Mit dem Projekt Schund und Sünde rekonstruiert ein Forschungsteam der Universität Innsbruck die vielfältige, bislang weitgehend vergessene Vergnügungskultur Innsbrucks in der Zwischenkriegszeit (1918–1938). Im Mittelpunkt stehen die kulturellen Angebote von Kabaretts, Kaffeehäusern, Tanzlokalen und Varietés, die wesentlich von jüdischen Künstler:innen, internationalen Ensembles und queeren Ausdrucksformen geprägt waren. Diese moderne Unterhaltungskultur war gleichermaßen Ausdruck gesellschaftlicher Modernisierung wie Zielscheibe nationalsozialistischer, antisemitischer und moralisch-konservativer Angriffe. Das Projekt erhält den gedenk_potenziale-Preis der Stadt Innsbruck für das Jahr 2026.
Eine digitale Zeitreise
Ein innovativer digitaler Zeitreiseführer macht diese Geschichte ab dem nächsten Jahr wieder sichtbar und erlebbar. Über QR-Codes werden Interessierte mittels Smartphone durch mehrere historisch bedeutende Orte des Innsbrucker Nachtlebens geführt. 3D-Rekonstruktionen, Collagen, historische Musikaufnahmen und hörspielartige Inszenierungen vermitteln die Atmosphäre der Zeit. Ergänzt werden die audiovisuellen Eindrücke durch wissenschaftlich fundierte Hintergrundinformationen zu den Akteur:innen, den politischen Rahmenbedingungen sowie den beginnenden Ausgrenzungsmechanismen jener Jahre.
Aufwendig recherchiert
Das Projekt gründet auf aktuellen Ergebnissen des am Fach Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck angesiedelten Forschungsprojekts Moderne Vergnügungskultur und Ausgrenzungspolitik in Tirol 1918–1948, das unter der Leitung von assoz. Prof. Dr. Konrad Kuhn durchgeführt und durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich sowie den Erinnerungskulturfonds des Landes Tirol gefördert wird. Umfangreiche Recherchen in Archiven, Zeitungsbeständen, Meldeunterlagen, privaten Sammlungen sowie die Analyse bislang unerschlossener Quellen ermöglichen eine detaillierte wissenschaftliche Aufarbeitung dieser bislang wenig beachteten Facetten der Tiroler Kultur- und Gesellschaftsgeschichte.
Mit dem Projekt Schund und Sünde leisten die Preisträgerinnen Manuela Rathmayer und Sandra Hupf einen wichtigen Beitrag zu einer zeitgemäßen Erinnerungsarbeit und zur wissenschaftlichen Aufarbeitung von Verdrängungsprozessen. Das niederschwellig zugängliche digitale Vermittlungsformat richtet sich an eine breite Öffentlichkeit ebenso wie die jüngere Generation. Es verdeutlicht, wie eng Fragen von Identität, Zugehörigkeit und Ausgrenzung auch heute noch mit historischen Entwicklungen verknüpft sind und eröffnet neue Perspektiven auf Tirols kulturelle Vielfalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
(Konrad Kuhn)