Buchkritik im Buchformat
Doreen Kunze: (Un)gnädiger Gott der Literatur-Überwachung. Hans Reimanns buchkritische Reihe "Literazzia". In: Flachware. Jahrbuch der Leipziger Buchwissenschaft, Ausgabe 5. Hrsg. von Martin Hochrein und Eyk Henze. Reihenhrsg.: Siegfried Lokatis. Stuttgart: Hauswedell 2019. ISBN: 978-3-7762-0519-0, S. 147-164. Preis des Jahrbuchs [A]: 29,80 €
„Flachware“ – so heißt das Jahrbuch der Leipziger Buchwissenschaft, dessen fünfte Ausgabe im April dieses Jahres erschienen ist. Gerade in Zeiten, in denen selbst die Literaturwissenschaft nach dem „Material Turn“ die Dreidimensionalität des Buches als Gegenstand für sich entdeckt hat und der Tatsache instruktive Studien gewidmet werden, dass sich Texte jenseits von Seiten-Flächen in Medien konkretisieren können, die nicht nur hoch und breit, sondern mitunter auch recht dick sind, werden die „selbstironischen Töne“, die die HerausgeberInnen mit dem Titel ihres Jahrbuchs anschlagen wollen, natürlich besonders deutlich hörbar. Tatsächlich verweist dieser Titel auf den im Museumsbetrieb geläufigen Jargon von AusstellungsmacherInnen, die das „äußerlich oft wenig spektakuläre Objekt Buch etwas despektierlich gern als ‚Flachware‘“ bezeichnen. Dass der Inhalt des Gebotenen dann keineswegs ‚flach‘ ausfällt, sondern im Gegenteil mit einigen hochinteressanten Tiefenbohrungen zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Mediums Buch (unter besonderer Berücksichtigung seines merkantilen Warencharakters als Verlagsobjekt) aufwarten kann, ist selbstverständlicher Teil des Anspruchs, der damit erhoben – und notabene auch eingelöst wird, wie die Lektüre der aktuellen Nummer hinlänglich belegen kann. Das Themenspektrum der insgesamt zwölf durchwegs lesenswerten Beiträge, bei denen es sich zum Teil um studentische Arbeiten handelt, die am Fachbereich Buchwissenschaft des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig entstanden sind, reicht vom Kochbuchmarkt in der DDR bis zu Kosmischen Bibliotheken in der Science Fiction und von Überlegungen zum „optimalen“ Verlagsarchiv bis hin zu einer Klassifikation „elementarer Bücherfeinde“.
Aus dieser anregenden Fülle, die im Rahmen einer Rezension kaum sinnvoll über den sprichwörtlichen Kamm zu scheren ist, soll im vorliegenden Zusammenhang nur ein einzelner Aufsatz exemplarisch herausgehoben werden, zumal er auch als Beitrag zu einem Jubiläum gelesen werden kann, das von den großen Feuilletons im deutschsprachigen Raum weitestgehend ignoriert worden ist: Im Juni 2019 nämlich war es 50 Jahre her, dass der Leipziger Feuilletonist, Satiriker und Humorist Hans Reimann in der Nähe von Hamburg gestorben ist (und da Reimann darüber hinaus im Jahr 1889 geboren wurde, hätte man sich im November gleich auch noch an seinen 130. Geburtstag erinnern können, auch wenn das keine ganz so übliche „runde Zahl“ für das Durchexerzieren einschlägiger Jubiläumsübungen darstellt, zugegeben). Für die aktuelle Flachware nun widmet sich die Journalistin und studierte Buchwissenschaftlerin Doreen Kunze diesem Autor in seiner Rolle als Literaturkritiker, die vor allem seine Nachkriegskarriere im Literaturbetrieb der Wirtschaftswunderjahre bestimmt hat. Unter dem Titel „(Un)gnädiger Gott der Literatur-Überwachung“ wird Reimanns „buchkritische Reihe ‚Literazzia‘“ vorgestellt, die zwischen 1952 und 1969 in insgesamt 17 Bänden herausgekommen ist. Mit diesem Ein-Mann-Projekt, das den Anspruch erhob, den deutschsprachigen Neuerscheinungsmarkt durch Reimanns Brille in der Form von Kurzrezensionen zu sichten und diese nicht etwa wie üblich übers Jahr verteilt in verstreuten Zeitungsartikeln oder Zeitschriftenbeiträgen zu publizieren, sondern von vornherein gebündelt im Buchformat herauszugeben, um mit der Literazzia eine gleichsam am Stück konsumierbare Mischung aus kritischem Hand- und vergnüglichem Lesebuch zu präsentieren, hat sein Verfasser ein singuläres Produkt im literarischen Feld seiner Zeit geschaffen, das – soweit ersichtlich – weder unmittelbare Vorläufer kannte noch nennenswerte Nachfolger gefunden hat: „In dieser Form hat es seither kein vergleichbares Werk gegeben“ (S. 161).
Wie Kunze festhält, hat Reimann für jede Ausgabe seiner Literazzia im Alleingang „mehr als 500 Bücher rezensiert“ (S. 148):
„Allein in der ersten Literazzia behandelt er insgesamt 547 Bücher. Demnach hat er durchschnittlich pro Tag knapp 1,5 Bücher bearbeitet. Im Vergleich dazu: Kurt Tucholsky besprach in seinem gesamten Leben circa 520 Bücher“ (S. 149).
Dass es sich bei Reimanns Besprechungen innerhalb der einzelnen Bände zum überwiegenden Teil nur um knappe Annotationen und/oder um pointierte Aperçus zur Charakterisierung eines Buches handeln konnte, ist angesichts des zu bewältigenden Arbeitspensums nachvollziehbar; Kunze deutet jedoch an, dass der mit literarischem Anspruch operierende Reimann ein breites Gattungsspektrum an literaturkritischen Schreibweisen bedient hat, in dessen Rahmen die geistreiche Annotierung von Neuerscheinungen immer wieder durch andere Formen wie etwa fiktionale Gespräche über Bücher ergänzt und aufgelockert wurde.
Hier hätte man in Kunzes Darstellung gerne etwas mehr gelesen – sowohl über die konkrete Alltagspraxis eines One-Person-Rezensenten, der offensichtlich am laufenden Band gelesen und in allen erdenklichen Lebenslagen kritische Wertungen auf wahllos erreichbares Zettelmaterial gekritzelt hat, um diese Zettel schließlich bei der Manuskripterstellung ordnend auf A4-Papier zu kleben (vgl. S. 152f.); als auch über die mit solchen Klebeaktionen verbundenen Fragen nach den leitenden Kompositionsprinzipien für die einzelnen Literazzia-Bände als Ganzes, über die sich die Autorin leider ebenso ausschweigt wie über andere Form- und Gattungsfragen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Marktes an Literatur- und Buchkritik im üblichen Feuilletonformat, den Kunze kaum zur weiteren Kontextualisierung des zweifellos korrekten Befundes heranzieht, Reimann habe mit der Literazzia ein singuläres Unternehmen gestartet und erfolgreich umgesetzt. Allerdings handelt es sich hier ja auch nur um einen Aufsatz mit beschränktem Platzangebot – und womöglich steht manches von dem, was man bei der Lektüre als Lücke empfindet, längst ausführlicher in der master-Arbeit der Verfasserin, die diese (wie die biobibliographische Notiz am Ende des Jahrbuchs verrät) über Reimanns Literazzia „und den Einfluss von Literaturkritik auf den Buchmarkt“ geschrieben hat.
Dieser Themenstellung entsprechend, arbeitet Kunze denn auch in ihrem Beitrag zur Flachware sehr anschaulich die Bedeutung heraus, die Reimanns Jahrbüchern vonseiten einer ganz spezifischen Nutzergruppe zugemessen worden ist: nämlich von den Verkaufsprofis im Buchhandel. Im Sortimentsbuchhandel etwa avancierte die Literazzia rasch zu einem wichtigen Informationsmittel für die Kundenberatung, wie Kunze nicht nur anhand einschlägiger Briefzeugnisse, sondern auch unter Rückgriff auf von ihr geführte Zeitzeugengespräche mit seinerzeit tätigen Buchhändlern belegen kann. Fazit: „Die Literazzia, die weitaus weniger selektiv war als das Feuilleton, machte den Buchhändler auskunftsfähig“ (S. 156), während sie vom Verlagsbuchhandel rasch in ihrem Wert als Werbemittel erkannt wurde, auf das denn auch mit entsprechender ‚Kritikerpflege‘ Einfluss zu nehmen versucht worden ist: „Ich komme bei Ihnen diesmal ganz gut weg, aber es sind zu wenig Bücher von mir in der Literazzia“, schreibt etwa der Verleger Wilhelm Goldmann im Dezember 1958 an Reimann, um gleich darauf anzufügen:
„Da sich anscheinend Ihr Literaturgericht weiter hält, sende ich Ihnen gleichzeitig einen Schwung Bücher der letzten Zeit, deren Beurteilung ich in der nächsten Literazzia wohl lesen werde“ (S. 159).
Inwiefern diese Hoffnung Goldmanns in Erfüllung gegangen ist, überhaupt: wie Hans Reimann auf solche und weitere dokumentierte Einflussnahmen von Verleger- oder auch Autorenseite reagiert und konkret seine Auswahlentscheidungen für die rund 500 Besprechungsstücke pro Ausgabe der Literazzia getroffen hat, erfahren man als Leser der Flachware leider nicht. Stattdessen stolpert man hin und wieder über vermeidbare Plattitüden, die etwa verraten: „Oftmals [sic!] war und ist es für Buchhändler zeitlich nicht möglich, alle Neuerscheinungen zu lesen, um sich so ein eigenes Urteil zu bilden“ (S. 155), oder, mit Blick auf die Schreibweise Reimanns: „Wenn er ein Buch rezensierte, dann tat er das aus Sicht eines Lesers“ (S. 153). Letzteres steht doch immerhin zu hoffen, sofern man nicht unterstellen mag, dass Reimann beim Rezensieren unter die notorischen Nicht-Leser des Literaturbetriebs gerechnet werden muss – was der Verfasserin zweifellos fernliegt. Immerhin wird das charakteristische Alleinstellungsmerkmal seiner Jahrbuchreihe denn doch noch aus den von Kunze mitgeteilten Rezeptionsdokumenten ersichtlich, wenn etwa Reinhard Jaspert vom Safari-Verlag im Januar 1968 an Reimann schreibt:
„[…] da Sie mit Ihrer Literazzia eine Übersicht geben, die […] den Vorteil hat, beim Durchlesen einige Stunden ungetrübten Genusses zu haben […] ist das ein ganz grosser Vorteil, der bei keiner der anderen literarischen Übersichten erreicht wird. Es mögen manche Kritiker von Ihnen glauben, dass Sie eine zu wenig ernste Form bei einer Reihe von Buchbesprechungen anwenden, es lässt sich aber nicht leugnen, dass es allein die Form ist, die einem die Möglichkeit gibt, eine 300 Seiten starke Zusammenstellung von Buchkritiken zu lesen“ (S. 160).
Literaturkritik als Unterhaltungslektüre in Buchform zu bieten, die wie eines der darin besprochenen Bücher selbst konsumiert werden konnte und nicht nur in dieser Hinsicht eine völlig andere Rezeptionshaltung vorsah, als die üblichen Zeitungskritiken, macht wohl im Kern den Innovationscharakter von Reimanns Literazzia aus. Auf dieses publizistische Unikum im Literaturbetrieb der 1950er und 1960er Jahre im Rahmen einer wissenschaftlichen Publikation hingewiesen zu haben, ist das Verdienst von Doreen Kunzes Aufsatz in der aktuellen Flachware.
Michael Pilz, 30.11.2019
Michael.Pilz@uibk.ac.at