- Leseraum
| Kirchliche Einrichtungen im Jugendbereich und ihr Stellenwert in der GesellschaftAutor: | Scharer Matthias |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | artikel |
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Abstrakt: | Aus Anlass des vierzigjährigen Bestehens des Marianums in Vorarlberg ist der Autor eingeladen, Sinn, Aufgaben und Stellenwert kirchlicher Einrichtungen im Jugendbereich zu reflektieren. Dazu ist ein Blick auf den Zusammenhang von Jugend - Religion - Gesellschaft unerlässlich. Angesichts der konkreten Herausforderungen im Jugendbereich werden Sackgassen und Handlungsmöglichkeiten benannt. Das "produktive" Verhältnis zwischen Kirche und Jugendlichen wird unter der Perspektive einer "dialogischen Inkulturation" entfaltet. Der Beitrag ist in deutscher und polnischer Sprache erschienen. |
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Publiziert in: | Scharer M., Koscielne instytucje dla mtodzietzy i ich rola w
spoteczenstwie - Kirchliche Einrichtungen im Jugendbereich und ihr
Stellenwert in der Gesellschaft, in: Keryks II/2 (2003) 139 - 151. |
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Datum: | 2004-08-23 |
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Inhalt1
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Die heutige Jugend...
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ist von Grund auf verdorben,
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sie ist böse, gottlos und faul.
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Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher
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und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.
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(Babylonische Tontafel ca. 3000 v. Chr.)
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Das Urteil über ‚die Jugend’ hat sich über die Jahrtausende kaum gewandelt. Auch heute gehen mit der Verherrlichung der Jugend die Negativprognosen Hand in Hand. Einrichtungen im Jugendbereich stehen generell unter einem höchst zwiespältigen Erwartungsdruck: Auf der einen Seite sollen sie Jugendlichen helfen, in die Gesellschaft hineinzuwachsen, Normen und Werte – wenn auch kritisch, aber doch – zu übernehmen; auf der anderen Seite wird ein radikal alternativer Lebensstil Jugendlicher vor allem dort skeptisch betrachtet, wo er die wirtschaftlichen und medialen Interessen an den Jugendlichen stört. Das Marktpotential, das Jugendliche für die Wirtschaft und für die Medien darstellen, ist kaum zu überschätzen.
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In dieser Widersprüchlichkeit, in der sich die Erwachsenen befinden, wird die Sorge um die nachwachsende Generation umso dringlicher, je hilfloser die Gesellschaft den so genannten Jugendproblemen gegenübersteht: Der Gewalt, der Drogenproblematik, der abnehmenden Verantwortungs- und Bindungsbereitschaft, dem Glaubensverlust usw.. Welchen Stellenwert haben in dieser Situation kirchliche Einrichtungen im Jugendbereich?
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Um nicht schnellen Rezepten zu verfallen, ist zunächst ein genereller Blick auf das Verhältnis von Jugend, Religion und Gesellschaft angezeigt.
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Wer bestimmt das Bild von den Jugendlichen in unserer Gesellschaft? Wer sind sie, die Jugendlichen? Was bewegt sie? Was macht ihnen Angst? Was gibt ihnen Hoffnung? Im Hinblick auf das Verhältnis von Jugendlichen und Gesellschaft muss immer deutlicher zwischen den tatsächlichen Gegebenheiten und dem medial vermittelten Bild unterschieden werden. In den Medien breitgetretene Vorfälle aus der letzten Zeit zeigen die – nicht unbegründete – Angst vieler Verantwortlicher vor der medialen Öffentlichkeit. Die Sensationsberichterstattung über den Gewaltakt an einer Erfurter Schule hat diese Angst in jüngster Zeit erheblich verstärkt. Einer Jugendeinrichtung – und sei es eine so etablierte und unumstrittene wie die Schule – kann nichts Schlimmeres geschehen, als im Zusammenhang mit Problemen oder gar Gewaltakten Jugendlicher in die Medien zu kommen. Man kann fragen, ob das mediale Interesse an den unzähligen Jugendlichen, die engagiert für entscheidende Werte im Hinblick auf das Leben und Überleben unserer Gesellschaft eintreten, ebenso groß ist wie an denen, die problematische Wege gehen: das Interesse an Jugendlichen, die in Friedens- und Ökobewegungen engagiert sind, oder auch an den so genannten „Stinos“, den ‚stink-normalen’, wie sie die Jugenduntersuchungen nennen, die nicht weiter auffallen.
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Als Hintergrund für das Bild von den Jugendlichen (1) muss man bedenken, dass diese gleichzeitig Verlierer und Nutznießer in unserer Gesellschaft sind. Mehr als andere Menschen bedroht sie die Arbeitslosigkeit, weil an den Berufschancen ihre materielle aber auch ideelle Zukunft hängt. Auf gesellschaftliche Bedrohungen, wie die Entsolidarisierung und dem zunehmenden Schwinden des Mittelstandes auch bei uns, auf neue Krankheitsbilder, auf die Zerstörung der Umwelt, auf die zunehmende Ökonomisierung und Medialisierung der Gesellschaft usw. reagieren Jugendliche sensibler als viele Erwachsene. Andererseits sind Jugendliche selbstverständliche Nutzer der High-Tech-Kultur. Sie können mit den digitalen und globalen Kommunikationstechnologien in einer Weise umgehen, dass sich die vorangehenden Generationen demgegenüber als Analphabeten fühlen. Jugendliche sind die vom Markt am meisten umworbenen Konsumenten und Nutznießer der Freizeiträume.
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Jugendliche leben in einer Vielzahl von Alltagen: In Schulen, Freizeiteinrichtungen, Familien, Betrieben, Vereinen, einige wenige auch im Kontakt mit kirchlichen Einrichtungen im Jugendbereich. Gleichzeitig sprechen Jugendsoziologen von einer ‚Verinselung der Lebensräume’: Der Alltag, wie er in einem Dorf zwischen Familie, Schule, Kirche und Vereinen von Statten ging, wo die unterschiedlichen Bereiche miteinander vernetzt waren, also der Pfarrer auch wusste, was mit einzelnen Jugendlichen in Vereinen oder in der Schule los ist, gleicht heute einer weitgehend voneinander abgeschotteten ‚Inselwelt’, in der die Jugendlichen von einer ‚Insel’ zur anderen ‚springen’. Damit ist die Herausforderung eines ständigen Rollenwechsels verbunden: Einmal bin ich Tochter/Sohn, kurz darauf Schülerin/Schüler, dann wieder umworbene Konsumentin, Liebespartner usw. Die größere soziale und geographische Mobilität fördert die Verinselung, insbesondere in anonymen Wohnverhältnissen, wie in großen Wohneinheiten in den Städten. Gleichzeitig entsteht das Gefühl, dass nach dem schulischen- oder beruflichen Eingespannt Sein in der Freizeit ‚alles geht’, weil ich meine Rolle ja schnell wechseln kann. Nach der vielfachen Überforderung, bin ich endlich frei; bin ich ein ganz Anderer, und das im positiven oder negativen Sinn.
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Mit der Verinselung und dem schnellen Rollenwechsel hängt die so genannte Szenekultur zusammen. Die Jugendsoziologie spricht von ‚Jugendszenen’ und ‚Jugendstilen’, welche die spätmoderne Jugendkultur bestimmen. Jugendszenen und Jugendstile sind sich schnell bildende und auch wieder auflösende Trends, unter denen sich Jugendliche zusammenschließen.
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Szenen entstehen überall dort, wo Menschen freiwillig gemeinsame Interessen, Wertvorstellungen und Freizeitaktivitäten entwickeln.
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Sie ordnen eine immer unübersichtlicher werdende Welt in überschaubare Sinnsysteme.
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Jugendliche können sich mehreren Szenen zugehörig fühlen.
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Die Jugendstile und Jugendszenen werden in Jugenduntersuchungen unterschiedlich benannt. Im Rahmen unseres Themas interessieren uns primär die glaubens- und religionsrelevanten Perspektiven der Jugend-Szene-Kultur (2) . Diese spielen in den prominenten Jugenduntersuchungen wie der Shell-Studie nur mehr eine marginale Rolle.
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Jugendliche, welche für kirchliche Einrichtungen im Jugendbereich am ehesten ansprechbar sind, werden zu den so genannten ‚Familienzentrierten’ gezählt. Sie sind unter den Jugendlichen in der absoluten Minderheit. Familienzentrierte Jugendliche sind offen für soziale Engagements und für Engagements im Umwelt- oder Friedensbereich. Ihr Leben bewegt sich vorwiegend in der Familie, in der Nachbarschaft, in Vereinen und Verbänden und in gemeindlichen Gruppen. Wegen ihrer ‚verspäteten Ablöse’ – so das Urteil der Jugendsoziologen – suchen sie den Schutzraum der Gruppe. Doch selbst in der Gruppe der Familienzentrierten kann man eine Diskrepanz zwischen Kirchenzugehörigkeit und religiöser Überzeugung feststellen.
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Die Differenz zwischen kirchlichem Glauben und der persönlichen Religiosität bestimmt die Haltung der meisten Jugendlichen (übrigens auch der meisten Erwachsenen) zur ‚Religion’: Sie basteln sich ihre Religion aus unterschiedlichsten Versatzstücken von Weltanschauungen und Religionen zusammen und nehmen sie auch wieder auseinander, um sie neu zu kombinieren, einzelne Elemente auszuscheiden und neue hinzuzufügen. Das so genannte ‚Religionssampling’ scheint zu keinem Ende zu kommen. Alles bleibt Experiment.
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Gegenüber der ‚Fleckerlteppichreligion’ gibt es unter Jugendlichen – wiederum in einer kleineren Gruppe – auch einen oppositionellen Religiositätsstil. Die religiöse Symboltradition wird benutzt, um provokativ und protestierend den modernen Alltag zu durchbrechen. Es gibt Affinitäten zum Okkulten, zu einer Art schwarzen Gegenreligion. Protestiert wird mit Hilfe der Tabus der “schönen, heilen Welt” der Erwachsenen, dem Tod, dem Bösen, dem Negativen und dem Hässlichen.
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Generell kann man sagen, dass Jugendliche ‚in der Religion’ außeralltägliche Erfahrungen, große Transzendenzen (Schütz/Luckmann) suchen, die einen vom Alltag unterschiedlichen Erlebnis und Erkenntnisstil aufweisen. Solche transzendentale Erfahrungen werden zur „Kultur“, wenn sie in kommunikativen Handlungen zu Symbolen und sozial konstruiert werden. Gleichzeitig bemächtigen sich der Markt und die Medien immer offensiver der Religion. Die Götter, die aus dem Himmel der Religion verschwunden sind, tauchen als Idole des Marktes wieder auf. Werbung und Marketing besetzen die vakant gewordenen Stellen des Ideenhimmels.
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Auf dem Hintergrund des in aller Kürze skizzierten Verhältnisses zwischen Jugendlichen, Gesellschaft und Religion sind die Reaktionen der Kirchen im Hinblick auf ihre Einrichtungen im Jugendbereich unterschiedlich. Mann kann vor allem zwei Grundhaltungen feststellen, die beide in eine Sackgasse führen.
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Zu dieser Haltung tendieren nicht wenige Verantwortliche in den Kirchen. Der jugendsoziologische Befund zum Verhältnis von Jugendlichen – Gesellschaft – Religion irritiert oder schockiert sie so sehr, dass sie ihn nicht realisieren oder ihn schlichtweg verleugnen. Solche Menschen klammern sich an jeden Strohhalm, der den radikalen Befund von der Distanz weiter Kreise Jugendlicher zu den Kirchen relativiert. Sie sind sogar bereit – ganz gegen ihre sonstige theologische Auffassung – den Unterschied zwischen Religion, Religiosität und Kirchlichkeit zu umgehen, um statistische Werte über die Religiosität der Jugendlichen auf das Konto von deren Gläubigkeit oder gar Kirchlichkeit zu buchen.
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Zu dieser Haltung tendieren eher die PraktikerInnen im Jugendbereich. So wird das Verhältnis von Jugendlichen, kirchlichen Einrichtungen im Jugendbereich und Gesellschaft nicht selten nach dem Prinzip ‚was wirkt, das gilt’ gestaltet. Damit übernehmen kirchliche Einrichtungen unbedacht jene Muster, man kann auch sagen jene ‚Götter’, die in der ökonomisierten und virtualisierten Gesellschaft gelten: Den Gott des – vermeintlich schnellen – Erfolges. Dass dieser in der Regel auch dann nicht eintritt, wenn man unbedacht auf die neuesten Trends aufspringt, steht auf einem anderen Blatt.
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Um das Handeln kirchlicher Einrichtungen in der Gesellschaft bestimmen zu können, bedarf es theologischer Kriterien, welche die unterschiedlichen Perspektiven des Jugendbereiches, insbesondere jene, die es mit Religion, Glaube und Kirche zu tun haben, in ein kritisches Verhältnis bringen.
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Im Hinblick auf die religiöse Sozialisation von Kindern bringt die amerikanische Religionssoziologin A. Rizzutto den Prozess, in dem Kinder in den Glauben hineinwachsen, auf den Punkt: „Jedes Kind begegnet, den Kindergott unter dem Arm, dem Kirchengott“ (3) . Ob eine größere Anzahl Jugendlicher dem Kirchengott überhaupt noch begegnet und vor allem in welcher Gestalt sie ihm begegnet, sei dahingestellt. Dennoch: Bei aller Ohnmacht kirchlicher Institutionen, mit der Religion der Jugendlichen konstruktiv umzugehen, bleibt es ihre wichtigste Herausforderung, der religiösen Kultur der Jugendlichen zunächst unvoreingenommen zu begegnen. Diese grundsätzliche Akzeptanz sollte davon unabhängig sein, aus welchem ‚Fleckerlteppich’ die Religion Jugendlicher auch immer ‚genäht’ sein mag, Wie eine solche Begegnung zwischen der religiösen Kultur der Jugendlichen und der Kultur des Evangeliums ‚geht’, kann man bei M. Buber (4) lernen: Es ist keine ‚Ich – Es’ Beziehung, in der die Jugendlichen und ihre Religion zum ‚Objekt’ kirchlicher Evangelisierung oder Katechese werden, sondern eine ‚Ich – Du’ Beziehung; eine Beziehung also, die Menschen mit ihren je eigenen Überzeugungen so in Kontakt bringt, dass sie einander ‚als Ganze’ begegnen und bei aller bleibenden Andersheit und Fremdheit achten und respektieren können. Die Qualität der Begegnung ist für den Intimbereich der Religion, der in unserer Gesellschaft mehr tabuisiert wird als die Sexualität, von entscheidender Bedeutung. (5)
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Der Begriff der ‚Inkulturation’, der in der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanum das Missionierungsverhältnis zu den noch nicht oder nicht mehr evangelisierten Kulturen bestimmt, ist auch für das Verhältnis von Jugendlichen und Kirche tauglich: Es geht um eine dialogische ‚Inkulturation’ des Evangeliums, die von der Echtheit und Glaubwürdigkeit der Personen und ihres Lebenszeugnisses in wechselseitiger Anerkennung bestimmt ist und nicht von Ideologie.
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Mit F. Schweitzer können wir sagen (6) : „Religion“ ist in der Lebensgeschichte – woher immer sie kommt und wie immer sie aussieht...
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Wahrzunehmen (gegen eine Übertragung der eigenen Jugend-Religions-Rekonstruktion)
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Anzuerkennen (gegen Beurteilen)
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Herauszufordern (gegen Gleichgültigkeit)
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Zu begleiten (gegen Belehrung)
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Kirchliche Einrichtungen im Jugendbereich haben es nicht nur mit Jugendlichen als Einzelnen, sondern vor allem mit Gruppen und Gemeinschaften zu tun. Im Gemeinschaftsbereich sind kirchliche Einrichtungen in der Regel vom Bild der Harmonie blockiert. Gute Gemeinschaft wird mit harmonischer Gemeinschaft verwechselt. Die Kultur der Liebe (johannes Paul II.), der Gerechtigkeit und Solidarität (Paul VI.), die das christliche Evangelium bestimmt, wird mit Konfliktlosigkeit verwechselt. Genau das Gegenteil ist der Fall: Das Grundmodell christlicher bzw. katholischer Gemeinschaft ist die Eucharistie feiernde Gemeinde. Und wie sieht diese Gemeinschaft/Gemeinde von Jesus her aus? Sie ist die konfliktive Gruppe schlechthin: Fromme, Sünder, Zöllner und alle möglichen Anderen und Fremden sind von Jesus in seine Gemeinschaft geladen. Bei ihm geht es nicht darum, durch alle möglichen didaktischen Tricks eine Gemeinschaft herzustellen. Die im Hl. Geist seinen Tod und seine Auferstehung feiernde Gemeinde ist ein von Gott ‚geschenktes’ und nicht durch Menschen ‚gemachtes’ WIR. Von da her zeichnen sich kirchliche Jugendeinrichtungen nicht durch eine besondere Harmonie und Konfliktscheu aus, sondern durch das Vertrauen in den Gott des Lebens, dass kein Konflikt zu groß sein kann, als dass er nicht anzugehen wäre.
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Die größte Herausforderung für kirchliche Einrichtungen im Jugendbereich besteht aber wohl in der Auseinandersetzung zwischen Markt, Medien und Religion. Also der ‚Kampf’ zwischen den Göttern des Marktes und der Medien und dem einen und dreieinen Gott der ChristInnen, der sich nach Aussage der Päpste in einer Kultur der Gerechtigkeit, Solidarität und Liebe, also in einer Art ‚Gegenkultur’ zeigt. Wollen sich kirchliche Jugendeinrichtungen auf diese Auseinandersetzung einlassen, dann genügt es nicht, dass Jugendliche über den Glauben der Kirche informiert sind. Das ist zwar nicht unwichtig, aber es nützt in der konfrontativen religiösen Auseinandersetzung mit den Göttern des Marktes und der Medien wenig. Der Mensch muss als Ganzer mit seinem Denken, Fühlen und Handeln in Konfrontation treten. Wie kann er das?
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In einer Situation wie der unseren, in der Jugendliche ständig wirtschaftlich und medial verführt werden, ist der Rückhalt einer Überzeugungsgemeinschaft, die zumindest partielle Alternativen zur Oberreligion des Marktes und der Medien entwickelt, unverzichtbar. Aber gerade solche alternative Überzeugungsgemeinschaften tragen die Gefahr der Ideologisierung in sich. Die homogene Gruppe der gleich Denkenden und Handelnden, schließt sich gegen die anderen, die weltanschaulichen bzw. ideologischen Gegner zusammen. Andere Überzeugungen in der eigenen Gemeinschaft werden kaum geduldet, da sie, wie viele meinen, die konfrontative Kraft schwächen. Menschen mit anderen Einstellungen und Haltungen werden, wenn diese in den eigenen Reihen zutage treten, zu Außenseitern ja zu Opfern der Gruppe gemacht. Ihre Marginalisierung lässt die Gruppe der Überzeugten noch mehr zusammen stehen.
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In diesem Punkt liegt der Unterschied kirchlicher Einrichtungen zu anderen Überzeugungsgemeinschaften, die sich – wie sie – auf die Konfrontation mit der von Markt und Medien faszinierten Gesellschaft einlassen. Aus christlicher Perspektive geht es darum, Gemeinschaften mit hoher innerer Differenzierung zu ermöglichen, wie sie das Christentum seit den Anfängen immer wieder hervorgebracht hat. Nicht die geschlossene, homogene Gruppe, die Außenseiter marginalisiert, ist das Bild christlicher Kommunikation, sondern genau das Gegenteil. Der zum Opfer gemachte Jesus, dessen Leben von Gott durch den Tod hindurch gewandelt wird, ist und bleibt der wunde Punkt in idealisierenden christlichen bzw. kirchlichen Gemeinschaften. Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Der Ausgestoßene, Fremde und Andere, der weder religiös noch gesellschaftlich in die Gruppe passt, ist der eigentliche Ursprung des Lebens; eines Lebens aus dem Geist, der weht wo er will, und der Fenster und Türen öffnet.
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Die Bedeutung kirchlicher Einrichtungen in einer ökonomisierten Gesellschaft kann und darf sich nicht in der Funktionalität eines religiösen Angebotes erschöpfen, das nur in jenen gesellschaftlichen Nischen Platz hat, die ihm die ökonomisierte Gesellschaft zugesteht, weil Religion das Funktionieren des Marktes stützt. Kirchliche Einrichtungen im Jugendbereich stehen vor der Herausforderung, in einer Welt, in der Markt und Medien zur ‚Oberreligion’ geworden sind, Menschen Überzeugungsgemeinschaften anzubieten, welche die Unterschiedlichkeit und die Auseinandersetzung annehmen und fördern. Kirchliche Jugendarbeit, so könnte man sagen, ist Konfliktarbeit nach innen wie nach außen. Sie erschöpft sich nicht in einem technokratischen Konfliktmanagement, das darauf ausgerichtet ist, die störenden Konflikte zu minimieren oder zu beseitigen. Konfliktarbeit aus dem Glauben ist darauf ausgerichtet, das notwendige Konfliktpotential angesichts der Sehnsucht nach einem guten Leben aufrecht zu erhalten. Kirchliche Jugendarbeit kann als kommunikatives Konflikthandeln begriffen werden.
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Kirchliche Jugendarbeit im Sinne der Qualifikation zum kommunikativen weltanschaulichen Konflikthandeln umfasst alle Dimensionen dessen, wozu Kirche als Zeichen für das anbrechende Gottesreich „gut“ ist:
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das Zeugnis des Lebens (Martyria), das sich nicht in einer intellektuellen Verkündigung erschöpft, sondern der Spannung und Verbindung von Leben und Glauben einen authentischen Ausdruck verleiht;
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das liturgische Handeln als Zeichen für die Kultur der Gerechtigkeit/Solidarität und Liebe angesichts der Feier eines Gekreuzigten, Marginalisierten, dessen Leben Gott wandelt;
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die Diakonie als Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse in Dienstverhältnisse, in denen sich die Auseinandersetzung zwischen den neuen ‚Göttern’ und dem biblischen Gott gesellschaftlich abspielt;
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die Koinonie/Communio als ‚geschenktes’ und nicht ‚gemachtes’, konfliktreiches, aber nicht ausschließendes WIR einer christlichen Überzeugungsgemeinschaft.
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Das folgende Schema macht die Zusammenhänge deutlich (7) :
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Wenn man zusammenfassend nach dem Stellenwert kirchlicher Einrichtungen im Jugendbereich für die Gesellschaft fragt, dann wird der diakonische Charakter solcher Einrichtungen besonders hervortreten. Darin liegt in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation die besondere Überzeugungskraft der Kirchen. In einer Welt, in der alles verzweckt wird, haben Menschen – insbesondere Jugendliche – eine besondere Sehnsucht danach, um ihrer selbst willen angenommen zu sein. Wo sich die Kirchen – wie das im Bereich von Beratungseinrichtungen, Flüchtlingswesen u.ä. geschieht – um der betroffenen, meist an den Rand gekommenen Menschen willen engagieren, wo sie also gerade nicht primär nach Anerkennung suchen, dort sind sie gesellschaftlich glaubwürdig. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ – und dazu gehören auch Jugendliche in der Markt- und Mediengesellschaft – „sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände“ (8) ; das ist eine ‚gute Botschaft’ ein ‚Evangelium’ für kirchliche Einrichtungen im Jugendbereich.
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Anmerkungen:
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1. Vgl. zum folgenden Befund u.a. Kaufmann, Franz-Xaver, Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven. Tübingen. 1989; Luckmann, Thomas, Die unsichtbare Religion. Frankfurt a. M. 1991; Polak, Regina/ Christian Friesl u. a.: Die Suche nach der religiösen Aura. Analysen zum Verhältnis von Jugend, Transzendenz und Religion. Pilotstudie. Wien 1998; Friedrichs, Lutz, Autobiographie und Religion der Spätmoderne. Biographische Suchbewegungen im Zeitalter transzendentaler Obdachlosigkeit (Praktische Theologie: Band 40) Stuttgart u.a.O. 1999;
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2. Bei der Situationsbeschreibung orientiere ich mich u.a. an: Kögler, Ilse, Getting in Contact. Lifestyles, Werte und Religiosität Jugendlicher, in: ThPQ 147 (1999), 182 – 191.
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3. Rizzuto, Annemaria, The birth of a living god, Chicago 1979.
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4. Vgl. Buber, Martin, Ich und Du, Heidelberg 111983.
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5. Vgl. u.a. Scharer, Matthias, Begegnungen Raum geben. Kommunikatives Lernen als Dienst in Gemeinde, Schule und Erwachsenenbildung, Mainz 1995.
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6. Schweitzer, Friedrich, Die Suche nach eigenem Glauben. Einführung in die Religionspädagogik des Jugendalters, Gütersloh 1996.
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7. Vgl. die Grundperspektiven Kommunikativer Theologie, in: Scharer, Matthias / Hilberath, Bernd Jochen, Kommunikative Theologie. Eine Grundlegung, Mainz 2002; weiters: Scharer, Matthias, In Zielen gefangen, in: Hilberath, Bernd Jochen / Nitsche, Bernhard (Hg.), Ist Kirche planbar? Organisationsentwicklung und Theologie in Interaktion, Mainz 2002, 53 – 68.
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8. Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“, Art. 1.
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