr laßt das Wichtigste im Gesetz außer acht: gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue." Der Mensch ist stets auf die Vergebung von Gott angewiesen. Er kann sie empfangen, wenn er darum bittet und bereit ist, auch selbst anderen zu vergeben (Mt 6,12; 14f; 18,21-35 usw.). Die Gemeinde ist sich bewußt, von Gott Vergebung empfangen zu haben, die durch die in Jesus Christus geschehene Heilstat den Menschen angeboten ist. Wie Jesus Vergebung gespendet hat (Mk 2,5ff), so empfängt und spendet die Gemeinde Vergebung durch ihn (Kol 1,14; Eph 1,7; Apg 13,38), durch seinen Namen (Lk 24,47; Apg 10,43; 1 Joh2,12); in seinem Auftrag (Joh 20,23). Diese Vergebung geschieht speziell in der Taufe (Apg 2,38; Hb 6,1f; vgl. Mk 1,4par.) und im Herrenmahl (Mt 26,28). Diese Vergebung ist ein eschatologisches Heilsgut (Lk 1,77, vgl. 4,18).

1038
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Unsere Tradition hat den Gedanken der Vergebung vielfach fast nur auf das Verhältnis des Menschen zu Gott bezogen, während die zwischenmenschliche Vergebung oft unbeachtet blieb. In der Bibel hängt beides eng zusammen:

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"Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar liegen; gehe und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe." (Mt 5,23f).

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Alles Gebet um Vergebung, das wir an Gott richten, verlangt auch den Willen zur Vergebung und Versöhnung mit dem Mitmenschen: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern."

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5.3.3.3 Moraltheologische Überlegungen zur Vergebung:

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Die Vergebung betrifft den Übeltäter: Wenn jemand Unrecht getan hat und ihm die andern nicht verzeihen, ist die zwischenmenschliche Kommunikation weithin blockiert und zerstört. Der Übeltäter kann zwar tun als ob nichts gewesen wäre. Aber wenn die andern bei ihrer Ablehnung bleiben, dann ist er nicht nur faktisch isoliert, sondern er hat auch das Bewußtsein, daran selbst Schuld zu sein. Er erlebt den Unwert seines Tuns und Seins, er verliert die Kraft, vertrauensvoll sein Leben zu führen, er erfährt den Unwert des Bösen und die Ohnmacht zum Guten. Er kann die gute Beziehung zu dem, dem er Unrecht angetan hat, nicht aus eigener Kraft wiederherstellen. Er ist darauf angewiesen, daß der andere zur Versöhnung bereit ist und ihm vergibt.

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5.3.3.4 Die Verantwortung des Vergebenden:

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Der Vergebende kann die Beziehung zum Übeltäter wieder eröffnen. Verweigert er die Vergebung, dann belastet ihn das auch selbst, daß er in einer dauernden Gegnerschaft oder Feindschaft lebt. Wer die Vergebung verweigert, erfährt sich selbst als lieblos und sieht damit seinen Lebenssinn gefährdet. Menschen, die nicht mehr vergeben wollen, sind doppelt betroffen: Nicht nur durch das Unrecht, das ihnen zugefügt wurde, sondern auch durch das Festhalten an ihrer Unversöhnlichkeit. - Für das geistliche Leben ist die Frage der Vergebung von großer Bedeutung. Wenn man jemandem nicht vergibt, der einem vielleicht nahe steht, dann ist das eine Art innere Blockade, die die spirituelle Weiterentwicklung hemmt.

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5.3.3.5 Die Beziehung zu Gott:

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Dem Mitmenschen vergeben bedeutet eine Umkehr des Herzens und damit ein Offenwerden für Liebe gegenüber dem Mitmenschen und gegenüber Gott. Der Mensch findet wieder Mut, ja zu sagen zur Liebe, an Gott zu glauben und auf ihn zu vertrauen. Wer hingegen Vergebung verweigert, entscheidet sich für die Aufrechterhaltung des Unfriedens sowohl gegenüber dem Mitmenschen als auch gegenüber Gott.

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Freilich kann der Mensch nicht aus eigener Kraft dem Mitmenschen vergeben und sich dadurch gleichsam die Vergebung Gottes erzwingen. Die Fähigkeit zur Vergebung setzt ja immer Erfahrung von Liebe und Vergebung bereits voraus. Und das setzt auch voraus, daß man Gott erkennt in seiner Liebe und seiner Treue und in seinem Erbarmen und dadurch auch Gott gegenüber die Kraft zur Liebe findet. Wer diese Grunderfahrungen verleugnet, kann auch dem Mitmenschen nicht vergeben.

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5.3.3.6 Bedingungen der Vergebung:

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Sicher ist es ein Zielgebot des NT, immer wieder zu vergeben (Mt 18,21f). Das kann aber nicht heißen, daß man unabhängig davon vergeben soll, wie sich der andere zu seiner Schuld verhält. Denn wenn der andere bösen Willens an seinem Unrecht festhält, hat Vergebung für ihn letztlich keinen Sinn. Natürlich soll man versuchen, das Angebot der Vergebung zu machen und den andern zur Versöhnung einzuladen. Wenn er sich aber dem widersetzt, muß schließlich auch der böse Wille respektiert werden. Natürlich soll man dann nicht auch selbst böse und ungerecht werden gegenüber dem andern, aber eine volle Versöhnung ist dann nicht möglich. Immer-wieder-Vergeben bedeutet also, daß man immer wieder zur Vergebung bereit sein soll, immer wieder Initiativen setzen soll, um sich mit dem andern zu versöhnen; aber wenn dieser die Versöhnung ablehnt, muß man das zur Kenntnis nehmen. Man kann dann zwar innerlich verzeihen, aber nicht zum vollen Frieden kommen.

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Eine zweite Bedingung der Vergebung bezieht sich auf den Unterschied zwischen böser Willenshaltung und psychischer Unfähigkeit. Vergebung betrifft eine Freiheitstat des andern, von der sich dieser selbst distanziert. Wenn hingegen der andere aufgrund einer psychischen Fehlentwicklung Übles getan hat, dann kann man ihm zwar seinen bösen Willen vergeben, aber dadurch wird seine psychische Fehlentwicklung nicht korrigiert. Man kann ihm deshalb nicht von heute auf morgen zutrauen, daß sich nun dieser Fehler nicht mehr zeigen wird. Würde man etwa jemandem, der große Geldsummen unterschlagen hat, mit der Verzeihung auch wieder die Verwaltung solcher Summen übertragen, wäre er vielleicht durch das Vertrauen überfordert, würde der Versuchung nicht standhalten und rückfällig werden. Bereitschaft zur Versöhnung verlangt durchaus eine realistische Einschätzung, ohne daß man dem andern jede Fähigkeit absprechen soll, an sich zu arbeiten und sich zu bessern. Aber diese Entwicklung wird nicht in Sprüngen geschehen, sondern nur im Rahmen dessen, was auch psychologisch möglich und wahrscheinlich ist.

1051
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Es ist ein Zeichen menschlicher Reife, daß man nachgeben und verzeihen kann. Allerdings soll Nachgiebigkeit nicht die Form von Charakterlosigkeit annehmen, bei der man seine Selbstachtung preisgeben würde.

1052
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Wichtig ist, daß man die Schuld des andern nicht überschätzt. Man soll verstehen, daß das Handeln des andern weithin aus einer Vorgeschichte erwächst, für die er selbst nicht unbedingt viel kann. Ein Kind, das sehr lieblos erzogen worden ist, wird sich schwer tun, andern gegenüber gut und liebevoll zu sein. Nimmt man ihm aber diese Art übel, dann erschwert man die gegenseitige Beziehung. Besonders erschwert man es dem andern, weil er spürt, daß man ihn auf eine bestimmte Rolle festlegt.

1053
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Wenn man dem andern wirklich helfen will, dürfte es nicht darum gehen, ihn für sein Fehlverhalten immer wieder zu strafen und ihm Ablehnung zu signalisieren. Das würde ihn nur in seiner Lieblosigkeit bestärken. Man müßte im Gegenteil versuchen, zu ihm besonders verständnisvoll und gut zu sein. Dadurch hilft man ihm, mehr an sich zu glauben, sich anzunehmen und auch zu andern freundlicher zu sein. Vergebung ist "die Gestalt, welche die Liebe annimmt, wenn ihr Unrecht geschieht". (R. Guardini, Der Herr. Würzburg 1937, 406).

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5.3.3.7 Zum Verhältnis von Vergebung durch Gott und Vergebung durch den Mitmenschen:

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Vergebung durch Gott, etwa im Bußsakrament, ersetzt nicht einfach das Bemühen um mitmenschliche Versöhnung, sondern fordert dieses. Dabei ist folgendes zu bedenken:

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- Die Vergebungsfähigkeit des Mitmenschen ist begrenzt aufgrund psychischer Unfähigkeit, moralischer Schuld, oder auch weil eine Begegnung aus irgendwelchen Gründen gar nicht mehr zustande kommen kann.

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- Die Fähigkeit zur Vergebung gründet in der Erlösung durch Gott. In ihm gründet alle Fähigkeit zum Guten; die Vergebung setzt aber in besonderer Weise die Überwindung der eigenen Schuld voraus.

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- Die Vergebung Gottes begründet und überbietet alle menschliche Vergebung. In letzterer bleibt fast immer ein Rest von Unversöhnlichkeit.

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- Das Zeichen der Versöhnung durch Gott ist das Bußsakrament. Hier wird dem Konfitenten nicht nur ein zwischenmenschliches Gespräch angeboten, sondern im Namen Gottes der Zuspruch der Vergebung erteilt.

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Anmerkungen:

1061
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1. Rahner/H. Vorgrimler, Kleines Theologisches Wörterbuch. Freiburg 111978, 286.

1062
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2. 65, Reclamausg.

1063
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3. Schüller, Der menschliche Mensch, 17.

1064
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4. Kertelge, Bericht. Tagung der deutschsprachigen katholischen Neutestamentler vom 21.-26.3.1983 in Luzern. In: Biblische Zeitschr. 27 (1983), 292-295.

1065
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5. Häring. Frei in Christus I, 58.

1066
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6. F. Boeckle, Fundamentalmoral, S. 306, Anm. 7!

1067
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7. Auer u.a., Moralerziehung im Religionsunterricht. Freiburg 1975, 42.

1068
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8. Kleines theologisches Wörterbuch, Freiburg 111978, 152.

1069
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9. Rahner, Zum Begriff der Unfehlbarkeit in der katholischen Theologie. Einige Bemerkungen anläßlich des 100-Jahr-Jubiläums des Unfehlbarkeitsdogmas vom 18. Juli 1870. In: Ders.,(Hg.), Zum Problem Unfehlbarkeit. Freiburg 1971, 25.

1070
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10. Tiere können manchmal sehr alt werden. Ein Kakadu kann im Zoo über 100 Jahre erreichen. Ähnliches wird von Schildkröten berichtet. Ein hohes Alter ist eben nur eine Bedingung für die Ausbildung von Kultur.

1071
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11. v. A., S.Th. I-II, q 38; vgl. J. Pieper, Über das christliche Menschenbild. München 61955, 53f.

1072
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12. H.Stich, Kernstrukturen menschlicher Begegnung. München 1977, 188-193 u.ö.

1073
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13. Elisabeth, Interviews mit Sterbenden. Stuttgart 131986.

1074
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14. J. Imbach, In Angst leben? Einsiedeln 1977; H.von Stietencron (Hg.), Angst und Gewalt, Düsseldorf 1979; G. Müller, Von der wahren Angst und Geborgenheit des Menschen; J. Dantscher, Mut zur Angst, Stuttgart 1967.

1075
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15. Jean, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bde. Reinbek b. Hamburg 1985.

1076
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16. wir am ehesten mit Leidenschaft verbinden, ist alles, was mit Liebe, Erotik und Sexualität zu tun hat. Wird sie im wechselseitigen Austausch mit dem andern zum leidenschaftlichen Dialog und schließt sie natürliche Sinnlichkeit und Körperlichkeit ein, dann bereichert sie unsere Beziehung, unser Leben und strahlt aus in andere Beziehungen, ja selbst in die nüchterne Arbeitswelt. Die Verneinung beengender Moralvorstellungen, ohne Angst vor Kontrollverlust, zusammen mit der Bejahung lustvoller Sinnlichkeit in gesteuerter Emotionalität sind dazu die Voraussetzungen." (Peter Kutter, Liebe, Haß, Neid, Eifersucht. Eine Psychoanalyse der Leidenschaften. Göttingen 1994, 100)

1077
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17. Kant, Metaphysik der Sitten. Leipzig 1945, 290.

1078
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18. Böckle, Fundamentalmoral S. 19.

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19. Fundamentalmoral 51.

1080
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20. Welte, Zur Christologie von Chalkedon. In: Auf der Spur des Ewigen, 429 - 458.

1081
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21. sie zur Tenne Nachons kamen, brachen die Rinder aus, und Usa streckte seine Hand nach der Lade Gottes aus und faßte sie an. Da entbrannte der Zorn des Herrn gegen Usa, und Gott erschlug ihn auf der Stelle wegen dieser Vermessenheit, sodaß er neben der Lade Gottes starb." 2 Sam 6f.

1082
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22. Gastgeber, Skrupulosität. In: Prakt.Wörterb.d. Pastoralanthropologie 995.

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