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Schwager Raymund: Der 11. September 2001, Jerusalem und die Apokalyptik
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Der 11. September 2001, Jerusalem und die Apokalyptik

Autor:Schwager Raymund
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Die Apokalyptik ist keine weltferne religiöse Phantasie. Sie spielt eine wichtige Rolle in der harten Welt der heutigen Weltpolitik und ruft nach einer theologischen Auseinandersetzung.
Publiziert in:# Originalbeitrag für den Leseraum
Datum:2002-09-23

Inhalt

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Gewaltakte zielen darauf, in Situationen großer Hilflosigkeit etwas definitiv zu klären. Sie wollen einen Schlussstrich ziehen oder etwas ganz Neues beginnen. Sie tendieren deshalb dazu, zu Zeichen und Symbolen zu werden. Zu solchen Zeichen wurden die Attentate auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York und auf das Pentagon in Washington. Den blutigen Ereignissen gingen Filmszenen voraus, die das Vorstellungsvermögen der Menschen geweckt und kanalisiert haben und die dann von der Wirklichkeit unerwartet und grausam eingeholt wurden.(1) Die Attentäter dürften dies bewusst angestrebt haben. Ihre zerstörerischen Taten waren auf die menschliche Imagination, auf die Öffentlichkeit und auf das Fernsehen zugeschnitten.

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Der Sturz der Türme weckte zugleich alte Symbole aus der jüdisch-christlichen Glaubensgeschichte, Erinnerungen an den mythischen Bericht am Anfang des Alten Testaments vom Turmbau zu Babylon, den die Menschen bis an den Himmel errichten wollten (Gen 11,1-9), und an die apokalyptischen Erzählungen vom Sturz der großen Stadt und Hure Babylon in der Offenbarung des Johannes am Ende des Neuen Testaments (Offb 14,8; 16,16-19; 17,1-6). Die Apokalyptik bietet den großen Rahmen, der sowohl die biblischen Texte als auch die modernen Ereignisse umgreift. Selbst Jürgen Habermas hat kurz nach dem 11. September in seiner Dankesrede beim Empfang des Friedenspreises des deutschen Buchhandels die Ereignisse in New York und Washington als 'apokalpytisch' bezeichnet (14.Oktober 2001).

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a) Religiöse Apokalyptik und Politik

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Neben vagen apokalyptischen Vorstellungen lassen sich präzise Zusammenhänge feststellen. Religiöse Kräfte mit endzeitlichen Glaubensüberzeugungen sind ein realer politischer Faktor in der modernen Welt, und ohne sie lassen sich vor allem die Hintergründe des Konflikts zwischen der jüdischen und islamischen Welt und die Rolle der USA in diesem Konflikt nicht umfassend verstehen. Die Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern gehört aber wesentlich zum Umfeld des 11. September. Der Sturz der Zwillingstürme passt folglich nicht nur zur biblischen Bilderwelt. Die religiöse Apokalyptik ist selber ein realer Faktor in den Konflikten, die zu den Selbstmordattentaten geführt haben.

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Die Gründung des Staates Israel war für einen Teil des orthodoxen Judentums weit mehr als ein politisches Ereignis. Für diese Gläubigen begann eine neue Zeit. Das Exil, das schon so lange gedauert hat, neigt sich seither dem Ende zu, und die endzeitliche Erlösung, die dem Volk der Juden das Heil und seinen Feinden den Untergang bringen soll, ist am Anbrechen. Die National Religious Party mit der Siedlerbewegung Gush Emunim vertritt im heutigen Israel ausdrücklich diese apokalyptische Theologie, und gestützt auf sie wenden sich auch andere religiöse Parteien mit religiöser Leidenschaft gegen die Errichtung eines palästinensischen Staates in jenen Gebieten, die gemäß der jüdischen Bibel Gott seinem Volk gegeben hat. Es wäre eine große Sünde, die beginnende Erlösung auf diese Weise zu verhindern; vielmehr müsse das ganze verheißene Land mit seinem gottgewollten Zentrum Jerusalem in Besitz genommen und jüdisch werden. (2) Die Siedlerbewegung hat einen politischen Einfluss, der weit über die National Religious Party und andere religiöse Parteien, wie die Shas und die Yahadut Ha'Torah, hinausgeht. Nach realistischen Schätzungen fand Gush Emunim vor einigen Jahren etwa bei der Hälfte der Bevölkerung Israels Unterstützung. Der Einfluss der religiösen Kräfte in Israel dürfte inzwischen noch stärker geworden sein, wie die strikte Ablehnung eines palästinensischen Staates durch eine Mehrheit in der Likud Partei zeigt. Apokalyptische Erlösungshoffnungen auf jüdischer Seite erweisen sich so als einer der Gründe, weshalb es zwischen Israelis und Palästinensern zu keinem Frieden kommen konnte. Sie verhindern auf unmittelbar politischer Ebene eine realistische Lösung in den drei wesentlichen Punkten des Konflikts: bei den Siedlungen, beim Status von Jerusalem und beim Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge. Die jüdische Erlösungshoffnung verträgt sich in keiner Weise mit einem palästinensischen Staat in den 'gottgegebenen' Gebieten.

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Dieser Anspruch auf das Land Palästina weckte seit langem einen entsprechenden Widerstand in der arabischen Welt, und je länger der Konflikt andauerte und je ohnmächtiger die eigene Lage erfahren wurde, desto stärker gewannen fanatische religiöse Kräfte - bis zu den Selbstmordattentätern - die Oberhand. Die letzteren motivieren sich durch einen Glauben an die Auferweckung der Toten, der in jüdisch-apokalyptischen Kreisen zum ersten Mal entstanden ist. Gleichzeitig wurde eine apokalyptische Schwarz-Weiß-Malerei in der arabischen Welt verstärkt. Nach ihr sind politische Auseinandersetzungen als Streit zwischen Gott und Satan zu deuten und die Gegner sind dem Fluch Gottes zu übergeben. So klagte z.B. nach dem saudiarabischen Friedensplan und nach der Invasion Israels in die autonomen palästinensischen Gebiete Scheich Abderrahman as-Sudais in einer Khutba (Freitagspredigt) Israel an, es sei auf das Friedensangebot der 'Umma' (muslimische Gemeinschaft) nicht eingegangen und wolle nur die Vernichtung der Palästinenser und deren Vertreibung aus dem Land. Die Muslime hätten sich zunächst täuschen lassen und die Frage von Palästina und al-Aksa aus der religiösen auf die politische Ebene verlegt. "Doch heute steht die islamische Umma ihren alten Feinden gegenüber, den Bani Kuraiza und den Bani Nadir (den jüdischen Stämmen in Medina zur Zeit des Propheten Mohammed). Es ist ein Konflikt des Glaubens, der Identität und der Existenz, nicht einfach der Grenzen. Die Juden von gestern hatten schlechte Vorfahren, und die heutigen haben noch üblere. Dieses Volk ist voll des Bösen und der Verwerflichkeit. Es suchte, den Propheten Mohammed zu töten und missachtete zuvor seine eigenen. Die Juden verachten die Araber und die Muslime. Auf ihnen lastet der Fluch Gottes und der Engel und sie verdienen ihn". (3) So spricht nicht irgendwer. Scheich Abderrahman as-Sudais ist Imam der Großen Moschee von Mekka und seine Predigten werden im saudiarabischen staatlichen Fernsehen und Radio übertragen. Seine Worte, die in der ganzen muslimischen Welt von vielen ähnlichen Fluchpredigten begleitet werden, verraten, wie bitter und grundsätzlich, ja apokalyptisch der Konflikt für viele Muslime geworden ist.

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Apokalyptische Überzeugungen spielen schließlich auch bei der Unterstützung Israels durch Amerika eine nicht zu unterschätzende Rolle. Schon im 18. und 19. Jahrhundert gab es in den USA christlich-apokalyptische Gruppen, die glaubten, dass die Juden vor dem Ende der Welt und der Wiederkunft Christi nach Palästina zurückkehren werden. (4) Der Zionismus und die Ereignisse des 20. Jahrhunderts gaben diesen Kräften massiven Auftrieb. Von manchen christlichen Gruppen wurde die Gründung des Staates Israel sogar als das wichtigste Ereignis seit der Auferstehung Christi und als Mittelpunkt aller prophetischen Vorhersagen betrachtet. (5) Diese Kreise und allen voran ihr erfolgreicher Propagator Hal Lindsey (6), dessen Bücher in Dutzenden von Millionen Exemplaren verkauft wurden, verbreiten derartige apokalyptische Prophetien und kämpfen zugleich für Israel. (7) Der evangelikale Erfolgsprediger Pat Robertson versteht es sogar, seinen Antisemitismus mit einer leidenschaftlichen Pro-Israel-Politik zu verbinden. So ist es nicht überraschend, dass sich die stärkste Unterstützung für Israel im südlichen Bibelgürtel findet, etwa in Staaten wie Alabama und Mississippi, wo es wenige Juden gibt. (8) Auch das Vorgehen gegen den Irak kann auf apokalyptische Vorstellungen bauen, denn manche sehen in Saddam Hussein einen neuen Nebukadnezar, der Jerusalem vernichten will. (9) Schon lange vor der gegenwärtigen Krise konnte sich deshalb unter Rückgriff auf die Offenbarung des Johannes (Offb 16,16) eine Harmagedon-Theologie entwickeln, gemäß der ein Endkampf bevorsteht, in dem Israel eine entscheidende Rolle spielen wird. Präsident Reagan war für solche Vorstellungen offen. (10) Die für die heutige Weltpolitik zentrale Achse USA-Israel wird folglich nicht nur durch die Interessen um das Öl und durch die jüdische Lobby, sondern ebenso durch starke christlich-apokalyptische Kreise in den USA getragen. Christliche Palästinenser sprechen deshalb mit Verbitterung von einem 'christlichen Zionismus'. (11) Mit welchem Recht beruft man sich bei solchen Theologien aber auf die Bibel und vor allem auf das Buch der Offenbarung?

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b) Bilder des Unheils und ihre Deutung

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Das Buch der Offenbarung spricht in Bildern und oft in blutigen Bildern, die in langen Reihen aufgezählt werden. Da erscheinen Siegel, Posaunen und Schalen des Zornes, die von Engeln des Unheils und von Reitern, die Krieg, Tod und Verderben symbolisieren, begleitet werden. Einem geschlachteten Lamm wird von Gott ein Buch mit den sieben Siegeln zur Weltgeschichte, die nur dieses Lamm öffnen kann, übergeben. Dem Öffnen der sieben Siegel folgen sieben Posaunen, denen sich die sieben Schalen des Zornes anschließen. Fundamentalistische Deutungen sehen in diesen Bilderreihen eine lineare Abfolge von Ereignissen, die als prophetische Voraussagen verstanden werden und zu zeitlichen Berechnungen einladen. Eine genauere Lektüre zeigt jedoch, dass die Dinge sich anders verhalten, denn das siebte Siegel ist nichts anderes als die nachfolgenden sieben Posaunen, und die siebte Posaune enthält wiederum die sieben Schalen des Zornes in sich. Das Buch der Offenbarung legt keine lineare Abfolge von Ereignissen nahe, sondern entwickelt eine Symbolik, die in sich selber kreist und sich selber deutet und vertieft. Mittels dieser Sprachform möchte die apokalyptische Rede schrittweise jene Kräfte diagnostizieren, die hintergründig die Geschichte und die Welt beherrschen. Das Buch der Offenbarung bietet keine zeitlichen Voraussagen, sondern will die kleine Schar derer, die an Christus als den Herrn der Welt glauben, in der Überzeugung stärken, dass die großen Reiche der Welt keinen dauerhaften Bestand haben und früher oder später vernichtet werden.

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Die entscheidende Frage lautet: Wird die Vernichtung durch den Zorn Gottes geschehen? Einem oberflächlichen Blick mag es so scheinen, und das Buch der Offenbarung wurde oft in diesem Sinn gedeutet. Bei einer genaueren Lektüre erweist sich diese Sicht wieder als ein Missverständnis. Beim Ertönen der siebten Posaune, die den innersten Bilderkreis eröffnet, entfaltet sich das Bild eines himmlischen Kampfes zwischen Michael und seinen Engeln mit dem Drachen und seinem Anhang, der besiegt und auf die Erde gestürzt wird. Diesem verwirrenden Bild folgt unmittelbar ein Siegeslied und darin werden eindeutig die Märtyrer gefeiert werden. Die Sieger sind nicht mythische Kämpfer, sondern irdische Menschen, die Gewalt erlitten und um ihres Glaubens willen getötet wurden. Das Lied interpretiert die vorausgehende Szene vom himmlischen Kampf als spirituelle Dimension einer irdischen Auseinandersetzung. Eine ähnliche Struktur hat das ganze Buch der Offenbarung, denn das Unheil und die Schalen des Zornes gehen zwar vom Himmel und von Engeln, aber nie direkt von Gott aus, denn Gott hat seine Macht über die Geschichte dem Lamm übertragen. Dieses tötet nicht, sondern wird selber geschlachtet. Es wirkt nur mit einem Schwert, das aus dem Munde kommt und trägt deshalb den Namen Wort Gottes. Mit dem geschlachteten Lamm ist eindeutig Christus gemeint, der selber durch das Wort seine Gegner scharf herausfordert und ihnen im Fall der Verhärtung das Gericht ankündigt hat. Er zielte damit aber immer, wie die Evangelien zeigen, auf ein Selbstgericht der Menschen, bei dem die kosmischen Bilder nur die Tiefe des geschichtlichen Konfliktes beschreiben. (12)

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In eine solche Auseinandersetzung ist Jesus selber geraten, und er hat in ihr bewusst jenen Weg gewählt, den er selber verkündet hat: er ließ sich lieber töten als selber zu töten. Er wurde zum Opfer der Gewalt und damit zum geschlachteten Lamm, von dem das Buch der Offenbarung behauptet, dass es trotz seiner irdischen Ohnmacht der wahre Herrscher der Welt ist. Das Buch will zeigen, dass in der Welt nicht bloß Konflikte mit größeren oder kleineren Interessen, sondern eine fundamentale Auseinandersetzung, ein Streit zwischen Gott und Götzen ausgefochten wird. Die Offenbarung des Johannes weiß zwar auch um die ökonomischen Interessen, und es redet von Händlern, die nur ans Kaufen und Verkaufen denken. Diese sind aber letztlich Zuschauer, die beim Untergang der großen Stadt, der Hure Babylon, trauern, weil ihre Geschäfte gestört werden. Entscheidend ist der Streit zwischen Gott und Götzen. Deswegen sind auch die Religionen tief in die irdischen Konflikte hinein verwoben.

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Warum aber die verwirrende Bildersprache? Der Kampf zwischen Gott und Götzen ist zwar ein grundsätzlicher Konflikt, im konkreten Leben verläuft er aber höchst komplex. Es ist keineswegs so, dass jene, die sich auf Gott berufen ausschließlich auf seiner Seite stehen und alle anderen auf der Seite der Götzen. Man kann leicht im Namen Gottes Widergöttliches verfolgen, und manche, die den Namen Gottes nicht in Anspruch zu nehmen wagen, können ihm in der Tiefe des Herzens dienen. Dies war im Geschick Jesu so, dessen schärfste Gegner religiös argumentierten und die ihn im Namen Gottes verurteilt haben. Darauf spielt auch die Offenbarung des Johannes an, wenn sie das Unheil von Mächten im himmlischen Raum - aber nicht von Gott - ausgehen lässt. Die religiösen Kräfte können sowohl auf der Seite Gottes, wie auf der Seite der Götzen stehen. Es ist - bildhaft gesprochen - ein Kampf im Himmel, ein Kampf zwischen Michael und dem Drachen. Die apokalyptische Bilderwelt bringt einerseits den grundsätzlichen Gegensatz zwischen Gott und den Götzen und anderseits durch ihre vielfältigen sich selber deutenden Bilder den verworrenen Verlauf der Fronten zum Ausdruck. Es bedarf deshalb stets neuer Unterscheidungen, bei denen das wahre Wort Gottes seinen eigenen irdischen Ausdruck kritisch deutet, und stets neu klärt und korrigiert. Dieser Weg der Klärung entspricht dem Weg der Umdeutungen von den apokalyptischen Schlachten, wie sie sich im Buch Daniel und in den zwischentestamentarischen Schriften finden, zum Geschick jenes Lammes, das sich im Namen des wahren Gottes lieber töten lässt, als selber zu töten.

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c) Vom tausendjährigen Reich zum Glauben an den Fortschritt

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Die Offenbarung des Johannes kennt nicht nur Bilder des Unheils, sondern auch die Hoffnung auf ein tausendjähriges Reich des Friedens und der gerechtigkeit mit Christus. Wie die dunklen Szenarien so wurde auch diese Hoffnung von manchen in einem unmittelbar zeitlichen Sinn verstanden. Während der ersten christlichen Generationen erwarteten viele in der Zukunft einen ganz neuen Zustand auf dieser Erde. Obwohl die namhaften Vertreter der Kirche - etwa Origenes und Augustinus - bald eine spirituelle Deutung des tausendjährigen Reiches Christi vertreten haben, wirkte die Erwartung eines irdischen Friedensreiches in manchen Kreisen weiter. Im Mittelalter verband Joachim von Fiore entsprechende Zukunftshoffnungen mit dem trinitarischen Motiv, wonach einem Zeitalter des Vaters (Altes Testament) und des Sohnes (Zeit Christi und der hierarchischen Kirche) bald eine bessere spirituelle Zeit des Hl. Geistes folgen werde. Obwohl diese Spekulationen sich rasch als Täuschungen erwiesen, hatten sie dennoch weltgeschichtliche Folgen. Sie trugen über verschiedene Stufen der Säkularisierung entscheidend zum Erwachen des modernen Fortschrittsglaubens bei.(13) Zugleich wirkten - trotz aller Enttäuschungen - auch die religiösen Erwartungen eines tausendjährigen Reiches Christi auf Erden weiter und spielten vor allem in den Wirren der englischen Reformation eine große Rolle. Nach der Unterdrückung der Millenaristen, die eine solche Sicht vertraten und die politische Ordnung störten, wanderten viele von ihnen in die neuen Kolonien Nordamerikas aus und wurden dort zu Kristallisationspunkten neuer Gemeinschaften. Der apokalyptische Glaube ist deshalb - neben der aufklärerisch-republikanischen Tradition - in die Gründungsgeschichte der USA eingegangen. Wie sich der religiöse Erwählungsglaube mit dem säkularen Fortschrittsglauben vermischen konnte, belegt vor allem ein berühmt gewordener Text vom amerikanischen Dichter Hermann Melville aus der Mitte des 19. Jahrhunderts: "Wir Amerikaner sind ein besonders erwähltes Volk, das Israel unserer Tage. Wir tragen die Bundeslade der Freiheiten der Welt... Gott hat uns dazu bestimmt, und die Menschheit erwartet große Dinge von uns. Große Dinge fühlen wir auch in unseren Seelen... Lasst uns immer daran denken, dass mit uns fast zum ersten Mal in der Geschichte der Erde nationales Eigeninteresse grenzenlose Menschenliebe bedeutet. Wir können nichts Gutes für Amerika tun, ohne dass wir dadurch Almosen für die Welt geben." (14) Ohne diesen Hintergrund ist bis heute vieles an der amerikanischen Politik nicht verstehbar, und ohne ihn könnten auch die gegenwärtigen fundamentalistischen Spekulationen um Israel nicht politisch wirksam sein.

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d) Die 'apokalyptische' Weltlage

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Der einflussreichste Faktor für die Konjunktur der Apokalyptik liegt jedoch im Bereich harter geschichtlicher Fakten. Nachdem die religiösen Zukunftshoffnungen sich über verschiedene Stufen in den säkularen Fortschrittsglauben verwandelt hatte, wirkte dieser im Glauben an die neuen Wissenschaften und Techniken weiter. (15) Daraus entstanden schließlich jene wissenschaftlich-technischen Waffen und damit jene Mittel der Selbstzerstörung, wie sie die Menschheit vorher nie gekannt hatte und die früher nur in apokalyptischen Bildern vorweggenommen werden konnten. In einer Zeit, in der viele meinten, die apokalyptische Rede hätte sich endgültig als absurd erwiesen, ist die Welt durch die atomaren und biochemischen Waffen selber apokalyptisch geworden. Diese sich selber bedrohende Welt gibt dem, was in der Vergangenheit nur schwer deutbare Bilder waren, heute einen präziseren Gehalt. Erwartungen und Befürchtungen, die früher nur in den biblischen Bilderreden von einem möglichen Selbstgericht der Menschheit auftauchen konnten, bilden jetzt den realen Hintergrund der Tagespolitik. Deswegen ist das Wort apokalyptisch auch in die Alltagssprache und in die Welt des Films eingegangen, und die realen apokalyptischen Bedrohungen der modernen Welt bilden zugleich den Resonanzraum für die gegenwärtigen fundamentalistischen Deutungen der apokalyptischen Bilderwelt.

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e) Jerusalem: Religion und Politik

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Die Selbstmordattentäter vom 11. September werden die Offenbarung des Johannes kaum gekannt haben. Ihre Wahnsinnstat steht aber im Kontext des Konfliktes um Palästina, der von jüdischen und christlichen apokalyptischen Erwartungen aufgeladen wird und auf den viele in der muslimischen Welt ebenso unerbittlich religiös reagieren. Der Konflikt steht ferner im Kontext der weiteren Befürchtung, dass gewisse muslimische Staaten - wie der Irak oder der Iran - sich atomare Waffen und Trägerraketen beschaffen könnten, um die ganze Region und schließlich die ganz Welt zu bedrohen. Auf diesem Hintergrund erscheint der 11. September 2001 zunächst als ein erschreckendes Zeichen, wie die Errungenschaften des heutigen technischen Fortschritts sich gegen die moderne Welt selber wenden können. Die apokalyptischen Bedrohungen sind nicht mehr nur ein Thema religiöser Prediger und Fanatiker, sie sind zu einem Bestandteil unserer Welt geworden, hinter den wir nicht mehr zurückkehren können.

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Der 11. September führt uns ferner vor Augen, dass es Menschen gibt, die bereit sind, sich selber zu zerstören, wenn sie dabei andere in den Untergang reißen und ein weltweites Fanal setzen können. Wir können nicht mehr problemlos auf den menschlichen Selbsterhaltungstrieb bauen. Wir müssen damit rechnen, dass unter Menschen, deren Lage hoffnungslos wird, sich solche finden, die sich und andere vernichten wollen. Am Horizont zeichnet sich deshalb unübersehbar ein apokalyptisches Wetterleuchten ab.

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Da die Krise auf ihren Ursprung zurückweist, sind die abrahamitischen Religionen besonders gefordert. Aus ihren Traditionen ist sowohl die Apokalyptik wie die moderne Welt mit ihren Versprechungen und ihrem Potential an Selbstzerstörung hervorgegangen. Die erste Zerstörung Jerusalems (587 v. Chr.) hat jene eschatologische Gedankenwelt angestoßen, aus der die Apokalyptik schrittweise entstanden ist. Die zweite Zerstörung der heiligen Stadt (70 n.Chr.) hat die Apokalyptik für christliche und jüdische Kreise neu angefacht. Im Mittelalter haben Kreuzritter mit apokalyptischen Bildern im Kopf um Jerusalem gefochten, und heute stehen wir vor einem weiteren Streit um diese Stadt und das umliegende Land. Der religiöse Transformationsweg in der Bibel von den Bildern apokalyptischer Schlachten bis zum Bild des getöteten Lammes, das sich lieber töten lässt, als selber zu töten, ist deshalb heute als Aufgabe auch in die profane Geschichte eingeschrieben. Es geht nicht mehr bloß um individuelle Bekehrungen. In Frage steht vielmehr, ob Gläubige der drei Religionen das zerstörerische, apokalyptische Potential neutralisieren können, das fundamentalistische und fanatische Anhänger der gleichen Religionen zur Aufheizung von Konflikten benützen. Lässt sich die Apokalyptik - im Sinne des getöteten Lammes, das hintergründig die Welt regiert - in ein Potential des Friedens verwandeln? Das mag schwierig sein, und manchen als unmöglich erscheinen. Gefordert ist tatsächlich ein Glaube, der - bildhaft gesprochen - Berge versetzen kann, d.h. Berge von Missverständnissen, Vorurteilen und Hass. Die Größe der Aufgabe ist kein Grund, an der Möglichkeit einer Lösung zu verzweifeln. 1980 haben wenige oder hat kaum jemand geglaubt, dass sich der Ost-West-Konflikt innerhalb weniger Jahre selber auflösen wird. Trotzdem ist dies unter Mitwirkung religiöser Kräfte und nicht zuletzt unter Mithilfe des polnischen Papstes geschehen. Jetzt stehen ähnliche Aufgaben an. Die Größe der Aufgabe dürfte aber zeigen, dass wir der Weltsituation mit den üblichen Rezepten der Alltagspolitik kaum mehr gewachsen somd. Einerseits sind alle verantwortungsvollen Gläubigen zu einem neuen Engagement aufgerufen, anderseits sollten auch säkulare Politiker, wenn sie hellsichtig sind, angesichts religiöser Fanatiker und gewalttätiger Apokalyptiker das Friedenspotential der wahren Apokalyptik bewusster in ihre Bemühungen einbeziehen.

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f) Verantwortung der Öffentlichkeit

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Die Weltpolitik scheint gegenwärtig in eine andere Richtung zu gehen. Die USA führen den Krieg gegen den Terror, Israel vertraut auf gewalttätige Gegenschläge und viele in der Welt rufen nach einer 'pax americana' und damit nach einem Frieden durch Hegemonie, um eine weltweite Ordnung zu sichern. Doch dieser Weg weckt zugleich die Hydra des Terrors, die Kriegstaktik der militärisch Unterlegenen. Die Ereignisse in Israel zeigen, wie schwer es auch einer total überlegenen Militärmaschine fällt, mit dieser Hydra fertig zu werden. Im Kalten Krieg vertraute man auf Abschreckung, und diese war, wenn auch mit kritischen Momenten, die nahe an den Abgrund führten, wirksam, weil beide Seiten den Tod und eine kollektive Vernichtung fürchteten. Wie kann man aber Menschen abschrecken, die ihre Todesfurcht überwinden und sich selber freiwillig 'opfern'? Es dürfte nur einen Weg geben: Nachfolger und Nachfolgerinnen verhindern. Doch dies ist nicht leicht. In Palästina stehen noch viele bereit, und in der Masse der Jugendlichen in den armen Völkern der Welt gibt es mehr als genug, die keine eigene Zukunft sehen und die sich von Attentätern, die einen überlegenen Feind verwunden, faszinieren lassen. Selbstmordattentäter werden deshalb kaum von selber aussterben. So bleibt nur der andere Weg, ihnen den Wirkraum zu entziehen. Politische Gewalttaten sind, wie wir eingangs gesehen haben, ganz auf die Öffentlichkeit angelegt. Attentäter, die keine Öffentlichkeit mehr haben, fallen ins Leere, und sie werden zu gewöhnlichen Kriminellen, mit denen die menschlichen Gesellschaften immer noch fertig geworden sind. Bemühungen, den Terroristen die Öffentlichkeit zu entziehen, schließen aber ein, die Medien unter Kontrolle zu bringen. Aus dem gewaltsamen Kampf gegen den Terror dürften deshalb mittelfristig starke Impulse erwachsen, die Freiheit der Medien massiv einzuschränken. Ist dies wünschenswert? Wohl kaum. So drängt sich auch von dieser Seite her auf, den anderen Weg, den der friedlichen Apokalyptik und des Glaubens, der Berge von Hass versetzen kann, stärker zu sehen und neu zu betonen. Ist dies aber realistisch?

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Zwischen den Israelis und den Palästinensern gibt es nicht nur Verbitterung, Hass und Terrorattentate, sondern trotz dieser verzweifelten Lage auch immer noch zahlreiche Gruppen, die mutig und oft heroisch für eine Versöhnung arbeiten. Nur finden diese vorläufig wenig Echo. Selbstmordattentate erscheinen sofort in allen Medien der Welt, die Bemühungen um Versöhnung bleiben meistens unbemerkt. Dies ist wohl der Hauptgrund, weshalb die negativen Kräfte politisch viel wirksamer sind und weshalb die Terrorattentäter leicht Nachfolger finden. Es gibt ein klares untergründiges Zusammenspiel zwischen Gewalt und medialer Öffentlichkeit, die ihrerseits darauf beruht, dass die Menschen Gewaltereignisse eher als Neuigkeit empfinden und an Friedensbemühungen - trotz gegenteiliger subjektiver Behauptungen - instinktiv weniger interessiert sind. Trotzdem stellt sich die Frage, ob sich hier nicht etwas verändern lässt. Nicht die Terrorattentäter, sondern die Medien mit ihren Lesern und Leserinnen und ihren Zuschauern und Zuschauerinnen werden letztlich entscheiden, wie es politisch weitergeht. Lassen sie sich nur von Gewalttätern faszinieren und geben sie diesen Kräften damit Resonanzraum, oder interessieren sie sich für die Bemühungen um Frieden und verstärken damit die Kräfte der Versöhnung?

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Anmerkungen:  

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 1. Vgl. N. Gabler, This Time, The Scene was Real. In: New York Times, 16. Sept. 2001, 4:2:5.

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2. Vgl. I. Shahak, N. Mezvinsky, Jewish Fundamentalism in Israel. London: Pluto Press 1999, 78 - 95.

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3. Islamische Empörung gegen 'die Juden'. In: Neue Zürcher Zeitung, 23. April 2002, 3.

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4. Vgl. St. Stein (Hg.), Encyclopedia of Apocalypticism. Vol. 3: Apocalypticism in the Modern Period and the Contemporary Age. New York: Continuum 1998, 48 - 55; M. Scherer-Emunds, Die letzte Schlacht um Gottes Reich. Politische Heilsstrategien amerikanischer Fundamentalisten. Münster: edition liberación 1989, 34-36.

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5. Vgl. Scherer-Emunds, Die letzte Schlacht um Gottes Reich (s. Anm. 4) 48 - 56.

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6. VH. Lindsey u. a., Alter Planet Erde wohin? Im Vorfeld des dritten Weltkrieges. Asslar 191991.

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Hal Lindsey führt auch eine Website, in der er die Ereignisse im Nahen Osten ausschließlich nur gegen die Palästinenser kommentiert; vgl. http://www.hallindseyoracle.com/

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7. Vgl. Stein (Hg.), Encyclopedia of Apocalypticism III (s. Anm. 3) 166 - 177; Scherer-Emunds, Die letzte Schlacht (vgl. Anm. 4), 56 - 60.

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8. Vgl. Lexington: No Schmooze with the Jews. In: The Economist, April 6th 2002, 47.

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9. Vgl. Ch. H. Dyer, A. Hunt, Der Golfkrieg und das neue Babylon. Ulm: Ebner 1991. - Es stellt sich die Frage, ob der Wille von Präsident Busch, Saddam Hussein zu stürzen, auch von solchen Vorstellungen mitbedingt wird.

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10. Vgl. A. Lang, Armageddon: The Doctrine of Survivable Nuclear War. In: Convergence: Report from the Christic Institute. Washington D.C. Winter 1985. - Harmagedon ist gemäß Offb. 16.16 der Ort, wo die gottfeindlichen Mächte sich zum Endkampf versammeln und wo die Hure Babylon besiegt wird.

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11. Vgl. A. Rantisi, Gegenwärtige politische Interpretationen des Alten Testaments. In: H. Suermann (Hg.), Zwischen Halbmond und Davidstern. Christliche Theologie in Palästina heute. Freiburg i.Br.: Herder 2001, 102 - 107.

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12. Vgl. N.T. Wright, Jesus and the Victory of God. Minneapolis/USA: Fortress Press 1996.

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13. Vgl. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart: 51967; H. de Lubac, La postérité spirituelle de Joachim de Flore ( 2 tomes), Paris 1978/81.

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14. H. Melville, White-Jacket. (1850), ch. 36;

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15. Vgl. J. Fried, Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der Naturwissenschaften. München: Beck 2001.

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