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Sandler Willibald: Heilung von Gemeinschaft bei Jesus von Nazaret
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Heilung von Gemeinschaft bei Jesus von Nazaret

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2009-01-29

Inhalt

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1. Heilung als Befreiung von krank machenden Fixierungen

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1.1 Heilungswunder als Zeichen für das anbrechende Gottesreich

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Krankenheilungen hatten eine zentrale Bedeutung im Wirken Jesu. Diese wird vom Evangelisten Matthäus folgendermaßen zusammengefasst:

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»Er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in den Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte im Volk alle Krankheiten und Leiden. Und sein Ruf verbreitete sich in ganz Syrien. Man brachte Kranke mit den verschiedensten Gebrechen und Leiden zu ihm, Besessene, Mondsüchtige und Gelähmte, und er heilte sie alle. Scharen von Menschen aus Galiläa, der Dekapolis, aus Jerusalem und Judäa und aus dem Gebiet jenseits des Jordan folgten ihm.« (Mt 4,23-25

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Die Heilungswunder unterstreichen Jesu Botschaft vom Gottesreich. Diese ist in der Zusammenfassung von Jesu Wirken bei Markus dicht umschrieben:

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»Nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,14f)

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Was bedeutet „Reich Gottes"? Näherungsweise lässt es sich begreifen als eine Situation von Menschen und von menschlicher Gesellschaft, in der Gottes Heilswille sich vollkommen durchgesetzt hat. In diesem Sinn enthält das Vaterunser die Bitte „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe" (Mt 6,9f). Daraus erwächst ein heiler Zustand, der personale, gemeinschaftliche, gesellschaftliche und allgemein-geschöpfliche Dimensionen des Menschen umfasst. Juden drücken das mit dem Begriff schalom aus, und Christen verwenden das Wort Heil dafür.

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Die verschiedenen Dimensionen von Heil werden besonders deutlich in dem Jesaja-Text, mit dem Jesus nach Lukas seine Gottesreichbotschaft in seiner Heimatgemeinde Nazaret verkündet: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe [soziale Dimension]; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde [politische Dimension] und den Blinden das Augenlicht [körperliche Dimension]; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze [auch: seelische Dimension] und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe [auch: geistliche Dimension des Gottesbezugs]" (Lk 4,18f)

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1.2 Heilung und Glaube

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Dementsprechend gründet Jesu Heilungstätigkeit in einer tiefen Beziehung zu seinem göttlichen Vater. Jesus Heilungswirken erschöpft sich nicht in Tun und Sprechen, sondern gründet in der besonderen Weise seines Seins, nämlich in seinem innigen, vollständig ungetrübten Gottesverhältnis. In der Beziehung, die Jesus zu den Kranken aufbaut, springt dieses Gottesverhältnis wie ein Funke auf diese über. Daraus eröffnet sich ihnen einen neuer Zugang zum wahren, unfassbaren und unverfügbaren Gott. Diese Chance zu ergreifen heißt Glaube.1 Glauben in diesem Sinn führt zu einer neuen Weise der Wahrnehmung - von Welt, Menschen und einem selber -, sowie des Urteilens und des Sichverhaltens. Die Eröffnung dieser neuen Seinsweise kann von spontaner körperlicher und seelischer Heilung begleitet sein.

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Viele biblische Heilungsgeschichten zeigen, dass Glaube eine Voraussetzung für Heilung ist. Immer wieder stellt Jesus angesichts einer erfolgten Heilung fest: „Dein Glaube hat dir geholfen".2 Insgesamt schreibt Jesus dem Glauben eine große Macht zu, zum Beispiel wenn er sagt, dass Glaube Berge versetzen kann (vgl. Mk 11,23). Dass wir Glauben als viel schwächer erleben, widerlegt die Behauptungen Jesu nicht. Es bedeutet vielmehr, dass wahrer, voll entfalteter Glaube so selten ist wie die Wirkung, die Jesus ihm zuschreibt.

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Glaube bedeutet, an Gott zu glauben, und das bleibt so lange ungenügend, als unsere Vorstellungen von Gott nicht stimmen. Gewöhnlich machen wir uns von Gott unzulängliche Bilder. Jesus eröffnet für die Menschen eine Erfahrung von Gott, wie er wirklich ist, und das befähigt die Menschen zu einem starken und wirkungsvollen Glauben. Sie werden ermächtigt, ihrer Lebensweise und ihren bestimmenden Vorstellungen eine neue Richtung zu geben. Und weil sie ihr Leben nun ändern können, ist die Jesu Forderung zur Lebensänderung auch angemessen. Sie müssen ihr Leben ändern, weil sie es können, - weil sie durch die Begegnung mit Jesus dazu befähigt wurden. So ist Jesu Umkehrforderung zu verstehen, die ein wesentlicher Teil seiner Gottesreichverkündigung ist. „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!" (Mk 1,15). Eine Offenheit für Glauben und Umkehr sind Bedingungen für Heilung. Ebenso wirkt Unglaube häufig krankmachend.

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1.3 Unglaube und krank machende Fixierungen

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Unglaube bedeutet nicht einfach nur den Ausfall einer positiven Gottesbeziehung. Er äußert sich aktiv in einer Haltung zu Personen und Dingen, welche den Blick auf Gott verstellt. Unglaube ist eine Grundeinstellung nicht nur Gott gegenüber, sondern auch in Bezug auf die Schöpfung, die das Zweite Gebot verletzt:

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„Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgend etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde." (Ex 20,4)

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Dieses Gebot untersagt primär jeden Versuch, Gott zu einer greifbaren und verfügbaren Wirklichkeit zu machen. Die Schöpfung, vor allem der Mensch, trägt das Bild Gottes in sich. Und deshalb greift jeder Versuch, Geschöpfe nur als verfügbare Wirklichkeit zu gebrauchen, zugleich Gott an. „Mach dir kein - fixierendes, festschreibendes - Bild von irgend etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde." - auch das liegt in der Konsequenz des zweiten Gebots. Tatsächlich sind wir ständig versucht, in übereilten Urteilen Personen, Dinge und Ereignisse auf einschränkende Vorstellungen zu reduzieren. Wir legen andere und auch uns selbst auf bestimmte Definitionen fest. Körperliche oder seelische Defekte verführen leicht zu negativ-festlegenden Definitionen: „Das ist ja nur ein Krüppel". Menschen können sich geradezu in Krankheiten flüchten, nur um sich definieren zu können: „Ich bin nichts als ein Versager. - Aber so bin ich wenigstens nicht mehr nichts." Um der unerträglichen Unfixiertheit des eigenen Daseins zu entkommen, flüchten sich Menschen sogar in negative Selbstdefinitionen.

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Wenn Jesus Menschen heilt, spricht er ihnen ein neues, auf Gott hin offenes Sein zu. Wesentlicher Bestandteil von Jesu Heilungswirken sind vollmächtige Re-Definitionen: Mit ihnen bricht er negative Festlegungen auf, auf die Kranke und „Besessene"3 festgenagelt sind. Jesus befreit von einschränkenden „Nichts als ..."-Definitionen und öffnet so den blockierten Zugang zum unerschöpflichen Geheimnis des Menschen als Gottes Ebenbild. In diesem Vollzug eines vollmächtigen Re-Definierens finden Krankenheilung, Dämonenaustreibung und Sündenvergebung eine gemeinsame Wurzel.

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Negative Definitionen können Menschen krank machen. Von daher ist es nicht erstaunlich, dass Menschen durch die Zusage eines vollmächtigen Wortes und durch Glauben daran spontan gesund werden können. Dass spontane Glaubensheilungen dennoch seltene Ausnahmen sind, liegt wohl auch an der schwer zu überwindenden Gewalt, mit der krankmachende Definitionen in Menschen und in menschliche Gemeinschaften eingeschrieben sind. Wir müssen uns Jesus als jemanden vorstellen, dessen „Glaube" - im Sinne einer das ganze Leben bestimmenden, vertrauenden Verbundenheit mit Gott - eine Intensität hatte, die unsere Glaubenserfahrungen bei weitem übertrifft. Dieser Glaube konnte auf die Kranken, die Jesus begegneten, überspringen und so massive Veränderungen bis in die körperliche Konstitution hinein bewirken, - auch wenn dieser Glaube meist schnell wieder auf ein durchschnittliches Maß absank, wenn die Begegnung mit Jesus vorüber war.

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2. Was Heilungen unmöglich macht: die gemeinschaftliche Dimension des Unglaubens

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2.1 Die gesellschaftliche Dimension von krankmachenden Definitionen

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Krankmachende Definitionen sind gemeinschaftlich und gesellschaftlich verankert. Und sie erfüllen eine soziale Funktion. Einen Menschen als krank, verrückt oder böse zu definieren, kann dazu beitragen, Gemeinschaften zu stabilisieren.4 Wegen dieses Zusammenhangs hatte Jesu Heilungspraxis zwangsläufig einen starken Einfluss auf Gemeinschaften und Gesellschaften, soweit sie durch ein einschränkendes Definieren von Menschen ihre Stabilität beziehen. Jesus zielte mit seinen Heilungswundern nicht nur auf die Heilung einzelner Menschen, sondern zugleich damit auf eine Verwandlung von Gesellschaft.

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2.2 Eine Geschichte ohne Heilung: Jesu Ablehnung in seiner Heimatgemeinde (Lk 4,16-30)

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Um die gemeinschaftliche Dimension von Jesu Heilungstätigkeit zu erschließen, lohnt es sich, einen programmatischen Text des Evangelisten Lukas genau anzuschauen. Es ist die Geschichte von der Ablehnung Jesu in seiner Heimatgemeinde:

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"16 So kam er [Jesus] nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um aus der Schrift vorzulesen,
17 reichte man ihm das Buch des Propheten Jesaja. Er schlug das Buch auf und fand die Stelle, wo es heißt:
18 Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
19 und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.
20 Dann schloß er das Buch, gab es dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet.
21 Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.
22 Seine Rede fand bei allen Beifall; sie staunten darüber, wie begnadet er redete, und sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs?
23 Da entgegnete er ihnen: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat!
24 Und er setzte hinzu: Amen, das sage ich euch: Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt.
25 Wahrhaftig, das sage ich euch: In Israel gab es viele Witwen in den Tagen des Elija, als der Himmel für drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine große Hungersnot über das ganze Land kam.
26 Aber zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe in Sarepta bei Sidon.
27 Und viele Aussätzige gab es in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Aber keiner von ihnen wurde geheilt, nur der Syrer Naaman.
28 Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut.
29 Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen.
30 Er aber schritt mitten durch die Menge hindurch und ging weg." (Lk 4,16-30)

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Dieser Text von Lukas erfüllt eine ähnliche Funktion wie die eingangs zitierten Zusammenfassungen von Jesu Wirken bei Matthäus und Markus. Die Evangelisten setzten solche Texte jeweils an den Anfang ihrer Darstellung von Jesu öffentlichem Wirken, um damit die zentralen Inhalte seines Wirkens hervorzuheben. Allerdings unterscheidet sich der lukanische Text ganz wesentlich von den beiden anderen: Er ist um ein Vielfaches länger, und er erzählt eine dramatische Geschichte. Lukas beschreibt das spannungsreiche Wechselspiel zwischen der Verkündigung Jesu und wechselnden Reaktionen der Menschen. Die Erzählung ist durchschnitten von irritierenden Wendungen: Binnen kürzester Zeit kippt die Einstellung der Synagogenversammlung von einer Zustimmung zur Jesusbotschaft in eine skeptische Ablehnung. Jesus, der eben noch eine Botschaft bedingungsloser Versöhnung verkündete, antwortet auf diese skeptische Reserve mit einer nochmals irritierenden Schärfe. Darauf reagieren nun die Synagogenbesucher mit einem offenbar ganz unverhältnismäßigen Zorn. Sie jagen Jesus aus der Stadt und wollen ihn umbringen. Was ist da passiert?

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Wenn wir diesen Text im Blick auf unser Thema der Heilungen untersuchen, stoßen wir auf eine weitere Irritation: Obwohl das Thema Heilung fortlaufend präsent ist, findet keine Heilung statt. Halten wir zunächst die Elemente fest, in denen das Thema Heilung anklingt:

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  1. Jesus wählt zur Lesung einen prophetischen Text aus, der in umfassender Weise Heilung und Heil verheißt (Vers 18f)5.
  2. Jesus verkündet, dass diese Prophetie sich hier und jetzt erfüllt hat (Vers 21).
  3. Jesus unterstellt der Gemeinde, dass sie von ihm Heilungen erwartet: „Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat!" (Vers 23).
  4. Unmittelbar vor seinem Besuch in Nazaret hat Jesus Heilungswunder in Kafarnaum gewirkt, wie aus dem eben zitierten Jesuswort hervorgeht.
  5. Jesus spricht von alttestamentlichen Heilungswundern, die Elija und Elischa gewirkt haben.6
  6. Unmittelbar nach seinem Besuch in Nazaret wirkt Jesus in Kafarnaum zahlreiche Heilungen.7
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2.2 Was den Funken des Glaubens zum Erlöschen brachte

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Vor und nach seinem Auftritt in Nazaret heilte Jesus Menschen, warum nicht in Nazaret? Die Antwort ist naheliegend und in der Parallelstelle bei Markus beinah ausdrücklich: Er fand dort keinen Glauben. Daraus ergibt sich eine zweite, drängende Frage: Warum fand Jesus in Nazaret keinen Glauben? Zu berücksichtigen ist dabei, dass auch der Glaube nicht einfach eine frei verfügbare Leistung von Menschen ist, sondern eine Gnadengabe. Für die Evangelien bedeutet dies, dass Jesus mit seinem Wirken in Wort, Tat und Dasein den Glauben nicht nur voraussetzt, sondern ansatzhaft bewirkt und freisetzt. Mit Jesu Sämannsgleichnis gesprochen, antwortet der Glaube auf das „Wort" (Mk 4,14) von Jesu vollmächtiger Gottesreichverkündigung, das als Samen in das Herz der Menschen gelegt wird.8 Glauben als verantwortliche und einforderbare Tat der Menschen besteht darin, dem Samen des Glaubens Raum zum Wachsen zu geben, zumindest aber darin, ihn in seinem Wachstum nicht zu behindern. Wenn Jesus den Menschen mangelnden Glauben vorwirft, müssen wir annehmen, dass sie die Möglichkeit zu diesem Glauben hatten, - andernfalls wäre der Vorwurf Jesu ungerecht. Jesu Entgegnung an seine Landsleute in Nazaret ab Lk 4,23 enthält solche Vorwürfe. Deshalb müssen wir voraussetzen, dass Jesu Botschaft die Synagogenbesucher in ihrem Herzen erreichte. Lukas sagt das auch ausdrücklich: „Seine Rede fand bei allen Beifall; sie staunten darüber, wie begnadet er redete" (Lk 4,22). Unsere vorausgehenden Überlegungen warnen uns, dass wir diese anfängliche positive Reaktion sehr ernst nehmen müssen. Wir dürfen sie nicht abschwächen durch die unmittelbar anschließenden negativen Reaktionen. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass Lukas hier in wenigen Worten einen radikalen Umschwung in der Reaktion der Anwesenden beschreibt. Schauen wir uns die Schlüsselstelle genauer an.

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»Dann schloß er das Buch, gab es dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt. Seine Rede fand bei allen Beifall; sie staunten darüber, wie begnadet er redete, und sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs?« (Lk 4,20-22)

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Versetzen wir uns in die Situation in der Synagoge: Etwas Unglaubliches ist soeben geschehen. Eine große Prophetie, jahrhundertealt und stets nur bezogen auf eine unbestimmte Zukunft wurde soeben als hier und jetzt erfüllt proklamiert, und zwar von einem Menschen, den die Anwesenden von Kindesbeinen an kannten. Der Anspruch erweist sich als noch unerhörter, wenn wir die umfassenden jüdisch-alttestamentlichen Kriterien für die Ankunft des Gottesreichs berücksichtigen: Bekehrung aller Heiden (Sach 8,23), Wallfahrt der Völker nach Jersualem (Sach 14,16), das Ende aller Götzendienste (Sach 13,2), Eintracht aller Gläubigen (Zef 3,9), die Wiedervereinigung Israels unter Gott (Ez 37,21-23) und ein messianisches Friedensreich, das sogar die Versöhnung der Tierwelt beinhaltet (Jes 11,6-9).9 Das alles soll sich hier und jetzt, mit und durch Jesus von Nazaret verwirklicht haben? An dieser Stelle würde es nicht verwundern, wenn die Erzählung nach dem Vers 21 unmittelbar mit den Versen 28-30 fortsetzen würde:

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»Dann schloß er das Buch, gab es dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt." (Lk 4,20f) - „Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut. Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen. Er aber schritt mitten durch die Menge hindurch und ging weg.« (Lk 4,28-30)

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Die harsche Ablehnung würde hier dem Vorwurf der Juden gegen Jesus entsprechen, wie Johannes ihn beschreibt:

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„Wir steinigen dich nicht wegen eines guten Werkes, sondern wegen Gotteslästerung; denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott." (Joh 10,33)

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Doch die Gemeindemitglieder reagieren anders. Sie nehmen den unerhörten Anspruch Jesu eindeutig positiv auf:

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„Seine Rede fand bei allen Beifall, ..."

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Diese angesichts der Unerhörtheit von Jesu Anspruch erstaunliche Zustimmung muss wohl auf die ungeheure Ausstrahlung Jesu zurückgeführt werden. Für jeden Anwesenden am Synagogengottesdienst in Nazaret musste die Nähe Gottes in Jesus Christus auf tief berührende Weise spürbar gewesen sein.

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Doch die positive Reaktion hat keinen Bestand. Wie die anschließende Aussage - „sie staunten darüber, wie begnadet er redete" - zu verstehen ist, soll weiter unten noch verdeutlicht werden. Jedenfalls verheißt der darauf folgende Halbsatz nichts Gutes:

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„... sie staunten darüber, wie begnadet er redete, und sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs?"

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Die Parallelstelle bei Markus offenbart die Skepsis, die in dieser Frage mitschwingt:

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»Und die vielen Menschen, die ihm zuhörten, staunten und sagten: ... Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm und lehnten ihn ab.« (Mk 6,2f)

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Der rasche Umschlag von Zustimmung zu Ablehnung wird nur verständlich, wenn wir berücksichtigen, was sich zwischen den Zeugen von Jesu Auftritt abspielt. In gewisser Weise sind diese bereits durch den Satz angedeutet: „Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet." (Lk 4,20) - Wie die Erzählung uns versichert, war die unmittelbare Reaktion der einzelnen Synagogenbesucher, die in gespannter Erwartung auf Jesus blickten, zuerst zustimmend. Aber niemand steht hier für sich allein. Unterstellen wir, dass der gebannte Blick auf Jesus begleitet ist von heimlichen Seitenblicken, mit der unausgesprochenen Frage: ‚Was denken wohl die anderen von mir, wenn ich mich rückhaltlos auf diese Botschaft einlasse?' Wir können uns gut vorstellen, dass die einfachen Leute lieber erst einmal abwarten, was von den ‚Experten' kommt. Aber die Experten - Pharisäer, Schriftgelehrte, der Synagogenvorsteher - sind nicht weniger überfordert. Der Fall ist einmalig. Zudem haben die Experten einen Ruf zu verlieren, falls sie falsch reagieren. So zögern auch sie. Anstelle eines spontanen und einhelligen Ausdrucks gemeinsamer Zustimmung und gemeinsamen Glaubens breitet sich Schweigen in der Gemeinde aus. Nur wenige Sekunden, und die Stille beginnt peinlich zu wirken. Der Blick zur Seite, die zu den anderen Anwesenden hin ausgerichteten Antennen bestätigen, dass da etwas faul ist. Gewissheit beginnt sich breitzumachen, dass ‚der Auftritt Jesu ein Flop war'.

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Vergegenwärtigen wir uns nochmals die beiden gegensätzlichen Aussagen, die die Wendung in der Erzählung anzeigen. Fügen wir nun aber zwischen diese beiden Sätzen einige Sekunden der Stille ein; und berücksichtigen wir das stille Wechselspiel der Erwartungen und Ängste der Zuhörer:

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„Seine Rede fand bei allen Beifall; sie staunten darüber, wie begnadet er redete, [... angespannte Stille ...] und sagten: Ist das nicht der Sohn Josefs?" (Lk 4,22)

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Der Umschlag dürfte so nachvollziehbar werden.

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Diese Interpretation lässt sich abstützen und vertiefen, wenn wir das griechische Wort für „Staunen" berücksichtigen. Es heißt „thaumazein" und steht für eine ambivalente Haltung, welche hier wohl am besten übersetzt werden kann mit: „sie waren fasziniert", - und zwar mit einer Bedeutung des Wortes Faszination, die von der mimetischen Theorie10 deutlicher herausgearbeitet werden kann: Faszination markiert den schmalen Grat zwischen Bewunderung und neidischer Ablehnung. Und diese Schwelle wird von einer Gruppe von Menschen nur allzu leicht überschritten, wenn der brillierende Andere ihnen nahesteht. Genau das trifft auf die Synagogenbesucher Nazarets zu, die ja mit Jesus und seiner Familie zusammen aufgewachsen waren. So wird der Umschlag in der Einstellung der Nazarener zu Jesus eigentlich in drei Schritten markiert:

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„Seine Rede fand bei allen Beifall; [ ... Zustimmung]
sie staunten darüber, wie begnadet er redete, [... ambivalente Faszination]
und sagten: „Ist das nicht der Sohn Josefs?" [... Ablehnung]«

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Binnen weniger Sekunden ist der von Jesus angefachte Funke erloschen, und Unglaube macht sich in der Synagoge breit, - Unglaube in jener Bedeutung, die wir oben ausführten, nämlich als ein aburteilendes Definieren. Jesus wird auf die Definition festgelegt: ‚Das ist nichts als der Sohn Josefs, den wir alle kennen.' Lukas beschreibt das Ringen zwischen einem gesellschaftlich verankerten Unglauben - einem Unglauben, der Menschen engstirnig und krank macht - und dem Wirken Jesu, das diese Fixierungen aufbrechen will. Für einige Augenblicke steht der Kampf auf Messers Schneide. Dann gewinnt die kollektive Gewalt des Unglaubens die Oberhand. Der Paralleltext von Markus beschreibt die Folgen:

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»Und er konnte dort kein Wunder tun; nur einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie. Und er wunderte sich über ihren Unglauben.« (Mk 6,5f)

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2.3 Der versäumte Kairós

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Wir müssen Lukas 4 verstehen als Erzählung von einer verpassten Gnadenchance, - von einem versäumten Kairós. Neben dem Begriff „chrónos", der für Zeit im „chronologischen" Sinn steht, verwendet das Neue Testament den Begriff „kairós" für eine besondere Gnadenzeit. In Markus 1,15, dem oben bereits besprochenen Anfangssummarium zu Jesu Wirken, heißt es: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe." - Hier steht für Zeit: „kairós". Nach Markus sagt Jesus also nicht einfach: „Es ist soweit", sondern: „Eine Gnadenzeit ist angebrochen", - eine Zeit, in der der durch Schuldverstrickungen verstellte Zugang zu Gott sich unerwartet neu öffnet. Eine lange verschlossene Tür ist auf einmal geöffnet, und nun gilt es, allen Mut und alle Kraft zusammenzunehmen und die Tür zu durchschreiten, d.h. die Möglichkeiten eines neu auf Gott hin geöffneten Lebens auch tätig zu realisieren. Nach dem Johannesevangelium ist Jesus diese offene Tür zum Vater: „Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden." (Joh 10,9)

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Jesu Worten entspricht sein Tun und sein Dasein, sodass die Worte von der angebrochenen Gnadenzeit geradezu eine Beschreibung sind von dem, was die Menschen hier und jetzt erfahren: In der Begegnung mit Jesus erschließt sich den Menschen auf eine neue und ungekannte Weise der allmächtige und liebende Gott. Das Herz geht den Menschen auf, und sie gewinnen die Freiheit, ihr Leben in radikaler Weise auf Gott neu auszurichten. So ist es den Synagogenbesuchern in Nazaret bei der Begegnung mit Jesus gegangen: „Seine Rede fand bei allen Beifall" - Jesus hat die Herzen der anwesenden Menschen erreicht. Für sie gilt: „Die Gnadenzeit (kairós) ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.", wobei „nahe gekommen" (griechisch: henggiken) besagt: real angebrochen, aber noch nicht vollendet. Die oben genannten jüdischen Kriterien für das messianische Gottesreich - von der Bekehrung der Heiden bis zum Frieden in der Tierwelt - beschreiben die ausgewachsenen Früchte des vollendeten Gottesreichs. Seinen Anspruch, dass mit ihm das Gottesreich angebrochen ist, erklärt Jesus mit Wachstumsgleichnissen.

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„Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen, mit welchem Gleichnis sollen wir es beschreiben? Es gleicht einem Senfkorn. Dieses ist das kleinste von allen Samenkörnern, die man in die Erde sät. Ist es aber gesät, dann geht es auf und wird größer als alle anderen Gewächse und treibt große Zweige, so daß in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können." (Mk 4,30-32; vgl. Mt 13,31; Lk 13,19)

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Wenn Lukas sagt, dass Jesu Rede in der Synagoge von Nazaret bei allen Beifall fand, dann ist das so zu verstehen, dass die Kraft des anbrechenden Gottesreichs ihre Herzen erreicht hat: eine Kraft, die äußerlich betrachtet noch nicht groß ist, aber doch ausreicht für den nächsten Schritt. Für die Nazarener hätte dieser nächste Schritt wohl darin bestanden, ihrer Erfahrung des nahen, rettenden Gottes öffentlich Ausdruck zu verleihen. Damit hätte sich die Dynamik der Gemeinschaft in eine Richtung entwickelt, die dem Glauben ihrer Mitglieder förderlich und nicht hinderlich gewesen wäre. Das Wachstum des Senfkorns Gottesreich wäre in die nächste Phase gelangt, - ein kleiner aber bedeutender Schritt auf einem Weg zum „großen Baum" des Gottesreichs, dessen spektakuläre Früchte in den messianischen Verheißungen bei Sacharja und Jesaja beschrieben sind.

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Dieser erste Schritt des Glaubens war den Synagogenbesuchern Nazarets möglich und deshalb auch zumutbar. Und sie taten ihn dennoch nicht. Allein von diesem Befund her erklärt sich die scharfe Reaktion Jesu. Es sind Gerichtsworte, die Jesus den Menschen grundsätzlich nur dann zumutet, wenn sie einen Gnadenkairós schuldig versäumt haben.

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Warum kam dieser Schritt nicht zustande? Im Gleichnis vom Sämann nennt Jesus Gründe, warum ein Gnadenkairós versäumt werden kann. Schauen wir uns die Deutung des Gleichnisses durch Jesus an:

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„Der Sämann sät das Wort. Auf den Weg fällt das Wort bei denen, die es zwar hören, aber sofort kommt der Satan und nimmt das Wort weg, das in sie gesät wurde. Ähnlich ist es bei den Menschen, bei denen das Wort auf felsigen Boden fällt: Sobald sie es hören, nehmen sie es freudig auf; aber sie haben keine Wurzeln, sondern sind unbeständig, und wenn sie dann um des Wortes willen bedrängt oder verfolgt werden, kommen sie sofort zu Fall. Bei anderen fällt das Wort in die Dornen: sie hören es zwar, aber die Sorgen der Welt, der trügerische Reichtum und die Gier nach all den anderen Dingen machen sich breit und ersticken es, und es bringt keine Frucht." (Mk 4,14-20)

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Der Zeitpunkt, an dem die Gottesreichbotschaft das Herz von Menschen erreicht, ist nach den Evangelien ein „Kairós", d.h. eine besondere, gnadenhafte Zeit. Im Kairós bricht für die Menschen die Freiheit auf, zu Gott neu ja zu sagen und so „umzukehren", das heißt, dem eigenen Leben eine neue Richtung zu geben. Wo Menschen diesen Kairós ungenutzt verstreichen lassen, drohen sie in eine tiefere gottfeindliche Unfreiheit hineinzustürzen. Genau hier setzt Jesus mit seinen harten Gerichtsworten an.11 Sie sind zu verstehen als scharfe Warnung, den Moment der Gnade nicht zu verpassen.

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Die Stelle von Jesu „Antrittspredigt in Jerusalem" zeigt auf bedrückende Weise, dass der Kairós unter Umständen nur wenige Sekunden andauern kann. Wo die reale Chance zur Neuausrichtung des Lebens auf Gott hin sich ergibt, kann bereits ein kurzes Zögern verhängnisvoll sein.12 Die lukanische Erzählung von Jesus in Nazareth zeigt überdies, dass die Schwelle, an der sich die anfängliche Zustimmung bricht, der Übergang von der individuellen Reaktion zur öffentlichen Antwort ist. Selbst wenn wir annehmen, dass jeder Einzelne der anwesenden Gemeindemitglieder Nazarets für sich von der Botschaft Jesu so tief erfasst war, dass er sie angenommen hätte: für ein neues Verhalten im Sog der Gemeinschaft hat es nicht gereicht.13

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Diese kollektive Macht des Unglaubens wird auch vom Evangelisten Johannes deutlich angesprochen:

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„Dennoch kamen sogar von den führenden Männern viele zum Glauben an ihn; aber wegen der Pharisäer bekannten sie es nicht offen, um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden. Denn sie liebten das Ansehen bei den Menschen mehr als das Ansehen bei Gott." (Joh 12,42f)

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2.4 Wie schwer es ist, den kollektiven Unglauben zu überwinden

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Während Jesus Heilungen von individuellen Einzelpersonen souverän und erstaunlich mühelos bewirkte, hatte er große Mühe, den zähflüssigen Widerstand eines kollektiven Unglaubens zu überwinden. Schauen wir uns dazu folgende Passage aus dem Markusevangelium an:

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»14 Als [Jesus und seine engsten Jünger] zu den anderen Jüngern zurückkamen, sahen sie eine große Menschenmenge um sie versammelt und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten.
15 Sobald die Leute Jesus sahen, liefen sie in großer Erregung auf ihn zu und begrüßten ihn.
16 Er fragte sie: Warum streitet ihr mit ihnen?
17 Einer aus der Menge antwortete ihm: Meister, ich habe meinen Sohn zu dir gebracht. Er ist von einem stummen Geist besessen;
18 immer wenn der Geist ihn überfällt, wirft er ihn zu Boden, und meinem Sohn tritt Schaum vor den Mund, er knirscht mit den Zähnen und wird starr. Ich habe schon deine Jünger gebeten, den Geist auszutreiben, aber sie hatten nicht die Kraft dazu.
19 Da sagte er zu ihnen: O du ungläubige Generation! Wie lange muss ich noch bei euch sein? Wie lange muss ich euch noch ertragen? Bringt ihn zu mir!
20 Und man führte ihn herbei. Sobald der Geist Jesus sah, zerrte er den Jungen hin und her, so dass er hinfiel und sich mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden wälzte.
21 Jesus fragte den Vater: Wie lange hat er das schon? Der Vater antwortete: Von Kind auf;
22 oft hat er ihn sogar ins Feuer oder ins Wasser geworfen, um ihn umzubringen. Doch wenn du kannst, hilf uns; hab Mitleid mit uns!
23 Jesus sagte zu ihm: Wenn du kannst? Alles kann, wer glaubt.
24 Da rief der Vater des Jungen: Ich glaube; hilf meinem Unglauben!
25 Als Jesus sah, dass die Leute zusammenliefen, drohte er dem unreinen Geist und sagte: Ich befehle dir, du stummer und tauber Geist: Verlass ihn, und kehr nicht mehr in ihn zurück!
26 Da zerrte der Geist den Jungen hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei. Der Junge lag da wie tot, so dass alle Leute sagten: Er ist gestorben.
27 Jesus aber fasste ihn an der Hand und richtete ihn auf, und der Junge erhob sich.
28 Als Jesus nach Hause kam und sie allein waren, fragten ihn seine Jünger: Warum konnten denn wir den Dämon nicht austreiben?
29 Er antwortete ihnen: Diese Art kann nur durch Gebet ausgetrieben werden.« (Mk 9,14-29)

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Dies ist der stärkste Text in den Evangelien bezüglich Glauben und Unglauben im Zusammenhang von Heilungen. Unglaube erweist sich hier als tief verwurzelt in einer negativen Einstellung einer skeptischen Menschenmenge. Die Menschenmenge mit ihrer negativen Eigendynamik hat eine enorme Bedeutung in diesem Text. Viermal wird die Menge (óchlos) ausdrücklich genannt, ein fünftes Mal wird auf sie hingewiesen. Die hier zu heilende Krankheit ist wohl keineswegs zufällig ein blinder und stummer Geist. Dieser hat hier offensichtlich nicht nur von einer einzelnen Person Besitz ergriffen, sondern von der ganzen Gemeinschaft. Die Besessenheit des Mannes erscheint nur als Symptom für eine kollektive Besessenheit der Menschenmenge. Die Menschenmenge wirkt wie gelähmt; sie ist unfähig, frei zu sprechen und zuzuhören. Der stumme und taube Geist des Unglaubens drückt diese Menschenmenge nieder. Schon hat er auf die Jünger übergegriffen - die nun in fruchtlose Debatten mit den Schriftgelehrten verwickelt sind -, und bedroht nun auch Jesus, der verbittert ausruft: „O du ungläubige Generation! Wie lange muß ich noch bei euch sein? Wie lange muß ich euch noch ertragen?"

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Jesus heilt den Besessenen, aber die Heilung verläuft mühsam, behindert durch eine skeptische Menge, die negative Kommentare abgibt: „... alle Leute sagten: Er ist gestorben".14

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2.5 Heilung durch Gebet

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Nachher, als sie mit ihm wieder allein sind, fragen die Jünger Jesus, warum sie diesen Geist (des kollektiven Unglaubens) nicht austreiben konnten. Und Jesus antwortet: „Diese Art kann nur durch Gebet ausgetrieben werden." - Wie wir es oben beim Berge versetzenden Glauben gesehen haben, so gilt auch für das Gebet, dass es von Jesus für weit mächtiger eingeschätzt wird als es uns normalerweise erscheint. Gebet hat das Wirken Jesu durchgehend begleitet. Immer wieder zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück, um in Einsamkeit zu beten.15 Beten bedeutet für ihn, sich mit seinem ganzen Sein auf den göttlichen Vater zu beziehen und sich ganz seiner Führung (durch den Heiligen Geist) zu überlassen. Gebet aktualisiert die Verbindung mit jenem Gott, der die lebendige Quelle und der tiefste Grund für jedes geschaffene Wesen ist. So ermächtigt das Beten, den verborgenen Glanz von Gottes Herrlichkeit in jedem Menschen zu erkennen und wiederzubeleben, auch dort, wo dieser Glanz durch Schuld und Krankheit verdunkelt ist. Oder, um es mit einem Wort des Apostel Paulus zu sagen: Wahres Gebet ermächtigt dazu, die Hülle wegzuziehen, die durch ein ungläubiges, aburteilendes Definieren über Menschen gelegt wird und jene göttliche Herrlichkeit verdeckt, die Paulus jedem Menschen zuspricht: „Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn." (2 Kor 3,18) - Solches Gebet und der daraus entspringende Glaube sind die Quelle, aus der die Macht zu heilen entspringt, - eine Macht, die Jesus in Anspruch nahm und an seine Jünger weitergab.

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3. Heilung von Gemeinschaft als Transformation von einer abgrenzend-identifizierenden zu einer positiv-bezogenen Identität

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3.1 Heilung als Erneuerung von personaler Identität

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Wie wir gesehen haben, ist die Macht des Unglaubens, die Unheil schafft und Heilung lähmt, vor allem ein kollektives Phänomen.16 Einzelne Menschen konnte Jesus verhältnismäßig einfach heilen und zur Bekehrung führen. Aber dieses Heil würde nicht anhalten, wenn nicht die kollektiven Mechanismen überwunden werden, die die Menschen unter ihren (von Gott gegebenen) Möglichkeiten festschreiben. So zielt Jesu Heilungstätigkeit auf eine Heilung von Gemeinschaft.

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Was unter Heilung von Gemeinschaft zu verstehen ist, kann im Zusammenhang mit der Heilung von Einzelmenschen erschlossen werden. Oben habe ich Heilung als eine wirksame Re-Definition von negativen Festlegungen beschrieben. Für Menschen, die in der Weise einer nichts-als-Definition als krank und unfähig abgestempelt sind, eröffnet Jesus in vollmächtiger Rede17 ein neues Sein, das im Ruf Gottes gründet, ein neues (heiles und heilendes) Verhältnis zum Leib bewirkt und veränderte soziale Beziehungen provoziert. Mit einem modernen Begriff können wir auch sagen: Jesus heilt Menschen, indem er ihnen von Gott her eine erneuerte Identität gibt. Dieser Begriff verweist uns auf den weiteren Zusammenhang von Jesu Wirken, zu dem Heilungen als ein Teil unter anderen gehören. Eine neue Identität gibt Jesus Menschen nicht nur durch Heilungen, sondern auch durch Sündenvergebung und durch Berufung in die Nachfolge. Menschen, die von Jesus erfasst wurden und sich - glaubend - von ihm erfassen ließen, können auf die Frage „wer bin ich?" eine andere Antwort geben als vorher. Diese neue Antwort bezieht sich darauf, woher sie kommen bzw. worin sie gründen: ‚Ich bin von Gott hierher, in diese heile Verfassung gesetzt worden.' Und sie bezieht sich darauf, wohin sie gehen können und sollen: ‚Ich bin von Gott hierher gestellt worden, um seine Heilsmacht (in der Heilsmacht Jesu) vor den Menschen zu bezeugen, ihm so zu dienen und nicht mehr zu sündigen.' So wie Jesu eigene Identität in seinem Sein von dem göttlichen Vater her und in seinem Sein für die Menschen gründet, so führt Jesus Menschen in eine erneuerte Identität als Sein von dem Vater und einem dienend-bezeugenden Sein für die Menschen.18

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3.2 Personale und gemeinschaftliche Identität

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Jesus hat auf diese Weise nicht nur einzelne Menschen bekehrt, sondern an der Gründung einer neuen Gemeinschaft gearbeitet. Seine Gottesreichbotschaft zielte primär auf die Sammlung eines erneuerten, ganz von Gott her bestimmten Gottesvolkes, und das heißt, auf eine erneuerte Identität von Gemeinschaft.

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Wie sozialpsychologische Forschungen zeigen,19 sind individuelle Identität und gemeinschaftliche Identität untrennbar miteinander verbunden. Menschen bestimmen, wer sie sind, indem sie sich vergewissern, zu wem sie gehören. So wie es unheile Formen individueller Identität gibt - in einem abstempelnden Definiertwerden und Sich-definieren -, so gibt es auch unheile Formen gemeinschaftlicher Identität. Mit ihnen geht Jesus auf Konfrontation, wenn er „Gemeinschaft heilt".

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3.3 Unheile soziale Identität durch Abgrenzung und durch Identifizierung

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Die Verquickung von unheiler personaler Identität und unheiler gemeinschaftlicher Identität begegnet uns in der Erzählung von Jesu „Antrittspredigt" in Nazaret in dem unterstellten „Seitenblick" der Gemeindemitglieder: Bevor sie ihrer spontan aufgebrochenen positiven Einstellung Jesus gegenüber folgen, wollen sie sich vergewissern, was die anderen von ihm halten. - Wie wir sahen, kommt es so trotz anfänglichen Angerührtseins zu einer skeptischen Ablehnung Jesu. In der Folge sind dabei folgende Konkretisierungen gemeinschaftlicher Identität bestimmend:

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  • die Bewohner von Nazaret, als deren einfaches Mitglied Jesus identifiziert wird;
  • im Kontrast dazu die Bewohner von Kafarnaum, denen Jesus ungerechterweise vorher seine Zuwendung geschenkt hat;
  • Israel, d.h. die Gemeinschaft der gläubigen Juden, die gemäß Jesu provokativer Rede von Gott (vermittels der Propheten Elija und Elischa) benachteiligt wurde.
  • die Nichtjuden, repräsentiert durch die Witwe von Sidon und den Syrer Naaman, die von Gott durch die Propheten geheilt wurden.
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Die in der Synagoge anwesenden Juden bestimmen ihre Identität aus der Zugehörigkeit zur „Kleingruppe" der Bewohner Nazarets und zur „Großgruppe" der Juden:

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  • Als Nazarener identifizieren sie sich mit allen anderen Einwohnern Nazarets. So besteht für sie zu Jesus, „dem Sohn Josefs" kein wesentlicher Unterschied. Welche revolutionären Änderungen sind also von jemandem zu erwarten, der nicht anders ist wie sie? -
  • Und als Nazarener unterscheiden sie sich von den Bewohnern Kafarnaums. Wenn Jesus aus Nazaret ein Prophet wäre, dann hätten sie ein Vorrecht auf ihn.
  • Als Juden identifizieren sich die Synagogenbesucher mit allen anderen Juden, auch mit jenen, die vor Jahrhunderten zur Zeit Elijas und Elischas lebten.
  • Und als solches heben sie sich ab von den Nichtjuden.
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Die Kränkung, die die damaligen Juden durch die Bevorzugung von Nichtjuden erlitten, ist zugleich ihre eigene Kränkung. Zweimal hat Jesus ihnen somit schmerzhaft ins Gesicht gesagt: ‚nicht ihr verdient das Heil, sondern die anderen'. Er hat ihre gemeinschaftliche Identität als Nazarener und als Juden beschmutzt, und das war zutiefst unerträglich. Mit entsprechend blinder Wut reagierten sie.20

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Wir sehen hier, wie eine unheile soziale Identität zustande kommt bzw. erhalten und wiedererlangt wird: durch Grenzziehung nach außen und durch Identifikation mit denen, die innen sind. Wir können beide Formen durch zwei Parolen ausdrücken: „Wir sind, wer wir sind, weil wir nicht so sind wie X" und „Wir sind wer wir sind weil wir genau so sind wie Y".21 Die lukanische Erzählung von Jesus in Nazaret macht auch deutlich, dass solche gemeinschaftliche Identifizierungen in verschiedenen Reichweiten auftreten: von weiten (nationalen, ethnischen, rassischen, geschlechtlichen, sprachlichen, kulturellen...) Großgruppenidentitäten bis hin zu Kleingruppenidentitäten von Sippe, Familie22 oder Zirkeln von Auserwählten23.

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3.4 Wie schwer es für Gemeinschaften ist, die Bestimmtheit von abgrenzender und identifizierender Identität zu überwinden

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Identität durch Ausgrenzung und Identität durch Identifizierung hängen eng miteinander zusammen. Es ergibt sich daraus sowohl selbstgewählte Identität („Wir sind ... anders als die anderen") als auch Identität in Fremdzuschreibung („Die anderen sind ... anders als wir"). Soziale Gruppen fixieren sich in Selbstzuschreibungen, die überheblich-positiv aber auch gekränkt-negativ sein können.24 Und sie lassen sich fixieren durch Fremdzuschreibungen, (die ebenso positiv oder negativ sein können), indem sie sich als „die anderen der anderen" erfahren.

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Im Übergangsbereich zwischen sozialer und individueller Identität findet sich die brisante Form einer sozialen Identität durch Identifikation mit einem Führer. Hier legt die Gemeinschaft eine erwählte Führerperson auf ein ihr entsprechendes Identitätsbild fest und stabilisiert so ihr eigenes kollektives Identitätsbewusstsein. Jesus hatte mit dieser Problematik immer wieder zu kämpfen.25 Damit steht der von der Menge erwählten Führer unter großem Druck, sich zur Durchsetzung seiner Anliegen den kollektiven Erwartungen zu unterwerfen und auf diese Weise die eigenen Überzeugungen zu verraten. Die Versuchungsgeschichten von Jesus lassen sich auf diese Problematik hin deuten. - Überdies besteht für den Führer die Versuchung, die Identität der Gemeinschaft so zu modellieren, dass er eigene Identitätsdefizite damit kompensieren kann.26 Wenn Führer nicht den festlegenden Vorstellungen der Gemeinschaft entsprechen, stürzen sie leicht von der Spitzenposition eines identitätsbildenden Vorbilds in den letzten Rang eines identitäts-stabilisierenden Sündenbocks. Identität durch Identifikation und Identität durch Ausgrenzung können also leicht ineinander übergehen.

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All diesen Ausformungen gemeinschaftlicher Identität ist gemeinsam, dass sie sich relationalen Bestimmungen zu je unterschiedlichen Anderen verdanken: durch Abgrenzung und Identifizierung in Bezug zu einzelnen und zu Gemeinschaften, wobei beides zu einem festlegenden Definieren führt, das krank machen kann.27 Aber können Menschen und Menschengruppen überhaupt eine so bestimmte Identität hinter sich lassen? Entspricht es nicht gerade einer krankmachenden und bereits kranken regressiven Verschmelzungssehnsucht, wenn Menschen meinen, alle Grenzziehungen hinter sich lassen zu können, um sich mit allen und jedem zu verschwistern? Müssen Grenzen zu Anderen nicht auch im Sinne der Anderen respektiert werden, um sie nicht zu vereinnahmen? Dem ist voll zuzustimmen, - auch im Sinne der hier ausgeführten Bestimmung von sozialer Identität. Gerade kirchliche Menschen und Gemeinschaften, die das Unheil ausgrenzender Identitätsbildungen erkannt haben, unterliegen leicht der Gefahr, die von Jesus initiierte heile Gemeinschaft („Gottesreich") eigenmächtig schaffen zu wollen, indem sie Abgrenzungen niederreißen, - und so nur in die dialektische Gegenform eines festlegenden Identitätsdenkens stürzen, die überdies als unvermeidlichen Rattenschwanz wiederum Identität durch Ausgrenzung nach sich zieht.

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Grenzende und identifizierende Identität bilden einen Komplex von sozialer Identitätssicherung, dem nur schwer zu entkommen ist, weil die Distanzierung von der einen Form fast zwangsläufig ein Abgleiten in die entgegengesetzte Form bewirkt. Abgrenzung nach außen und Identifizierung innerhalb des Wir-Bereichs ergänzen sich. Und ohne Veränderung am problematischen Grundtyp von solcher Gemeinschaft sind Verschiebungen der Grenzen durch zweierlei möglich: durch Ausgrenzung von identifizierten und enttäuschenden Gemeinschaftsmitgliedern, sowie durch identifizierend-festlegendes Hereinholen vormals Geächteter. Auch wenn Grenzen sich derart verschieben, bleibt das Bestehen einer klaren Grenze entscheidend für die Identität einer Gemeinschaft. Von daher kann von einer abgrenzend-identifizierende Identität gesprochen werden, durch die Gemeinschaften und Gesellschaften auf problematische Weise ihre Identität gewinnen und sichern.

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Problematisch ist diese Form der Gründung, Sicherung und Wiederherstellung sozialer Identität, weil und insofern sie sich einem festlegenden Definieren von Dazugehörigen und „Anderen" verdankt. Auf die Setzung von Grenzen in der Unterscheidung von Dazugehörigen und Nichtdazugehörigen ist zwar jede Gemeinschaft angewiesen. Problematisch wird es erst dann, wenn das Selbstverständnis einer Gemeinschaft sich diesen Grenzsetzungen und Identifizierungen verdankt und deshalb Menschen im Sinne dieser Unterscheidungen festschreiben muss. Nur in diesem problematischen Sinn spreche ich von abgrenzend-identifizierender Identität.

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3.5 Seitenblick und Positionsdenken

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Charakteristisch für eine abgrenzend-identifizierende Identität von Menschen und Gemeinschaften ist der Seitenblick. Er fixiert diejenigen, die nicht dazugehören auf Unterschiede, die geeignet sind, der eigenen Gemeinschaft Profil zu verleihen. Dieser Seitenblick-nach-außen entspricht dem Moment der Abgrenzung bei der abgrenzend-identifizierenden Identität. Dem Moment der Identifizierung entspricht der Seitenblick-nach-innen, der sich auf die Gemeinschaftsmitglieder richtet:28 „Erfüllen sie noch die Bedingungen um dazuzugehören? Halten sie sich an die ihnen zustehende Position oder maßen sie sich etwas an, was ihnen nicht zusteht? Respektieren sie meine Position?" - Der auf die Gemeinschaftsmitglieder gerichtete Seitenblick gilt auch dem Bild von mir selbst, das ich bei den anderen hervorzurufen meine oder befürchte: ‚Entspreche ich ihren Erwartungen? Bin ich in Gefahr, mich zu blamieren?' - Diesem Seitenblick-nach-innen entspricht ein Positionsdenken, das auf pedante Weise - nicht selten ängstlich, neidisch oder eifersüchtig - darauf bedacht ist, dass jede(r) innerhalb der Gemeinschaft die ihm oder ihr zustehende Position einhält. Positionsdenken ist ein intolerantes, festlegendes und definierendes Denken, in der Weise, wie ich es oben als krankmachend beschrieben habe.29 Dem Positionsdenken entspricht ein peinliches Achten auf gerechtigkeit, - oder besser auf eine ganz bestimmte Art von gerechtigkeit,30 welche Jesus in geradezu programmatischer Weise in Frage gestellt hat.31

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3.6 Positiv-bezogene Identität

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Die positive Alternative zur Bildung von sozialer Identität finden wir angelegt in Jesu Sammlung von Gemeinschaft, die auf die Verwirklichung des Gottesreichs hinzielt. Kern und Ursprung davon ist Jesu radikales „Sein von" dem göttlichen Vater her und „Sein für" die Menschen. In der Begegnung mit Jesus finden nicht nur einzelne Menschen (wie oben ausgeführt), sondern auch Gemeinschaften eine neue bzw. erneuerte Identität, indem sie sich von Gott her radikal auf einen bezeugenden und befreienden Dienst an den Menschen ausrichten lassen. Zwar kommt auch eine solche Gemeinschaftsform grundsätzlich nicht ohne Grenzziehungen aus. Aber sie verdankt diesen Grenzziehungen nicht ihre Identität. So ist sie auch flexibel, vorgegebene Grenzen bei Bedarf zu überschreiten.32 Ein Selbstverständnis von Gruppen (aber auch von Einzelmenschen), das sich nicht Abgrenzungen, Seitenblicken und Positionsdenken verdankt, sondern im Dienst im Gefolge eines Rufes gründet, bezeichne ich als positiv-bezogene Identität.

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Wir können sagen, dass positiv-bezogene Identität sich dem Blick auf Gott verdankt, im Unterschied zur abgrenzend-identifizierenden Identität, die vom Seitenblick bestimmt ist. Allerdings müssen wir bei einer solchen Unterscheidung berücksichtigen, dass Gott nicht unvermittelt, sondern meist vermittelt durch andere Menschen ‚erblickt' wird. Der „Blick auf Gott" unterscheidet sich also vom „Seitenblick" nicht durch einen anderen Gegenstand, sondern durch eine andere Weise zu schauen. Er entspricht dem nicht festlegenden Blick der Liebe, der den ungreifbaren und doch sich offenbarenden Gott im Anderen finden vermag und so die Gabe erhält, das unverfügbare Geheimnis des oder der begegnenden Anderen würdigen zu können. Im Gegensatz dazu legt der Seitenblick den oder die erblickte Andere auf bestimmte Kategorien und Erwartungen fest.33

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3.7 Der „Community-Test"

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Die Unterscheidung zwischen positiv-bezogener und abgrenzend-identifizierender Identität ist idealtypisch. Bei real vorkommenden Gemeinschaften finden wir im Allgemeinen nur Zwischenstufen zwischen beiden Extremen, und auch dies in verschiedensten Schattierungen, oft abhängig von unterschiedlichen Situationen, in denen wir gemeinschaftlich (mit-)bestimmtem Verhalten begegnen. Wo sich eine Gemeinschaft auf dem Kontinuum zwischen positiv-bezogener und abgrenzend-identifizierender Identität befindet, ist nicht genau feststellbar. Verhaltensweisen von Menschen und Gruppen, die auf den einen oder anderen Typ hinweisen, sind oft mehrdeutig.

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Dennoch gibt es Ereignisse, in denen Gemeinschaften sich eindeutig auf einen der beiden Pole hin bewegen, sodass der bestimmende Typ auf überraschende Weise sichtbar wird. Stellen wir uns vor, eine Person rückt vom Rand einer Gemeinschaft aufsehenerregend in die Mitte. Wenn die Gemeinschaft dem Typ einer positiv-bezogenen Identität entspricht, werden sich ihre Mitglieder darüber von Herzen freuen. Wenn die Gemeinschaft aber dem Typus einer abgrenzend-identifizierenden Identität nahesteht, dann wird die Hereinnahme eines definitiv Außenstehenden eine Identitätskrise provozieren, die sich am deutlichesten an dem Ausruf verrät: ‚Wer sind wir denn, dass wir dieses Subjekt in unserer Mitte dulden?'

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Zahlreiche Evangelientexte belegen, dass Jesus die Vollmacht hatte, Menschen vom Rand der Gesellschaft auf spektakuläre Weise in die Mitte zu rücken, und dass er diese Vollmacht auch nutzte. Krankheiten - vor allem Aussatz und Besessenheit - machten Menschen nach jüdischer Auffassung unrein und bewirkten so ihre gesellschaftliche Isolierung. Wenn Jesus Spontanheilungen bewirkte, holte er die geheilten Personen auf spektakuläre Weise in die Mitte der Gesellschaft zurück.34 Damit veränderte er nicht nur radikal die Lage dieses Menschen, sondern versetzte zugleich die anwesende Menge35 in jene kritische Situation, in der sich der ‚Geist der Gemeinschaft' offenbaren musste. Können sich die Anwesenden am Glück des Vorgerückten freuen oder geraten sie in eine Identitätskrise, weil sie ihre eigene Position und Identität im Verhältnis zu diesem Anderen bestimmt hatten?

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Angesichts dieser verblüffenden gesellschaftsdiagnostischen Wirkung drängt sich mir der Begriff eines Community-Tests auf. Zwar würde es die tiefe Achtung, die Jesus vor jedem Menschen hatte, verunklären, wollte ich behaupten, dass Jesus bei seinen Zeitgenossen diesen Community-Test angewandt hat. Aber sein Handeln wirkte sich in der Weise dieses Tests aus. Immer wieder wandte er sich Außenseitern zu und holte sie in die Mitte einer Gemeinschaft.36 Auch wenn dieses Verhalten nicht von der Absicht geleitet war, eine Gemeinschaft zu testen, sondern von Jesu spontanem Mitgefühl, das er vor allen den Ausgestoßenen entgegenbrachte, hatte dieses Verhalten geradezu zwangsläufig die Wirkung, die verborgene Natur einer Gemeinschaft sichtbar zu machen. Genau das passierte, als Jesus in der Synagoge von Nazaret predigte: Zwar unsichtbar, aber höchst wirksam waren hier jene Menschen gegenwärtig, die Jesus in Kafarnaum geheilt hatte. Die Nazarener hätten sich doch auch freuen können, dass Gottes Heilswirken durch die Wunder in Kafarnaum bereits begonnen hatten. Belegten sie doch Jesu Verheißung („Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört hat, erfüllt"), die auch ihnen galt. Aber wie ein Stolperstein erhob sich die Frage: „Jesus ist doch wie wir aus Nazaret. Warum hat er also nicht bei uns angefangen, Kranke zu heilen?" Das ist Positionsdenken. Die Verärgerung der Synagogengemeinschaft verriet, dass ihr Zusammenhalt im Typus einer abgrenzend-identifizierenden Identität begründet war.

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Die biblische Urgeschichte erweist das Positionsdenken geradezu als Wurzelsünde, in dem die klassischen Ursünden von Neid und Hochmut sich verbinden. Auch Kain hätte sich freuen können, dass Gott von Abels Opfer erreicht wurde. Hätte er als Abels Bruder nicht an dessen Gottesnähe teilhaben können? Diese Alternative mag naiv erscheinen. Aber das liegt nur daran, dass wir die Abgründigkeit von Geschwisterrivalität zutiefst kennen. Ist erst einmal der Wurm des Positionsdenkens in einer Gemeinschaft drinnen, dann lässt sich die Freude am Glück des Anderen nur schwer wiedergewinnen. In die Welt der biblischen Urgeschichte ist das verhängnisvolle Positionsdenken bereits durch den Sündenfall gelangt. Am Anfang stand die Versuchung der ersten Menschen, wie Gott zu sein, in einem ‚positionellen' Sichvergleichen mit Gott.37

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4. Heilung von Gemeinschaft durch Gericht und Kreuz

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4.1 Warum Jesus so provozierte

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Aber hatten die Nazarener nicht Recht? Warum hat Jesus sein Wirken nicht bei den Bewohnern Nazarets angefangen? Es hätte doch keinen Unterschied gemacht, und er hätte niemanden provoziert.

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Die Frage wirkt vielleicht überzogen. Ist manches nicht einfach zufällig passiert, sodass uns der Versuch, einen Grund dafür zu finden, zwangsläufig in die Irre führt? Und setzt solches Fragen nicht voraus, dass Jesus willkürlich entschieden hat, wen er heilen wollte? Hat er sich nicht vielmehr ganz vom Willen des Vaters im Heiligen Geist führen lassen, der ihn - wie später seine Jünger38 - zur Heilung ganz bestimmter Menschen an ganz bestimmten Orten führte? Letzteres dürfen wir ohne Einschränkungen bejahen. Aber das nimmt unsere Frage, warum Jesus nicht in seiner Heimatstadt mit dem Heilen begann, nicht zurück. Die Frage stellt sich nur nochmals in der verschobenen, vielleicht präziseren Form: Warum führte der Heilige Geist Jesus nicht zuerst - wie es sich doch ‚gehörte' (?) - in seine Heimatstadt, damit er dort mit seinem Wirken beginne?
Bevor wir auf diese Frage eingehen, ist noch dem ersten Einwand zu begegnen: Sind das nicht alles Zufälligkeiten, denen wir zu viel Gewicht beimessen? Dagegen steht, dass Jesus immer wieder in ähnlich provokanter Weise gehandelt hat. Zum Beispiel bei seine Heilungen am Sabbat: Von einem unverhältnismäßig großen Anteil der in den Evangelien berichteten Wunderheilungen Jesu wird festgestellt, dass sie an einem Sabbat erfolgten. War das nur Zufall, oder ist das einfach einem psychologischen Auswahlprinzip zu verdanken, das vielleicht schon die biblischen Autoren leitete: dass eben Heilungen am Sabbat mehr Anstoß erregten und sich deshalb stärker einprägten? Man wird hier von derartigen Relativierungen Abstand nehmen. Die Sabbatheilungen gewinnen durch Jesu begleitende Erklärungen eine so hohe Bedeutung, dass wir damit rechnen müssen, dass Jesus - zumindest manchmal - mit Absicht gerade an Sabbaten heilte. Gewiss ging es ihm dabei nicht nur darum, an engstirnigen Schriftgelehrten ein Exempel zu statuieren. Gewiss war es ihm vor allem um das Heil der Kranken zu tun. Aber es ging ihm auch darum, die leitenden Einstellungen der religiösen Gemeinschaften und Gesellschaft zu verändern. Und das war nicht nur ein zusätzliches Anliegen, sondern hatte zutiefst mit seinem Anliegen von Heil und Heilung zu tun. Wenn, wie wir gesehen haben, Krankheit und Unheil gesellschaftlich verankert sind, so müssen sie auch auf gesellschaftlicher Ebene überwunden werden. Jesus heilt nicht nur Einzelmenschen, er zielt auf die Heilung der menschlichen Gesellschaft. Dass religiöse Autoritäten den Sabbat über den Menschen stellen, bedeutet, dass sie das Sabbatgebot isolieren, um daran andere Menschen zu messen. Das Sabbatgebot, das ursprünglich dazu diente, dass - jenseits alltäglicher Nutzbeziehungen - in den Menschen und in der Welt wieder Gottes Herrlichkeit gefunden wird, pervertiert zu einem Seitenblick-Prinzip positionellen Denkens: ‚Hält sich der andere an das Gebot, oder ist es ihm wurscht?' - Auf diese Weise wird auch Jesus taxiert. Und damit ist der Blick auf Gott blockiert: Gott wird nicht mehr im Kranken wahrgenommen, und er wird im Heilenden - in Jesus Christus - verkannt. Das Sabbatgebot, das wie die ganze Tora Mittler zu Gott sein sollte, wird zum Hindernis. Als solches wird es von Jesus zwar nicht aufgehoben, sondern zurechtgerückt, in seine Heilsfunktion zurückgeführt und in diesem Sinn geheilt.
Solch provozierendes Zurechtrücken begegnet uns bei Jesus fortlaufend. Wir finden es zum Beispiel im Gleichnis vom barmherzigen Samariter und ganz besonders in den vielen Ereignissen und Gleichnissen, in denen Jesus ein gerechtigkeitsdenken geißelt, das sich von taxierenden Seitenblicken leiten lässt, - vor allem im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg: „Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich (zu anderen) gütig bin? So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten." (Mt 20,15f).

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So müssen wir es auch verstehen, wenn Jesus mit den Heilungen gerade nicht in seiner Heimatstadt beginnt. Es geht ihm - oder dem ihn führenden Heiligen Geist - nicht nur um die Heilung von Einzelmenschen;39 er zielt auf eine Heilung von Gemeinschaft. Jesus beginnt nicht mit einem „Community-Test". Er beginnt mit einer vollmächtigen Zusage des Heils-, Heilungs- und Vergebungswillens Gottes. Das bewirkt bei den Menschen spontane Freude und Dankbarkeit. Angesichts solcher Erfahrung erscheint jedes neidische Vergleichen als absurd. Die Menschen in der Synagoge erahnen, dass ihnen mehr angeboten wurde als sie jemals hätten fordern können. Die Zeichen und Wunder, die Jesus an anderen schon gewirkt hat, erscheinen ihnen zunächst schattenlos als Zusagen eines umfassenden Heils, das sie mit den fremden Geheilten verbindet. Deren Freude ist zugleich ihre Freude.40 - Das dürfen wir uns vorstellen, wenn wir lesen: „Seine Rede fand bei allen Beifall." Wenn diese Haltung sich auf der Ebene der Gemeinschaft durchsetzt, dann hat sich an ihr etwas wesentlich geändert. Man könnte sagen, ihr Herz hat sich geweitet. Oder mit unserer mehr technischen Begrifflichkeit: Die Gemeinschaft hat sich in Richtung auf eine positiv-bezogene Identität hin verändert; - ein großer Schritt auf dem Weg der Heilung einer Gemeinschaft.

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An diesem Schritt ist die Synagogengemeinschaft gescheitert. Ihre Frage „Ist das nicht der Sohn Josefs" ist alles andere als harmlos. Wir sehen jetzt, dass sie nicht nur Jesus auf die vielleicht eher unauffällige Vergangenheit eines Zimmermannssohnes festlegt, sondern zugleich eine Grenze zwischen Nazarenern und Nichtnazarenern errichtet, angesichts derer die Geheilten aus Kafarnaum nur die Anderen sein können, deren Glück man nicht teilen, sondern nur argwöhnisch beäugen kann.

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Von daher sind sowohl die Schärfe als auch der Inhalt von Jesu Reaktion verständlich.

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»Da entgegnete er ihnen: Sicher werdet ihr mir das Sprichwort vorhalten: Arzt, heile dich selbst! Wenn du in Kafarnaum so große Dinge getan hast, wie wir gehört haben, dann tu sie auch hier in deiner Heimat!« (Lk 4,23)

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Mit diesen Worten stellt Jesus das Positionsdenken bloß, in das die Gemeinschaft zurückgeglitten ist, und das sie nun tiefer als vorher gefangen hält. Auch das entspricht einer durchgängigen Eigenart von Jesu Wirken. Wo die Initiative zur Veränderung scheitert, deckt Jesus die bestimmenden negativen Kräfte auf. Wie Raymund Schwager in seiner dramatischen Christologie aufgezeigt hat,41 ist das der Sinn der Gerichtsworte, die derart nur bei vordergründiger Betrachtung in Widerspruch zur bedingungslos-vergebenden Gottesreichbotschaft stehen. Diese Aufdeckung könnte den Betroffenen die Augen öffnen, und es wäre nicht ausgeschlossen, dass dadurch eine Umkehr doch noch erfolgt.42 Aber die biblischen Texte belegen, dass diese Aufdeckung im Allgemeinen die Konfrontation nur anheizt. Genau das geschieht auch in Nazaret.

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Zunächst treibt Jesus seine Aufdeckung der bestimmenden abgrenzend-identifizierenden Identität noch weiter. Die anwesenden Juden zu erinnern, dass die größten Heilungswunder des Alten Testaments ausgerechnet an Heiden erfolgten, heizt die drohende Identitätskrise weiter an: ‚Wer sind wir (das auserwählte Volk) denn, wenn die Nichtjuden gleich große, ja vielleicht sogar noch größere Zeichen als wir erfahren?'. Man beachte, dass diese Botschaft nicht an sich provokant ist. Hätte die Gemeinschaft sich an den Heilungen der Kafarnaiten - die auch Juden, aber eben aus einer anderen Stadt waren - freuen können, dann wäre auch dieser weitere Schritt möglich gewesen: die Freude darüber, dass auch Nichtjuden das Heil eröffnet wurde. Die Hinweise Jesu auf die Heilungen von Nichtjuden durch Elija und Elischa hätten bewirken können, dass die „Freude vollkommen würde"43.

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Mit einer solchen Entwicklung der Gemeinschaft, die eindeutig auf eine positiv-bezogene Identität hinlaufen würde, hätte Jesus das Alte Testament keineswegs hinter sich gelassen, sondern in seinen besten Ansätzen zur Verwirklichung gebracht. Nämlich in der Vorstellung von der Völkerwallfahrt als Wahrzeichen für das anbrechende messianische Gottesreich.44 Die Vision der Völkerwallfahrt bedeutet ja ebenso, dass die Nichtjuden, die gegenüber dem jüdischen Volk Außenstehenden, Nichtdazugehörigen von Gott in ihre Mitte hereingenommen werden. Dass dieses Geschehen gemäß den eschatologischen Texten des Alten Testaments für Freude und keineswegs für eine Identitätskrise sorgt, erweist die Natur dieser Gesellschaft als positiv-bezogene Identität. In diesem Sinn zielt Jesu Wirken auf eine Heilung nicht nur von Einzelnen, sondern von Gemeinschaft, - ganz im Sinne seiner Botschaft des anbrechenden Gottesreichs.

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4.2 ‚Auf die harte Tour'

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Jesu so provozierende Rede hätte also mit gleichem Inhalt unter anderen Umständen die Heilung der Gemeinschaft weiter voranbringen können. Welchen Sinn hatte sie unter den Bedingungen einer sich verfestigenden abgrenzend-identifizierenden Identität? Die unmittelbare Auswirkung in Nazaret gibt uns einen wichtigen Hinweis.

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»Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen.« (Lk 4,29)

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Der Vorfall gibt einen deutlichen Vorblick auf Jesu späteren Kreuzestod. Der Text, den Lukas an die Stelle der Anfangs-Summarien über Jesu Wirken von den anderen Synoptikern stellt, erweist sich als so umfassend, dass er die ersten drei Akte des Christusdramas miteinander in den Blick bringt: Gottesreichbotschaft, Gerichtsworte und Kreuz. Der lukanische Text macht nachvollziehbar, dass Jesu Bemühen um eine Heilung von Gemeinschaft, die allein das Heil des Gottesreichs umfassend sichern kann, auf eine äußerste Konfrontation hinausläuft. Für dieses Mühen um eine Heilung von Gemeinschaft haben wir drei Schritte ausmachen können: erstens eine Befähigung von Gemeinschaft zu einer direkten Umkehr; zweitens, wo dieser Kairós versäumt wird, eine Aufdeckung der bestimmenden negativen Kräfte; drittens, daraus resultierend eine Zuspitzung der Konfrontation, die zur Verstoßung, letztlich zur Tötung des Störenfriedes führt.45 Diese Verstoßung, die in der Weise der Kreuzigung erfolgte, ist für die von Jesus in ihrem religiösen Selbstverständnis provozierten Gemeinschaften der einzige verbleibende Ausweg zur Sicherung ihrer sozialen Identität. Nach Abweisung der ihnen von Jesus eröffneten positiv-bezogenen Identität bleibt nur noch die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Selbstvergewisserung in der Weise einer abgrenzend-identifizierenden Identität. Abgrenzend-identifizierende Identität ist nur durch Verschleierung ihrer Prinzipien wirksam, denn die grenzende Fixierung auf den Anderen verdeckt die Halt- und Inhaltslosigkeit der eigenen Ausrichtung. Deshalb ist Jesu Aufdeckung unerträglich. Sie zwingt Menschen und Gemeinschaften in die Alternative, entweder doch umzukehren oder den Störenfried zu eliminieren. Nun ist aber die Alternative der Umkehr nicht jederzeit frei verfügbar. Wo sie verworfen wurde, kann sie für lange Zeit versperrt bleiben, sodass für die dermaßen in die Enge getriebene Gemeinschaft faktisch nur mehr die negative Alternative besteht, um ihre Identität zu wahren. Hier treffen die Worte des Kajaphas ins Schwarze:

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»Ihr bedenkt nicht, daß es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht.« (Joh 11,50)

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Für Jesus erwies sich dieser Weg ans Kreuz als einziger Weg, um seinen Einsatz für das von ihm angekündigte Gottesreich auch unter den Bedingungen des sich verhärtenden Widerstandes von Teilen der jüdischen Gesellschaft durchzuhalten. Hätte Jesus die Menschen, die ihren Kairós zur Umkehr versäumten und in in der Folge in ihrem Widerstand gegen Gott verstockten, sich selbst überlassen, so wäre die von ihm gegründete Gemeinschaft in äußerster Gefahr gestanden, zu einer Sekte zu werden, die ihre Identität in Abgrenzung gegen ihre Verweigerer zementieren würde. Gegenüber der gefährlichen Tendenz einer pharisäischen Gottesreichidee, wonach die Absetzung gegenüber den GesetzesübertreterInnen zentral war, hätten sich nur die Vorzeichen geändert. Die Gesetzestreuen sind nun als Heuchler gebrandmarkt und somit „draußen", während die Sünder in ihrer Demut „dazugehören".

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Zum von Jesus proklamierten Gottesreich gehört demgegenüber eine Offenheit für alle Außenstehenden und eine permanente Kritik gegenüber den Dazugehörigen. Denn ihnen erschließt sich die befreiende Kraft Gottes, und deshalb haben sie in gesteigertem Maße die Verantwortung, nach dem Gesetz Gottes zu leben.

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Auch für Jesus müssen wir annehmen: Im Maße als er einsah, dass die Alternative einer Umkehr für die verstockte Gemeinschaft verschlossen war, musste er erkennen, dass sein Handeln ihn zwangsläufig in den Tod trieb. Wenn er die sich verstockende Gemeinschaft Israels nicht sich selbst überlassen und so die Botschaft des mit ihm anbrechenden Gottesreichs verraten wollte, blieb ihm nur die Alternative, den Weg der sich zuspitzenden Konfrontation in kritischer Solidarität bis zum Ende weiter zu gehen. In diesem Sinn hat er ab einem bestimmten Punkt seinen Kreuzestod bewusst angenommen und auch angezielt.

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4.3 Heilung von Gemeinschaft durch den Kreuzestod hindurch in Auferstehung und Geistsendung

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Es gibt kein dialektisches Gesetz, das eine Rettung von Gemeinschaft aus einer sich zuspitzenden Fixierung auf eine abgrenzend-identifizierende Identität erwarten ließe. Wir können zunächst nur feststellen, dass das Ereignis, das biblisch als Auferstehung bezeichnet wird, nicht nur Jesus für seine Anhänger wieder präsent machte, sondern auch eine Veränderung in Gemeinschaften bewirkte, die sie unerwartbar neu in der Weise einer positiv-bezogenen Identität auf Gott und seine universale, nicht ausgrenzende Sendung ausrichtete. Wir finden das angezeigt durch das neue, freimütige Verhalten der Jünger Jesu und durch einen - in der Apostelgeschichte idealisierend beschriebenen - neuen Typ positiv-bezogener Gemeinschaft, der als reale Möglichkeit der Kirche mitgegeben wurde, auch wenn sie von Anfang an immer wieder dahinter zurückfiel. Keineswegs zufällig ist die Herzmitte von Kirche das Sakrament der Eucharistie, in dem sich das Aufbrechen einer sich verfestigenden abgrenzend-identifizierenden Identität von Gemeinschaft in eine positiv bezogene Identität ereignet. Kirche erweist sich so als Quellort für eine Heilung von Gemeinschaft.

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Anmerkungen:

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1 Dementsprechend heißt es im oben bereits zitierten Summarium von Mk 1,15: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!" Der Glaube ist ermöglicht durch die Erfahrung des nahe gekommenen Gottesreichs. Der Forderung zu glauben geht die Befähigung zu Glauben voraus.„Du sollst glauben, weil du glauben kannst."

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2 Mk 5,34 par. Mt 9,22, Lk 8,48. Vgl. auch Mt 8,13; Mt 9,28f; Mt 15,28; Mk 10,52 par. Lk 18,42; Lk 17,19.

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3 Unter Besessenheit verstehe ich zunächst nichts anderes als die Zustände jener Kranken, die in den Evangelien als besessen bezeichnet werden. Sie können mit heutigen Mitteln am ehesten als Zwangszustände beschrieben werden, die von den Evangelien allerdings auch im Blick auf eine problematische soziale Dimension beschrieben werden.

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4 In diesem Sinn setzen systemische Therapiemethoden (z.B. die systemische Familientherapie) zur Heilung von psychischen Erkrankungen bei der Veränderung von krankmachenden zwischenmenschlichen Beziehungen an. René Girard hat die Theorie vom Sündenbockmechanismus entwickelt, wonach der Zusammenhalt von Gemeinschaft durch die Ausstoßung von Menschen gewährleistet wird. Girard hat auch gezeigt, wie durch solche Vorgänge zugleich ein verzerrtes Gottesbild machtvoll in der Gesellschaft verankert werden kann. Vgl. R. Girard, Das Heilige und die Gewalt. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger-Ruh. Einsiedeln-Zürich-Köln 1987.

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5 Vgl. oben, das Ende von Kapitel 1.1.

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6 Gemäß 1 Kön 17 hatte Elija eine heidnische Witwe nicht nur durch ein Wunder vor dem Hunger bewahrt, sondern auch ihren Sohn von den Toten erweckt. Eines der gewaltigsten Heilungswunder des Alten Testaments wurde also an Heiden gewirkt! Eine ähnliche Totenerweckung, allerdings an Juden wird von Elischa in 2 Kön 4 berichtet. Nicht auf diese bezieht sich Jesus, sondern auf die ein Kapitel später erzählte Heilung eines Heiden von einem Aussatz. Diese Geschichte enthält noch eine weitere Provokation: Der Aussatz wandert von dem geheilten Heiden zu Elischas Prophetenschüler, also zu einem Juden, überdies aus dem engsten Kreis um Elischa, - als Strafe für ein grobes Fehlverhalten.

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7 Ebenso wie in Nazareth predigte er dort in der Synagoge. Anschließend heilte er viele Menschen. „Als die Sonne unterging, brachten die Leute ihre Kranken, die alle möglichen Leiden hatten, zu Jesus. Er legte jedem Kranken die Hände auf und heilte alle." (Lk 4,40)

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8 Vgl. das Gleichnis vom Sämann, Mk 4,3-32.

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9 Vgl. dazu Pinchas Lapide / Ulrich Luz, Der Jude Jesus. Thesen eines Juden, Antwort eines Christen. Einsiedeln-Zürich-Köln ²1980, 54-56

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10 Vgl. zur mimetischen Theorie René Girards: W. Palaver, René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen (BMT 6). Münster 2001.

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11 Für viele Bibelleser scheint es unverständlich, dass Jesus an manchen Stellen im Umgang mit Sündern ungeheuer tolerant ist, in anderen Evangelienstellen aber Menschen mit unglaublich harten Worten kritisiert. Der scheinbare Widerspruch löst sich im Blick auf den Kairós der Gnade.

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12 In diesem Sinn spricht Jesus mehrfach von der ungeheuren Dringlichkeit von Umkehr und Gottes- bzw. Jesusnachfolge. vgl. Lk 9,59-62.

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13 Vgl. hier auch folgende Stelle bei Johannes:

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14 Wahrscheinlich deshalb schickt Jesus manchmal in schwierigen Heilunsgsituationen die anwesende Menge weg. Vgl. Mk 5,40; auch: Apg 9,40.

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15 Vgl. Mk 1,35; Mk 6,46; Lk 5,16.

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16 Wir können es in diesem Sinn verstehen, wenn der Evangelist Johannes von der „Welt" und vom Satan als dem „Herrscher dieser Welt" (Joh 12,31; 16,11) spricht. Satans Macht manifestiert sich in kollektivem Wirken von Unglauben und Verstockung. Diese Sichtweise entspricht der Interpretation Girards, der den Satan als die Gewalt mimetischer Verstrickungen interpretiert. Vgl. R. Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, Hanser 2002, 54.

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17 Vgl. die häufige Formulierung „Ich sage dir", in der Jesus offenbar im Namen der Vollmacht des Handelnden Gottes spricht.

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18 Vgl. dazu die - christologische und von da her theologisch-anthropologische - Bestimmung von Person als Sendung bei Hans Urs von Balthasar, Theodramatik. Band II: Die Personen des Spiels. Teil 2: Die Personen in Christus. Einsiedeln: Johannes Verlag 1978,

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19 Eine Gründerrolle kommt hier Erik Erikson zu (ders., Identität und Lebenszyklus, Frankfurt am Main 1989). Im Blick auf „Heilung von Gemeinschaft" erscheinen mir die Studien des Psychoanalytikers Vamik Volkan als besonders hilfreich. Vamik hat therapeutisch sowohl mit einzelnen Patienten als auch mit Menschen aus verfeindeten Großgruppen (Nationen, Ethnien) gearbeitet. Psychogenetisch begründet er tief verwurzelte Bezüge zwischen individueller Identität, Kleingruppenidentität und Großgruppenidentität. Vgl. V. Volkan, Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte. Gießen 1999; ders., Blindes Vertrauen. Großgruppen und ihre Führer in Zeiten der Krise und des Terrors. Gießen 2005.

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20 Vgl. bei Volkan (vorige Anmerkung) die vielen Beispiele zu übernommenenen Traumata von Großgruppen.

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21 X und Y können hier Gruppen oder auch Einzelpersonen sein. Eine Sonderform problematischer sozialer Identität entspricht der Parole: „Wir sind wer wir sind, weil wir genauso sind wie unser Führer." Das Dritte Reich zeigte die Destruktivität solcher Formen gemeinschaftlicher Identitätsbestimmung. Noch nicht Destruktivität, aber immerhin Ambivalenz zeigt sich, wenn wir bei selbstbestimmten kollektiven Identitäten der Deutschen bleiben wollen, in Formulierungen wie „Wir sind Papst", aber auch schon in: „Wir sind Fußballweltmeister". Auch wenn diese Formulierungen mit gewisser Selbstironie medial hochgespielt wurden, verweisen sie wohl auf einen vorhandenen Kern national-narzisstischen Wirgefühls.

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22 Vgl. die Probleme, die Jesus mit seiner Familie hatte: Mk 3,21; Joh 7,2-9.

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23 Zur korrumpierenden Gefahr des Bedürfnisses „dazuzugehören" siehe den beunruhigenden Essay von C.S. Lewis, Der innere Ring. Vgl. ders. Der innere Ring und andere Essays. Basel-Gießen 1991.

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24 Volkan beschreibt als „Fäden für Großgruppenidentität" positive Identifizierungen („gewählte Ruhmesblätter") und negative Identifizierungen („gewählte Traumata"). Vgl. Volkan, Versagen (s. Anm. 19) 70ff.

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25 Vgl., den Versuch der Juden, Jesus zum König zu machen: Joh 6,15.

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26 Vgl. die Ausführungen von Volkan (s. Anm. 19), sowie das sozialpsychologische Konzept einer „narzisstischen Symbiose", ausgeführt bei Werner Huth, Glaube, Ideologie und Wahn. Das Ich zwischen Realität und Illusion. München 1984.

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27 Nicht nur negative Festlegungen können krank machen, auch positive Definitionen. Menschen oder Menschengruppen werden z.B. durch Lob und Bewunderung anderer auf hohe Erwartungen festgelegt, die sie kaum erfüllen können. Und narzisstische Personen und Personengruppen setzen sich durch ihr nach außen präsentiertes grandioses Selbstbild einem ebensolchen Druck selber aus.

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28 Dieser Aspekt des Seitenblicks entspricht dem Moment der Identifizierung bei der abgrenzend-identifizierenden Identität.

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29 Im Gegensatz dazu ist die Grundhaltung einer positiv-bezogenen Identität bereit, in jedem anderen Menschen das unfassbare Geheimnis Gottes zu finden und vermag so, einem festlegenden Definieren zu entkommen.

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30 Es handelt sich hier um eine neidische Variante einer gerechtigkeit, die klassisch definiert wurde als „Jedem das Seine" („suum cuique).

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31 Vgl. das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16), sowie das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32), wo der ältere Bruder die Ungerechtigkeit des barmherzigen Vaters beklagt. Beachte auch das Jesuswort: „Viele aber, die jetzt die Ersten sind, werden dann die Letzten sein, und die Letzten werden die Ersten sein" (Mk 10,31).

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32 Vgl. den Sinneswandel Jesu in der Begegnung mit der Syrophönizierin, Mk 7,25-30.

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33 Die Unterscheidung zwischen „Blick auf Gott" und „Seitenblick" hat eine gewisse Verwandtschaft zur Polarität von Idol und Bild bei Jean Luc Marion, wobei letztere stärker gegenständlich orientiert ist. Vgl. J. L. Marion, Idol und Bild, in: Phänomenologie des Idols. Hg. B. Casper, Freiburg i. Brsg.1981, 107-132.

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34 Wenn es in den Evangelien heißt, dass Jesus einen Menschen in die Mitte stellte, ist dieser gesellschaftlich-positionelle Aspekt wohl mit zu bedenken. Vgl. Mt 18,1ff (auch: Mk 9,36): „In jener Stunde kamen die Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist im Himmelreich der Größte? Da rief er ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte ..."; Mk 3,1ff (vgl. Lk 6,8): „Da sagte er zu dem Mann mit der verdorrten Hand: Steh auf und stell dich in die Mitte!" Vgl. auch Variationen, wo andere Menschen jemanden aus Glauben in die Mitte stellen, oder wo jemand als Sündenbock in die Mitte gestellt und von Jesus rehabilitiert wird: Lk 5,19: „Weil es ihnen aber wegen der vielen Leute nicht möglich war, ihn hineinzubringen, stiegen sie aufs Dach, deckten die Ziegel ab und ließen ihn auf seiner Tragbahre in die Mitte des Raumes hinunter, genau vor Jesus hin. Als er ihren Glauben sah, sagte er zu dem Mann: Deine Sünden sind dir vergeben." - Joh 8,3ff: „Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte [...] Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand ..." - Wesentlich ist in all den zitierten stellen, dass eine Person in die Mitte einer Menschenmenge gestellt wird. Dadurch wird etwas in der Dynamik der Menge verändert.

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35 Tatsächlich ist bei Heilungen sehr häufig von einer anwesenden Menschenmenge die Rede! Vgl. oben die Ausführungen zu Mk 9.

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36 Siehe oben, Anm.34.

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37 Vgl. Sandler, To be like God ...; sowie: Logik des Sündenfalls.

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38 Vgl. Apg 16,6.

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39 Auf dieser Ebene hätte Jesus niemals eine umfassende Veränderung bewirken können. Für jeden Geheilten gab es tausende, die er nicht erreichen konnte.

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40 Vgl. Röm 12,15: „Freut euch mit den Fröhlichen ..."

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41 Vgl. Raymund Schwager, Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre (IThS 29). Innsbruck, Wien 1990, 76-108.

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42 Am ehesten ist eine solche Bekehrungswirkung von Aufdeckung in der Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin zu finden. Vgl. Joh 8,3-11, sowie die Aussage R. Girards: „Die Episode der Ehebrecherin ist eine der seltenen Erfolgsgeschichten Jesu im Umgang mit einer gewaltbereiten Menge." Girard, Satan (s. Anm. 16) 81.

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43 Vgl. Joh 15,11; Joh 16,24; 1 Joh 1,4; 2 Joh 1,12.

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44 Vgl. Jes 2,2-4; Mi 4,1f.

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45 Nach Raymund Schwagers Typologie entspricht das den ersten drei Akten im Christusdrama. Vgl. Jesus im Heilsdrama (s. Anm. 41) 43-153.

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