Von Günther Pallaver
Der Grund dafür liegt in der europäischen Dimension. Die Wahl Mattarellas kann nämlich längs der Konfliktlinie von Befürwortern des europäischen Integrationsprozesses und ihren Gegnern gelesen werden.
Das politische Mitte-Rechts-Wahlbündnis besteht in Italien aus den drei Parteien Forza Italia (FI), Lega und Fratelli d'Italia (FdI). FI ist eine pro-europäische Partei, die Mitglied der Europäischen Volkspartei ist. In Italien befindet sich FI aber in einem politischen Bündnis mit Lega und FdI. Lega und FdI fallen unter jene Parteien, die mehr Nationalstaat und weniger Europa einfordern, weg von einer supranationalen hin zu einer intergouvernementalen Architektur Europas. Das ist ein Grundwiderspruch. Lega-Chef Matteo Salvini hatte noch letztes Jahr versucht, gemeinsam mit dem Ungarn Viktor Orbán und dem Polen Mateusz Morawiecki eine eigene "Souvärenismus"-Fraktion im EU-Parlament zu bilden. Beide osteuropäische Parteien gehören euroskeptischen bis eurogegnerischen Fraktionen an. Die neue Fraktionsbildung ist schlussendlich nur deshalb nicht zustande gekommen, weil die Initiatoren die numerischen Voraussetzungen nicht erreichten (mindestens 23 Abgeordnete aus einem Viertel der EU-Mitgliedsländer).
Die Lega ist Mitglied der EU-Fraktion "Identität und Demokratie", in der unter anderem die Freiheitliche Partei Österreichs und die rechtsextreme Alternative für Deutschland vertreten sind. Die AfD ist eine markant antieuropäische Partei. Fratelli d'Italia hat in der Fraktion "Europäische Konservative und Reformer" ihre politische Heimat gefunden, in der u.a. die rechtspopulistische spanische Partei Vox und die polnische Partei Recht und gerechtigkeit Mitglieder sind. Beide Parteien betrachten den europäischen Integrationsprozess skeptisch oder lehnen ihn ab.
Dieses Dreier-Bündnis ist bei der Wahl zum italienischen Staatspräsidenten längs der EU-Bruchlinie zerbrochen. Die pro-europäischen Parteien, in erster Linie die Linksdemokraten von Enrico Letta, Italia Viva von Matteo Renzi sowie einige kleineren Zentrumsparteien, haben die KandidatInnen, die nicht im Konsens der Regierungsparteien vorgeschlagen wurden, abgelehnt. FI ist kurz vor der Wahl Mattarellas aus dem Mitte-Rechts-Bündnis ausgeschert und hat den nun wiedergewählten Staatspräsidenten unterstützt, den kurz zuvor das gesamte Mitte-Rechts-Bündnis noch einstimmig abgelehnt hatte.
Die Lega von Matteo Salvini und die 5 Sterne Bewegung stehen nach der Wahl Mattarellas vor einer internen Abrechnung zwischen einer pro- und einer antieuropäischen/eurokritischen Fraktion. Salvini, bislang kein Freund Europas, musste sich bei der Wahl des Staatsoberhauptes dem mehrheitlichen internen Druck seiner Partei beugen und de facto das Bündnis mit FdI von Giorgia Meloni aufkündigen. Vor allem Giancarlo Giorgetti, Lega-Minister für die wirtschaftliche Entwicklung, hatte bereits letztes Jahr gemeint, Salvini müsse sich entscheiden, auf welcher Seite er stehen wolle. Seine europäische Wende sei "unvollständig", ein Bündnis mit AfD im Europäischen Parlament anachronistisch. Salvini hat bereits zwei Tage nach der Wahl Konsequenzen gezogen und die Bildung einer neuen konservativen Partei vorgeschlagen, die, wenn auch nicht explizit ausgesprochen, den Weg in die Europäischen Volkspartei finden sollte.
Die 5 Sterne Bewegung ist als stark euroskeptische bis antieuropäische Partei entstanden. Nach den ersten EU-Wahlen trat sie 2014 in die Fraktion "Europa der Freiheit und der direkten Demokratie", in der u.a. die Brexit-Partei UIKP vertreten war. Seit der EU-Wahl von 2019 gehören die 5 Sterne Abgeordneten keiner Fraktion an. Obgleich der ehemalige Regierungschef und derzeitige Parteivorsitzende der 5 Sterne Bewegung, Giuseppe Conte, mit Lega-Chef Salvini 2019 gebrochen hatte, und die 5 Sterne Bewegung seitdem für ein Wahlbündnis mit dem PD offen ist, hatte Conte einen Tag vor der Wahl Mattarellas mit Salvini versucht, eine gemeinsame Kandidatur zu lancieren, ohne die jeweiligen Bündnispartner zu informieren. Innerhalb der 5 Sterne Bewegung gibt es nämlich nach wie vor einen starken Flügel, der EU-skeptisch geblieben ist und deshalb lieber zur Lega und nicht zu den Linksdemokraten blickt. Bei der Wahl Mattarellas haben sich die EU-Befürworter rund um Außenminister Luigi Di Maio durchgesetzt, die Abrechnung mit Conte und den EU-Skeptikern steht bevor. Ein Spaltung der Bewegung längs der Bruchlinie Europa (aber nicht nur) ist nicht ausgeschlossen.
Mattarella, ein überzeugter Vertreter des europäischen Integrationsprozesses, wurde von den Pro-EuropäerInnen gewählt. Seine Wahl hat nicht nur die europäische Konfliktlinie innerhalb von Parteien und innerhalb von politischen Bündnissen eruptiv ans Tageslicht gebracht, sondern auch den pro-europäischen Weizen vom antieuropäischen Spreu getrennt. Wer von den Parteien Mattarella gewählt hat, ist proeuropäisch eingestellt oder ist dabei, seine euroskeptischen oder antieuropäischen Flügel abzuschneiden. Wenn, wie es derzeit scheint, das aktuell bestehende kombinierte Wahlsystem (Proporz- und Majorzsystem) mit einem reinen Verhältniswahlsystem und einer Sperrklausel ersetzt wird, werden Wahlbündnisse vor der Wahl hinfällig, Regierungsbündnisse nach der Wahl werden aber längs der EU-Konfliktlinie gebildet werden.
Eine Wahl mit vielen Folgen, eine Wahl für Europa.
Günther Pallaver aus Bozen (1955), Dr. jur. et Dr. phil., ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Vergleich politischer Systeme, Politische Kommunikation, Föderalismus, Ethnische Minderheiten (mit Schwerpunkt Südtirol) sowie (ethno)regionale Parteien.
Homepage: www.uibk.ac.at/politikwissenschaft/guenther-pallaver
Der Artikel erschien zuerst in: salto.bz, https://www.salto.bz/de/article/02022022/eine-wahl-fuer-europa, 2. Februar 2022.
This article gives the views of the author(s), and not the position of the Department of Political Science.
This work is licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0).