„Vereine gegen Thierquälerei“ – wie sich die ersten Tierschutzvereine zunächst nannten – wurden ausgehend von Großbritannien unter anderem in München (1842), Wien (1846) und Graz (1860) gegründet. Die frühen Vereine prangerten öffentlich an, was ihnen als qualvoll und unnötig galt. So zählte zu den ersten Aktivitäten des „Münchener Vereins“ die Agitation gegen die beim „Transporte des Stechviehes statthabenden Unfuge“, wie das Zusammenbinden der Beine von Kälbern. Die Vereinschronik verzeichnet die Kundmachung des k. k. Guberniums von Tirol und Vorarlberg vom 3. Juni 1842 zu neuen Vorschriften für die Schlachttransporte dann auch als ersten Erfolg. Geprägt war der Tierschutz dieser Zeit aber davon, den Menschen verbessern zu wollen, und zwar im Sinne einer Entwicklung der menschlichen Zivilisation, die – im Umgang mit Tieren – moralisch verfeinert und befriedet werden sollte.
Daneben erstarkten auch pathozentrische Argumente für den Tierschutz. Vielzitiert in diesem Zusammenhang ist Jeremy Benthams (1748–1832) Fußnote „Can they suffer?” aus dem Jahr 1789 (Bentham 2017). Beeinflusst unter anderem von Arthur Schopenhauers (1788–1860) Mitleidsethik ging es darum, das Schmerzempfinden von Tieren begründend hervorzuheben. Albert Schweitzer (1875–1965) formulierte eine biozentrische Fundierung: Jedes Lebewesen wolle leben und dieses Interesse sei zu schützen (Bollnow 1975; Schweitzer 2011). Seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts setzt sich die Tierrechtsbewegung – teilweise in Abgrenzung zur früheren Tierschutzbewegung – auch in aktivistischer Form für das uneingeschränkte Lebensrecht von Tieren ein (Roscher 2012, 2015). Analog zu anderen Formen der Diskriminierung würden Tiere aufgrund ihrer Spezieszugehörigkeit aus der moralischen Berücksichtigung ausgeschlossen, was die Nutzung – auch für die menschliche Ernährung – erst legitimiere.
Zwischen Tierschutz und Tiernutzung
Gegenwärtig wird die Auseinandersetzung zwischen Tierschutz und Tiernutzung – vor allem in der Lebensmittelproduktion – von einem neuen Schlagwort dominiert: Es geht um Tierwohl. In Tirol startete die Landwirtschaftskammer im Jänner 2019 mit dem Jahresmotto „Tierwohl ... wir schauen drauf!“ in eine intensive Kampagne in den kammereigenen Publikationsorganen, flankiert von einem Tierwohlpreisausschreiben. Geläufig sind uns mittlerweile Tierwohl-Label und Tierwohl-Förderungen. Tierwohl ist – wenn man so will – in aller Munde. In Tageszeitungen und politischen Reden, aber auch auf der Milchpackung am Frühstückstisch zeichnet Tierwohl Produkte aus. Es scheint, als ließe sich Tierwohl messen und steigern und eines ist unbestritten: Es brauche mehr Tierwohl. Damit stellt Tierwohl eine drängender werdende Anforderung an die Nutztierhaltung dar. Aus europäisch-ethnologischer Perspektive lässt sich diese Forderung als diskursiv hervorgebrachte Dringlichkeit/urgence (Foucault 1978, 2009: 215ff.) verstehen, die – wie das Beispiel der Tiroler Landwirtschaftskammer verdeutlicht – das System der Nutztierhaltung und die darin tätigen Akteur_innen anruft, sich (neu) auszurichten.
„Entschlossene Maßnahmen für das Tierwohl sind dringend notwendig“ (Pressemeldung vom 07.05.2019)
Ein Aspekt der Dissertation ist es, die Entstehung des Tierwohldiskurses nachzuzeichnen. Die quantitative Auswertung von österreichischen Medienbeiträgen mit dem Schlagwort Tierwohl (Datenbank: APA-Onlinemanager Library) zeigt, dass die Intensität der medialen Thematisierung von Tierwohl in Österreich erst seit rund zehn Jahren stetig zunimmt. Als wissenschaftliches Konzept hingegen wurde Tierwohl – animal welfare – bereits in den 1960er Jahren von britischen Wissenschaftler_innen rund um Francis William Rogers Brambell (1901–1970) eingeführt. Damals war in Großbritannien nach Ruth Harrisons vielbeachtetem Buch „Animal Machines“ (1964) eine kontrovers geführte Debatte über die industrialisierte Landwirtschaft entbrannt. Es wurde offenbar, dass es zu einer neuen, bis dahin ungekannten Verdinglichung der tierlichen Existenzen kam. Tiere waren zum Faktor einer streng kalkulierten Kosten-Nutzen-Rechnung geworden.
Welfare of Animal – Animal Welfare – Tierwohl
Als agrarpolitische Reaktion wurde ein Komitee eingesetzt und dessen Ergebnisse als „Brambell Report“ veröffentlicht, der sperrige Titel lautete: „Report of the Technical Committee to Enquire into the Welfare of Animals kept under Intensive Livestock Husbandry Systems“ (Brambell 1967). Vom Landwirtschaftsministerium war – die aufgeheizte Stimmung kalmierend – das „Wohlergehen der Tiere“ in den Vordergrund gerückt worden. Schnell verkürzte sich der Ausdruck „welfare of animal“ auf „animal welfare“ (Woods 2012). Erst rund fünfzig Jahre später fand Tierwohl auch Eingang in den deutschen Sprachgebrauch. Die qualitative Analyse des Pressematerials (rund 440 Meldungen aus den Jahren 2000–2019) zeigt unter anderem, mit welchen sprachlichen Mitteln Tierwohl zu einer Dringlichkeit gemacht wird: so gehe es um das „von uns forcierte Tierwohl“, denn „Österreich nimmt Tierwohl sehr ernst!“. „Tierwohl“ sei ein „großes“ oder „besonderes Anliegen“, ein zu achtendes Gut, Tierwohl sei „wichtig“ und es sei „im Sinne von Tierwohl“ zu agieren, das sei „entscheidend“, nehme einen hohen Stellenwert ein, stehe im Zentrum, im Mittelpunkt oder ganz oben. Tierwohl sei etwas, auf das sich das „Bewusstsein“ richte/richten solle und das im Vordergrund stehe, wofür man sich einsetze, das bedeutend sei oder an Bedeutung gewinne, das zu berücksichtigen oder ein Wunsch sei.
In Österreich wird in Bezug auf die Nutztierhaltung auch von art-, tier- und tierschutzgerecht gesprochen, der „Tiergerechtheitsindex“ nach Helmut Bartussek gilt seit Mitte der 1990er Jahre als Standard. Die Bezeichnungen verdeutlichen: der Fokus lag auf der Haltungsumgebung. Wenn heute von Tierwohl die Rede ist, so verweist dies auf eine bedeutende Verschiebung: nicht mehr allein die Umgebung der gehaltenen Tiere wird beurteilt, sondern auch das (Wohl-)Ergehen der Tiere selbst, denn – so die gängigen Konzepte – Tierwohl sei abhängig vom Zusammenwirken von Haltungssystem, Managementpraxis, Tierverhalten und Tiergesundheit (Winckler 2016) und deshalb über die genaue Beobachtung der Tiere und tierbezogene Indikatoren zu beurteilen.
Tierwohl als Dringlichkeit
Tierwohl gilt als Zukunftschance für die Nutztierhaltung, diese gelte es als finanzielle und betriebswirtschaftliche Herausforderung zu meistern. Gegen die Anforderungen gibt es aber gerade auch in der kleinstrukturierten österreichischen Landwirtschaft heftigen Widerstand: Der Mehraufwand würde nicht abgegolten werden. Nicht thematisiert wird, was meine ethnografischen Erhebungen zeigen: Im Umgang mit ihren Tieren erfahren Bauern und Bäuerinnen Tierwohl auch als emotionale Herausforderung. Zunehmend erscheinen die gängigen Praktiken der ökonomischen Verwertung der versorgten Tiere – auch angesichts sich etablierender Alternativen – fraglich, was sich stark auf das Selbstbild der Akteur_innen auswirkt. Denn im direkten Kontakt weist die Idee, das tierliche Wohlergehen zu fördern, über eine anthropozentrische Lesart – Tierwohl als Produktmerkmal – hinaus. Tierwohl fordert dazu auf, die gehaltenen Tiere als empfindende und leidende Lebewesen von intrinsischem Wert wahrzunehmen. Damit verändert sich die moralische Verantwortung für die gehaltenen Tiere. War diese zuvor überwiegend eine pastorale Verpflichtung, die Menschen in ein paternalistisches und grundsätzlich legitim nutzendes Verhältnis zu den Tieren setzte, so responsibilisiert der Tierwohldiskurs nun für die Lage der Tiere in der Lebensmittelproduktion in neuer Weise: sie werden damit – sofern die menschlichen Akteur_innen die Anrufungen des Diskurses wahrnehmen – in den „Kreis moralischer Berücksichtigung“ (Singer 1983) miteinbezogen und zwar als Individuen.
Individuelle Verantwortung?
Es handelt sich beim Tierwohldiskurs um ein höchst moralisierendes Sprechen über die Nutztierhaltung. So wird, mehr als das Wohlergehen, das Tierleid in aller Drastik dargestellt, der Diskurs benennt und bezichtigt, er verweist und weist an und er fordert: Mehr und besseres Tierwohl, meist ohne zu benennen, wie dies zu erreichen sei und ohne Verweis darauf, dass es sich dabei (auch) um ein wissenschaftliches Konzept handelt. Die angerufenen Subjekte werden in ein spezifisches und neues Verantwortungsverhältnis gesetzt, für das Wohlergehen genutzter Tiere Sorge tragen zu müssen, und zwar als je Einzelne. Damit operiert der Tierwohldiskurs mit neoliberal-gouvernementalen Techniken, die dazu auffordern, mit der Wahl des richtigen Produktes oder mit der richtigen – über die gesetzlichen Mindeststandards hinausgehenden – Haltungsform, in den Wettbewerb um die bessere Nutztierhaltung und die moralische Integrität einzutreten. Und während der Tierwohldiskurs die Zuständigkeiten den Einzelnen zuspricht, kennt er auch ein Antisubjekt, das sich seinen Anforderungen nicht stellt: den „Tierquäler“ (in zumeist männlicher Form!), der einer niederschmetternden Bewertung unterzogen wird.
Es gilt also das Reden und Schreiben über Tierwohl als Responsibilisierungsdiskurs zu dechiffrieren. Entgegen allen Vorwürfen nur reformistisch zu sein, mache ich den Tierwohldiskurs damit als wirkmächtigen Agens eines grundlegenden Wandels des Mensch-Tier-Verhältnisses in der Lebensmittelproduktion aus. Und zwar vor allem auf der Ebene der interindividuellen Beziehung zwischen gehaltenen Tieren und deren Menschen – hier bringt die ethnografische Forschung entscheidende Erkenntnisse. Deutlich wird, dass das Verantwortlichmachen der Einzelnen die systemisch ausbeutende Struktur der Nutztierhaltung verschleiert, zu einer Entsolidarisierung der diskursiv Angerufenen führt und die demokratische Politisierung der Frage des Umgangs mit genutzten tierlichen Existenzen abwehrt.
Literatur
Bentham, Jeremy (2017 [1789]): An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. URL: https://www.earlymoderntexts.com/assets/pdfs/bentham1780.pdf [28.4.2022].
Bollnow, Otto Friederich (1975): VII. Die Ehrfurcht vor dem Leben als ethisches Grundprinzip. Vortrag, gehalten am 7. Mai 1975 auf dem Colloque International Albert Schweitzer à l'occasion du centième anniversaire de sa naissance. Université des Sciences Humaines de Strasbourg. Revue d'Histoire et de Philosophie Religieuses. 56, 1976, S. 118-142, verkürzt in: Evangelische Kommentare, 9. Jg. 1976, S. 527-530., Université des Sciences Humaines de Strasbourg. Strasbourg, 7.5.1975.
Brambell, F. W. Rogers (1967 [1965]): Report of the Technical Committee to Enquire into the Welfare of Animals Kept under Intensive Livestock Husbandry Systems. London.
Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit (Merve). Berlin.
Foucault, Michel (2009): Das Spiel des Michel Foucault. In: Defert, Daniel/Foucault, Michel (Hg.): Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode. 1. Aufl. (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1934). Frankfurt, M., S. 215–220.
Roscher, Mieke (2012): Tierschutz- und Tierrechtsbewegung – ein historischer Abriss. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 62/8-9, S. 34–40.
Roscher, Mieke (2015): Tierschutzbewegung. In: Ferrari, Arianna/Petrus, Klaus (Hg.): Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall. Bielefeld, S. 371–376.
Schweitzer, Albert (2011): Ehrfurcht vor den Tieren. 2. Aufl. (Beck'sche Reihe, 1714). München.
Singer, Peter (1983): The Expanding Circle. Ethics and Sociobiology. Oxford. Winckler, Christoph (2016): Tierwohl in der Nutztierhaltung aus tierschutzwissenschaftlicher Perspektive. In: Nieradzik, lukasz/Schmidt-Lauber, Brigitta/Nieradzik, lukasz/Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Tiere nutzen. Ökonomien tierischer Produktion in der Moderne (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes (JGLR), 2016). Innsbruck u.a., S. 66–72.
Woods, Abigail (2012): From cruelty to welfare: the emergence of farm animal welfare in Britain, 1964-71. In: Endeavour 36/1, S. 14–22.
(Nadja Neuner-Schatz)
Zur Person
Nadja Neuner-Schatz ist DOC-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Doktorandin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. Sie forscht dort zu ihrem Dissertationsprojekt: „Tierwohl – von der Sorge um die Tiere, die wir essen“, arbeitet als freie Kulturwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte und ist Kollegiatin im Doktoratskolleg „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“.