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Eine fleischgewordene Universalpoesie?
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Eine fleischgewordene Universalpoesie?

Der ältere Bruder fordert und bekommt dank Roger Paulins wunderbarem Buch sein Recht. Von Torsten Voß

 

Roger Paulin: August Wilhelm Schlegel. Biographie. Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Philipp Multhaupt. Paderborn: Schöningh 2017. ISBN: 978-3-506-78437-7. 370 S. Preis: 49,90 €.

 

Der sogenannte ältere Bruder und hoch gelehrte Philologe August Wilhelm Schlegel verfügte lange Zeit – auch innerhalb der Literaturwissenschaft – nicht über den Status seines jüngeren Bruders Friedrich. Dieser galt – unter anderem auch durch die fast schon enthusiastisch ausgefallenen und kanonisch gewordenen Forschungen Karl Heinz Bohrers – doch als der theoretische Kopf der literarischen Frühromantik. An seiner kritischen Werkausgabe wird bis heute gefeilt, die seines älteren Bruders kommt – trotz des Olms-Nachdrucks seit 1971 – aus  den angestaubten Folianten des 19. Jahrhunderts irgendwie nicht richtig heraus und die Texte von August Wilhelm werden, wie die Vorlesungen Über dramatische Kunst und Literatur, höchstens in Auswahl- und Einzelausgaben rezipiert.

Diesen Forschungs- und auch allgemeinen Rezeptionsdesideraten will nun ein ganzes Konglomerat an neueren biographischen Arbeiten zu August Wilhelm Schlegel engagiert entgegentreten. Neben der Vorreiterrolle in der August Wilhelm Schlegel-Forschung, welche die für Jahrzehnte dominierende Monographie des Schriftstellers Bernhard von Brentanos (1943) eigenommen hat und die Gelehrsamkeit ihres Matadors recht innovativ mit der romantischen Geisteshaltung und Poetik kontextualisiert hat, ist nun die umfassende biographische Arbeit des in Cambridge lehrenden Germanisten Roger Paulin zu nennen, welche fast schon eine kleine Renaissance des älteren Schlegel-Bruders im literaturwissenschaftlichen Fachbetrieb eingeleitet hat, der sich unter anderem auch deutsche Kollegen wie Jochen Strobel und Kai Kauffmann mit eigenen Monographien, Tagungsprojekten und Aufsätzen engagiert angeschlossen haben. Schließlich hat bereits Ralf Georg Czapla 2013 mit seiner Ausgabe des Briefwechsels zwischen August Wilhelm Schlegel und seiner Bonner Haushälterin Maria Löbel brilliert und damit interessante Facetten scheinbarer Alltagswelt eines romantischen Autors zugänglich gemacht. Und schon 2005 brachte Norbert Oellers den epistolaren Austausch mit Friedrich Schiller bei Dumont heraus und dokumentiert die nur kurzfristige und nicht unproblematische Zusammenarbeit der beiden Autoren in den Horen und im Musen-Almanach, was auch Aufschlüsse über damalige kulturelle Vernetzungen offerierte. Ergo: Der ältere Bruder, mitunter von der Romantikforschung unterschätzt, verschafft sich nun seit einigen Jahren mehrfach ein verspätetes Gehör.  

Roger Paulins Buch dominiert dabei in diesem neu angestimmten Chor jedoch langfristig zu einem Standardwerk. Mit ihm betritt ein Germanist den August Wilhelm Schlegel-Kosmos, welcher in der Romantik-Forschung eine zentrale Rolle einnimmt. Seine frühe – unter anderem 1987 bei Metzler publizierte – Werkbiographie zu Ludwig Tieck wäre hier ebenso zu nennen wie die 1992, unter anderem gemeinsam mit Peter Hutchinson, herausgebrachte Essaysammlung German romantics in context, welche zentrale Forschungsarbeiten von 1971 bis 1985 kompiliert. Bereits in diesen Texten wird das Anliegen des Literaturwissenschaftlers deutlich, die biographische Forschung für eine umfassende kulturhistorische Deutung romantischer Autoren und ihres zeitgenössischen Stellenwerts zu nutzen. Das lange Zeit unterschätze biographische Genre erhielt dadurch in der Germanistik neuen Auftrieb, freilich unter Integration einer für Paulins Anliegen spezifischen Methodik und Ausgangslage, Biographie auch immer als Kultur- und Geistesgeschichte zu verstehen, was sich verstärkt auch in seinem Opus Magnum zu August Wilhelm abzeichnet, von dem freilich nur einige Aspekte in dieser Besprechung addiert werden können, da sonst all die unvermeidlichen Honneurs mit Sicherheit jeden Rahmen sprengen würden.      

Roger Paulins faszinierender exemplarischer Streifzug durch eine signifikante Epoche deutscher und europäischer Literaturhistorie ist sowohl chronologisch als auch kategorienorientiert ausgerichtet. Dabei stehen vor allem Städte wie Göttingen, Jena, Berlin und Bonn als für den damaligen Kulturbetrieb relevante Wirkungsfelder im Mittelpunkt, um die Vielseitigkeit des Schlegelschen Schaffens genauer zu untergliedern und spatial zu fokussieren. Synchron ergibt sich darüber für die gesamte Biographie auch ein überzeugendes Gliederungsmodell. All die verschiedenen Phasen des Schlegelschen Lebenswegs sind durchweg gekoppelt an dessen poetologische, schriftstellerische, philologische, philosophische, translatorische, editorische und auch kulturgeschichtliche Produktivität. Bereits bei der Rekonstruktion der Göttinger Studienjahre des allzu lange im Schatten seines so avancierten Bruders Friedrich stehenden August Wilhelm zeichnet sich luzide ab, dass das frühromantische Paradigma von der „progressiven Universalpoesie“, welches Friedrich im 116. Athenäumsfragment so vollmundig verkündete, nicht zu trennen ist von traditionellen Auffassungen gegenüber allumfassender und humanistisch-klassizistischer Gelehrsamkeit, auch wenn derlei die Athenäums-Enthusiasten innerhalb der germanistischen Philologie eher argwöhnen ließe, wenn nun eine vermeintlich starre Systematik gegenüber dem frühromantischen und modernen Fragmentarismus ausgespielt werden könnte. Nun, das ist bei Paulin nicht der Fall. Vielmehr geht es – durchaus im romantischen Sinne – um Verknüpfung. Es ist daher auch kein Zufall, dass Paulin, um den damit verbundenen Paradigmenwechsel – als ein gesamthistorisches Phänomen – zu begreifen, nicht mit literaturwissenschaftlichen Modellen argumentiert, welche sich wie bei Karl Heinz Bohrer auf imaginäre und subjektive Konzepte von Zeitlichkeit und deren Wahrnehmung konzentrieren, sondern stattdessen die von Reinhart Koselleck geprägten Begriffe der „Sattelzeit“ und der „Epochenschwelle“ verwendet, um diese „Lust am Neuen“ (S. 55) als Epochencharakteristik zu konstatieren, die eben auch in der Person August Wilhelm Schlegels ihre interdisziplinäre Bündelung erfährt. Dadurch wird der romantische Avantgardismus als ein gesamtkultureller und auch gesamtgesellschaftlicher Prozess verstanden, der weit über die Literatur hinausgeht und damit die in den Athenäumsfragmenten prognostizierte Theorie auch als Geisteshaltung, Arbeits- und Lebensweise praktiziert.

Paulin vermag es nämlich bereits im Kontext der frühen Göttinger Studienjahre die akademisch grundierten Ursprünge für ein poetologisches Verfahren zu rekonstruieren und dieses auch differenziert der eher avantgardistischen Produktivität seines Bruders Friedrich gegenüberzustellen, so dass der Eindruck entsteht, wo es bei Friedrich das fragmentarisch-aphoristische Poetologisieren war, war es bei August Wilhelm die Systematik. Und deutlich wird in diesem Kontext, dank der stets nachvollziehbaren Argumentation Paulins, dass beides eigentlich nicht voneinander getrennt werden kann und sogar eine Garantie für das frühromantische Konzept einer symbiontischen Einheit des Heterogenen bilden kann. Originell ist dabei die Einsicht Paulins, dass bereits Schlegels Mitwirkung an Friedrich Schillers Horen-Projekt eine entscheidende Antizipation des Athenäum-Konzepts mit sich brachte, da die spätere frühromantische Symbiose von Theorie und Praxis, von Kritik und Literatur, von poeta creator und poeta artifex etc. bereits das Anliegen von Schillers Periodikum charakterisierte. Denn Schlegels Beiträge zeichnen sich als Beispiele jener „ächteren Kritik“, die das Poetische und das Intellektuelle auf eine lesbare, aber dennoch nicht anspruchslose Weise vereinigten. Sie sollten im Übrigen die fremde Poesie durch einen gefälligen Stil als eine Art ‚musée imaginaire‘ zugänglich machen. Dies war im Grunde auch das Ziel des späteren Athenaeums, und es ist daher legitim, über alle enormen persönlichen und ideologischen Differenzen hinweg, diese beiden Unternehmen in Verbindung zu bringen (S. 62), trotz all der interpersonalen Kalamitäten zwischen Schiller und Schlegel, die Roger Paulin überaus vergnüglich nachzuzeichnen versteht.     

Diesen wichtigen geistesgeschichtlichen Kontexten werden auch immer wieder die privaten Episoden des Schlegelschen Leben zuaddiert, oft mit einer Neigung zur pikanten Anekdote, die auch das Lesevergnügen der Biographie erhöht. Die komplexe Beziehungskonstellation zur späteren Gattin Caroline Michaelis wird dabei nicht nur in all ihrer Problematik geschildert, sondern auch vor dem Hintergrund intellektueller und schreibender Frauen der Romantik perspektiviert, die damals im literarischen Feld eine Vorreiterrolle einnahmen.

Es versteht sich von selbst, dass die größte Aufmerksamkeit Paulins auf Schlegels akademische Tätigkeit, die Shakespeare-Übersetzungen, das Dante-Projekt, die Frühentwicklung der Indologie und vor allem auf seine gemeinsam mit Madame de Staël in Coppet und Acosta verbrachten Jahre gerichtet ist (S. 149-244). Dieser Zeitabschnitt lässt die Romantik durchweg als ein europäisches Projekt erscheinen und dokumentiert sowohl die Entstehung von Staëls berühmten Buch De l’Allemagne als auch der Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, die zu den meistzitierten Schriften Schlegels zu zählen sind. Die Beziehung zwischen August Wilhelm und Germaine wird daher auch als signifikanter Kulturtransfer erkannt. Soziale Beziehungen waren immer auch als Prozesse gegenseitiger Vermittlung anzusehen und insofern feldstabilisierend.

Roger Paulin gelingen bei Sichtung von Schlegels vermittelndem Wirken auch immer wieder hochinteressante ästhetiktheoretische Beobachtungen, wenn er unter anderem – im Zusammenhang mit Schlegels megalomanen Translationsprojekt – ganz nebenbei und implizit die Modernität Shakespeares gegenüber anderen Dramaturgen und auch Epikern benennt: In der griechischen Tragödie sei das Grauen in Mythologie oder Kultus eingebettet; Dantes Inferno stelle eine „unzerstörerische Kraft der gerechtigkeit und Tugend“ dar; während Shakespeare, bei dem das Tragische aus der Unberechenbarkeit menschlichen Tuns entsprang, keine solche begriffliche Basis liefere (S. 71). Im Gegensatz zu Schiller stand August Wilhelm Schlegel einer solchen Anthropologisierung des Tragischen bei gleichzeitiger Ästhetisierung des Schreckens und der Grausamkeit wohl eher skeptisch gegenüber. Ob darin auch die Grenzen von Schlegels Romantizismus und der eigenen literarischen Modernität liegen können, spielt bei Paulin keine große Rolle. Er knüpft dessen Modernität an andere Sektoren an, an die der Universalität und der Interkulturalität, der Vernetzung und des Transfers, was sich eben auch als konstitutiv für die akademische Tätigkeit des Intellektuellen und Gelehrten am ersten Lehrstuhl für Indologie in Bonn erwies, so dass sich in der Persönlichkeit Schlegels erste Artikulationsformen vergleichender Sprach- und Literaturwissenschaft abzeichneten. 

Freilich sind diese Projekte, ganz gleich ob translatorisch, philologisch oder periodisch-publizistisch immer wieder gekoppelt an Modalitäten der Konkurrenz und der Kultivierung von Distinktion. Man grenzt sich von früheren Übersetzungsversuchen (Bürger, Voss) ebenso ab, wie von den dominierenden literarischen Zirkeln in Weimar (vielschichtiges Verhältnis zu Schiller, Rezension einzelner Bände der Horen, Goethes und Schillers Xenien), um sich darüber selbst zu behaupten. Schlegels Position als Intellektueller und sein Wirken als Networker im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert werden dadurch ersichtlich, so dass man gegenüber Paulins Opus auch in dieser Hinsicht anerkennen muss: Ohne beispielswiese die komplexe Terminologie Bourdieus zur Feld-, Institutions- und Feldtheorie wiederholt bemüht zu haben, erscheint die Titelfigur dieser fulminanten Biographie permanent nicht nur als ein Mittelpunkt, sondern auch als ein Mitgestalter des literarischen Feldes um 1800, was man letztendlich auch daran erkennen kann, dass Schlegels Verhalten und selbstsicheres und von Gelehrsamkeit geprägtes Auftreten auch provozierte: Nicht nur die Weimarer Eliten, sondern vor allem auch seinen späteren Schüler Heinrich Heine, dem Paulin im abschließenden Teil seiner Monographie noch angemessene Aufmerksamkeit widmet, als er noch einmal relevante Personalkonstellationen um August Wilhelm Schlegel (Bruder Friedrich, Ludwig Tieck, Goethe etc.) bündig und synoptisch zusammenfasst. 

Durch Schlegels aktive Beteiligung an der damaligen Salonkultur, dem florierenden – und sich oft untereinander im Distinktions- und Konkurrenzkampf befindenden – Zeitschriftenwesen, der literarischen Ausgestaltung der Rezensionswesens und des Genres der Kritik und nicht zuletzt der akademisch-philologischen und sprachphilosophischen Begleitung all dieser Projekte in interkultureller und epistemologisch bedingter Vernetzung von Okzident und Orient, war August Wilhelm Schlegel ein Kulminationspunkt der zeitgenössischen Strömungen und Diskurse und schuf die Voraussetzung für grenzüberschreitende Philologie und Poesie, was in Roger Paulins mustergültiger Symbiose aus autorzentrierter Darstellung und großem Epochenpanorama akzentuiert hervortritt.

Anders formuliert: August Wilhelm Schlegel erscheint in diesem Buch als die gelebte „progressive Universalpoesie“, als eine Art lebende Allegorie auf ein avanciertes Literatur-, Kunst-, und Philologieverständnis, in der Hinsicht, dass Schlegel eben Universalist war. Das über die einzelnen Lebensstationen des Autors hinweg rekonstruiert und kulturhistorisch kontextualisiert zu haben, kann zu den eigentlichen Verdiensten dieser neuen Biographie gezählt werden, die sich damit unter die Standardwerke zur literaturwissenschaftlichen Romantik-Forschung in jeder Hinsicht einreihen kann.     

Torsten Voß, 08.05.2018