Fünf Jahrzehnte nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei ermöglichen transnationalen Lebensstile, dass die eingeladenen „GastarbeiterInnen“ Teil der österreichischen Gesellschaft geworden sind und zugleich starke Beziehungen in die Türkei pflegen. Diese starken Beziehungen wurden von der aktuellen Regierungspartei, Partei für Aufschwung und gerechtigkeit (AKP), als Möglichkeit gesehen, vermehrt Anhänger für ihre Idee der „neuen Türkei“ und der damit verbundenen neuen Identität zu gewinnen. Mit ihrem Narrativ der sogenannten „neuen Türkei“ brach sie mit dem bisherigen kemalistischen System und verhalf einer anatolischen Bourgeoisie zum Aufstieg (Hakan Yavuz 2003). Anfangs fungierte die AKP als Vorbild und Vorreitermodell für andere muslimische Länder und wurde auch von Europa so wahrgenommen. Doch dies änderte sich gravierend mit den politischen Unruhen seit den Gezi-Park-Protesten im Jahr 2013 und dem vereitelten Putschversuch im Juli 2016. Diese Unruhen fordern die transnational lebenden Nachkommen der MigrantInnen in meiner Forschung heraus, da zwei verschiedene Narrative über die Türkei in ihrem Alltag existieren. Einmal ist es das Narrativ, welches von der „neuen Türkei“ selbst übermittelt wird, und jenes, das in Österreich als ihrem ständigen Lebensort über diese „neue Türkei“ gebildet wird.
Mein Forschungsprojekt
In meiner Dissertation untersuche ich die Auswirkungen von „Social Remittances“ auf die Identitätskonstruktionen von Frauen mit familiären Beziehungen in die Türkei. Dreizehn der bisher fünfzehn interviewten Frauen sind in Tirol geboren und aufgewachsen, werden aber nach ihren Aussagen noch als Migrantinnen wahrgenommen und als die sogenannte Generation 2.0 beschrieben. In meinem Vorhaben behaupte ich, dass Narrative durch Social Remittances mit der aktuellen politischen Situation der Türkei das Identitätsbild von Frauen prägen. In meiner Forschung betrachte ich vor allem die Positionierungen und Doppel-Essentialisierungen, die im Alltag eine tragende Rolle spielen. Hiermit ist die marginalisierte Repräsentierung der vermeintlichen türkischen Frau gemeint, die als nicht emanzipiert und unaufgeklärt gilt. Die Forschung findet in ländlichen Gemeinden Tirols statt, da in diesen Regionen bisher wenig über Migration und Frauen ethnographisch erforscht wurden. Die forschungsleitenden Fragen lauten: Wie erzeugen transnationale Lebensstile Nationalismen? Welche Rolle spielen dabei translokale Identitäten? Wie wirken Social Remittances und politische Narrative auf die Subjektivierung von Frauen mit familiären Beziehungen in die Türkei?
Um dies belegen zu können, schließe ich an einschlägige Forschungen zu transnationaler Migration und Identitätstheorien an. Als Methodik verwende ich einen semi-ethnographischen Zugang, um narrative Interviews abzuhalten und so sowohl einen Einblick in die Alltagsperspektive zu erhalten als auch die Frauen ihre eigenen Narrative erzählen zu lassen.
Transnationalismus ermöglicht die Teilhabe und Zugehörigkeit zu mehr als einem Ort. Dadurch wird die Beziehung zum Nationalstaat nicht aufgelöst, obwohl grenzüberschreitende Netzwerke geschaffen werden und diese den Alltag dominieren. Daher behaupte ich, dass dieser transnationale Lebensstil es vielen Individuen ermöglicht, translokal national zu sein. Denn obwohl Grenzen virtuell überschritten werden, lösen sich Raum und Ort nicht auf – im Gegenteil gewinnen sie an Bedeutung und werden durch den schnellen Kontakt mit Familie und Freunden an einem anderen Ort verstärkt. Der Austausch mit diesen erfolgt auf verschiedenen Ebenen wie etwa familiär, sozial, politisch und wirtschaftlich, wobei Wertvorstellungen und neue Identitäten übermittelt werden können. Dieser Aspekt wird für mich dann spannend, wenn der Diskurs dieser Wertvorstellungen von der aktuellen Regierungspartei AKP angegeben wird und bis in das ländliche Tirol gelangt. In manchen ländlichen Gemeinden Tirols ist ebenfalls eine konservative Haltung vorzufinden, die diese Art von nationalen Narrativen zudem befeuert und ermöglicht.
Die Auswirkungen und das Ausmaß von Remittances (sogenannten Geldüberweisungen von MigrantInnen) werden in vielen Migrationsstudien untersucht. Die Studien zeigen hinter den transnationalen Geldüberweisungen migrierter Individuen unterschiedliche Motivlagen. Zu diesen Motiven gehören die Unterstützung von Familienmitgliedern, Investitionen in Immobilien, politische und soziale Aktivitäten und vieles mehr. Neben diesen materiellen Remittances existieren jedoch auch immaterielle Überweisungen: die Social Remittances. Nach der Anthropologin Peggy Levitt (1998) zählen zu den Social Remittances – neben den Geld- und Sachüberweisungen als klassischen Remittances – Ideen, Identitäten, Werte und Überzeugungen, die mittels der transnationalen Netzwerke der migrierten und deren Zugehörigen zirkulieren. Was haben jedoch Social Remittances mit Identitäten zu tun und wie beeinflussen diese den Prozess der Identitätsbildung? Und welche Beziehungen gehen dabei politische Narrative und Transnationalismus ein?
Der Zusammenhang zwischen Narrativen und Nationalitäten ist vor allem von Benedict Anderson (1983) herausgestellt worden. Laut Anderson werden bestimmte Bilder und Diskurse verwendet, um ein Selbstbild in der Abgrenzung von einem Außen zu erzeugen. Diese Narrationen stellen starke Bezüge zu bestimmten historischen Gemeinsamkeiten einer Gruppe her, während sie andere, pluralistischere Geschichten nicht erwähnen, und erzeugen so eine Gruppendynamik, wie sie Jenny White (2013) im Fall der Türkei bereits als „New Muslim Nationalism“ bezeichnet.
Durch die transnationalen Netzwerke ist es den Individuen möglich, diese unterschiedlichen Ideen und neuen Identitäten mit Freunden und Familienmitgliedern auszutauschen, sich anzueignen oder diese zu erneuern. Diese Transferprozesse von Ideen und Identitäten sind Social Remittances, die aus der Türkei nach Österreich getragen werden, aber auch aus Österreich in die Türkei gelangen und die zurückgelassenen Familienmitglieder weitgehend prägen. Während die Geldüberweisungen in der Regel nur in eine Richtung versendet werden, können Social Remittances aus unterschiedlichen Richtungen transferiert werden, nämlich nicht nur von A nach B, sondern auch von B nach A. Daher ist deren Austausch sehr einfach und findet auf mehrfachen Ebenen statt. Aus diesem Grund sollten Social Remittances in der Forschung mehr Beachtung gewinnen.
Erste Ergebnisse: Gummibären, Nationalismus und transnationales TV
Die erste grobe Auswertung der Interviewdaten hat folgende Zwischenergebnisse gebracht: Da die Eltern oder Großeltern der Probandinnen bereits während des Anwerbeabkommens aus der Türkei nach Tirol gezogen sind, können die interviewten Frauen grenzübergreifende Netzwerke nutzen und auf transnationale Kontakte zurückgreifen. Alle Interviewpartnerinnen sind sich ihrer besonderen Position, der Teilhabe an mehr als einer Gesellschaft und eines Ortes, bewusst. Dieser besondere Zustand wird jedoch nicht als ein Vorteil bewertet, sondern als Exklusionsmerkmal problematisiert. Viele betrachten sich als Tirolerin (der jeweiligen Gemeinde), fügen in den Gesprächen aber hinzu, dass sie nicht als solche akzeptiert und vielmehr als Migrantin 2.0 wahrgenommen werden, obwohl sie selbst nicht migriert sind. Ebenso fällt auf, dass die Probandinnen sich selbst oft als „nicht wirkliche Österreicherinnen“ bezeichnen. „Egal, wie sehr du dich anstrengst, du bleibst immer die Türkin.“ (Interview Hatice*). Oft fehlt die Bezeichnung des Landes bei den Eigendefinitionen – sowohl Österreich als auch die Türkei. Die Lösung dafür scheint eine stärkere Identifizierung mit der Stadt oder der Gemeinde zu sein (bspw. Zirl, Telfs, Fulpmes, Usak), da mehr Akzeptanz für eine lokale Zugehörigkeit existiert.
Durch die politische Auseinandersetzung mit der Türkei seit 2013 fühlen sich einige meiner Probandinnen in die Position gedrängt, sich zwischen den beiden nationalen Räumlichkeiten entscheiden zu müssen. Darüber hinaus werden sie wiederholt einer Loyalitätsprüfung unterzogen (Interview Gülcan*), was wiederkehrende Frustration hervorruft. Sowohl nach den Gezu-Park-Protesten als auch nach dem vereitelten Putschversuch wurde Gülcan bei einem Supermarkt-Besuch von Fremden und Freunden nach ihrer Haltung gefragt. Laut Gülcan wurde aber nicht ihre Haltung der Türkei gegenüber, sondern ihre Loyalität zu Österreich abgefragt, da auf ihre zurückhaltende Kritik an der Türkei hin ihre GesprächspartnerInnen Enttäuschung und Unverständnis zum Ausdruck brachten. Somit erklärt sich, weshalb sich einige Probandinnen als nicht zugehörig definieren und eine Gegenüberstellung zu „den ÖsterreicherInnen“ konstruieren, obwohl sich einige Interviewpartnerinnen in Tirol zu Hause fühlen. Diese ständige Gegenüberstellung führt zu einer doppelten Essentialisierung, nämlich einer Selbst- und Fremdzuschreibung.
In diesen Gegenüberstellungen werden auch politische und nationale Themen aufgegriffen. In einer Interviewsituation erklärte Seval*, dass der Unterschied zwischen TürkInnen und ÖsterreicherInnen darin liege, dass TürkInnen keine Gummibären äßen. Dabei bezieht sie sich auf die religiöse Praxis, nicht Schweinegelatine zu essen, und zieht das Gummibärchen heran, um ÖsterreicherInnen und TürkInnen religiös zu kategorisieren. Aus dieser Gegenüberstellung entsteht ein Phänomen, das ich als Gummibären-Nationalismus bezeichne: Alltagsnationalismus generiert aus einem neutralen Objekt einen spezifisch politisierten Raum. Das Gummibärchen diente Seval* zudem als Ausgangspunkt, um Themen wie religiöse Praktiken, Kindererziehung, nationale Zugehörigkeit und Gegenüberstellung anzureißen. Auf den zweiten Blick entpuppt sich das Gummibärchen als keineswegs so neutral. Jahrelang wurde es von einem großen blonden, blauäugigen Mann beworben, die Initialen für HARIBO stehen für Hans Riegel Bonn – womit sich eine Frau weniger identifizieren kann.
Die Türkei lässt sich in den Tiroler Alltag nicht zuletzt über die Rezeption von TV-Serien integrieren. Lange galt der Fernseher als Zeichen für die Moderne und als das Symbol der Industrialisierung. Der Kasten erfüllte für viele GastarbeiterInnen aus der Türkei einst die Funktion eines „Mitbringsels“ aus dem Westen für die zurückgelassenen Familien. Nun bringt er den schenkenden Familien im Westen etwas zurück, nämlich in Form von Serien, die „die Heimatliebe den Kindern einimpfen und das Heimweh stillen“ (Interview Gülcan*). Serien mit osmanischen Themen spiegeln allerdings die neue Identität und das Narrativ der „neuen Türkei“ wider, gleichzeitig werden Narrative, die in TV-Serien auftauchen, in Tirol genutzt und weiterentwickelt. Dabei wird eine neue Identität erzählt und von den BetrachterInnen wie Geschichtsunterricht aufgesogen. In ähnlicher Weise hat Lila Abu Lughod (2002) für Ägypten gezeigt, dass Serien den Effekt haben, unterschiedliche Gruppen miteinander zu vereinen. Die türkische Serie „Resurrection: Ertugrul“ hat den gleichen Effekt: Die Handlung spielt im 13. Jahrhundert in Vorderasien und Anatolien, die Hauptfigur, Ertugrul, ist der Vater Osmans, nach dem das Osmanische Reich benannt wird. Nicht nur AKP-Befürworter sehen diese Serie auch zusammen mit ihren Kindern und fühlen sich dem dargestellten Ideal verbunden.
Meine ethnographischen Forschungen in ländlichen Gemeinden Tirols zeigen, dass Transnationalismus eine aktuelle Praxis der Diaspora ist. Dabei befördern transnationale Lebensstile den Austausch und die Mobilität von Identitäten und Werten, die unter anderem von nationalen und politischen Narrative geformt werden. Wie bereits Homi K. Bhabha (1990, 297) erklärte: „(...) the people are neither the beginning nor the end of the national narrative; they represent the cutting edge between the totalizing powers of the social and the forces that signify the more specific address to contentious, unequal interest and identities within the population.“
* Alle Namen in den Interviews wurden zur Anonymisierung verändert.
Literatur
Abu Lughod, Lila (2002): The Object of Soap Opera: Egyptian Television and the Cultural Politics of Modernity, in: Schech, Susanne/Haggis, Jane (Hg.): Development. A Cultural Studies Reader, Malden: Blackwell Publishing, S. 311–323.
Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities: Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, London: Verso.
Bhabha, Homi K. (1990): Narrating the Nation, London: Routledge.
Levitt, Peggy (1998): Social Remittances: Migration Driven Local-Level Forms of Cultural Diffusion, in: International Migration Review 32:4, 926–948.
White, Jenny (2013): Muslim Nationalism and the New Turks, New Jersey: Princeton University Press.
Yavuz, Hakan (2003): Islamic Political Identity in Turkey, Oxford: Oxford University Press.
(Fatma Haron)
Zur Person
Fatma Haron studierte Internationalen Studien/Friedens- und Konfliktforschung an der Goethe-Universität Frankfurt und in Granada. Anschließend arbeitete und forschte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Ankara zum Friedensprozess. Seit 2017 ist sie Doktoratsstudentin und Projektmitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie und Kollegiatin des Doktoratskollegs „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“ am Forschungsschwerpunkt „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“.