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Siebenrock Roman: Wege aus der Gewalt?
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Wege aus der Gewalt?
(Katholisch-Theologische Fakultät Innsbruck, Redaktion:)

Autor:Siebenrock Roman
Veröffentlichung:
Kategoriekommentar
Abstrakt:Wider das Rachedenken als Antwort auf den Terroranschlag. Kann man das Neue Testament auf die Seite stellen und zurückkehren zum Prinzip "Aug um Auge, Zahn um Zahn"?
Publiziert in:# Originalbeitrag für den Leseraum
Datum:2001-09-24

Inhalt

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Wir stehen heute noch stärker im Bannkreis jenes monströsen Gewaltaktes, der am 11. September in New York und Washington verübt worden ist, tausende Opfer forderte und uns mit Entsetzen und Abscheu erfüllt. Nachdem sich der erste Schock gelegt hat, die Bergungsarbeiten und das tapfere Suchen nach Überlebenden unter den Trümmern sich in Aufräumarbeiten verwandeln, in der die Trauerarbeit erst beginnt, wird uns das ganze Ausmaß dieses Angriffes bewußt. Trauer, Angst, Zorn, der Ruf nach Rache und Resignation zeigen einen Schock an, der noch lange nachwirken wird. Im Banne der Gewalt werden aber uralte menschliche Mechanismen und Reaktionsweisen erkennbar, wie sie René Girard in der Analyse der Weltliteratur von ihren mythischen Anfängen an aufgezeigt hat. In unserer globalen und von tiefen Gegensätzen geprägten Welt können diese aber besonders gefährlich werden.

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Dieser Gewaltakt, nicht z.B. die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, habe das 21. Jahrhundert eröffnet. Es wird von Krieg, Feldzug, und Vergeltung gesprochen, die nicht nur die unmittelbar Verantwortlichen, sondern alle Helfer und unterstützenden Staaten treffen soll. Weltpolitik wird wie ein 'Western' inszeniert. Der Anschlag wird als Angriff auf die Zivilisation eingestuft, und es kommt zu Koalitionen zwischen Staaten und Gesellschaftssystemen, die ein hohes Konfliktpotential untereinander aufweisen. In ihrem Kommentar vom 12.9. in den Tagesthemen (ARD) hat Dagmar Reim empfohlen, das Neue Testament einmal bei Seite zu stellen, und an die Maxime "Auge um Auge, Zahn um Zahn" (Ex 20,14) erinnert. In dieser Situation, die in Europa, vor allem in Deutschland, von nicht nur verbaler Kriegs-Mobilisierung geprägt ist, und von Präsident Bush bereits als Krieg bezeichnet wird, sehen wir uns als Innsbrucker Forschungsprogramm zu Religion, Gewalt, Kommunikation und Weltordnung (RGKW) verpflichtet die in diesen Tagen zum Ausdruck kommenden Mechanismen der Gewalt zu benennen und aus dem Anspruch des Evangeliums Jesu Christi Handlungsoptionen vorzuschlagen.

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Keine Gesellschaft ohne Gewalt

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Gewalt üben Menschen aus, auch wir. Keiner von uns ist ohne Sünde. Auch unser westliches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ist nicht das messianische Reich. Für einen Christen, das haben wir aus unserer Geschichte gelernt, kann es keine bedingungslose Gefolgschaft gegenüber irgendeiner innerweltlichen Macht oder Größe geben. Es gibt nur einen Herrn: Jesus Christus. Die Welt ist nicht in schwarz oder weiß, in gut und böse aufteilbar. Religionen können nicht, auch nicht der Islam, einfachhin als gewalttätig eingestuft werden, demgegenüber die Moderne nur segensreich wäre. Wer sagt, dass dieser Gewaltakt Konturen eines Religionskrieges habe, hat die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts verdrängt; - vor allem die säkulare Geschichte des Nationalismus, des atheistischen Totalitarismus und Faschismus, der die Welt in unbeschreibliches Elend stürzte. Es ist richtig, dass wir Europäer den Amerikanern sehr viel zu verdanken haben, und dass es deshalb eine Pflicht ist, in dieser Situation solidarisch zusammen zu stehen. Aber wir müssen unsere geschichtliche Erfahrung aus den Katastrophen des letzten Jahrhunderts einbringen. Wir haben zu viele Kriege im eigenen Land erlebt. Der Vergleich mit Pearl Harbour ist verführerisch falsch. Die Lage scheint eher dem Sommer 1914 zu gleichen, als nach dem Attentat in Sarajewo Europa ins Unglück taumelte: "Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt" (Georg Trakl). Der Zweck heiligt nie die Mittel, auch bei uns nicht. Vielmehr bleibt die goldene Regel gültig: Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! (Mt 7,12).

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Was macht die Situation heute so gefährlich? Die klassische Kriegsstrategie, die das Völkerrecht prägt, kennt Staaten als Kriegsgegner. Das ist nicht mehr der Fall. Heute stellt sich vielmehr die Frage: Wer ist der Feind? Wo ist er? Welche Waffen besitzt er? Alle Antworten, die in den letzten Tage gestottert wurden, vergrößern die Ratlosigkeit. Wie kann in einer solchen Situation ein "Krieg" mit Aussicht auf "Erfolg" geführt werden? Was heißt jetzt "Krieg", und was könnte ein "Erfolg" sein? Weil wir diese Frage nicht unbeantwortet lassen können, werden Mutmaßungen zu Feststellungen und Verdächtige erhalten quasiteuflische Züge. Osama bin Laden, der bereits wegen anderer Anschläge zur Rechenschaft gezogen werden müsste, bekommt die Züge eines globalen Menschheitsfeindes. Dadurch übt er bereits eine befriedende Wirkung auf tief gespaltenen Staaten aus. Der Sündenbockmechanismus als unsere übliche Form, Gewalt einzudämmen, ist in vollem Gange. Wenn der Beweis seiner Verantwortung für diese Anschläge nicht schlüssig geführt werden kann, was dann? Wir haben den Eindruck, dass die Kriegsbereitschaft und die Gewalt die eigene Identität stärkt und neu begründet. Es muss reagiert werden. Wirklich? Wie viele unschuldige Opfer werden dabei in Kauf genommen? In Afghanistan sind bereits Tausende auf der Flucht. Derzeit konzentriert sich die Debatte auf einen Militärschlag gegen Afghanistan. Wir werden darauf vorbereitet, dass auch Unschuldige darunter zu leiden hätten. Damit nimmt die militärische Strategie in Kauf, was sie als Terrorismus mit Recht verurteilt. Wir werden dadurch jenen gleich, die wir verurteilen. Wann ist der Preis zu hoch?

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Virtuelle oder reale Welt?

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Nicht nur unsere Kinder, auch wir hatten einen Augenblick den Eindruck, dass die 'Live-Bilder' vom Anschlag auf den zweiten Turm des World-Trade-Centers ein Video-Clip sei. Wir mussten uns eindringlich sagen, dass ist nicht virtuell, das ist real. Dies ist das Ende von "anythings goes", und dem Spiel mit möglichen Welten. Mord und Tod sind keine Pluralisten. Die Medien, die seit Jahren die unendliche Geschichte von Gewalt und Gegengewalt bis in die Kinderzimmer tragen, haben uns eine ganz neue Dimension der Gegenwart beschert. Welche Bilder sind real? Wurden die jubilierenden Salutschießer gestellt? Was repräsentiert diese Nachricht? Medien dokumentieren nicht nur, sie bestimmen unsere Weltsicht und Handlungsweisen. Ist es nicht merkwürdig, wenn gerade in den Medien gefragt wird, wie jemand auf diese Idee terroristischen Verbrechen kommen konnte? Horror- und Weltuntergangsszenarien bestimmen die Drehbücher vieler Filme und Video-Spiele in den letzten Jahren. Haben wir aber eine andere Lösung als die Gewaltstrategien dieser Streifen?

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Die Situation ist neu

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Eine neue Vorgehensweise ist uns abverlangt. Wir sehen Handlungs- und Besinnungsbedarf auf verschiedenen Ebenen. Zunächst müssen wir uns selbstkritisch fragen, warum und was an unserer Zivilisation zu verteidigen ist, und warum Amerika zu einer Zielscheibe des Hasses werden konnte. Wir müssen anfangen, uns mit den Augen der anderen zu sehen. Wie wirken sich unsere Freiheit, unsere Wissenschaft und unser Wirtschaftssystem auf die anderen aus? Es werden die Menschenrechte genannt, von Freiheit und Moral wird gesprochen; mit Recht. Doch beschreibt dies unsere Gesellschaft nicht vollständig, auch nicht die Logik und Dynamik der globalen Märkte. Unsere Gesellschaft muss sich selbst tiefgreifend ändern, wenn sie diese Herausforderung bestehen will. Sicherheitspolitische Überlegungen werden hierfür nicht reichen.

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Recht statt Rache

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Wir unterstützen nachdrücklich alle notwendigen Maßnahmen, damit dieses Verbrechen aufgedeckt und die Verantwortlichen nach Recht und Gesetz bestraft werden. Aber die Verbrecherbekämpfung agiert nicht außerhalb des Gesetzes. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist zu beachten, auch innenpolitisch. Es darf keinen totalen Krieg gegen den Terrorismus geben, weil wir sonst nicht nur unsere eigenen Fundamente zerstören, sondern mit ungewollten Solidarisierungseffekte den Terroristen in die Arme arbeiten.

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Gerechtigkeit schafft Frieden

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Polizeiliche und militärische Mittel reichen gegen den Terrorismus nicht aus. Wir müssen vielmehr fragen, warum es Menschen gibt, die dieser Logik folgen und ihr Leben dafür zerstören und wegwerfen. Neben individuellen Voraussetzungen sind Armut, Ungerechtigkeit, Demütigungen und Aussichtslosigkeit dafür der beste Nährboden. Auch der Konflikt in Palästina und Israel darf nicht vergessen werden. Wenn wir Aussicht auf eine Umkehrung dieser Entwicklung haben wollen, dann müssen neben dem weltumspannenden Finanz- und Warenverkehr auch globale Gerechtigkeits- und Entwicklungsformen forciert werden, die tatsächlich die breite Bevölkerung ergreifen. Nur mit einem integralen globalen Marshallplan neuen Typs kann dem Terrorismus der Nachwuchs entzogen werden. Gerechtigkeit schafft Frieden. Nur wenn in unserer Strategie selber eine spätere Zusammenarbeit und Entfeindungsstrategie einbezogen ist, hat sie Aussicht auf Erfolg. Das Gebot der Feindesliebe wird nicht außer Kraft gesetzt, sondern ermöglicht uns eine humane Bewältigung dieser Situation.

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Blick aufs Kreuz

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Die Situation lässt sich mit den klassischen Konzepten von Militärstrategie nicht bewältigen. Der Weltsicherheitsrat, die Nato und der Kongress haben in sehr weit gefassten Termini dem amerikanischen Präsidenten umfassende Handlungsoptionen ermöglicht. Das bringt die Gefahr mit sich, dass Mittel eingesetzt werden, die für diese Situation nie gedacht waren und deshalb kontraproduktiv werden. Wir stehen vor der Herausforderung eine neue, internationale Gerichtsbarkeit und eine neue Form von militärisch-polizeilicher Strategie zu entwickeln. Die Frage nach einer globalen Autorität und entsprechenden Strukturen wird dringlicher denn je.

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Weil bereits Personen islamischen Glaubens oder arabischer Herkunft, nur weil sie Muslime oder Araber sind, diskriminiert, angegriffen oder gar getötet werden, sind alle aufgerufen, auch die eigene und strukturelle Gewalt zu erkennen und Maßnahmen zu setzen, diese zu überwinden. Gewalt kann Gewalt beenden, aber niemals Frieden stiften. Das Kreuz Jesu mahnt uns in dieser Stunde besonders. Die verschiedenen Religionen sind aufgerufen, im Dialog die eigene Geschichte und die kämpferischen Seiten ihrer maßgeblichen Texte neu zu lesen. Huntington, der vielzitierte, hat nicht nur vom Krieg der Zivilisationen gesprochen, und die Bedeutung der Menschenrechte betont, sondern auch Amerika und den Westen gemahnt, anderen Kulturen Raum auf dieser Erde zu ermöglichen.

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Die Aufgabe von Theologie und Kirche in dieser Zeit

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Wir danken den Verantwortlichen aller christlichen Kirchen für ihre klaren Worte in diesen Tagen. Wir sollen den Stimmen aus der islamischen Welt zum Gehör bei uns verhelfen, die übereinstimmend diesen Gewaltakt verurteilen. Wir stimmen dem päpstlichen Rat für den interreligiösen Dialog und der Al Azhar Universität von Kairo zu und tragen ihre Aufforderung zum vertieften Dialog mit. Wir Christen müssen unser Handeln aber immer neu am Evangelium überdenken und ausrichten. Die Barmer theologische Erklärung, 1934 von evangelischen Theologen der Bekennenden Kirche in Deutschland am Beginn der nationalsozialistischen Ära geschrieben, wird zur Orientierung in diesen Tagen. Wir selber werden unsere Arbeit als Forschungsprogramm vertiefen, das seit langen Jahren jenen Themen gewidmet ist, die in diesen Tagen alles dominieren. Die Theologie muss ihre Prioritäten neu bestimmen.

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Bislang hat die amerikanische Führung besonnen und ausgewogen gehandelt. Es ist von ihr derzeit eine nahezu übermenschliche Kraft verlangt, nämlich: der Gewaltbereitschaft und Rückschlagmentalität nicht blind zu folgen. Dafür sagen wir: God bless America!, und die anderen auch.

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