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Lernen, mit der Natur zu leben – Universität Innsbruck
Mehrere Personen in einer Naturlandschaft

Ziel des Projekts war, den ökologischen, ökonomischen, kulturellen und spirituellen Wert von Wasser ganzheitlich verstehen und mitgestalten zu können.

Ler­nen, mit der Natur zu leben

Seit 1970 ist der Bestand an Wirbeltieren auf der Erde laut Living Planet Report um 69 Prozent zurückgegangen. Gründe dafür sind der Verlust von Lebensräumen, die Umweltverschmutzung und der Klimawandel. Der negative Einfluss des Menschen auf die Natur ist immens, gleichzeitig zerstört er damit seine eigenen Lebensgrundlagen. Wie können wir lernen, ethischer und nachhaltiger mit der Natur zu leben? Mit dieser Frage hat sich das Projekt „Überleben im Anthropozän“ auseinandergesetzt.

Süßgewässer sind vom massiven Artensterben am meisten betroffen, weil Flüsse weltweit verbaut, degradiert, übernutzt und verschmutzt werden. Vielen Menschen ist aber gar nicht bewusst, dass und worunter Wasserlebewesen leiden. Die australische Nachhaltigkeitsforscherin Shé Hawke wollte deshalb eine App entwickeln, mithilfe derer junge Menschen einen Fluss in ihrer Umgebung erforschen und dokumentieren können – ganz nach dem Motto: Man schützt nur, was man kennt.

Sie wollte dafür mit den Elementarphilosophen des Wissenschafts- und Forschungszentrums in Koper, Slowenien, zusammenarbeiten. Diese wiederum brachten die Soziologin Reingard Spannring vom Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck ins Spiel, die zu Umweltbildung, Bildungsphilosophie, kritischen Tierstudien und Jugend forscht. Gemeinsam und interdisziplinär wurde untersucht, wie man im Anthropozän lernen kann, anders mit Umwelt und Natur umzugehen.

Wasser ganzheitlich verstehen

Das Ergebnis heißt Aqua MOOC und ist mehr als eine Naturerlebnis-App: Der kollaborative Onlinekurs (MOOC steht für Massive Open Online Course) soll Jugendlichen und Studierenden die biosozialen Zusammenhänge zwischen Natur und Kultur vermitteln und sie dazu anregen, Fotos, kurze Videos, Audioaufnahmen und eigene Erlebnisse an einem Fluss auf der Lernplattform zu teilen.

„Unser Fokus war water literacy, also wasserbezogenes Wissen, das aufgrund zunehmender Konflikte um Wasser, Dürren und Überschwemmungen bedeutender geworden ist“, erklärt Reingard Spannring. Die meisten Studien und pädagogischen Konzepte dazu würden jedoch nur auf kognitives und naturwissenschaftliches Wissen sowie auf die Bedürfnisse der Menschen Wert legen. In der posthumanistischen Bildungsforschung, in der die Soziologin arbeitet, verhalte man sich jedoch kritisch zu Dualismen wie Tier/Mensch oder Natur/Kultur, die den Menschen über das Tier und die Kultur über die Natur stellen. Der Posthumanismus relativiert die besondere Stellung des Menschen und versucht, die Trennung zwischen Mensch und Natur zu überbrücken und die Verwobenheit allen Lebens zu zeigen.

Vor diesem Hintergrund war ein Ziel des vom Wissenschaftsfonds FWF kofinanzierten Forschungsprojektes Überleben im Anthropozän, den ökologischen, ökonomischen, kulturellen und spirituellen Wert von Wasser ganzheitlich verstehen und mitgestalten zu können. Aqua MOOC vermittelt Wissen über das biosoziale, adaptive System Fluss, in dem alles mit allem zusammenhängt. Ein weiteres Modul widmet sich dem Einfluss des Menschen auf den Fluss und zeigt, warum auch scheinbar kleine Handlungen das System verändern können. Die Lernenden sollen dabei reflektieren, wie unterschiedliche Kulturen über Flüsse denken und welche Bedeutung Wasser für sie hat. Im vierten Modul wird die Forschungsmethode „Multispezies-Ethnografie“ erklärt, die hilft, das Zusammenleben des Menschen mit anderen Lebewesen und dem Fluss zu dokumentieren und zu verstehen.

Lernen in Theorie und Praxis

Das vierte Modul sei aufgrund von Erfahrungen mit zwei Schulklassen in Innsbruck und in Bad Reichenhall entwickelt worden, erzählt Reingard Spannring, denn die jungen Menschen würden zumeist nicht wissen, worauf sie überhaupt achten könnten, wenn sie die Natur draußen erforschen: „Die Jugendlichen in Innsbruck zum Beispiel haben nicht viel von der Natur am Fluss dokumentiert, einige sagten sogar, Natur interessiere sie nicht. Sie wussten aber, wo Obdachlose übernachten, wo Drogensüchtige unterwegs sind oder wo sie eine Grillparty machen würden“, erfuhr die Soziologin. An diesen Interessen und Erfahrungen könne man anknüpfen und in der Folge auch andere Themen ansprechen: „Ich kann beispielsweise erklären, was passiert, wenn ich mein Picknickgeschirr im Fluss wasche oder welche Auswirkungen die Beleuchtung der Uferpromenade auf die Tiere im Fluss hat.“

Das Forschungsprojekt habe gezeigt, dass das Lernpaket ein holistisches sein müsse: Es soll einerseits schöne, sinnliche Begegnungen mit Natur und Tieren anregen, andererseits gemeinsam kritisches Denken und Kritik an Strukturen und Systemen erarbeiten. Wichtig sei auch, bewusst zu machen, wie schnell und stark sich die Welt derzeit verändert, denn, so Reingard Spannring: „Wir nehmen die Natur so wahr, wie wir sie aus der Kindheit kennen.“ Wer nie einen natürlichen, dynamischen Fluss mit Auwald, strukturierten Ufern und Schotterbänken erlebt hat, wird nicht erkennen, dass ein gerades Betonbett kein geeigneter Lebensraum für Fische und andere Flusslebewesen ist.

Gemeinsames Engagement in und mit Flüssen

Aqua MOOC ist seit März 2022 online und Teil des internationalen Forschungsprojektes „Überleben im Anthropozän durch die Erfindung einer neuen ökologischen Gerechtigkeit und einer biologisch-sozialen philosophischen Kompetenz“ (2019–2022). Das kollaborative Wissensprojekt stellt eine elementare Philosophie des Wassers und der Luft in den Vordergrund innovativer Pädagogik. Ziel ist, Bewusstsein für die Krise des Anthropozäns zu schaffen, indem die Kluft zwischen Kultur, Natur und Ethik überwunden wird. Die Lernplattform wird vom Wissenschaftsfonds FWF und von der Slowenischen Forschungsagentur ARRS gefördert. Aqua MOOC steht allen Nutzer*innen (nicht nur Jugendlichen) gratis zur Verfügung, eine Registrierung genügt.

Zur Person

Reingard Spannring hat an den Universitäten Sussex und Wien Soziologie studiert und war am IHS und am Österreichischen Institut für Jugendforschung tätig. 2006 wechselte sie an das Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck, wo sie begann, sich auch mit kritischen Tierstudien, Umweltbildungsforschung, Bildungsphilosophie und Lehr-Lern-Theorien zu beschäftigen. Das Mensch-Natur- und das Mensch-Tier-Verhältnis nehmen in ihrer Arbeit eine zentrale Stelle ein.

(scilog.fwf.ac.at)

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