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Weber Franz: Kein Opium für die Armen
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Kein Opium für die Armen
(Von der befreienden Kraft der lateinamerikanischen Volksreligiosität)

Autor:Weber Franz
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:erschienen in: Km-Forum Weltkirche 121/4 (2002) 14-18
Datum:2002-12-19

Inhalt

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Religion gehört offensichtlich zu den unverwüstlichen Gütern der Menschheit, die schon viele Aufklärungsprozesse überlebt hat und in der Postmoderne auch außerhalb der großen Weltreligionen und parallel zu den christlichen Kirchen in ganz verschiedener und oft diffuser Gestalt Auferstehung feiert. Innerhalb der katholischen Kirche hat es nie an einer bunten Vielfalt von oft auch ausgesprochen synkretistischen Formen einer lebendigen Volksfrömmigkeit gefehlt, die sich dem Zugriff der "aufgeklärten" Theologen und dem um den rechten Glauben besorgten Lehramt meist weithin entzogen und oft nur am Rande der Kirche überlebt haben.

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Wer die Volksfrömmigkeit in Lateinamerika nicht als Folklore erleben und nur mit Fotoapparat und Videokamera als Reiseandenken festhalten, sondern ihren Wurzeln in der spätmittelalterlichen iberischen Volkskatholizismus und in den unterdrückten indianischen und afroamerikanischen Kulturen auf die Spur kommen will, wird immer wieder ganz neue Seiten an ihr entdecken.

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In einer tieferen Auseinandersetzung mit der Glaubenspraxis der Armen, wie sie uns etwa in den kirchlichen Basisgemeinden begegnet, lässt sich bei näherem Hinsehen viel von der befreienden Kraft jahrhundertealter religiöser Traditionen erahnen, die der Befreiungsbotschaft des Evangeliums in vielerlei Hinsicht den Weg bereitet haben, auch wenn sie Besuchern aus Europa zunächst sehr fremd und "abergläubisch" erscheinen mögen.

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Auf der Basis langjähriger eigener pastoraler Erfahrung in Brasilien und meiner Begegnung mit den dortigen Basisgemeinden bin ich zur Überzeugung gelangt, dass die Neubewertung der lateinamerikanischen Volksfrömmigkeit in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Lern- und Veränderungsprozesse in der dortigen Kirche ausgelöst hat.

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Konnte die christliche Religion die Armen "ruhig stellen"?

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Dass die Botschaft des Christentums vielfach dazu missbraucht wurde, Unrecht zu verschleiern oder zu rechtfertigen und Unterworfene als Untertanen gefügig zu machen, gilt nicht nur für die Geschichte Lateinamerikas. Es ist deshalb mit Recht die Frage zu stellen, ob Frömmigkeit nicht auch Aufbegehren sein muss, "Protest gegen Gott vor Gott", "im Namen Gottes gegen das Leid" und "Protest gegen den Menschen vor den Menschen", leidvolle Klage über das, was schuldlosen Menschen schuld-voll zustößt, aber auch darüber, was Menschen einander an Unrecht zufügen, und Anklage derer, die direkte und unmittelbare Verursacher und Täter dieses Unrechts sind. Müsste christlicher Glaube im Namen dessen, der in seiner Mitte steht als der gekreuzigte und auferstandene Herr, nicht sogar dazu anstiften, dass die Gekreuzigten dieser Erde von ihren Kreuzen herab steigen können und die um ihre Menschenrechte Betrogenen zu einem menschenwürdigen Leben auferstehen dürfen?

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Vielen "Frommen", besonders denen, die zu den Herrschenden zählten, wären solche "aufrührerisch-aufständische" Fragen geradezu als gotteslästerlich erschienen. Doch die Bibel ist voll von Konfliktgesprächen gläubiger Menschen mit ihrem Gott. Sie stellt Jesus selbst als den zu Gott klagenden Armen und Gerechten dar. Denn dass der Mensch sich fraglos und klaglos in den Willen Gottes (oder was als solcher herrschaftlich von oben deklariert wurde) zu ergeben und sich ohne Aufbegehren in sein von Gott verfügtes Schicksal (und das bedeutet oft auch, in seine soziale Rolle als Untertan) zu fügen hat, steht zwar nicht in der Heiligen Schrift, war aber zweifelsohne über Jahrhunderte immer wieder Gegenstand und Ziel kirchlicher Verkündigung.

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Eine Frömmigkeitshaltung, aus der heraus ein Mensch sich vor Gott "ausklagen" oder in seiner Verzweiflung Gott sogar anklagen darf, wurde offensichtlich nicht nur aus theologischen, sondern auch aus politischen Gründen nicht geduldet. Ein solches Verhalten konnte sich sehr schnell als "subversiv" und systembedrohend herausstellen, wenn Menschen damit nach einer Veränderung ihrer Situation verlangten und gegen die angeblich "gottgewollte" Ordnung aufbegehrten. Wie leicht konnte da die Klage vor Gott zu einer Anklage der Träger sakralisierter Macht werden. Und sie wurde es auch immer wieder in der Geschichte, wie sich allein schon in Brasilien am Beispiel zahlreicher religiös motivierter Aufstands- und Befreiungsbewegungen nachweisen ließe.

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Die Religion des Volkes ist nicht harmlos und klaglos

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Die lateinamerikanische Volksfrömmigkeit in ihrer vielschichtigen Buntheit erscheint jedoch auf den ersten Blick eher unverdächtig, gesellschaftspolitisch systemstabilisierend und "klaglos" zu sein. Gerade die Religion der (angeblich oft auch geistig und geistlich) Armen, der so genannten einfachen Leute, wird ja bis heute nicht nur von theologisch-kirchlicher, sondern auch von gesellschaftlicher Seite sehr schnell allgemein und vorurteilsvoll für ein billig zu habendes Betäubungsmittel und Trostpflaster gehalten - das aufgeklärte Menschen leicht belächeln, so lange sie es selber nicht nötig haben. Wer im Leben einigermaßen "versichert" und abgesichert ist, greift bekanntlich nur im äußersten Notfall, wenn sonst absolut nichts mehr hilft (und dann nur verschämt), zu diesen Mitteln der Religion.

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Bei näherem Hinsehen ist jedoch die Volksfrömmigkeit keineswegs so "klaglos" und "unterwürfig", wie ihr häufig unterstellt wird. Gerade weil sich in der Volksfrömmigkeit vor allem die Bitten der im Leben zu kurz Gekommenen und an den Rand Gedrängten, der unter Druck "von oben" Stehenden, der Ent-Würdigten, der acht- und ehrlos Gemachten Ausdruck verschaffen, die vor Gott und seine Heiligen getragen werden, kann dieses um Hilfe Flehen - in dem es meistens nicht um irgend welche kleinen Wehwehchen, sondern oft wirklich ums Leben und Überleben geht - gar nicht "klaglos" und "harmlos" sein. Volksreligiosität ist deshalb oft ganz und gar nicht problemlos "gottergeben", sondern - ausgesprochen oder unausgesprochen - kämpferisch und auf die Veränderung der Situation bedacht. Sie ist letztlich ein vertrauensvoller Aufschrei zum Gott des Lebens oder zu Heiligen, die von macht-losen Menschen zu macht-vollen Schützern und Beschützern gemacht und als Repräsentanten der Lebens-Macht Gottes angerufen werden. Hier kommen auch die "zur Sprache", die sonst gesellschaftlich und kirchlich nichts zu reden haben.

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Kirche, die den Aufschrei der Unterdrückten zu hören beginnt

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"In der Religion der Armen hören wir den Aufschrei der unterdrückten Kreatur in seiner ergreifendsten Form", hat der Theologe Harvey Cox einmal geschrieben, als er nach der Abkehr von seinen Thesen zu einem religionslosen Christentum von neuem den Sinn des Glaubens des Volkes begreifen lernte. Er hat der Kirche und ihrer Theologie empfohlen, an den Erfahrungen derer teilzunehmen, die diesen Glauben leben, weil es nach seiner Meinung in Christenheit immer die Unterdrückten und Geschlagenen seien, bei denen Gott gegenwärtig ist.

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Dieses Hinhören auf die Armen ist gerade in Lateinamerika bei allem Reden über die Armen unmittelbar nach dem Konzil auch den so genannten "progressiven" Priestern, Laien und Ordensleuten keineswegs leicht gefallen. Denn gerade sie waren es vielfach, die in den damals neu entstehenden Basisgemeinden versucht haben, mit dem alten "Aberglauben" der unteren Volksschichten aufzuräumen, bis sie bemerkten, dass sie damit den Lebensnerv der Armen trafen. Doch die Geister, die die Befreiungstheologen ins Leben gerufen hatten, wurden nun selbst zu Anklägern. Viele einfache Gläubige ließen diese oft in Berufung auf das Konzil geführte "Säuberungsaktion" nicht mehr "klaglos" zu, sondern erhoben zum Beispiel auf den Basisgemeindetreffen ihrerseits Anklage gegen ihre "befreiungstheologischen Unterdrücker". Die Armen ließen sich nicht nehmen, was sie von ihren Vorfahren ererbt hatten und was ihnen in ihrer Volksfrömmigkeit "hoch und heilig" geworden war. Ihr Widerstand und die theologische Neubesinnung auf den pastoralen Stellenwert der Volksfrömmigkeit hat schließlich auch zu einer Neubewertung der Volksfrömmigkeit vonseiten des Lehramtes geführt.

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Die Bischofskonferenz von Medellín (1968) spricht zwar noch von den "verzerrten Ausdrucksformen der Volksreligiosität" und betrachtet diese als ein "uraltes religiöses Erbgut, in dem die Tradition eine fast tyrannische Macht ausübt" und das "leicht durch magische Praktiken und Aberglauben beeinflusst werden kann", bemüht sich aber sonst bereits um eine behutsam differenzierende Darstellung und eine grundsätzliche Akzeptanz der verschiedenen "religiösen und menschlichen Elemente", die "sich in dieser Religiosität verborgen befinden wie 'Saatkörner des Wortes Gottes'". Sie könnte, so sagen die Bischöfe mit großem Respekt vor dem Glauben der Armen, so etwas wie ein "Stammeln einer echten Religiosität" sein.

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Dieser Ausdruck ist viel zu schwach, um der Realität der lateinamerikanischen Unterdrückungsgeschichte gerecht zu werden. Zumindest klingt hier aber ein wenig an, dass sich in den verschiedenen Formen und Praktiken der Volksfrömmigkeit auch und vor allem die vielfach unausgesprochenen Klagen und verbotenen Anklagen von Generationen ausgebeuteter Menschen verdichtet haben. In Medellín ist aber auch schon sehr klar erkannt worden, dass die verschiedenen Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit einer Befreiung durch das Wort des Evangeliums bedürfen. So wird von Medellín gerade im Hinblick auf die bei Arm und Reich so beliebten Heiligenverehrung betont, sie dürfe die Menschen nicht zu einer fatalistischen Hinnahme ihres oft traurigen Loses führen, sondern müsse sie dazu befähigen, "Mitschöpfer und Gestalter ihres Schicksals zu werden".

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Noch besser als in Medellín sind die lateinamerikanischen Bischöfe der Volksfrömmigkeit auf ihrer Vollversammlung in Puebla (1979) auf die Spur gekommen, wenn sie diese im Schlussdokument "in ihrem Kern" als einen "Schatz von Werten" definieren, "der mit christlicher Weisheit auf die großen Existenzfragen Antwort gibt" und "eine große Fähigkeit zur Lebenssynthese" zeigt. Das Zustandekommen dieser Lebenssynthese ist jedoch alles andere als ein "leichtes Spiel". Sie ist oft durch erlittene Demütigung und durchlittene Entwürdigung, durch bitter beklagte Lebensnot und in der Tiefe menschlicher Existenz errungene und "teuer erstandene" Lebensweisheit geprägt. Weil aber - und hier kommt Puebla wohl zur Kernfrage nach der Rolle von Klage und Anklage in der Volksreligiosität - die "Strukturen der Sünde" und der "Abgrund zwischen Reichen und Armen, [...] die Ungerechtigkeit, [...] die unwürdige Unterwerfung, in radikalem Widerspruch zu den Werten der Würde des Menschen und der solidarischen Geschwisterlichkeit" stehen, "das lateinamerikanische Volk [diese Werte] jedoch in seinem Herzen als Gebote [trägt], die es vom Evangelium empfangen hat", darf und muss auch in religiösen Grundvollzügen geklagt und angeklagt werden.

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Die Volksreligiosität war nie - und ist es heute weniger denn je - nur Ausdruck des stummen Hinnehmens und geduldigen Ertragens von erlittenem Unrecht. Die Bischöfe haben sich gut in die tieferen Schichten des Glaubensvollzuges der Armen hineingefühlt, wenn sie sagen, "daß die Religiosität des lateinamerikanischen Volkes häufig zu einem Aufschrei nach wahrer Befreiung wird". Darin liegt das zutiefst evangeliumsgemäße, christliche und christologische Befreiungspotential einer Glaubenspraxis, die nur aus einer oberflächlichen, fremdbestimmten und nur allzu oft ideologisch-unterdrückenden Perspektive klag-los und anklage-frei erscheint.

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Die befreiungstheologische Reflexion von heute setzt sich auf breiter Ebene mit den verschiedenen Aspekten der Volksreligion auseinander und charakterisiert diese als eine lebendige religiöse Wirklichkeit, die aber in vielen ihrer Formen hinterfragt werden muss, weil viele ihrer Ausdrucksformen höchst ungerechte und menschenunwürdige Herrschaftsverhältnisse widerspiegeln und verfestigen. Aber die Armen sind vielfach nicht mehr passiv geblieben, sondern haben Widerstand geleistet. In verschiedenen Volksbewegungen, in denen es unter anderem um die Wiederentdeckung indigener oder afroamerikanischer Identität, um die Anerkennung der Würde und Rechte von Frauen oder vor allem auch um das Recht auf Land für die Landlosen geht, spielt auch die Volksreligiosität in alten und neuen Formen eine entscheidende Rolle.

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Befreiende Klage und Anklage in der Volksliturgie der Basisgemeinden

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Es ist kein Zufall, dass die Volksfrömmigkeit in Lateinamerika vor allem in der Begegnung mit der Befreiungsbotschaft der Bibel und in einem neuen Blick auf die Erlösungs- und Befreiungstat Jesu das in ihr schlummernde Befreiungspotential entdecken konnte. So hat der gläubige Nachvollzug der Urerfahrung Israels, wie sie in der Zusage Gottes bei der Berufung des Mose zum Ausdruck kommt, die systemstabilisierenden kolonialen Gottesbilder korrigiert und den biblischen Gott der Befreiung auf den Plan gerufen. Gott steht nicht auf der Seite der Unterdrücker, und er schaut und hört nicht weg, wo Menschen Klagen erheben, weil sie ausgebeutet werden. Gott gibt Mose die Gewissheit: "Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre lange Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid ..." (Ex 3,7). Vielleicht haben die unterdrückten Indianer und Afroamerikaner in ihrer Volksfrömmigkeit immer schon intuitiv gespürt, dass der von ihren Eroberern und Versklavern und von den meisten der Missionare verkündete herrschaftliche Gott eigentlich gar nicht der Gott Israels und der Gott Jesu Christi sein konnte.

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Ich bin aus meinem eigenen Erleben der brasilianischen Volksfrömmigkeit davon überzeugt, dass es dort und überall in Lateinamerika (aber auch in der Sklavenreligion in den USA und zum Teil wohl auch in der Volksfrömmigkeit bei uns) zahlreiche Elemente einer befreienden Klageliturgie gibt, die vor allem auch in der bis heute intensiv erlebten Passionsfrömmigkeit ihren Ausdruck findet. Die Volksliturgie des Karfreitags war in der Gestalt des Kreuzweges und vieler ähnlicher Formen wohl immer schon eine Manifestation gegen die Unterdrückung der Klage. So kann es nicht verwundern, dass heute vor allem in den kirchlichen Basisgemeinden ein enormes Interesse an der Leidens- und Befreiungsgeschichte Israels, an seinen Klagegebeten und vor allem am Leidensweg Jesu und seinem Aufstand gegen den Tod besteht. Deshalb muss auch die von Medellín geforderte prophetische Anklage des Unrechts in der Verkündigung der Kirche und in deren Liturgie ihren Platz haben.

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Zu Beginn der Gottesdienste in den kleinen Gemeinden der Armen im Landesinneren und an der Peripherie der großen Städte (begreiflicherweise weniger in den traditionellen Pfarreien der Mittel- und Oberschicht) kommt tatsächlich all das zur Sprache, was "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst" eines Menschenlebens am Rande der Gesellschaft ausmacht: Da wird auch Gott "angeklagt", wenn er einen lieben Angehörigen plötzlich sterben lässt. Aber es wird auch nach den sozialen Ursachen des verfrühten Todes derer gefragt, die offensichtlich kein Recht auf eine hinreichende Ernährung und auf eine wenigstens notdürftige medizinische Versorgung haben. Da werden einerseits auch politisch Verantwortliche unter Anklage gestellt, aber auch nach den Ursachen und Verursachern des Unrechts in den eigenen Reihen gefragt. In lebens- und leidensnahen Gottesdiensten der Basisgemeinden oder in den großen Landwallfahrten ("Romarias da terra") wird Klage gegen den oft gesellschaftlich legitimierten Landraub der Großen und Mächtigen geführt. Es ist nicht zu verwundern, dass heute konservative Kräfte in der lateinamerikanischen Kirche mit theologisch höchst zweifelhaften Argumenten nach neuen Klageverboten rufen und solche auch wieder "amtskirchlich" zu verhängen versuchen.

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Heilige und Märtyrer als machtvolle Bündnispartner der machtlosen Armen

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Die radikalste Anklage gegen Unrecht und Unterdrückung aber stellen heute in Lateinamerika neue Heilige und Märtyrer dar. Heiligenverehrung ist keine Erfindung des Christentums oder der katholischen Kirche. In vielen religiösen Traditionen der Menschheit werden lebende, verstorbene oder mythische Persönlichkeiten auf Grund ihrer Nähe zum Numinosen als Heilsvermittler in Anspruch genommen. Gläubige aller Religionen wenden sich zuerst nicht an einen "bildlosen", unvorstellbaren Gott, sondern an "vorbildhafte" Menschen, die oft schon zu ihren Lebzeiten zu Heiligen erklärt werden. Nach ihrem Tod gewährleisten ihre Bilder und Reliquien ein Weiterwirken der durch sie vermittelten göttlichen Kraft. Im Anschauen und Berühren von sinnlich wahrnehmbaren Zeichen vergewissert sich der schwache Mensch der heilenden Zuwendung des starken, aber unsichtbaren Gottes .

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In den christlichen Kirchen hat sich in unserem Jahrhundert ein neues "urchristliches" Heiligenbild auszugestalten begonnen, das nicht als medial produzierter Heilsmythos über die Bildschirme flimmert, sondern eine wirklichkeitsgetreue Fotografie ist, ein "Dokumentarfilm", der jene "Wolke von Zeugen" (Hebr 12,1) darstellt, die tatsächlich "aus der großen Bedrängnis kommen (und) [...] ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht" (Offb 7,14) haben. Da gibt es nicht nur in der katholischen Kirche Lateinamerikas, sondern quer durch alle christlichen Kirchen die zahllosen neuen Märtyrinnen und Märtyrer, die Blutzeuginnen und Blutzeugen für einen lebendigen Gott, die sich ihre vorrangige Option für die Armen, ihren Einsatz für das Leben und Überleben der Rechtlosen ihr eigenes Leben kosten ließen. Wer einmal selbst die Gelegenheit hatte, während einer so genannten "Liturgie der Märtyrer" bei lateinamerikanischen Basisgemeindetreffen die vielen "Originalfotos" solcher Christinnen und Christen "anzuschauen" und erleben durfte, wie diese Bilder "lebendig" werden, wenn in einer Art Litanei all diese Frauen und Männer mit Namen aufgerufen und als lebendig-gegenwärtige Weggefährtinnen und Weggefährten des Volkes Gottes angerufen werden, beginnt etwas von der verändernden Kraft dieser neuen Volksfrömmigkeit zu erahnen.

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Viele "Heiligenbilder" und andere traditionelle Formen der lateinamerikanischen Volksfrömmigkeit werden gegen die entfremdende Übermacht der "neureligiösen" medial vermittelten Bilderwelt, die heute auch in den Hütten der Armen über die Bildschirme flimmert und eine unheimlich versklavende Macht ausübt, auf längere Sicht kaum eine Überlebenschance haben. Aber die Wurzeln der alten religiösen Symbole reichen gerade in Lateinamerika tief in die verschiedenen unterdrückten Kulturen und in das kollektive Bewusstsein von Unrechts-, Leidens- und Hoffnungserfahrungen von Menschen hinab und sind deshalb viel stärker in der emotional aufgeladenen Lebens- und Vorstellungswelt der Menschen beheimatet als allgemein angenommen wird. Wo diese zutiefst religiösen Grunderfahrungen mit der Befreiungsbotschaft der Bibel in Berührung kommen, kommt es zur Entstehung einer neuen befreienden "Volksreligiosität", durch die gesellschaftliche Veränderungsprozesse von einer äußerst wirkmächtigen religiösen Kraft gespeist und am Leben erhalten werden.

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