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Scharer Matthias: Theologie treiben in Zeiten des Krieges
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Theologie treiben in Zeiten des Krieges
(Antwort auf den Vortrag von Chefredakteur Claus Reitan am Fakultätstag)

Autor:Scharer Matthias
Veröffentlichung:
Kategoriekommentar
Abstrakt:
Publiziert in:# Beitrag am Fakultätstag 2002: Theologie treiben in Zeiten des Krieges
Datum:2002-03-30

Inhalt

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Ihren Überlegungen zur gesellschaftlichen und individuellen Situation des Menschen kann ich weitgehend zustimmen. Dabei scheint mir der Kern Ihrer Analyse im Hinblick auf den Krieg darin zu liegen, dass wir uns in einem verschleierten Stellvertreterkrieg befinden. Das natürliche Aggressionspotential des Menschen, das auf die Verteidigung seines Territoriums und seiner Sippe gerichtet ist, wird umgelenkt und mißbraucht, um etwas zu verteidigen, was Mächtige verteidigt haben wollen. Gleichzeitig wird verschleiert, dass es sich um einen Kampf zwischen Arm und Reich, um einen Kampf um Ressourcen handelt. Wie dramatisch das geschieht, kann ich aus kürzeren Lateinamerikaaufenthalten bestätigen, wo die Kirche gegen die Armut und die weltweite Ungerechtigkeit kämpft. Eine einschränkende Bemerkung habe ich, was Ihre oder besser gesagt Eibl-Eibesfeldts Interpretation des aggressiven Potentials im Menschen betrifft. Ich würde dieses nicht nur negativ, sondern zumindest in der Hinsicht auch positiv werten, dass die Aggression in der wörtlichen Bedeutung von „ad gredere" ein Potential im Menschen ist, das nicht nur in „steinzeitlicher Emotionalität" alles verteidigt und angreift, sondern den Menschen grundsätzlich an Anderes und Fremdes heranbringt. Beziehung ohne Aggression ist nicht möglich. Das Interesse am Anderen, die Zuneigung, die Liebe, die Lust, die Sexualität, die Kreativität des Menschen, all diese wunderbaren Kräfte haben auch eine aggressive Seite. Es geht nicht um die Verdrängung dieses Potentials, sondern um die konstruktive Wandlung. Dass dazu Kirchen und Theologie beitragen können ist für mich unbestritten. Dabei scheinen mir aus der Sicht eines praktischen Theologen drei Perspektiven wichtig, die ich in Ihrem Referat nicht gefunden habe:

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1. Der Mehrwert der Sünde

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Eine alte Jesuitenfrage lautet: „Wie kommt man zur Gnade?" Die Antwort: „Indem man sündigt". Oder der alte Spruch, der Martin Luther zugeschrieben wird: „Glaube fest und sündige wacker". Wer ohne Waffen Ordnung schaffen will läuft Gefahr, in einen ethisch-moralischen Rigorismus zu verfallen. Gänzlich frei davon scheinen mir Ihre Vorschläge nicht zu sein, wenn Sie der Theologie und Kirche vorschlagen, sich - so wirksam wie möglich, d.h. vor allem virtuell - in den entscheidenden ethischen Fragen Gehör zu verschaffen. Neben den ethischen Werten, die ohne Zweifel auch in der öffentlichen Anerkennung, um welche die Theologie ringen muss, wichtig sind, gilt auch: Wir sind und bleiben ein Leben lang Fragmente unserer selbst, uns selber und den Anderen nicht nur vertraut, sondern auch fremd. Eine Vortragsreihe, die ich einmal unter dem Titel: „Der Mut zum Sündigen in der Erziehung" gehalten habe hat mir gezeigt, wieviele Eltern unter dem Druck der medialen Öffentlichkeit, auch der Psychologen und Pädagogen leiden, alles perfekt machen zu müssen. Aus der Perspektive der Gnade Gottes heraus, die uns auch mit uns selber und den Anderen gnädig werden läßt, ist unser Leben auf Versöhnung ausgerichtet: Auf eine Versöhnung, die uns einmal zu all unseren Schuld- und Schamgeschichten ‚Ja und Amen' sagen läßt. Möglicherweise ist auch noch der physisch gebrechliche Papst ein Gegensymbol in einer Welt, in der man jung, fit, kompetent... sein muss, um einen Großkonzern oder eine Großorganisation leiten zu können.

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2. Das lange Gedächtnis

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In einer Erlebnisgesellschaft wie der unseren ist das Bildungshandeln oft auf das schnelle Erleben ausgerichtet. Der ‚Kick' ist wichtig. Wodurch der Kick verursacht wird und aus welcher Tradition das Erlebnis - auch das religiöse Erlebnis - kommt, wird weitgehend verdrängt. Es mischen sich - wie Sie ja auch gesagt haben - die Weltanschauungen und Religionen in einem bunten Fleckerlteppich. Die ‚Religionskomponisten' beherrschen die Szene. Jede/Jeder kann und will nach ihrer/seiner Fason selig werden. Theologisch ausgerichtetes kirchliches Handeln unterscheidet sich von der Produktion des Kicks durch das lange Gedächtnis. Es ist richtig, dass Mediation, Vereinbarung von Gesprächsregeln, neue Kommunikationsformen usw. konkrete Möglichkeiten sein können, Ordnung ohne Waffen zu schaffen. Doch die Herausforderung der Theologie im Markt der praktikablen Methoden und Medien, ‚die so effektiv wie möglich wirken sollen' ist die Unterscheidung der Geister auf Grund ihres langen Gedächtnisses.

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3. Das geschenkte WIR

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Im Innsbrucker Bahnhofsviertel feiert eine Gruppe von KatholikInnen Gottesdienst. Die Eucharistiefeier hat längst begonnen, als eine deutlich als Prostituierte erkennbare Frau den Gottesdienstraum betritt. Sie scheint leicht alkoholisiert zu sein und ruft laut in den Raum hinein: „Bekomme ich da auch etwas?" Offensichtlich meint sie mit „etwas" das eucharistische Brot. Der Priester, welcher der Eucharistie vorsteht, ist im Moment sprachlos, sagt aber nach einigem Zögern: „Ja schon", sichtlich in der geheimen Hoffnung, dass die Frau noch vor der Kommunion die Feier wieder verlassen wird. Sie bleibt aber, nimmt das eucharistische Brot, bricht die Hostie in zwei Teile, konsumiert einen Teil, steckt den anderen in die Hosentasche und verlässt den Gottesdienstraum. Nachforschungen ergeben, dass sie mit der geteilten Hostie geradewegs zum Bahnhof ging, wo eine Schwester der Bahnhofsmission, die ihr öfters geholfen hatte, ihren Dienst versah. Sie brachte ihr die geteilte Hostie mit den Worten: „Schau, was ich dir mitgebracht habe, du isst ‚das' doch so gerne!"

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Alle Anzeichen sprechen dafür, die Frau auszuschließen: Das Recht der Großorganisation (also das Kirchenrecht), das aggressive Potential, das dann besonders mächtig wird, wenn nicht nur das Territorium an sich, sondern ein religiös besetztes Territorium zu verteidigen ist. Wir sehen im Nahen Osten wieviel Menschenopfer das kostet. Mich hat die Erzählung in einer doppelten Weise berührt: Einerseits die tief glaubensverständige Reaktion der Frau: Eucharistie, die auf Teilen ausgerichtet ist. Andererseits die Reaktion des Priesters und der Gemeinde. Vielleicht liegt eine tiefe Ahnung in den Menschen, dass der sakramentale Schatz der Kirche, der in der Eucharistie seine Mitte findet, zwar kein methodisch umsetzbares dafür aber geschenkhaft wandelndes Potential in sich trägt, das den aggressiven Ausschluss von Menschen begrenzt. Man mag vordergründig daran denken, wenn sich nach Attentaten wie dem des 11. September die Kirchen füllen, dass die Not eben beten lehrt. Vielleicht ist darin aber mehr verborgen: Nämlich eine tiefe Erfahrung - hier versammeln sich Menschen, ohne Zweck und Absicht, sich und einander fremd und doch von einem Anderen her gewandelt - jenem Jesus, der selbst Opfer aggressiver religiöser und politischer Mächte wurde.

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