Der Begleitschreiber
Für Fabjan Hafner
Im Dezember rief mich ein Bekannter an. Er hatte von Peter Handkes neuestem Buch Tage und Werke gehört und die ungewöhnliche Gattungsbezeichnung „Begleitschreiben“ bemerkt. „Da benutzt der Handke Deinen Blog-Namen für sein Buch!“, echauffierte er sich. Es dauerte ein wenig, bis ich ihn beruhigt hatte. Denn es war ja umgekehrt, wie ich immer wieder (auch öffentlich) betont hatte: „Begleitschreiben“ war und ist in Verbindung mit Kritik ein Handke-Wort. Wenn jemand in diesem Fall eines Plagiats schuldig ist, dann ich.
Die Stelle findet sich im 1998 erschienenen Journal Am Felsfenster morgens, einem Extrakt aus seinen Notizbüchern von 1982 bis 1987: „Statt ‚Kritik‘ sag ‚Begleitschreiben‘“,[1] notierte er im April 1986. Handke liebt diese Form der nuancierten Wortschöpfungen; in seinen Notizbüchern finden sich sehr viele „Statt – sag“-Kreationen, zumeist als Imperative an sich selbst gerichtet. Ein „Begleitschreiben“ ist für Handke von nun an nicht mehr nur das eher belanglose Anschreiben, das meist sofort in den Papierkorb wandert. Es bekommt eine neue Bedeutung, ist eine spezielle Form von Literatur- oder Kunstkritik. Begleitung assoziiert dabei Beschäftigung und Widmung mit dem jeweiligen Medium (bzw. dem Künstler), eine Art Verbundenheit, womöglich sogar Sympathie. Aber es ist auch immer noch Distanz vorhanden; Begleitung bedeutet nicht Affirmation. „Begleitschreiben“ hat somit eine andere Bedeutung als das kathederhafte „Rezension“ (aus dem lateinischen „recensio“ für „Musterung“). Und es wirkt unvoreingenommener als der meist eher negativ konnotierte Begriff „Kritik“. „Begleitschreiben“ ist kein Ersatz für die gängigen Gattungsbezeichnungen, sondern eine Präzisierung, eine Ergänzung.
Kontraste: Helmut Färber und Marcel Reich-Ranicki
1994 hatte Handke die Formulierung in seiner Laudatio auf den damaligen Petrarca-Preisträger, den Filmkritiker Helmut Färber, verwendet.[2] Färber, der mit Handke die Verehrung für die Regisseure Yasujirō Ozu, John Ford und das Paar Jean-Marie Straub und Danièle Huillet teilt, bekam in der Lobrede einen „Scharfsinn“ attestiert, der „aus dem Enthusiasmus“ komme, aber nicht „durch Überschwang unglaubwürdig“ sei. Färber bliebe „immer zugleich der nüchterne Unterscheider, der Kritiker; seine Strenge, paradoxes Verb für dieses Substantiv, spielt verläßlich mit, es ist da oft eine barmherzige Strenge.“ Scharf grenzte er den damals 57jährigen von den jungen Kritikern ab, den „Öffentlichkeitsagenten“ (ein Wort, dass von Ferne an Enzensbergers Polemik zum Literaturkritiker als „Zirkulationsagenten“ erinnert[3]), die sich für bessere Cineasten hielten als die Regisseure selber. Färber hingegen diene der Kunst (und dem Publikum).
Die Beschreibungen, die Handke für den Filmkritiker Färber findet, lassen sich ebenso auf sein Ideal des Literaturkritikers projizieren. Der bis dahin einzige Text Handkes zu einem Kritiker war allerdings ein klarer Antagonismus zu diesem „Lob des Kritikers“: Der 1968 erschienene Aufsatz Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit. Handke hatte Reich-Ranicki 1966 bei der Tagung der Gruppe 47 in Princeton kennengelernt. Am dritten Tag der Veranstaltung kam es zu der vermeintlich spontan formulierten Rede Handkes, in der er die literarische Ästhetik der Gruppe und die allzu affirmativen Einlassungen der Kritik hierauf scharf kritisierte. Handkes Intention bestand darin, Sprache und Formbewusstsein in Literatur und Kritik in den Mittelpunkt zu stellen. Es war seine Behandlung der leidigen Frage, ob Literatur sich nun politisch zu engagieren habe oder nicht. Ihm war auf der Tagung klargeworden, „daß formale Fragen eigentlich moralische Fragen sind“.[4] Und so attackierte er in der aktuellen Literatur einen „neuen Realismus“, der „das billigste“ sei, „womit man Literatur machen kann“. Aber Handke holte auch zum Schlag gegen die Kritik aus, die damit einverstanden sei, „weil eben ihr überkommenes Instrumentarium noch für diese Literatur ausreicht“. „Läppisch“ nannte Handke sowohl diese Literatur wie auch die Kritik, die entweder nur noch sage etwas sei langweilig oder sich in Beschimpfungen ergehe.[5]
Für Handke war Reich-Ranicki, dieser „Grobmotoriker des Urteilens“[6], der Prototyp dieser als läppisch empfundenen Literaturkritik. Handke begnügt sich nicht damit, die divergierenden literarischen Sichtweisen herauszuarbeiten („Literatur ist für ihn [Reich-Ranicki] nicht etwas Gemachtes, sondern etwas Entstandenes“[7]). Er analysiert, wie Reich-Ranicki die Literatur, die nicht seinem Verständnis folgt, nicht etwa versucht zu ergründen oder unbeachtet lässt, sondern offensiv denunziert. Reich-Ranicki „kann man mit Einwänden nicht kommen“, so Handke, „er kennt die alte List, sich dumm zu stellen, weil er nicht argumentieren kann (und er ist nie fähig zu argumentieren, er äußert sich nur mit kräftigem rhetorischen Gestus).“ An den Eindrücken der Diskussionen von Princeton geschult nimmt Handke hier die Rhetorik des erst 20 Jahre später entstehenden Literarischen Quartetts vorweg. Reich-Ranicki verstehe sich, so Handke, als „Sprecher des Lesers“ aber mit einem „völlig indiskutablen, schon seit langem mechanischen Vokabular". Er arbeite "statt mit Urteilen nur mit Vorurteilen“ und vergegenwärtige „nicht das Ergebnis seiner kritischen Arbeit“, sondern teile es „zumindest temperamentvoll“ mit. „Jeder seiner Sätze ist schon fertig da, beliebig verfügbar […] Kein Satz argumentiert […] seine Sätze sind alle schon Endsätze.“
Aber Handke beließ es nicht bei dieser Kritik. Er formulierte ein Urteil, das von nun an das Verhältnis zwischen ihm und Reich-Ranicki zerrütten sollte. Er nannte ihn den „unwichtigste[n], am wenigsten anregende[n], dabei am meisten selbstgerechte[n] deutsche[n] Literaturkritiker seit langem.“ Diesen Fehdehandschuh nahm Reich-Ranicki auf; zum ersten großen Eklat kam es 1976, als er Handkes Roman Die linkshändige Frau mit Hedwig Courths-Mahler verglich.
Aus der Bücherecke oder: „Es sind auch andere Sätze möglich“
Handke war 1968 der neue, kommende Literaturstern. Die Publikumsbeschimpfung war ein Erfolg, bald würde mit Kaspar ein neues, viel beachtetes Theaterstück uraufgeführt werden. Noch immer profitierte er von seinem Princeton-Statement. Handke war gefragt, schrieb für verschiedene Zeitungen und Magazine literaturtheoretische Aufsätze, Kulturreportagen, Filmkritiken und Buchbesprechungen. Aber er hatte sich schon vor Princeton als Literaturkritiker versucht, wie man in Tage und Werke, dem neuen Band von Handkes Aufsätzen und Essays, nachlesen kann.[8] Zwischen 1964 und 1966 wurden vom ORF Landesstudio Steiermark 16 Radiofeuilletons mit dem Titel Bücherecke von je 15 Minuten Dauer produziert. Für jede Sendung gab es 300 Schilling; die Bücher durfte er behalten.[9]
Bis auf zwei sind sie im neuesten Sammelband am Ende als eine Art Postskriptum abgedruckt. Handke war zu Beginn der Sendungen noch nicht einmal 22 Jahre alt und zeigte nicht nur umfassende literatur- und theaterwissenschaftliche Kenntnisse, sondern auch eine große Portion Selbstbewusstsein, ob es sich um Geistesgrößen wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Roland Barthes, Herbert Marcuse oder um prominente Schriftsteller wie Martin Walser, Ror Wolf, John Dos Passos oder Zbigniew Herbert handelte. Handke erörterte in seinen Beiträgen pro Sendung mehrere aktuelle Neuerscheinungen sowohl von bekannten als auch von kleineren Verlagen. Zuweilen bildete er Schwerpunkte, etwa über Neuerscheinungen russischer Literatur oder er analysierte das zeitgenössische Theater.
Es waren diese Texte, die die Kritiker des Jahres 2015 erstaunten und in Anerkennung und Lob schwelgen ließen. Handke wurde 50 Jahre danach als „Literaturkritiker“ vereinnahmt. Bei genauer Lektüre kann man diese Zuordnung nicht aufrechterhalten, denn bereits in der zweiten Sendung, am 21.12.1964,[10] sprach Handke die Probleme der Literaturkritik, die er vor allem in der Sprache sah, an. Die Aufgabe der Literaturkritik sei zwar die Bewertung, aber „für die Bewertung […] besteht in der Sprache nur ein begrenzter Vorrat von Worten; dieser Vorrat schießt automatisch in die Gedanken, wenn die Sprache des zu beurteilenden Textes beurteilt werden soll: das ist es, was die Literaturkritik oft zu einem leeren Geschäft macht. Sowohl die Worte für die Beschreibung einer Geschichte als auch die Bewertungsworte für die Sprache dieser Geschichte sind mit der Zeit automatisiert worden.“[11] Und das gilt ebenso für die Erwähnung des Namens des Autors. Je bekannter er sei, „desto mehr Eigenschaftsworte“ seien für ihn gebräuchlich; Worte, „die mechanisch bei der Erwähnung des Autors in den Sinn kommen.“ Dies sei zwar ein „Übel“, läge aber in der „Natur der Kritik“, wie es auch deren Natur sei, „zu bewerten“, aber „die Bewertungsworte … sind von Natur aus abstrakt, das heißt, sie tragen in sich keinen Begriff von dem, was sie bezeichnen; sie dienen nur als Hilfsmittel oder als Hinweise; was ihnen trotzdem zu einer Wirkung verhilft, ist die Gewöhnung des Zuhörers“ daran. So geschehe es, „daß auf die Nennung des automatisch gesagten Wortes, etwa die Sprache sei dicht, in dem Zuhörer ebenso von selber eine Wertvorstellung von dem Kritisierten entstehe.“ Das Problem bestünde darin, dass die Kriterien für eine „dichte Sprache“ bei Kritiker und Zuhörer variierten, was dann unweigerlich zur Folge haben müsse, dass dieses Werturteil ein „leere[r] Hinweis“ sei. Einen Ausweg aus dem Dilemma eröffnete er nicht. Er beendet die Erörterung mit der scheinbar lapidaren, in Wirklichkeit jedoch programmatisch zu verstehenden Bemerkung: „Es sind auch andere Sätze möglich.“
Und so merkt man den Radiofeuilletons die Suchbewegung des jungen Autors an, von den gängigen Kategorisierungen und Sprachfallen Abstand zu nehmen. Bald verknüpfte er die manchmal auf den ersten Blick unvereinbar scheinenden Bücher, wies auf sprachliche Gemeinsamkeiten oder auch Kontraste hin. Bereits hier scheint der später als unabdingbar von ihm vorausgesetzte Enthusiasmus in Zusammenhang mit der „barmherzigen Strenge“ als ein Ideal aufzuschimmern.
Es geht immer um Alles
Der klassischen Rezension steht Handke seit jeher ablehnend gegenüber, weil sie in bestimmten Sprachspielen agiert, auf die der Leser, die Leserin praktisch nur mit Affekten reagieren kann. Dabei entstehen sowohl beim Schreiber als auch beim Rezipienten vorgestanzte Bilder und Schablonen, die am Ende keinen Bezug zum eigentlichen Gegenstand entwickeln. Einher geht diese Kritik mit seinem ebenfalls früh einsetzenden und sich im Laufe der Jahrzehnte verstärkenden Unbehagen der vereinfachenden journalistischen Sprache gegenüber, einem Unbehagen, dass von 1995 bis 2006 zu den heftigen sprach- und medienkritischen Eruptionen Handkes in seinen Jugoslawien-Texten führte.
Inklusive seiner Radiofeuilletons hat Handke mehr als 80 substanzielle Texte zu Kinofilmen, Kunstwerken und Literatur verfasst. Waren dies zu Beginn Auftragsarbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, so hatten sich im Laufe der 1970er Jahre die Voraussetzungen geändert. Die Redaktionen bestimmten nicht mehr über Handkes Thema, sondern er selber. Dabei nutzte er seine aufkommende Prominenz und setzte sich (mit unterschiedlichem Erfolg) für bis dahin unbekannte, vom Betrieb vernachlässigte Schriftsteller wie beispielsweise Hermann Lenz, Gerhard Meier, Josef W. Janker, Wolfgang Welt oder Ludwig Hohl ein und übersetzte fremdsprachige Autoren wie Gustav Januš, Walker Percy, Francis Ponge, Florjan Lipuš oder Patrick Modiano. Er besprach auch Bücher von Freunden, auch wenn er dies fast immer offensiv erklärte, so etwa in einem Text zu Peter Stephan Jungks Buch Tigor, als er von einem „Freundschaftsdienst“ sprach, was ihn nicht daran hinderte, den ein oder anderen Kritikpunkt vorzubringen.[12]
Dass Bekannt- wie Freundschaften bei Handkes ästhetischer Bewertung keine Rolle spielen, hatte 1975 Karin Struck erfahren.[13] Wie Malte Herwig recherchierte, hatte Struck Handke gebeten, ihr neues Buch Die Mutter zu rezensieren. Struck wurde mit ihrem sehr wohlwollend aufgenommenen Erstling Klassenliebe 1973 zu einer Galionsfigur einer neuen, weiblichen Subjektivität. Tatsächlich schrieb Handke schließlich den Text Denunziation ohne Wahrnehmung im Spiegel,[14] von dem die Autorin, so Herwig, „am Boden zerstört“ war.[15] Handkes Kritik ist unerbittlich, wenn sie auch zunächst formal und am Roman orientiert ist. Struck habe, so Handkes Kernvorwurf, ihre Figuren denunziert; sie spielten „nur Rollen mit längst bekannten Geschichten“. Am Schluss wird Handke jedoch persönlich, in dem er die Duz-Freundin unmittelbar anredet: „Statt ‚die Axt für das gefrorene Meer in uns‘ zu sein (auch dieser Kafka-Satz ist bei Karin Struck zu bloßer Beliebtheit entwürdigt), vermehrt es das Eis in uns und zwischen dir und mir.“
Zuweilen lässt sich Handke in Interviews zu despektierlichen Äußerungen zu Kunst- und Kulturschaffenden hinreißen. Von allen öffentlichen Texten blieben jedoch die Verrisse zu Reich-Ranicki und Struck die Ausnahme.[16] Handke wollte und will das Positive erkennen und erzählen. Auf die Entdeckungen, die er zum Teil akribisch-emphatisch initiierte (im Briefwechsel zwischen Peter Handke und Hermann Lenz lässt sich dazu einiges nachlesen), wurde schon hingewiesen.
Handkes „Begleitschreiben“ waren (und sind) jenseits luzider Analyse immer auch unkonventionelle, persönliche Texte. Dabei scheut er sich nicht, das im Feuilleton so verpönte „Ich“ zu verwenden. In Als ich „Verstörung“ von Thomas Bernhard las[17] von 1967 erinnert er sich an einzelne Stellen im Roman Bernhards anhand seiner Erlebnisse in Hannover zur Zeit der Lektüre. Klassische Rezensenten hätten bei dieser Gelegenheit von einem „Sog“ des Textes gesprochen. Mit seiner erzählenden Umschreibung umgeht Handke damit ein „Bewertungswort“. Manches Lob gerät zu Beginn noch spielerisch. Zu Gert Jonkes Geometrischer Heimatroman bilanziert er ebenfalls 1967: „Mit diesem Buch kann man also Erfahrungen machen. Erfahrungen zu machen, bereitet Vergnügen: Es ist ein vergnügliches Buch.“[18]
Der hohe Ton
Derlei Urteile finden sich in seinen Texten im Laufe der Zeit immer weniger. Der Kritiker weicht dem Autor, der zu Preis- und Lobreden, Vor- und Nachworten anhebt. Und es ist tatsächlich ein Anheben – vielleicht ist hier der häufig an Handkes Prosa vorgebrachte Einwand des „hohen Tons“ sogar gerechtfertigt, ja fast zwingend, weil es hier nach Handkes Verständnis um „Alles“ geht, um die Literatur (oder, mittlerweile seltener, das Kino), um die Wahrhaftigkeit der Sprache, um das Ereignis des Lesens. Handke bringt sich zumeist als Leser ein; für ihn die höchste Daseinsstufe des literarischen Subjekts. „Der Leser als ‚der Lebendige‘“[19], heißt es im neuesten Journalband. Und hier ist es eben der Leser Peter Handke, der mit seinem enormen, umfassenden Lese-„Wissen“ Allegorien, Assoziationen, Verzweigungen, Zuordnungen und Abgrenzungen vornehmen und profund beglaubigen kann, was nicht selten dazu führt, dass man das Studium eines solchen Begleitschreibens mit einer Fülle neuer Anregungen beendet.
Und wenn dann Handke doch noch einmal zum „Kritiker“ wird, wie im Text von 2015 über Die drei Zitterer an der homerischen Quelle, einer Besprechung von drei so unterschiedlichen Büchern wie Dag Solstads Scham und Würde, Xaver Bayers Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich und Dragan Aleksićs Vorvorgestern, beginnen sofort wieder die Sprachprobleme mit bzw. in der Literaturkritik, die jedoch offensiv und mit seltener Ironie angegangen werden: „Es sei hier fern, die drei fraglichen Bücher in einen Himmel zu heben. ‚Meisterwerke‘, ‚wunderbare‘, ‚einmalige‘, ‚unvergleichliche‘, ‚atemberaubende‘, ‚epochale‘ gibt es ja heutzutage in Hülle und Fülle… [...] Das Lesen der drei wie auch das Wiedergeben geschieht, im Zeichen der Kritik, im Sinn des Unterscheidens, der Kritik, die zugleich eine Form der Begeisterung ist (wobei gegebenenfalls auch Zorn und Enttäuschung mitspielen können als ganz variierte Begeisterung). Nicht in den Himmel heben? Na, augenblicksweise vielleicht doch, da und dort, dann und wann.“[20]
Handkes Abneigung gegen das journalistische „Meinen“, das bedenkenlose wie schematische Verfassen von „Urteilen“ in „Verlautbarungshauptsätzen“[21], hatte ich, der in einer Mischung aus Dreistigkeit und Provokation auf meiner Visitenkarte die Bezeichnung „Leser“ unter meinem Namen hatte drucken lassen, selber zu spüren bekommen. Bei meinem Besuch im September 2014 in Chaville konstatierte Handke in einigen meiner Besprechungen, die er vom Verlag geschickt bekommen habe, dass ich manchmal schon wie „die“ aus dem Feuilleton schreiben würde. Er interpretierte dies als eine Art von Anbiederung an die Feuilletonsprache und bat mich fast inständig, mich fernzuhalten von diesem wirklich „mörderischen Betrieb“. Er, der die Klaviatur des Betriebs einst perfekt bespielt hatte (ohne sich jedoch, wie so manch einer, anzubiedern), dann jedoch wegen seiner Jugoslawien-Texte fast intellektuell vernichtet worden wäre, weiß wohl wovon er sprach. In diesem Moment erinnerte ich mich an seinen Brief vom 28.08.1974 an den Freund und Schriftsteller Nicolas Born, in dem er so ernüchternd wie erschreckend schrieb: „Es gibt wahrhaftig keinen, der über Literatur schreibt, dem ich auch nur einen Atemzug lang vertraue.“[22]
Ob der Begleitschreiber Peter Handke dem Schriftsteller Peter Handke auch nicht vertraut? Möglich wäre es.
Lothar Struck, 16.05.2016
Lothar Struck, geb. 1959 in Mönchengladbach, lebt in Düsseldorf. Er ist Autor für das Online-Magazin Glanz und Elend und betreibt den literarischen Weblog Begleitschreiben. Er hat zwei Monografien über Peter Handke verfasst: „Der mit seinem Jugoslawien“ – Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Politik. Leipzig: Ille & Riemer, 2013 und Der Geruch der Filme – Peter Handke und das Kino. Triebischtal: Mirabilis-Verlag, 2014.
Anmerkungen:
[1] Peter Handke: Am Felsfenster morgens. Salzburg: Residenz-Verl., 1998, S. 351.
[2] Nachfolgende Zitate aus: Wie ein Letzter ein Erster; Lob eines „Kritikers“. Zu Helmut Färber. In: Peter Handke: Mündliches und Schriftliches. Zu Büchern, Bildern und Filmen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2002, S. 39–65.
[3] Hans Magnus Enzensberger: Rezensenten-Dämmerung. In: Sascha Michel (Hrg.): Texte zur Theorie der Literaturkritik". Stuttgart: Reclam, 2008 (Reclams Universal-bibliothek 18549), S. 256–263; Zitat S. 260.
[4] Zur Tagung der Gruppe 47 in USA. In: Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1972. (Suhrkamp Taschenbuch 56), S. 29–34; Zitat S. 34.
[5] Zitiert nach: Adolf Haslinger: Peter Handke – Jugend eines Schriftstellers. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1995. (Suhrkamp Taschenbuch 2470), S. 111f.
[6][6] Jörg Magenau: Princeton 1966. Stuttgart: Klett-Cotta, 2016, S. 78.
[7] Dieses und die folgenden Zitate nach: Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit. In: Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 203–207.
[8] Eine Übersicht über die Sammelbände bietet die Webseite Handkeonline, auf der neben den Aufsatzbänden allerdings auch literarische Sammelbände verzeichnet sind.
[9] Adolf Haslinger, S. 97
[10] In Tage und Werke ist die Sendung vom 21.12.1964 die erste Sendung, die transkribiert ist. Tatsächlich war es aber die zweite. Die erste Sendung wurde am 09.11.1964 ausgestrahlt, vgl. Handkeonline.
[11] Dieses und die nachfolgenden Zitate aus: Bücherecke vom 21.12.1964. In: Peter Handke: Tage und Werke. Berlin: Suhrkamp, 2015, S. 189–197; Zitat S. 189f.
[12] Des Privatdetektivs eigener Fall. Über Stephan Peter Jungk und seinen Roman „Tigor“. In: Peter Handke: Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980–1992. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1992, S. 172–181.
[13] Der Verfasser dieses Textes ist mit Karin Struck weder verwandt noch verschwägert.
[14] Der Text findet sich unter dem Titel: Karin Struck: „Die Mutter“. In: Peter Handke: Das Ende des Flanierens. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1980. (Suhrkamp Taschenbuch 679), S. 49–55.
[15] Malte Herwig: Meister der Dämmerung. München: DVA, 2011, S. 300.
[16] Handkes Kritik am Film Griffen – Auf den Spuren von Peter Handke des österreichischen Regisseurs Bernd Liepold-Mosser kann zwar getrost als Verriss interpretiert werden, war aber als persönlicher Brief deklariert. Er wurde von Liepold-Mosser als Referenz dennoch publiziert.
[17] In: Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, S. 211–216.
[18] Ebd., S. 199–202.
[19] Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Salzburg: Jung & Jung, 2016, S. 85.
[20] Drei Zitterer an der homerischen Quelle. In: Handke: Tage und Werke, S. 165-186; Zitat S. 166f.
[21] Handke: Vor der Baumschattenwand nachts, S. 311.
[22] Katharina Born (Hrsg.): Nicolas Born. Briefe 1959–1979. Göttingen: Wallstein, 2007, Brief 331, S. 354.